Renda 4 - Paul Martín - E-Book

Renda 4 E-Book

Paul Martin

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Beschreibung

Wie verarbeitet man den Tod eines geliebten Menschen. Wie verarbeitet man diese Nachricht, welche das Leben von einer Sekunde zur anderen verändert. Wird man neue Menschen kennenlernen und neue Lebensinhalte? Wird man am Ende scheitern oder nicht? Flashbacks führen Robert diesmal noch weiter in die Vergangenheit zurück. Er erfährt alles über das Schicksal des Mannes mit den stahlblauen Augen, der ihn seit seiner Geburt begleitet. Diese Erinnerungen zeigen ihm unbekannte Landschaften aus Zeiten, in denen er noch nicht existieren konnte. Sie lassen ihn glauben, dass er schon einmal lebte. Ob das tatsächlich passiert ist oder halluziniert er? Doch was erwartet Robert? Wird er es schaffen, neue Wege für sich zu finden, oder ist er am Ende seines Lebens angekommen, in dem er seine Lerninhalte die sich seine Seele für sein Leben stellte, erkennt.

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Inhalt

Teil - Schicksalsschläge

Kapitel – Der Anruf

Kapitel – Der nächste Tag

Kapitel – Der Geburtstag

Kapitel – Zwischen den Zeiten

Kapitel – Gespräche am Abend

Kapitel – Auf dem Friedhof

Kapitel – Schwierige Tage

Kapitel – Sind Träume Schäume?

Kapitel – Maikäfer flieg

Kapitel – Auf hoher See

Kapitel – Begleitung

Kapitel – Am Mövenbruch

Das Tagebuch

Kapitel – Ordinger Leben

Kapitel – Ludwig von Schöneck

Kapitel – Der einsame Reiter

Kapitel – Maleens Knoll

Kapitel – Die alte Gyde

Kapitel – Unruhe

Kapitel – Überraschungen

Kapitel – Erinnerungen

Kapitel – Letzte Tage

Kapitel – Vater und Sohn

Kapitel – Wahrheiten

Kapitel – Neuigkeiten

Spurensuche

Kapitel – Herz aus Feuer

Kapitel – Günthers Geschichte

Kapitel – Urtas Gabe

Kapitel – Stille Zeit

Kapitel – Nochmals Gyde

Kapitel – Wiener Lieder

Kapitel – Entscheidungen

Kapitel – Raues Wetter

Kapitel – Außer Kontrolle

Kapitel – Merci mon Ami

Kapitel – Rückkehr

Kapitel – Am See von Renda

I. Teil - Schicksalsschläge

1. Kapitel – Der Anruf

Heute früh kommt der Anruf mitten in der Nacht. So gegen halb sechs. Ich sehe die Nummer, das Krankenhaus, in dem Christoph wegen einer Blutvergiftung im Bein liegt. Mein Leben, meine große Liebe ist er. Es kam plötzlich, das Bein wurde dick und rot und keiner von uns beiden wusste, warum. Der Notdienst brachte ihn weg und ich sah dem Wagen bestürzt hinterher.

„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann heute früh verstorben ist“, sagt die Telefonstimme am anderen Ende. Ich kann es nicht glauben, gestern war ich noch mit Louis bei ihm im Krankenhaus und ich sah eine Besserung.

Und nun das. Ich fühle mich gelähmt, weiß nicht, was ich machen soll. Wie soll ich das Louis erklären, dass sein anderer Papa nicht mehr da ist. Ich bekomme Schnappatmung. Ich sage diese Worte, die dann immer kommen: „Es kann doch nicht wahr sein, nein, sie scherzen“. Doch die Telefonstimme, weiß wie man damit umzugehen hat. Geübtes Verhalten nennen sie es.

„Es tut mir so unendlich leid, aber es ist die Wahrheit. Er hatte eine Lungenembolie. Die Reanimation schlug leider fehl.“

Wir waren gerade knapp vier Jahre verheiratet. Und jetzt ist alles vorbei? Er wurde nicht einmal 44 Jahre alt.

Die Reaktion meinerseits ist, dass ich Hilfe brauche. Wer ist da? Schorschi ist da im Schuppen und ich funke ihn an. Er kommt sofort. Im Schlafanzug und ich schmunzele. Etwas hängt raus. Ich schaue ihn an und er wird rot und er packt das wieder ein, was raushing. Ohne ihn würde ich kaputt gehen.

Er wurde in den letzten Jahren ein wahrer Freund auch für mich. Wir reden lange, bis der Wecker klingelt.

Louis! Ich habe die Verpflichtung, mich um meinen Enkel zu kümmern. Schorschi hilft mir noch beim Frühstückzubereiten und Schulbrote schmieren. Dann geht er und zieht sich zurück. Ich bringe Louis zur Schule, die kaum fünf Minuten mit dem Auto entfernt liegt. Heute vergeht für die Fahrt mehr als eine Viertelstunde. Ich habe keine Ahnung, wie ich es ihm erkläre. Er ist jetzt sieben Jahre alt, ein kluger Junge und im zweiten Schuljahr. Ob er es versteht?

Das Frühstück verging ohne Vorkommnisse. Ich verstellte mich und lachte mit ihm. Schnell steigt er aus dem Auto aus, winkt mir zu und rennt zu seinen Freunden.

Anschließend schicke ich Kurznachrichten über mein Handy an unsere Freunde und die Familie. Die Eltern, Tante Anke, alle sind schockiert. Keiner will es wahrhaben. Viele taumeln, sind sprachlos, finden keine Worte und ich habe mehr Angst um sie als um mich.

Am frühen Vormittag fahre ich wie betäubt ins Krankenhaus und hole seine Sachen ab. Seine Poloshirts, seine Pullover, seine Jogginghose, alles riecht nach meinem Kerl.

Die Schwestern drücken mir drei Taschen in die Hand. Das Bounty, was ich ihm gestern Nachmittag noch auf seinen Wunsch hin besorgte, ist unberührt. Ob ich es zu essen vermag? Ich weiß es noch nicht.

Ich rufe das Bestattungsinstitut an, welches die Beisetzung meiner Mutter organisierte. Der Notdienst ist dran und gibt mir einen Termin. Um 13:00 Uhr mittags wäre ein Termin frei, sagt Norbert von Begreil & Söhne. Er lässt mich aufschreiben, was er für Unterlagen benötigt.

Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Krankenkassenkarte, Personalausweis. Wo sind sie? Wir sind beide ziemlich schludrig. Machen den Bürokram ungern.

Ich suche, suche vergeblich und denke an meinen Mann. Doch plötzlich schaue ich auf den Schreibtisch, schiebe automatisch einen Zettel beiseite und da sind sie. Ich finde die erforderlichen Unterlagen, die mir regelrecht entgegenfallen. Mein Handy klingelt. Ein Anruf. Es ist Christophs Nummer, was soll das?

Ein Anruf von seinem Handy, welches ich in der anderen Hand halte. Mein Handy zeigt deutlich seine Nummer. Auf Christophs Handy ist nichts zu sehen.

Ich gehe ran, am andern Ende ist nichts zu hören und das Wartezeichen piept.

War das er? Mochte er mir so adieu sagen? Kurz darauf rufen seine Eltern an und fragen, ob ich sie von Christophs Handy anrief. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Schaffen es die Toten, uns eine Nachricht zu senden? In diesem Augenblick glaube ich es fest.

