Renda - Paul Martín - E-Book

Renda E-Book

Paul Martin

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Beschreibung

In diesem Roman sind Schicksal, spätes Outing mit begleitendem schwerem Burnout und eine sich daraus entwickelnde Depression mit Angst und Panikattacken ein Thema. Über Robert wird berichtet, wie er belastende Flashbacks aus seiner Kindheit erlebt, die ihn bis heute prägen. Er verliebt sich nach Jahren des Haderns mit sich selbst in einen Mann, den er aus seiner Jugendzeit kennt, er outet sich vor seiner Familie, verliert sie dadurch vollständig und die Welle, die darauf folgt, nimmt ihm die Luft zum Atmen. Robert erlebt in dieser Zeit eine Achterbahn der Gefühle und entdeckt dabei ein altes Familiengeheimnis. Die folgenden Schicksalsschläge an denen er sich die Schuld gibt, würden ihn überrollen, wenn da nicht der Enddreißiger Christoph wäre, der das nicht zulässt, dass sein Eisbär einfach so aufgibt. Ich hoffe, dass jeder in seinem Leben so einen Christoph findet. Ich habe ihn jedenfalls gefunden und gebe ihn nie wieder her.

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Seitenzahl: 392

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Um existierende Personen nicht zu verletzen, wurde der Roman in einen fiktiven Rahmen mit einer fiktiven Handlung gesetzt. Trotzdem ist der überwiegende Teil ansatzweise erlebt. Dabei wurde die Funktion lebender Personen völlig verändert, mit anderen Namen versehen und im Wesentlichen in völlig andere Kontexte gesetzt. Sollte sich doch jemand angesprochen fühlen, sei ihm für seine Hilfe, wenn es denn eine war, gedankt. Der Autor bekennt sich mittlerweile offen zu seiner Homosexualität.

Dieses Buch enthält detaillierte Beschreibungen von erotischen und sexuellen Handlungen mit entsprechender Wortwahl. Darum ist das Buch nur für volljährige Leser geeignet, die sich nicht an homosexueller Erotik stören.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel - Erinnerungen

Kapitel - Rückkehr

Kapitel - Harald

Kapitel – Der Kuss

Kapitel - Begreifen

Kapitel – Verborgene Gefühle

Kapitel – Die Mutter

Kapitel – Warten

Kapitel – Im Schuppen

Kapitel – Die Ehefrau

Kapitel – Familienessen

Kapitel – Das erste Mal

Kapitel – Der Junge

Kapitel - Erklärungen

Kapitel - Flucht

Kapitel - Christoph

Kapitel - Zusammensein

Kapitel – Am See

Kapitel – Dr. Eichinger

Kapitel - Panik

Kapitel - Kartoffelsuppe

Kapitel - Sommerferien

Kapitel - Gescheitert

Kapitel – Ein Brief

Kapitel - Überraschungen

Kapitel – Der Bruder

Kapitel - Dieter

Kapitel – Neue Wege

Kapitel – Im TwoFlowers

Kapitel - Chaos

Kapitel - Schuld

Kapitel - Hoffen

Kapitel – Nenn mich nicht Schnucki

Kapitel - Weihnachten

Kapitel - Nähe

Kapitel – Die Beichte

Kapitel - Vertrautheit

Kapitel - Verzweiflung

Kapitel – Der Streit

Kapitel - Erkenntnisse

Kapitel - Entscheidungen

Kapitel – Vorsätze

Kapitel – Zwischen den Jahren

Kapitel – Der Anruf

Kapitel - Bruderliebe

Kapitel – Eine Nachricht

Kapitel – Das letzte Mal

Kapitel – Das Wiedersehen

Kapitel – Dunkle Schatten

Kapitel – Ende und Aus?

Epilog

Zum Autor

Für die ganz Ungeduldigen:

Eine Vorschau auf Teil 2:

Vorwort

Wir sind immer Herr unserer Entscheidungen, auch wenn es vielleicht manchmal nicht so aussieht. Wir können angebotene Methoden ausprobieren, Anregungen annehmen und wir können Vorschläge ablehnen oder uns gegen bestimmte Ideen wehren, die uns erreichen. Auf keinen Fall sollten wir aber das Leben von anderen leben, sondern zusehen, den richtigen Weg für sich selbst zu finden.