Louis schläft heute bei einem Schulfreund. Dessen Eltern holten ihn auf meine Bitte hin gleich nach der Schule mit ab. So habe ich Zeit, darüber nachzudenken, wie ich es ihm beibringe.

Jedoch ist zuvor noch der Termin beim Bestatter wahrzunehmen. Norbert ist jetzt 38 Jahre alt, immer noch schlank, nicht zu muskulös mit einem winzigen Bäuchlein. Dunkle, leicht gelockte Haare und ein kleines niedliches Grübchen auf der rechten Seite betonen sein Lächeln. Er trägt auch diesmal einen dunklen, gut geschnittenen Maßanzug mit weißem offenem Hemd. Damals war ich fast so weit, ihn zu vernaschen. Aber an Chrissi kommt er nicht ran. Sein Charme ist oberflächlich, aufgesetzt, halt kundenorientiert. Wieso habe ich dies damals nicht wahrgenommen?

Jetzt sehe ich es. Mein Blick ist schärfer geworden. Die Besprechung geht schnell, ich weiß, was ich will. Eine passende Urne finde ich sofort. Dunkelblau mit Aufschrift <Glaube – Liebe – Hoffnung> steht darauf. Als ich sie im Ausstellungsregal stehen sehe, weiß ich, das ist die Richtige. Ich nahm aus weiser Voraussicht eine Hose und seinen Lieblingspullover von ihm für den Sarg mit. Die Trauerfeier wird kurz sein, ich möchte keine Show daraus machen, ansonsten würde ich zusammenbrechen. Nur unser Lied sollen sie spielen, Careless Whisper und danach noch Jesus to a child. Ich werde heulen am Grab, das weiß ich schon jetzt, aber das gehört dazu. Es sind Tränen für meinen geliebten Mann, der viel zu früh aus dem Leben abberufen wurde.

Ich fühle mich erleichtert, als ich den Bestatter verlasse. Ich habe seine Sachen abgeholt und die Beisetzung organisiert. Das war viel. Ich stehe neben mir, ich funktioniere. Aber wie lange noch?

Abends spreche ich mit Christoph, als wenn er anwesend wäre. Ich erzähle ihm, was ich den Tag über gemacht habe, welche Urne ich aussuchte. Goldi, jetzt schon sieben Jahre alt, liegt auf dem Bett. Sie erwartet, dass ich das Licht ausmache, damit sie unter die Bettdecke schlüpfen kann. Sie dreht den Kopf hin und her, als wenn sie sagen wollte: „Was machst du denn da. Mein Chrissipapa ist doch nicht mehr da.“

Mir fällt ihr Verhalten ein, als der Rettungsdienst Chrissi ins Krankenhaus fuhr. Sie lief den ganzen Tag mit eingeklemmtem Schwanz und anliegenden Ohren herum. So, als wenn sie wusste, dass ihr Papi nicht mehr zurückkommt. Ich musste sie sogar abends nach oben ins Schlafzimmer tragen. Sie war nervös, schnupperte dauernd bei mir herum. Jetzt habe ich die Antwort.

Unruhig stehe ich wieder auf, schalte das Licht ein. Nach und nach packe ich seine Sachen aus den mitgebrachten Taschen vom Krankenhaus aus. Dort unterschrieb ich eine Erklärung, was ich erhielt. Das Bündel mit seinen Sachen ist verpackt und zugeklebt. Sein Kopfkissen, welches er so liebte, ist weg. Seinen goldenen Ohrring, den er von mir zur Hochzeit bekam, finde ich nicht. Ich unterschrieb, dass ich ihn erhalten habe. Wer macht so was? Wer stiehlt einem Toten die letzten Andenken. Auch die Geldscheintasche von seiner Geldbörse ist leer. Es waren bestimmt noch über 50 Euro drinnen. Das weiß ich genau, denn ich bezahlte aus seiner Börse die Fernsehkarte fürs Zimmer.

Soll ich mich beschweren? Nein, dazu habe ich keine Kraft. Aber der Ohrring soll Schmerzen bereiten, immer dann, wenn ihn einer trägt.

2. Kapitel – Der nächste Tag

Die Nacht war schwierig. Meine Tabletten brachten mich in einen unruhigen Schlaf. Doktor Eichinger, den ich nachmittags noch anrief, riet mir, die doppelte Dosis einzunehmen.

Jetzt sitze ich nach einem kargen Frühstück am Schreibtisch und versuche Chrissis Post zu ordnen. Ich lächle, denn er war schon arg unordentlich. Ich sehe seine Hausschuhe und ich schlüpfe hinein. So fühle ich mich ihm näher, ja, das ist gut.

Ich mache Frühstück für mich. Ich brauche einen Kaffee, befülle den Filter zitternd mit Kaffeemehl und fülle Wasser in den Speicher.

Zum Glück ist Louis noch nicht da. Wenn er mich so sehen würde. Die Eltern seines Freundes versprechen, ihn am Nachmittag zu mir zu bringen. Sie wissen Bescheid. Sie sind entsetzt und versprechen, den Jungs nichts zu sagen, bis Louis wieder bei mir ist.

Nachmittags sieht Schorschi nach mir. Wir sitzen und klönen. Wir ordnen Chrissis Sachen aus dem Krankenhaus. Ohne nachzudenken, klappe ich sein Brillenetui auf. 50 Euro lächeln mir entgegen und auch der Ohrring ist wieder da. Oh Mann, ein Glück, dass ich im Krankenhaus keinen Stress machte.

Ich muss das mit diesen schnellen Verdächtigungen in den Griff bekommen. Es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert.

Als Louis samstagnachmittags nach Hause kommt, habe ich keine Kraft, es ihm zu sagen. Schorschi winkt ab. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Morgen ist Sonntag. Das ist die Zeit dafür.

Wir schauen zusammen Fußball und Louis kuschelt sich bei mir ein. Schorschi macht uns Spaghetti mit Tomatensoße. Was habe ich doch für großartige Freunde. Als ich ihn abends ins Bett bringe, schläft er ohne Gutenachtgeschichte schnell ein. War wohl ein aufregender Tag für ihn.

Ich ängstige mich vor morgen.

Ich schlafe unruhig. Louis kommt zu mir ins Bett, weil ich wohl im Schlaf schrie. Wie soll ich das meinem Kleinen beibringen? Er kuschelt sich eng an mich und Goldi schiebe ich beiseite. Zu dritt geht die Nacht ruhig vorbei.

Der Morgen graut und die Sonne schickt die ersten Strahlen ins Schlafzimmer. Es ist 6 Uhr und ich stehe auf. Wann bin ich schon mal so früh aufgestanden? Wie in einem Nebel tapse ich ins Bad, kurze Katzenwäsche, duschen mag ich heute nicht. Die Kaffeemaschine ist mein nächstes Ziel. Heute nehme ich die Kaffeetasse von Chrissi. Ich will ihm so nahe wie möglich sein.

Ich stehe mit der Tasse am Terrassenfenster und schaue über den See. Vor vielen Jahren kam mir hier Harald entgegen. Er starb viel zu früh. Und dann Dieter, mein wiedergefundener Zwillingsbruder, der sich einfach so aus dem Leben schlich.

Habe ich etwas an mir, was die Menschen, die ich liebe, so früh sterben lässt? Ist das mein Schicksal, weil ich meine Familie verließ? Meine Strafe für mein verbrecherisches Handeln, wie mein Sohn es damals per Mail schrieb?

Auch meine Kinder sind tot. Doch nun ist Louis da. Der Einzige, der mir blieb.

Ohne Louis bin ich allein. Verdammt noch mal, ich fühle mich so einsam in diesem Moment. Kurz danach bin ich böse auf Chrissi, dass er mich einfach so allein lässt. Ich möchte nicht allein sein! Louis ist da, gut, aber das ist nicht dasselbe. Ich brauche es geliebt zu werden und ich will lieben.

Lange stehe ich am Fenster und grüble vor mich hin.

Louis kommt irgendwann schlaftrunken an und hält sein Kuschelkissen fest.

„Wo ist Chrissipapa?“, fragt er. „Noch im Krankenhaus?“

Papa, das tut so weh, für ihn bin ich Opi Papa.

„Komm mal zu mir mein Junge, wir beide müssen jetzt ganz stark sein.“

Er läuft tapsend und immer noch das Kissen fest umfasst zu mir, kuschelt sich an meinen Bauch. Ich muss stark sein. Stark sein für meinen Jungen.

„Chrissipapa ist gestern etwas im Krankenhaus passiert, Louis“, sage ich leise und schaue ihn fest an. „Ein kleines Stückchen Blut hat sich aus seinem verletzten Bein gelöst und ist losgewandert. Sein Herz hat das nicht überstanden. Ich bin sehr traurig, aber dein Chrissipapa ist gestorben. Er passt jetzt auf uns beide von irgendwo im Himmel auf uns auf.“

„Das ist schlimm, Opi Papa, du weinst und ich weine auch. Aber wenn er von irgendwo auf uns beide aufpasst, dann ist das doch gut. Nicht wahr?“

Was habe ich doch für einen großartigen Jungen. Ich bekomme einen Heulanfall und mein Junge tröstet mich.

„Kann er uns besuchen kommen?“, fragt Louis.

„Ja, das kann er, aber wir werden ihn nicht sehen, wenn er da ist. Er begleitet dich jeden Abend ins Bett, aber er kann dich nicht zudecken. Ich werde dir wie immer eine Gutenachtgeschichte erzählen. Aber Chrissi wird nicht mehr zu uns sprechen können. Aber wenn du fest an ihn denkst, dann bemerkt er es auch.“

„Das ist nicht schön, Papa, ich vermisse ihn. Aber Hauptsache er weiß, dass ich mich in der Schule ganz doll anstrengen werde. Ich werde jeden Tag an ihn denken, damit er uns nicht vergisst.“

Jetzt nennt er mich mit einem Mal Papa. Er begreift, dass es eine schmerzliche Wendung in unserem Leben gibt und ordnet es für sich ein.

Nach langer Zeit und Jahren sehe ich im Hintergrund den Mann mit den stahlblauen Augen sitzen. Er schaut mich traurig an. Ich hatte ihn fast vergessen.

„Ich bleibe so lange bei dir, wie du es brauchst“, höre ich es flüstern. Und irgendwie tröstet es mich.

Der Sonntag verläuft unspektakulär. Louis versucht, mich nicht zu stören, und spielt im Garten mit Goldi. Einige Freunde übermitteln mir per WhatsApp und Facebook ihr Beileid. Warum rufen sie nicht an? Warum senden sie mir keine Karte? Wahrscheinlich fassen sie es so wie ich nicht, dass das Schicksal einen jungen Menschen einfach so aus dem Leben reißt. Schorschi hält sich ebenfalls zurück. Er möchte sich nicht aufdrängen. Doch ich ahne, warum er Angst hat. Er hat Angst, bei mir zu sein, weil er nicht weiß, was er sagen soll. Seine Beziehung zu Christoph war intensiver, viel intensiver als zu mir. Chrissi hatte mir einiges erzählt, aber sicher nicht alles. So vergeht der Tag mit einem schweigsamen Mittagessen und einem noch schweigsameren Kuchen essen. Ich muss mich zwingen, Nahrung zu mir zu nehmen. Louis hatte sich Pommes rot-weiß gewünscht. Aber auch er pikt die Pommes nur auf, taucht sie in den Ketchup und lässt sie liegen.

Irgendwann fragt er: „Bekomme ich einen neuen Papi?“

Ich zucke entsetzt zusammen? Das verstört mich jetzt und ich antworte: „Nein, natürlich nicht, Chrissi kann keiner ersetzen. Willst du denn das?“

„Nein, das will ich nicht. Aber du sollst nicht mehr traurig sein. Was ist mit einem guten Freund?“

Ich nehme meinen Jungen zu mir und drücke ihn ganz fest.

„Ich werde noch eine lange Zeit sehr traurig sein. Wir schaffen es beide zusammen, nicht wahr? Und mal sehen, vielleicht kommt irgendwann ein Freund zu uns.“

„Ja, Papa. Denn Chrissipapa wird dir dabei helfen und dieser komische Mann mit den blauen Augen auch. Er hat so merkwürdige Sachen an. Wer ist das? Ein Freund von dir?“

Ich schaue ihn erstaunt an. Was weiß er von dem Mann mit den blauen Augen. Nie sprach ich mit ihm darüber.

„Er war vorhin da, saß dort auf dem Stuhl und sprach mit mir. Hast du ihn nicht gesehen?“

„Ich sah nur Augen, früher machten sie mir Angst, aber ich weiß, dass er es gut mit mir meint. Was sagte er?“

„Er erzählte mir, dass er Ludwig heißt und früher ein Graf war. Du kannst dich nicht daran erinnern, weil du jetzt ein anderer bist.“

„Ich war stets Robert, seit meiner Geburt“, antworte ich.

„Nein Ludwig sagt, er kennt dich aus einer Zeit, in der du Johannes warst und nicht Robert.“

„Ich war immer Robert.“

„Nein das warst du nicht. Vor deiner Geburt warst du Johannes“, sagt er fest und energisch.

Ich schlucke, hole tief Luft und weit atme ich ein und aus. Dieser kleine Kerl und er sagt dies mit einer Bestimmtheit, dass ich Angst bekomme. Ich frage Louis, wie er das meint. Er antwortet, dass er nicht mit mir gesprochen hätte, und fällt in seine Kindersprache zurück.

Verdammt noch mal, was geht hier vor?

Was will dieser Mann? Er heißt Ludwig? Kenne ich einen Ludwig? Ich denke nicht und dennoch erzeugt dieser Name eine Gänsehaut bei mir. Lange denke ich darüber nach. Ich erinnere mich an kein vorheriges Leben. Und will ich das überhaupt? Gibt es so etwas tatsächlich? Was führte ich für ein Leben? War ich dort auch schwul oder verheiratet? Ich nehme mir vor, mehr darüber zu erfahren.