Ich glaube fest daran.

Ich glaube auch daran, dass es Helfer gibt, die einfach zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle sind und die es manchmal für nötig halten, uns in die richtige Richtung zu schubsen, wenn es mal gar zu arg wird oder wir den Weg völlig verlieren. Manchmal kreuzen sie nur kurz unseren Weg, manchmal bleiben sie länger und manchmal bleiben sie für den Rest des Lebens bei dir.

St. Peter-Ording gibt es natürlich und war dem Autor viele Jahre ein Ort des möglichen Rückzuges. Das Schnorpicon gab es bis Ende 2018. Wieder mal wurde ein wunderbarer toleranter Treffpunkt für immer geschlossen. Das Café Holzstrand gibt es nicht. Jedoch befindet sich an der beschriebenen Stelle ein sehr zu empfehlendes Restaurant. Ob dort ein smarter Kellner wie Christoph bedient, kann ich jedoch nicht versprechen.

St. Peter Ording wird im zweiten Teil des Romans eine noch größere Rolle spielen, wenn Christoph seine Geschichte mit Robert erzählt und bis zum Happy End fortführt.

Paul Martín

Prolog

Es war jetzt kurz nach Mitternacht im Juli 1954 und Hermann rutschte unruhig auf den wackeligen Holzstühlen hin und her. Vor jetzt fast sieben Stunden hatte er seine hochschwangere Frau in der Gluthitze des Tages in die Charité gebracht. Die Wehen kamen zu dem Zeitpunkt alle 20 Minuten. Er hatte genau auf seine Uhr geschaut und diese ständig kontrolliert. Würde es ein Junge werden oder ein Mädchen?

Er wünschte sich so sehr ein Mädchen. Sie würden es Gabriele nennen. Überhaupt war es wie ein Wunder für ihn. Vor noch 10 Jahren lag er nach einem Lungensteckschuss in Norditalien in München im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Drei ganze Jahre sollte er dort bleiben müssen, bis aus dem blassen Jungen, der kaum noch atmete, dessen blondes Haar verschwitzt über die Stirn fiel, ein gekennzeichneter junger ernster Mann wurde, der sich mit Müh und Not gerade so auf den Beinen halten konnte.

Sein Vater hatte ihn 1947 aus München abgeholt. Sein Bruder war in Russland geblieben, gefallen den Ehrentod, wie die Anzeige bestätigte. Damals hätte er nie gedacht, dass er Vater werden würde. Er hatte Angst davor. Seine Kriegsverletzung hatte ihm eingebracht, dass die rechte Oberkörperseite fast wegoperiert war. Das Herz musste mit zwei von fünf Lungenflügeln klarkommen. Es war nicht einfach und oft bekam er schlecht Luft.

Sie hatten doch immer aufgepasst. 4 Jahre ging es gut. Und plötzlich Vater werden…?

Er musste raus aus diesem stickigen Saal, hinaus in die klare Nachtluft. Lange lief er durch die Straßen und vergaß fast, wieso er hier war. Als das Gewitter einsetzte, es anfing zu grummeln, zu donnern und es in Strömen anfing zu regnen, rückte er seinen breitkrempigen Hut zurecht und ging langsam zum Krankenhauseingang zurück.

Die Krankenschwester, die nach ihm suchend durch die Gänge lief, atmete auf, als sie ihn sah und zog ihn sofort in ein Krankenzimmer, indem seine Frau liegen würde. Er stürmte hinein und küsste seine Frau, aus der Hutkrempe tropfte das Wasser auf das Bett herab und seine Frau gluckste vor Freude. Die Schwester kam und legte zwei Buben in die Arme seiner Frau.

"Zwei?", stotterte Hermann ganz verstört, "das geht aber nicht."