Louis und ich schauen am späten Nachmittag über einen Streamingdienst einen Disneyfilm an. Louis wünscht sich Schneewittchen, weil er die sieben Zwerge so lustig findet. Nun sitzen wir aneinander gekuschelt auf dem Sofa und freuen uns über die Handlung. Ach, wenn doch ein wahrer Kuss der Liebe meinen Chrissi zurückbringen könnte. Sogar mein Leben würde ich eintauschen für seins. Ich bin alt und Louis braucht einen richtigen Vater im richtigen Alter, nicht so einen grauhaarigen Kerl. Wenn ich ihn zur Schule bringe, dann fragen viele seiner Freunde: „Ist das dein Opa?“ Es ist wahr, ich bin sein Opa, aber muss man es mir denn so deutlich klarmachen?

Es ist Abend und Louis schläft schon. Ich schaue ins TV, Florian Silbereisen hat seine Show. Oli P. singt das Lied, kleine Taschenlampe brennt.

Ich sitze hier auf meinem Stern

Und lass im All die Füße baumeln

Oh ich warte auf die Nacht

Denn da kannst du mich gut sehen

Ich hab so Sehnsucht bin allein

Bitte komm doch heut noch

Kleine Taschenlampe brenn'

Schreib' ich lieb' dich in den Himmel

Und dann weiß ich es genau.

Keine Macht kann uns mehr trennen.

Ich erinnere mich an einen Tag, nach dem Harald starb. Ich ging damals zum Steg und zündete eine Kerze für ihn an. So bastele ich jetzt eine Laterne aus Papier, in die ich ein Teelicht setze.

Ich öffne die Tür zur Terrasse und die Abendkühle umfängt mich. Es ist stockdunkel. Der Mond und die Sterne verstecken sich hinter den Wolken. Langsam gehe ich zum Steg hinunter und knie mich hin. Ich zünde mit einem Kaminstreichholz das Teelicht an und setze die Papierlaterne auf die Wasseroberfläche.

Das Wasser fängt an zu kräuseln. Ein kühler Windhauch streift durch mein Haar, als wenn jemand mit den Fingern durch mein Haar streicht. Chrissi machte dies oft, wenn er sich anschlich. Ich drehe mich um, doch kein Chrissi ist zu sehen. Als ich mich wieder zurückdrehe, ist die Laterne auf dem See verschwunden. Ich erinnere mich an Geschichten von Oma Heilemann, dass man aufpassen muss, damit der Wassermann einen nicht holt. Früher hatte ich Angst, dann hatte ich darüber gelacht. Ich denke an meinen Traum vor Jahren, als Haralds Sohn Sebastian starb. Die zwei riefen mich aus dem See und es klang vertraut. Doch jetzt empfinde ich Furcht. Ob auch Chrissis Seele in diesem See ist? Wartet er hier auf mich?

Nachts ist es unheimlich hier am See, ich nehme mir vor, eine Beleuchtung legen zu lassen.

3. Kapitel – Der Geburtstag

Heute ist Chrissis Geburtstag. 44 Jahre jung wäre er heute geworden. Ich liege noch im Bett und als die Rollläden hochfahren, schrecke ich auf. Ich fühle, dass er neben mir liegt. Ich fühle seine Hand, die meine streichelt. Aber es ist Goldi, die an meinen Fingern schleckt. Ich lasse sie schlecken, versuche wach zu werden, doch die Träume, die ich hatte, nehmen mich noch weiter gefangen. Eine Straße, dunkle Nacht, ein Licht am Ende der Straße und unter mir Schnee, kalter Schnee. Ich hasse Schnee, ich versuche mich aufrichten, ich habe Schwierigkeiten, mich zu bewegen, meine Beine fühlen sich gelähmt an. Ein Pferd schnaubt neben mir und es fallen Schüsse. Und wenn der Knall ertönt, schrecke ich zusammen, wieder und immer wieder.

Ich konzentriere mich, nehme wahr, wie Louis ins Bad geht. Ist er tatsächlich allein aufgestanden? Ich glaube dies kaum und zwinge mich, aufzustehen. Ich strecke mich, das tut gut. Ich fühle mich besser, ein Glück. Schulbrote schmieren, Frühstück machen, da brauche ich nicht nachdenken, das geht wie automatisch von der Hand. Auch das Fahren zur Schule mache ich wie in Trance.

Ich werde aufpassen. Nicht dass ich durch meine Schludrigkeit noch einen Unfall verursache.

Nachher gehe ich mit Louis bei meinen Schwiegereltern zum Kaffeetrinken.

Wir beabsichtigen, gemeinsam an ihren Sohn zu denken. Das wird hart werden und ich weiß noch nicht, ob ich mich darauf freue, sie zu sehen. Sie sind doch etwas speziell.

Die Fahrt mit dem Auto dauert nicht lang. Ich freue mich darüber, wie liebevoll Mutter den Tisch gedeckt hat. Für Christoph ist ebenfalls ein Platz vorgesehen. Sein Bild steht dort eingerahmt vor dem Kaffeegedeck. Auf dem Teller brennt bereits eine Kerze und eine gelbe Rose liegt davor, seine Lieblingsblume.

Mir schießen die Tränen in die Augen und Mutter umarmt mich. Ich will aufhören zu heulen, muss stark sein für meinen Louis, der starr vor mir steht und mich entsetzt anschaut.

Christophs Vater bekommt es mit und lockt den Kleinen mit einer Probefahrt auf seiner Modelleisenbahn. Eine Koffereisenbahn. Ich hatte davon nichts gewusst. In Spur N das Ganze, beachtlich. Was weiß ich eigentlich über meine Schwiegereltern?

Als ich nach Hause komme, sinke ich erschöpft in meinen Sessel. Louis verlangte, bei Grandpa zu bleiben. Die Eisenbahn hat ihn fasziniert. Und Chrissis Eltern sind glücklich, wenn sie sich um ihren Enkel kümmern dürfen. Noch schnell eine Hunderunde mit Goldi gedreht, damit sie sich erleichtern kann. Glücklich schnuppert sie von Baum zu Baum, als wenn dort die Tageszeitungen ausliegen. Danach ist es Zeit, meine E-Mails zu checken. Der vorläufige Krankenhausbericht ist da. Chrissi hatte eine weitere unerkannte Infektion, die man zu diesem Zeitpunkt nicht erkannte. Daraus entwickelte sich ein Blutgerinnsel. Er hatte noch geklingelt, aber als die Schwester schnellstens zu ihm kam, war er bereits tot. Eine Reanimation schlug fehl. Man werde alles noch einmal untersuchen und dann berichten. Diese scheiß Ärzte. Ich nehme das Rotweinglas und schmettere es voller Wut gegen das Büfett in der Küche. Worte in einer Mail, die alles bei mir in Brand setzen. Verdammt noch mal, ich wünschte, Dieter wäre hier, um mich im Zaum zu halten. Mich festzubinden, damit ich nicht durchdrehe. Doch Dieter ist seit vier Jahren tot. Erfroren vor den Toren der Rehaklinik, in der er ersuchte, trocken zu werden. Weg vom Alk, der ihn zuletzt bestimmte.

Wenn jetzt hier jemand hereinkäme, den würde ich mir greifen und durchpeitschen, bis er wimmert. Danach ist mir. Dampf ablassen. Ob ich in den Darkroom ins TwoFlowers fahre? Jemanden abficke, bis sein Arsch wie Feuer brennt? Dieter würde es tun.

Dieter hatte dies oft getan, wie ich weiß. Ja genau, das werde ich tun. Goldi schaut mich traurig mit angelegten Ohren an und der Schwanz ist ängstlich eingeklemmt.