Keiner der Anwesenden sah den Mann mit den stahlblauen Augen, der zu sich sagte: „Jetzt geht es los.“

1. Kapitel - Erinnerungen

Seine erste größere Schicksalswelle erreicht Robert auf der Autobahn Richtung Berlin, irgendwo in der Pampa. Robert ist jetzt 58 Jahre alt, verheiratet, schüchtern und total verklemmt. Sex ist für ihn ein Fremdwort geworden und wenn dann nur abends in Handarbeit. Zusätzlich zu seiner Beamtenlaufbahn im 40 Stunden Modus wöchentlich, gibt er Seminare an einem Berliner Bildungsinstitut. Er ist gut und versiert, hat seine Fangemeinde, die nur zu seinen Seminaren will und wird auch für Inhouseseminare gebucht, also Seminare die nicht in Berlin stattfinden, sondern in den Räumen der Behörde, welche die Deckung des Fortbildungsbedarf eingekauft hat. Diese Seminare außerhalb mag Robert ganz besonders. Dann kommt er mal raus aus seinem Trott. Dafür nimmt er fast seinen ganzen Urlaub und erarbeitet sich durch Überstunden weitere Tage.

Er trägt heute einen hellgrauen Anzug eines bekannten Herstellers, seine braunen Lederslipper, und im Kofferraum steht sein Aktenkoffer mit Kommentaren und seinem Laptop.

Er ist über 1,84 m groß, trägt eine randlose Brille, seine Haare sind fast weiß, kurz geschnitten, er hat einen Wohlstandsbauch und er fährt ein Mercedes Cabrio. Nicht, dass dies sein Wunschauto ist. Es war eher der Wunsch seiner Frau und seiner Kinder insbesondere seines Sohnes, der hoffte, damit dauerhaft zur Schule fahren zu können, um anzugeben. Allerdings bekam der Sohn nie die Schlüssel zu diesem Wagen, nachdem er sich mit dem Zweitwagen, einem Fiesta, mindestens dreimal eine dicke Beule eingefahren hatte. Das wurmt seinen Sohn natürlich, aber er sieht ein, dass sein Vater nur mit einem schicken Auto beim Bildungsinstitut vorfahren kann und nicht mit einem verbeulten Fiesta. Robert wäre dies egal, aber er findet langsam Gefallen an dem schnellen Geschoß.

Es ist Anfang Oktober und für diese Jahreszeit noch ziemlich warm. Als er die Stadt verlässt, in dem er drei Tage lang Verwaltungsmitarbeiter schulte, weiß er noch nicht, was ihm heute passieren wird.

Denn es gibt Tage im Leben, die das Schicksal für einen Neuanfang vorgesehen hat. Wenn der Tag beginnt, weiß man noch nichts davon. Man ist weder darauf vorbereitet, noch kann man es ändern, sondern nur darauf reagieren. Die Art der Reaktion ist es, was man aus diesem Tag macht und erst Jahre später wird man feststellen können, ob man es richtig gemacht hat.

Für Robert hat das Schicksal den heutigen Tag ausgewählt, denn er ist zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle und wählt die richtige Reaktion, obwohl er es lange Zeit nicht glauben wird.

So fühlt er nach zweistündiger Fahrt mit einem Mal das Bedürfnis, anhalten und rasten zu müssen. Da weder Rastplatz noch sonst eine einladende Möglichkeit auftaucht, bemerkt er Hinweise zu einer provisorischen Ausfahrt. Später wird er sich nicht mehr dran erinnern können, weshalb er dies tat. Doch schauen wir weiter was nun passiert:

Er ist ermüdet, seine Augen flimmern, das Seminar war anstrengend. Er ist ermüdet von den dauernden Fragen der Seminarteilnehmer, diesem unwillkommenen Stören in der Mittagspause: ‚ach ich wollte nur mal was fragen, ich habe da gerade einen Fall auf dem Schreibtisch zu liegen. ‘ Dies ist unhöflich, wenn man gerade erschöpft von seinem Rosinenbrötchen abbeißen will.

So schaltet Robert ohne weiter nachzudenken den Tempo-Mat seines Mercedes CLK ab, betätigt mit sanftem Fuß die Bremse und lenkt den Wagen in Richtung dieser Ausfahrt. Nach einigen hundert Meter Fahrt auf der schmalen Straße wechselt der Asphalt zu einem Schotterweg.

Robert wundert sich, eine Ausfahrt ohne Ziel, denkt er. Er hofft immer noch, dass er irgendwo zu einem Dorf kommt, wo eine Tasse Kaffee für ihn bereit steht. Doch dann endet auch dieser Schotterweg. Ein Holzgatter versperrt die Weiterfahrt mit einem eindeutigen Verkehrsschild: Durchfahrt für Kraftfahrzeuge aller Art gesperrt. Wohin sollte man dort auch fahren können, denn hinter dem Gatter wächst Gestrüpp wild durcheinander. Kurz vor dem Gatter weitet sich die Schotterstraße jedoch zu einer Art Parkplatz, breit genug für zwei Wagen.

‚OK, kurze Pause’, denkt Robert, lenkt den Wagen auf den Parkplatz, stellt den Motor ab und tritt mit dem linken Fuß kräftig die Parkbremse nach unten.

Er geht zum Gatter, nach dem er wie automatisch den Wagen sichert, um zu schauen, was sich dahinter befindet. Ein Pfahl steckt neben diesem Gatter in der Erde. Stark verwittert und nur noch leicht durch einen Steinhaufen haltend. Ganz grün vor Feuchtigkeit ist dieser Pfahl. Viele Risse durchziehen ihn und weiße Fäden bekräftigen den ersten Eindruck von Moder und von der Existenz von Holzkäfern, die wohl schon ganze Arbeit geleistet haben. Vor vielen Jahren muss wohl ein Brett an diesem Pfahl festgenagelt gewesen sein. Zwei rostige Nägel zeugen davon. Doch Wind und Wetter und natürlich auch mangelnde Pflege ließen die Nägel das Schild vor Erschöpfung eines Tages herabfallen. Vielleicht hat ein leichter Windstoß genügt, möglicherweise auch ein starker Regenguss, der den Pfahl und die Nägel dazu brachte, das Schild einfach fallen zu lassen.

Groß ist die Überraschung für Robert, diesen Pfahl zu sehen, denn er erkennt diesen Ort in diesem Moment, er hatte ihn nur lange Zeit vergessen. Er ist irritiert, und in ihm wächst plötzlich eine Sehnsucht, nach all dem was er dachte, verloren zu haben.

Das Schild war zu Recht abgefallen, kommt es Robert in den Sinn, denn der Pfahl hatte dieses Schild nie gemocht.

Robert sieht dieses Schild förmlich vor seinen Augen. Er kennt jede Stelle dieses imaginären Schildes, welches an diesem Pfahl einst befestigt war.

Er kennt dieses Schild genau. Er weiß, wo er jetzt ist. Niemals hat er es für möglich gehalten, noch einmal hier stehen zu können, an der Stelle, wo alles begann.

Er starrt den Pfahl an und bekommt eine Gänsehaut. Er merkt, dass etwas mit ihm passiert und er überlegt was ihn hierher geführt hat? Da war diese Ausfahrt. Das Rad des Schicksals beginnt sich zu drehen und Robert erlebt seinen ersten Flashback.

Der sechsjährige Robert hatte dieses Schild gemacht, geschlagen aus einem Stück Birkenholz, gespalten mit der Axt des Großvaters. Er hörte seine Stimme: ‚Robbi, pass auf, nicht zu heftig’. Seine ganze kleine Kinderkraft legte er in diesen Schlag hinein. Mit vollem Schwung sauste die Axt auf den Block, auf dem das Birkenscheit stand. Durch den Schlag stoben die gespaltenen Teile zur Seite. Robert nahm einen Teil davon glücklich in die Hand, reckte ihn triumphierend in die Höhe und schaute den Großvater freudestrahlend an.

Dieser nickte nur zufrieden. Denn dieses Nicken, dass wusste Robert genau, war Stolz. Stolz auf das Kind, welches ihn Großvater nannte, aber doch nicht sein Enkel war.

Robert hatte dieses Schild bemalt. Er hatte Hagebutten und Tollkirschen auf dem Hauklotz verrieben, mit Wasser vermischt und gedacht, der rote Farbstoff der Beeren würde eine gute Farbe abgeben.

Großvater hatte nur gelacht und holte aus seinem Schuppen einen Topf roter Anstreichfarbe zusammen mit einem schmalen Borstenpinsel. Diese Farbe sei sicher beständiger als das Mus der Hagebutte und Tollkirsche, sagte er.

Robert nahm dankend den Pinsel, tauchte ihn in das geöffnete Gefäß, ließ die dicke Farbe etwas am Dosenrand ablaufen, so wie es ihm der Großvater gezeigt hatte und begann den Namen des Ortes auf das Schild zu schreiben, welches für ihn der schönste Platz der Welt war:

RENDA

Sein Aussichtsplatz. Der Platz von dem er über den Garten, über das Haus und bis an das andere Ufer des Sees sehen konnte.