„Sorry, Lady“, sage ich zu ihr. „Ich muss raus. Pass gut aufs Haus auf.“

Eine halbe Stunde später bin ich mit dem Auto im Twoflowers. Ich habe mich mit meinen Lederhosen, die an den Beinen geschnürt sind, aufgebrezelt und auch die Haare gegelt. Nach dem Koma schaffte ich es, mein Gewicht weitgehend zu halten. So sehe ich nicht ganz so alt aus, wie ich bin. Meine grauen Haare verstecke ich unter einer Blondierungscreme, die nach dem Waschen rausgeht. Doch meine Sorgenfalten und die eingefallenen Augen vermag ich nicht zu kaschieren. Torsten, der Barkeeper, begrüßt mich überschwänglich wie immer, so als wenn ich zehn Wochen nicht da war. Doch es sind erst genau zwei Wochen her, dass Chrissi und ich hier herumschwoften. Verdammt.

Mir fällt ein, dass die ja noch nichts wissen. Und genauso ist es.

„Hey, Großer“, klopft mir Torsten freudig auf den Rücken. „Wo hast du deinen Kerl gelassen? Kommt er nach?“

„Chrissi ist tot, Torsten, vor drei Tagen gestorben im Krankenhaus.“ Ich fange an zu zittern.

Torsten schaut mich erschrocken an und dann zieht ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Er fährt das Auto weg, stimmts?“

Aber als ich nicht antworte, mir Tränen in die Augen steigen, ich noch mehr zittere, er mein eingefallenes Gesicht und die dunklen Augenränder sieht, erkennt er, dass es eben doch kein Scherz ist.

„Das ist nicht wahr, oder?“, fragt er und schaut mich direkt an und ihm fällt mein leichtes Kopfnicken auf. Lange stehen wir miteinander und irgendwann nimmt er mich einfach so in den Arm. Vom Band kommt irgendeine bescheuerte Musik und Torsten ruft laut: „Macht mal einer diese scheiß Musik aus. Muss euch was sagen, Nein, Robbi muss was sagen. Nein es ist besser, ich sage es“.

Die Musik verstummt und alle schauen zu uns.

„Unser Chrissi ist tot, Jungs, der Exsänger von The Lucky Clovers. Ihr wisst schon. Wer hier ist und ihn gut kennt, kommt bitte her. Ich gebe eine Runde Schnaps aus. Lasst uns auf unseren Chrissi anstoßen.“

The Lucky Clovers, mir wird schlecht. Ich vergaß doch tatsächlich, Tom, Frank und Michel Bescheid zu geben. Nachdem Chrissi aufgehört hatte zu spielen, hatten sie sich einen Keyboardspieler besorgt, der nun mit den dreien die Räume aufmischt. So konnte das Quartett weiter bestehen. Sie spielen alle drei Wochen hier und Chrissi hatte jedes Mal feuchte Augen bekommen, wenn wir den vier zuhörten. Der Keyboardspieler ist der Sepp aus Bayern und wie ich hörte, mittlerweile mit Michel zusammen. Ganz hinten im Publikum denke ich, ihn zu sehen. Doch es ist nicht Sepp, sondern der Mann mit den blauen Augen, der mich anstarrt. Warum verfolgt er mich wieder? Hat es etwas mit dem Tod von Chrissi zu tun? Heute hat er sich merkwürdig gekleidet. Er trägt ein Gewand aus einer anthrazitfarbenen, hellgrau gestreiften Hose und einem Cutaway in schwarz. Darüber eine silbergraue Weste, aus der eine silberne Taschenuhr hervor blitzt. Er stützt sich auf einen Spazierstock aus schwarzem Ebenholz mit einer silbernen Schlange als Knauf. Seine mindestens schulterlangen blonden Haare hat er zu einem Mozartzopf zusammengebunden.

„Wer ist das in diesem merkwürdigen Kostüm, da hinten?“, frage ich Torsten, der sich aus der Meute wurschtelt, um nach mir zu sehen, und um mir ein Gläschen Obstler in die Hand zu drücken.

„Wen meinst?“, Torsten schaut sich um. „Seh‘ viele, die sich auffällig kleiden, aber ein merkwürdiges Kostüm hat keiner von denen an. Kann es sein, dass du schon einen im Tee hast? Wie viel Gläschen hast du gemopst? Sei ehrlich, Mann. Sorgen schwimmen gerne, aber nicht so. Machst mir Angst.“

Doch ich sehe ihn, diesen merkwürdigen Mann. Sehe, wie er mich anstarrt, nicht böse, sondern fürsorglich, fast liebevoll. Was ist das hier? Ich versuche, mich durch die Leute zu drängeln, die mit mir auf Chrissi anstoßen möchten. Ich erinnere mich an früher, an Zeiten, in denen ich diese Augen sah. Den ganzen Mann in dieser Aufmachung sah ich nie. Ich spüre ein merkwürdiges Kribbeln auf meiner Haut. Das letzte Mal sah ich ihn, nachdem ich aus dem Koma erwachte und mit Chrissi zusammen war. Ich grüble darüber nach, was er sagte. Er wäre der Begleiter meines Lebens, meinte er vor Jahren. Er wäre jemand, der seit meiner Geburt die Lebensweichen, die ich mir vornahm, überwacht. Und noch was, er verabschiede sich vorübergehend von mir. Ahnte er den Tod von Chrissi, wusste er sogar, dass er nicht mehr so lange zu leben hat? Was hat er vor, mir zu sagen?

Ich bin ihm nah, sehe ihn an, das Gesicht kommt mir bekannt vor, doch ich kann es nicht zuordnen. Er sitzt da und schaut mich nur an. Ich komme mir vor, als wäre ich plötzlich in einem Nebel gefangen und plötzlich höre ich seine Stimme: „Ihr werdet mich an meinen stahlblauen Augen erkennen, ich werde euch auffallen, aber ihr werdet euch an mich nicht erinnern, denn euer Leben soll ohne äußeres Beeinflussen ablaufen, von dem, was ihr euch vorgenommen habt.“

„Was habe ich mir vorgenommen? Wer bist du? Was willst du?“. Meine Stimme zittert, als ich dies sage. Anschließend fühle ich ein sanftes Berühren meiner Haut. Es ist wie ein Flüstern, zart, fast zärtlich und liebevoll. Dann ist er weg. Ich sehe mich erstaunt um, doch von ihm ist nichts mehr zu sehen. Die Leute schauen mich erstaunt wie einen Verrückten an, der mit jemanden redet, der nicht da ist. Ein déjà vú. Schon einmal erblickte ich ihn hier. An dem Tag, an dem ich Chrissi wiedersah. An dem Tag, als ich mit Dieter hier war und er uns nicht unterscheiden konnte. Ich schmunzle. Das war lustig. Denn alles wiederholt sich und ist doch anders.

Ich bemerke, wie auffällig ich mich verhalte. Viele Freunde sehe ich plötzlich, die mich anstarren. Und ich sehe Tom und Frank, die auf mich zugehen, um mich fest in den Arm zu nehmen. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Drei Tage sind es her und ich informierte sie nicht. Das bekomme ich sofort zu spüren. „Hey Alter, sind wir dir nicht mehr wichtig genug? Ich musste es soeben von Torsten erfahren. Warum hast du nicht angerufen?“ Auch Tom schaut mich empört an und beginnt dann zu grinsen.