Keiner wusste, was Renda bedeutete, vielleicht wusste es selbst Robert nicht einmal. Doch dieser Name war für ihn bedeutend, wie kein anderer. Sein Platz, sein Rückzugsrefugium, der Punkt, von dem er seine kleine glückliche Welt überblicken konnte.

Großvater half ihm daraufhin, das Schild anzuschlagen. Er nahm seinen schweren Bootshammer und trieb zwei lange Nägel ins Holz. Robert war jung, gerade sechs Jahre alt, die Möglichkeit Holz mit seinen gerade erst wachsenden Muskeln spalten zu können, hatte ihn übermütig werden lassen.

Er mochte auch zuschlagen, es war sein Schild, es war nicht recht, dass Großvater dies allein durfte. Er wollte auch seinen Teil dazu beitragen….

Er quengelte solange, bis Großvater ihm den Hammer lächelnd in die Hand legte und ihn aufforderte, den letzten Schlag zu machen, um den Nagel endgültig ins Holz zu treiben.

Großvater hielt den Pfahl fest, dieser ächzte und stöhnte bei den Schlägen von Robert. Doch diese Schläge waren nicht fest genug, um die Nägel vollends hineinzutreiben.

Es war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall.

Der Hammer war doch zu schwer für Robert. Großvater hätte dies wissen müssen. Robert holte noch einmal ganz weit aus. Seine Hände waren schweißig von der Anstrengung des Holzspaltens. Farbreste machte die Hand noch schlüpfriger. Robert holte aus und der Hammer rutschte durch den starken Schwung aus der schweißigen, rutschigen Kinderhand.

Blut strömte aus des Großvaters Stirn, dieser hatte versucht, dem Hammer auszuweichen, der genau auf ihn zuflog, der sich verselbstständigte in seinem Schwung, in seiner Kraft.

Robert rannte davon, als der Großvater vor Schmerz anfing zu schreien und die Großmutter mit aufgeregten Rufen angelaufen kam.

Er rannte, ohne zu wissen, wohin, lief und lief und lief nur fort…

Fort, nur fort in ein anderes Leben…..

Robert wischt sich die Erinnerungen an diesen Tag von der Stirn und beschließt weiter zugehen. Was wird ihn dort unten erwarten? Er hat Angst vor den Erinnerungen, welche ihn hier ereilen könnten. Doch dann öffnet er das Gatter, bahnt sich einen Weg durch das Gestrüpp und begibt sich in den Garten seiner Kindheit, der unterhalb dieses Hügels liegt.

Langsam, ganz langsam, immer daran denkend, dass er womöglich abgleiten könnte, setzt Robert nun einen Fuß vor den anderen. Er sucht Halt an den Wurzeln, an hervorspringenden Steinen, er hält sich an Pflanzen fest, von denen er hofft, dass sie ihn halten würden. Der nur schmale Pfad windet sich vom kleinen Parkplatz, an dem er seinen Wagen abgestellt hat, durch das dichte Gebüsch hinunter zu der Stelle, wo er es vermutet, wo es sein muss, wo es immer war, wo er als Kind so schöne Stunden verlebte.

Wenn er gewusst hätte, dass er noch mal zu dieser Stelle kommen würde, hätte er anderes Schuhwerk angezogen. Seine hellbraunen Lederslipper sind kaum geeignet, um mit sicherem Schritt den kaum wahrnehmbaren Pfad hinab zusteigen. Sein hellgrauer Anzug verfängt sich in den Dornen der Heckenrosen, die den Pfad säumen.

Doch in diesem Moment achtet er nicht mehr darauf. Er wollte nie mehr hierher zurückkehren, sich nie verantworten müssen, für seine Tat. Eine Tat, an der er doch unschuldig war. Er war doch noch so klein. Er hatte es verdrängt. Er hatte es in einen Karton gepackt und tief in seiner Seele in einem Schubfach verstaut. Doch das Fach ist jetzt offen und die Ereignisse werden Robert überströmen.

Er vollbrachte eine Tat, welche wie ein böser Albtraum auf ihm liegt. Diese verschlossene Schublade fängt immer dann an zu klopfen und zu rufen: „Mach mich auf!“, wenn er es nicht schafft, sich abzulenken, seine Gedanken davor zu blockieren. Er muss ständig sein Gehirn kontrollieren und durch Beschäftigung davor bewahren, dass diese Erinnerung sich wieder breit machen kann in seinem Kopf.

Er hätte den Wagen wenden sollen, als er das Gatter sah und diesen Pfahl daneben. Diesen Pfahl, der dieses unliebsame Schild vor vielen Jahren wohl fast endgültig abgeschüttelt hatte, als wäre es ein unwillkommener Gast. Doch trotzdem konnte er nicht widerstehen. Wie auch! Gegen das Schicksal kann man sich nicht behaupten.

Bilderfetzen gehen Robert durch seinen Kopf, als er den Pfad weiter hinab steigt. Hohe Gräser, stachelige und verwilderte Heckenrosenbüsche mit knallroten Hagebutten, weichen Schilfdolden, welche die Nähe eines Gewässers anzeigen.

Diesen See!

Seinen See!

Er hätte zurückfahren müssen, als er den Pfahl sah, seinen Wagen wenden, zurück zur sicheren Autobahn fahren müssen, zurück zu seinem Heim, seiner Frau, seinen beiden Kindern. Doch jetzt war er neugierig geworden. Das Schicksalsrad hatte seine Wirkung getan. Hatte den Lauf der Zeit in die richtige Richtung gebracht. Er weiß es nur nicht. Ahnt nicht, was ihn in den nächsten Monaten und Jahren erwarten wird. Es ist gut, wenn man es nicht weiß, sonst würde man sich dem Lauf des Schicksals entgegenstellen und das Ergebnis wäre dann womöglich eine Katastrophe.

Gibt es noch das Haus? Das Haus in dem er die schönsten Stunden seiner Kindheit verbrachte. Das Haus, in dem sonntags die Großmutter die leckeren Kuchen buk, die mit den vielen Streuseln, die er immer zuerst vom Kuchen ab pulte, weil sie so herrlich knusprig waren.

Streusel, die auf frisch gepflücktem Obst lagen, je nach Jahreszeit dunkelrote Kirschen, säuerliche grüne Stachelbeeren, dicke rote Johannisbeeren, Apfelschnitze mit getrockneten Beeren als Rosinenersatz oder geviertelte Pflaumen. Der Garten des Hauses war eine Quelle für alle Köstlichkeiten, an die ein Junge in diesem Alter denken konnte.

Fuß um Fuß, Schritt um Schritt folgt Robert nun seinem Schicksal an diesem Pfad entlang, der ihn hinab in diesen Garten bringt, hinab zu den glücklichen Kindertagen, hinab aber auch zu der Verantwortung, der er sich nie gestellt hat, sich nie stellen musste.

Robert zieht sein Jackett aus und klemmt es unter den Arm. Er hätte es im Wagen lassen sollen, doch darin waren seine ganzen Papiere, seine Kreditkarten usw.

Warm ist es an diesem Herbsttag im Oktober. Die Sonne brennt hinab, wie sie es den ganzen Sommer über nicht getan hat und nun wohl alles nachholen will.

Ein Vogel fliegt oben am Himmel, an dem kaum eine Wolke steht: „Geh weg! Geh weg!“ ruft er oder auch nur kiewitt, kiewitt. Robert versteht es nicht genau.

Ein Hund aus einem fernen Gehöft schlägt an und Robert beschleunigt seine Schritte, nach dem der Pfad ihn vom Hügel hinab in den Garten führt. Dort erlebt er den zweiten Flashback dieses Tages.

Früher war es ein wundervoller gepflegter Garten. Gleich wenn man vom Hügel hinunterstieg, befand sich rechts der Apfelbaum mit der Sitzbank, die der Großvater selbst gezimmert hatte.

Großmutter saß hier oft und schaute mit ihm Bilder aus dem dicken Buch an. Bilder ihrer Eltern, ihrer Tante, ihrer Schwiegereltern, ihren Nachbarn, ihrem Hochzeitsbild mit Großvater.

Robert war erstaunt gewesen, dass Großmutter auf dem Bild so jung aussah. Auch Großvater sah recht schneidig aus in seiner Uniform.