„Ich, ich.“, stottere ich.

„Bleib entspannt mein Lieber. Schorschi hatte uns noch am gleichen Tag Bescheid gegeben. Er bat uns, dich und Louis zunächst in Ruhe zu lassen.“ Tom klopft mir freundschaftlich auf die Schultern.

„Hat er das?“, verdattert schaue ich ihn an. „Sorry, ich war durch den Wind, wusste nicht, wie ich es dem Kleinen erkläre. Aber er ist tapfer.“

„Das ist alles sehr, sehr schwer für dich, das verstehen wir vollkommen, aber lass uns nicht außen vor, hörst du? Chrissi war wichtig für uns alle, auch wenn er zum Schluss nicht mehr spielen mochte. Aber er ist seit eben Ehrenmitglied von The Lucky Clovers, nicht war Kumpels?“ Alle nicken zustimmend. Michel und Sepp schwirren um mich herum, drücken mich, herzen mich und Sepp drückt mir einen kleinen Kuss auf die Lippen. Was ist das denn jetzt?

Frank bemerkt es wohl, schmunzelt kurz und überspielt diese Szene mit einer wichtigen Frage:

„Also los, Robbi, wie können wir helfen? Was können wir dir abnehmen?“ Frank und Tom sowie alle anderen schauen mich auffordernd an und ich weiß, dieser Blick verlangt kein Ausweichen, sondern eine direkte Antwort und ja, ich brauche Hilfe, insbesondere bei der Beisetzung.

„Zur Beisetzung wird von CD das Lied Careless Whisper gespielt und danach Jesus to a child, ich werde einen Teil der deutschen Übersetzung vorlesen, wäre großartig, wenn ihr dabei wäret und auch ein paar Worte über Chrissi sagen würdet.“

Ich atme aus, das fiel mir jetzt schwer und ich habe Angst vor dem, was kommt, denn ich weiß genau, sie werden es sich nicht nehmen lassen, dort für ihren verstorbenen Freund zu spielen, und genau das versuchte ich zu vermeiden. Aber warum eigentlich nicht? Was wäre denn daran so falsch. Und ich weiß die Antwort. Es ist meine Trauer, nicht ihre. Ich bin es, der meinen Mann verlor und nicht die anderen, verdammt, das tut so weh. Doch dankbar nehme ich ihr Angebot dann doch an.

Der Abend vergeht, wie er anfing, traurig und in Trauer. Keiner schafft es, mich aufzuheitern, und irgendwann gehe ich einfach, als keiner auf mich achtet. Sie sind so freundlich und lassen mich gehen. Allein. Denn das brauche ich jetzt, Alleinsein. Ich werde eine Kerze zu Hause anzünden und sie ins Fenster stellen. Für Chrissi, für meinen Liebling. Doch zunächst muss ich noch mal mit Goldi vor die Tür. Schnell macht sie ihr Geschäft und läuft schon vor ins Bett und kuschelt sich auf Chrissis Seite ein.

4. Kapitel – Zwischen den Zeiten

Die nächsten Tage vergehen und ich funktioniere irgendwie. Ich bringe morgens Louis in die Schule, hole ihn mittags ab. Zwischendurch gehe ich mit dem Hund spazieren. Chrissis Eltern übernehmen viel und kümmern sich sehr um den Jungen. Ich mag allein sein, mag mich für meine Trauer, die auch meinen Kleinen belastet, nicht erklären müssen. Ich lasse ihn in diesen Tagen nicht an mich ran. Das ist ein Fehler, und ich werde es später bereuen, aber momentan geht es nicht anders.

Ich verlor zu viel in diesem Leben. Zuerst mich selbst. Als ich mich wieder fand, starb Harald, dessen Sohn, die Tante, später Dieter, mein wiedergefundener Zwillingsbruder. Er starb in seinem Suff und erfror hundert Meter vor der rettenden Klinik, in der er zum Entzug war. Schließlich meine eigenen Kinder, meine Enkeltochter Isabella, die ich nur einige Stunden kennenlernen durfte.

Sie starben bei diesem fürchterlichen Flugzeugunglück in Madrid. Danach hoffte ich auf eine ruhigere Zeit, nach dem wir knapp vier Jahre verheiratet waren. Was ist meine Schuld, dass mir das immer wieder passiert? Wie viel Leid habe ich noch zu ertragen? Als ich dachte, es ist in meinem Leben genug gestorben, kommt nun der nächste Schicksalsschlag.

Noch immer habe ich Albträume. Chrissi konnte damit umgehen. Louis kann es nicht, denn auch er durchlebt schlimme Träume und ich vermag ihm nicht zu helfen. Chrissi konnte es, las dabei eine seiner unnachahmlichen Geschichten vor. Diese Geschichten! Irgendwann werde ich sie sammeln. Er hatte sie aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen, wenn Louis sie noch ein weiteres Mal zu hören begehrte.

Ich habe Angst. Angst, vor dem, was auf mich zukommt. Ich erinnere mich an Madrid, als mir diese chilenische Familie bedeutete, dass ihnen an dem Jungen nichts liegt. Hat Jasmin damals den Vater des Kindes erwähnt? Ein One-Night-Stand. Aber einen Vater muss es geben. Meine Aufgabe ist es, ihn zu finden. Er hat zu begreifen, dass er Vater ist. Dass er sich um sein Kind später zu kümmern hat, wenn ich nicht mehr bin. Jetzt mehr als sonst. Jetzt, da Chrissi tot ist. Das nehme ich mir in diesem Moment vor und ich weiß, dass dafür ein Wunder zu geschehen hat. Ich bin fast 70 Jahre alt und ich vermag Louis nicht mehr lange das Heim zu bieten, was er benötigt.

Besuche beim Bestattungsinstitut und beim Caterer bestimmen die nächsten Tage. Der Caterer bekommt den Auftrag für den Tag der Beisetzung, ein kleines Fingerfood in den Garten zu bringen. 25 Traueranzeigen bestelle ich. Ich habe keine Ahnung, an wen ich sie senden soll. Langsam taste ich mich vor, finde Chrissis Notizbuch. Tante Anke steht oben unter A. Oh mein Gott, ich habe noch nicht mit ihr telefoniert. Da klingelt die Türglocke und Goldi schlägt wie wild an. Überraschenderweise steht Anke draußen vor der Tür. So als wenn Chrissi sie herbei rief.

„Was machst du denn hier?“ Oh menno, diese Frage war unnötig. Dies ist mir jetzt so was von peinlich.

Aber es ist wie ein Wunder. Sie kommt herein, nimmt mich fest in den Arm und ich weiß, alles wird gut. Sie ist nur sechs Jahre älter als ich. Aber, so wie sie Chrissis Halt und Stütze war, so ist sie jetzt meine.

„Oh mein guter Junge. Ich kanns nicht glauben, der liebe Junge, so jung noch und schon tot, das hat er nicht verdient. Gesche erzählte mir schon so einiges. Doch ich muss es auch von dir hören, oder ist das jetzt zu viel für dich? Auwei, ich plappere hier und plappere. Ich vermute mal, dass ich bei Gesche und Karl-Heinz zu viel Sabbelwasser getrunken habe, nimm‘ s mir nicht übel, Junge. Also was wolltest du sagen?“ Goldi springt an Tantchen empor, wedelt fleißig und freut sich, dass Besuch da ist.