‚Unsere Marmeladenhochzeit’, sagte Großmutter immer an dieser Stelle verträumt und stets lugte ein kleines Tränchen aus ihrem Auge heraus, was Robert zu dieser Zeit nie verstand. Erst viel später sollte er erfahren, dass die Hochzeit nicht mit viel selbstgemachter Konfitüre zelebriert wurde, sondern dass es eher etwas mit der Tochter seiner Großmutter zu tun hatte, die sich zu diesem Zeitpunkt schon recht rege in dem kleinen Bäuchlein rührte, welches gekonnt unter dem weiten Hochzeitskleid versteckt war.

Die Bank ist fort, der Apfelbaum steht allein dort, die Triebe sind verholzt und kein Apfel lockt mehr zum Pflücken. Keine Kinder hören mehr dem Blätterrauschen zu.

Er erinnert sich, dass er früher sehnsüchtig auf der Bank wartete, bis ein Apfel herabfiel, den er aufhob um dessen köstlichen Geschmack zu genießen. Pflücken durfte nur die Großmutter. Selbst Großvater durfte nicht in den Baum steigen, um die köstlich süßen Äpfel zu pflücken.

2. Kapitel - Rückkehr

Links vom überwucherten Weg stehen die Stachelbeersträucher, welche noch einzelne Beeren des erschöpften Hochsommers tragen. Rechts, am zusammengefallenen Gartenzaun, recken sich Zweige der Johannisbeersträucher in die Höhe.

Moose, Brennnesselranken und wildernder Giersch haben vom Weg Besitz genommen, doch Robert versucht sich durch diese Wildnis den Weg zum Haus zu bahnen.

Die riesige Eibe, welche er damals mit Großvater pflanzte, steht noch und verdeckt mittlerweile vollständig die Sicht auf das Haus.

„Ob es noch bewohnt ist?“ Fragt sich Robert. Doch dann würde der Garten wohl gepflegter aussehen.

Links hinter dem Haus war der Zaun zur Straße, die um den See herum zum Dorf und zum früheren, mittlerweile aufgelassenen Bahnhof führt. Vielleicht hätte er erst dort schauen müssen. ‚Was soll’s’, denkt er.

‚Eigentlich wollte ich doch nie zurückkehren. Doch nun bin ich hier.’

Großmutter und Großvater Heilemann waren nicht seine richtigen Großeltern, sondern eigentlich die früheren Nachbarn der Mutter in deren Heimatort. Mit den Kindern der Heilemanns spielte sie oft. Die Eltern seiner Mutter Martha, seine richtigen Großeltern, sind tot und kurz vor Kriegsende bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Heilemanns übernahmen damals kurz nach seiner Geburt mit voller Freude diese Großelternfunktion.

Er hatte nach dem Mauerbau nie mehr etwas von ihnen gehört. Er erfuhr zwar, dass Großvater Heilemann seine Hammerattacke überlebte, konnte sich aber nie rechtfertigen, nie entschuldigen, für sein Weglaufen, seine Flucht vor der Verantwortung. 1962 starben dann beide plötzlich und unerwartet.

Marlies, die eine Tochter der beiden Heilemanns hatte sich auf die Briefe der Eltern von Robert nie gemeldet, sie sahen nur einmal deren ältere Schwester Konstanze mit ihrem ältesten Sohn Harald anlässlich einer Besuchsregelung. Den zweiten Sohn von Konstanze bekam er nie zusehen. Es war wohl ein adoptiertes Kind, weil die Eltern alles aufgaben und in den Westen flüchteten. So wurde es jedenfalls erzählt. Westkontakte mit Nichtverwandten waren damals nicht erlaubt, konnten zwar nicht verhindert werden und wurden verschwiegen.

Robert erinnert sich, dass Marlies Heilemann als Lehrerin arbeitete, eine 150prozentige, wie die Mutter immer mit traurigem Blick berichtete. Mit der älteren Schwester Konstanze, durfte die Mutter früher öfter mal spielen. Eigene Kinder hatte Marlies keine, war wohl auch nie verheiratet, in der Partei aber recht aktiv gewesen, so die Mutter. Mochte wohl auch Kinder nicht sonderlich, versuchte ihre eigene Unzufriedenheit die Kinder spüren zu lassen, sie zu bestrafen, für was auch immer sie meinte zu bestrafen und runzelte meistens ihre Stirn, wenn sie Robert bei ihren Eltern sah. Er lächelt wegen dieser Abstrusität und bekommt dafür sofort den dritten Flashback geliefert.