Schnauf, tief Luft holen, denke ich… Gesche überlege ich. Stimmt, das hatte Chrissi mal erzählt. Gesche heißt seine Mutter und der Vater Karl-Heinz. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich das schon lange verdrängt, sprach sie nie mit ihren Vornamen an. Sie waren immer Mutter und Vater für uns und Tante Anke war eben immer Tante Anke. Ich weiß bis heute nicht, wie sie mit Nachnamen heißt. Anke und Gesche kommen wohl von der Nordseeküste. Nach dem frühen Tod der Eltern sind sie allerdings noch vor der Mauer nach Berlin-Pankow zurückgekehrt. Chrissi erzählte mal, dass die Eltern der beiden damals 1944 aus Berlin flüchteten. Die Mutter war wohl hochschwanger gewesen. Aber dies ist dann auch schon alles, was ich weiß, keine Fotos, keine Erinnerung, nur mündliche Erzählungen. Die Familienbücher und weitere beweglichen Güter erreichten nie ihr Ziel, waren auf immer und ewig in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verschollen. Ich erinnere mich, dass Chrissi öfters davon redete. Er tat dies mit gewissem Stolz, dass seine Urgroßmutter noch eine Baronin gewesen sei. Allerdings hinterließ sie keinen Besitz, denn dieser wurde im Krieg zerstört. Sie wäre nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach einem Sturz im Schnee erfroren, mehr wusste Chrissi nicht zu berichten. Wie sich die Geschichten gleichen. Auch Dieter erfror in einer kalten Nacht.

Immer wieder dieses Ostpreußen, denke ich in diesem Moment. Warum hat dieses verlorene Land so viel Macht über mich, dass ich in unruhigen Nächten davon träume. Jetzt, wo Tante Anke hier ist, bekomme ich vielleicht auch Antworten über die Familie von Chrissi.

Gleich kommt Louis aus dem Hort zurück. Wird er sich über den Überraschungsbesuch freuen? Einige Tage nach Chrissis Tod hörte er auf zu sprechen. Seine Klassenlehrerin rief mich vorgestern an und meinte, dass Louis psychologische Betreuung bräuchte. Er nehme aufmerksam am Unterricht teil. Aber wenn man ihm eine Frage stelle, würde er nur mit Kopfnicken oder Kopfschütteln antworten. Stattdessen schreibe er in seiner Kinderschrift die Antworten auf einen Zettel und reiche ihn anschließend seiner Lehrerin. Die Hausaufgaben wären vorbildlich, die fehlende sprachliche Kommunikation jedoch ein Hindernis.

Ich musste mich arg zurückhalten. Chrissi ist noch nicht beigesetzt, der Schock ist nicht nur bei Louis groß, aber warum bitte gleich einen Psychologen. Wenn er andere Formen der Kommunikation fände, wäre es doch gut.

Genauso sagte ich es der Klassenlehrerin. Anschließend fragte ich sie, wie sie mit einem Kind, welches von Geburt an stumm wäre, umgänge.

„Dann wäre es in einer Integrationsklasse“, meinte sie schnippisch. „So was haben wir aber hier nicht.“ Natürlich. Hatten wir noch nicht, machen wir nicht und da könnte ja jeder kommen.

Ich bin diese Sprüche leid. Typisch Verwaltung. Immer die Verantwortung auf andere abschieben. Das sagte ich aber nicht, schluckte es hinunter und bat die Lehrerin um Geduld.

Aus meinen Erinnerungsfetzen holt mich Tante Anke hervor, die um einen Kaffee bittet und mich intensiv anschaut.

„Junge, du bist zwar hier, mit deinen Gedanken jedoch woanders. Was war eben?“

Ich schaue sie traurig an. „Louis spricht nicht mehr und seine Lehrerin beschwerte sich vorgestern. Louis kommt gleich aus dem Hort.“

„Schafft er den Weg allein?“, fragt sie besorgt.

„Ja, in der Regel schon.“ Ich schaue auf die Uhr. „Ich fahre mit dem Auto, heute hole ich ihn besser ab, obwohl er dabei meistens grimmig schaut.“

„Das mach du mal, mein Junge, ich mache uns inzwischen Waffeln.“ Sie schaut in den Kühlschrank und strahlt. „Perfekt gefüllt. Du hast wohl schon alles dafür eingekauft. Das ist lieb von dir.“

Dankbar lächle ich verlegen kurz zurück. Die Tür geht noch mal auf, Tantchen lässt Goldi in den Garten und winkt mir nach. Ich fahre immer noch mein altes Cabrio, den smaragdschwarzen Mercedes CLK. Er ist mir lieb und teuer und ich bringe es nicht übers Herz, ihn wegzugeben. Heute scheint die Sonne und ich mache das Dach auf. Louis liebt es, wenn ich mit ihm offen fahre.

5. Kapitel – Gespräche am Abend

Es wurde spät gestern Abend. Louis war glücklich, Tante Anke zu sehen, sprach jedoch kein Wort.

Sie las ihm seine Lieblingsgeschichte vor, die mit der Tischdecke. Louis starrte nur an die Wand und schlief irgendwann ein. Als ich abends nach ihm sah, schluchzte er im Schlaf.

Ich fühle mich überfordert. Drinnen wartet Tante Anke auf Gespräche mit mir. Hier liegt mein Junge, mein Enkel, schluchzt im Schlaf und ich bin hilflos.

Ob sich das später legt? Ich weiß es nicht. Ich werde ihm alle Zeit der Welt verschaffen.

Morgen ist die Beisetzung. Ich habe eine kleine Rede vorbereitet. Ich bitte alle anderen, auch etwas über Chrissi zu sagen, wie sie ihn erlebten, wie sie um ihn trauern. Ich weiß, dass ich viel verlange, aber ich verlange es auch von mir.

Als ich Tante Anke meine Rede vorlese, fängt sie an zu weinen. „Das ist so schön, das freut Chrissi bestimmt. Aber ob ich was dazu zu sagen vermag. Ich fange doch jetzt schon an zu heulen.“

„Erzähl mir von ihm. Er erzählte Einiges, aber nicht das Wichtige, denke ich. Doch halt, erzähle mir lieber von dir. Von deiner Kindheit. Chrissi hatte immer nur angedeutet, dass seine Urgroßmutter eine Baronin war. Damit flunkerte er wohl, denke ich, oder?“, ich schaue Tante Anke erwartungsvoll an.

Wir haben es uns gemütlich gemacht in der alten Küche, in der schon Oma Heilemann gekocht hatte. Chrissi und ich saßen viele Jahrzehnte später hier so oft. Mit der alten Kochstelle, die immer noch die Küche wärmt, war es hier äußerst gemütlich.

Doch heute ist es warm, die Terassentüren stehen offen und lassen die vom See gekühlte Abendluft herein.

„Nein, das hat er nicht“, sagt Tante Anke unvermittelt und ich schaue sie überrascht an.

„Meine Großmutter war die Baronin Herta zu Kunzen aus Königsberg. Sie hatte zwei Töchter, Gerlinde und Mathilde, meine Mutter. Meine Mutter starb bei der Geburt von Gesche, meiner Schwester. Mein Vater erschoss sich kurz darauf, weil er mit der Verantwortung nicht klarkam. Das hielt er nicht aus. Ich war zwei Jahre, als das passierte. Auch ich bin eine geborene von Gerstäcker. Geboren im bitterkalten Dezember 1943, oben in Ording.“

Überrascht und geschockt über diese tragischen Ereignisse höre ich weiter zu. Obwohl nicht meine Geschichte, ist es stets interessant, von anderen ihre Erzählungen zu hören. Königsberg also, Ostpreußen, da kam Chrissis Familie her. Möglicherweise träume ich deshalb so oft davon. Ich muntere Tante Anke auf weiterzuerzählen, oder habe ich sie jetzt Baroness zu nennen?

„Nachdem unsere Eltern starben, kamen wir beide in eine Pflegefamilie nach Berlin-Pankow. Vor vierzig Jahren heiratete Gesche ihren Karl-Heinz und ich meinen Hugo. Hugo versuchte, nach 1961 zu fliehen, und starb am Todesstreifen der Mauer im Kugelhagel. Einer der mindestens 140 Menschen, denen dies widerfuhr.“

Mir wird übel, Tante Anke erzählt dies mit einer Leidenschaftslosigkeit, die ihres Gleichen sucht.

„Dann kam Sören und entführte mich zurück nach Nordfriesland. Er war ein entfernter Cousin der von Ammens, ohne dessen Namen führen zu dürfen. Das hatte ihn immer gegrämt, dass er nur Petersen hieß.“

Von Ammen, denke ich, was für Namen, von Gerstäcker, alles nobler Adel. Der Name von Ammen kommt mir irgendwie bekannt vor. Sofort hake ich nach.

„Von Ammen, wer ist das jetzt, eine andere Familie?“

„Von Ammen ist die Familie von Gerlindes Mann, der Schwester meiner Mutter. Auch diese Familie lebte hier in Nordfriesland. Mehr weiß ich nicht, die Schwester und ihr Mann verstarben wohl früh. Ob da Kinder waren, geht aus den Unterlagen, die ich besitze, nicht hervor. So wie es aussieht, sind die restlichen Dokumente beim Einmarsch der Russen verloren gegangen.“

„Schade, wirklich schade, das hört sich alles spannend an. Meinst du es gibt noch Personen, die sich daran erinnern?“

„Die alte Wencke vielleicht. Sie wohnt noch in Ording, war die Hebamme meiner Mutter, wie Nachbarn mir erzählten. Bisschen tüdelig ist sie schon wohl, kam öfter mal in den Holzstrand, als sie noch laufen konnte. Jetzt ist sie fast hundert Jahre alt und lebt im betreuten Wohnen. Erzählt hatte sie nichts, mag mit dem olden Tügs nichts zu tun haben, sagt sie immer.“ „Danke, habe ich deine Erlaubnis, da nachzuforschen? Ist es dir Recht, wenn Louis und ich bei dir wohnen, wenn wir mal an die Küste kommen? Bisher waren wir doch nur mit dem Wohnmobil oben bei dir.“

Anke beginnt zu strahlen. „Na klar doch Junge, ihr seid doch meine Familie. Seid jederzeit willkommen. Louis wird sich freuen. Ihr wart schon so lange nicht mehr bei mir. Platz ist genug da. Weißt du doch. Das Haus hatten meine Eltern Gesche und mir vererbt. Sören hatte es später modernisiert und erweitern lassen.

„Sören, dein Mann, auch er starb, wie du erzähltest.“

„Er liebte es im Watt zu wandern. Eines Tages kam er nicht mehr zurück und ertrank jämmerlich in einem Priel. Ein Kind von ihm blieb mir damit leider verwehrt und danach ergab sich nichts mehr. Er war ein guter Jung, büschen unvorsichtig, nun ja, das hat er nun davon. Gesche hat noch ihre Neffen Björn und Kilian von der Schwester von Karl-Heinz. Ich hatte immer nur Chrissi. Chrissi war der Sohn, den ich mir immer wünschte. Gesche konnte mit ihm kaum was anfangen. Er war schon früh dabei, auf Gitarren zu klampfen. Er sang dazu und machte mit allem Musik, was ihm in die Finger kam, sogar mit Topfdeckeln. Gesche war außer sich und für Karl-Heinz war dies Unfug. So flüchtete sich Chrissi nach der Wende oft zu mir. Und ja, ich fühlte mich wie seine Mutter und genau deswegen…….“.

Ankes Erzählung erstirbt in einer Heulattacke. Ich nehme sie in den Arm und versuche, sie zu trösten, doch es bringt nichts. Irgendwann heulen wir gemeinsam.

Ihre Erzählungen berühren mich. Ich merke das erste Mal, dass auch Tante Anke gealtert ist. Sie wird 75 Jahre alt und es ist ihr nicht anzusehen. Jeder würde sie auf 65 schätzen. Ich vermag Tante Anke zu überreden, ins Gästezimmer zu ziehen. Und jetzt liege ich hier im Schlafzimmer und frage mich, warum mich das alles so mitnimmt. Ich meine nicht, dass Chrissi tot ist, nein! Das ist ein völlig anderer Schmerz. Ich meine die Geschichte von Tante Anke, die mir so nahe ist, als wenn ich sie selbst erlebt hätte.

Im Traum sehe ich erneut den Mann mit den stahlblauen Augen. Er trägt einen weißen Schal und ich tanze mit ihm in irgendeinem Keller Tango.

Der Schlaf ist unruhig und ich erschrecke von einem lauten Knall, als wenn eine Bombe ins Haus einschlug. Als ich wach werde, weiß ich, dass es nur ein Traum war. Als ich aufschaue, sitzt im Stuhl vor mir der Mann mit den stahlblauen Augen und schaut mich wehmütig an. Ich sah ihn schon öfters, aber nie so dicht und nie so intensiv, so als wenn er tatsächlich real wäre.

„Was willst du von mir?“, frage ich laut und erregt. „Wer bist du? Wie ist dein Name? Warum verfolgst du mich?“

Lange passiert nichts, doch als sein Abbild sich langsam im Hintergrund auflöst, höre ich es flüstern: „Ludwig bin ich und du Jons. Frage Anke. Ich werde dich beschü……….“

Nichts… absolut nichts ist mehr zu hören. Ludwig heißt er also, aber warum sagt er, ich wäre Jons, ich heiße doch Robert. Was soll das alles? Was hat das mit Anke zu tun? Oder habe ich geträumt? Ich erinnere mich, dass auch Louis von einem Ludwig und einem Johannes sprach.

Am nächsten Morgen frage ich Tante Anke nach Ludwig. Aber sie kann mit den Namen nichts anfangen. Eines hat sie für mich noch parat. „Meine Mutter führte Tagebuch, fiel mir heute Nacht ein. Vielleicht finden wir dort etwas. Unsere Pflegeeltern gaben es uns zum 18. Geburtstag, als sie uns beichteten, dass wir nur adoptiert waren. Gesche nahm das Heft damals an sich. Ich hoffe, sie hat es noch. Ich habe es niemals gelesen und auch Gesche traute sich nicht, wie sie mir mal verriet.“

Wir trinken einen Kaffee zusammen und machen uns langsam fertig. Louis schwirrt aufgeregt herum, denn Chrissis Eltern brachten ihn vorhin zurück, weil wir