‚Aha, das Feindkind ist wieder da’, Robert wusste zunächst nicht was das bedeutete, konnte nicht verstehen, wieso er ein Feind sein sollte. Die Mutter konnte es ihm ebenfalls nicht erklären oder wollte es auch nicht. Doch später findet er heraus, dass sie und Roberts Mutter noch nach Kriegsende die besten Freundinnen, Nachbarinnen waren. Doch während das Haus von Großmutter und Großvater Heilemann im Bombenhagel der letzten Kriegstage verschont blieb, wurde das Haus der Eltern von Roberts Mutter zerstört. Mutter war an diesem Tag gerade an der Fachschule. Die Gesellenprüfung als Schneiderin stand kurz bevor, als Kolleginnen ihr eines Morgens erzählten: ‚Du, in deinem Dorf, da sind jetzt auch Bomben gefallen, einiges ist da wohl zerstört worden.’

Mutter rannte zur Bahn, sämtliche Schnittzeichnungen liegen lassend, den Betriebsleiter schimpfend beiseite schiebend. Los, los, nur nach Hause, zu den Eltern, zu ihrem Heim. Die Bahn fuhr noch. Fuhr durch Stadtteile, die keine mehr waren. Deren Strukturen man nicht mehr zu erkennen glaubte. Grausige, schwarze verkohlte Mauern ragten in den düsteren Himmel und fegten am Fenster der Bahn vorbei. Und doch gab es noch Leben dort. Kein Krieg, keine Bomben konnten den Willen der Menschen brechen, die nur noch hofften, dass dieser fürchterliche, zermürbende Krieg endlich zu Ende sein möge.

Zitternd saß die Mutter auf der Abteilbank, die Hände gefaltet, betend, dass ihr Heim verschont geblieben war, aber doch ahnend, dass es vielleicht doch nicht so sein konnte.

Als die Bahn nach langer Fahrt in dem kleinen Ort ankam, rannte die Mutter, so schnell wie sie ihre Füße tragen konnten, nach Hause. Doch es war zu spät. Gleich hinter dem kleinen Bahnhof, nächste Querstraße links, Nummer 24, hätte es stehen müssen, das Haus. Doch sie ahnte den kommenden Schrecken in dem Moment, als sie den Eisenbahnwagen verließ, die Tritte hinunter stieg, mit Hunderten von anderen Menschen, die auf dem Land versuchten, etwas von ihrem Hab und Gut gegen Lebensmittel einzutauschen.

Sie roch den Rauch, das Feuer.

‚Lieber Gott, lass es nicht zu Hause gewesen sein’, dachte sie. Sie bog um die Ecke und sah die Eltern ihrer Freundin, welche hilflos vor dem Haus standen, eng umschlungen, weinend, schluchzend und da wusste sie es, noch bevor sie das Gesicht der Nachbarin sah, die die Arme ausstreckte und sie klagend auffing.

‚Sie haben’s nich jeschafft, Lütte, schau nich hin, bitte nich….’

Die Feuerwehr war ooch noch nich hier. Is noch bei de Schule, auch die is jetroffen worden, allet die Kinda dort, meen jotte nee, warum hat det allet keen Ende nich…..’

Doch die Mutter hörte nicht auf sie, rannte zum Haus, zum dem Haus, welches nicht mehr da war, es hatte doch kein Recht dazu, einfach nicht mehr da zu sein, nichts war mehr dort, nur der Giebel stand noch anklagend vor ihr. Das Fenster ihres Zimmers…. Die Mutter konnte hinter dem rußgeschwärzten Fensterkreuz den Himmel sehen, glutrot, Rauch verhangen.

Der Türbalken war herabgestürzt, hatte ihre Eltern bei der Flucht aus dem Haus begraben, wie eine verkohlte übergroße Puppe lag der Vater dort, der hintere Schädel weggesprengt. An den Schuhen erkannte sie ihn. Die Haare verkohlt, der Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, verschmort in der Glut des Feuers. In der knochigen Hand noch die Hand seiner Frau. Den Rest weggesprengt, zu Einzelteilen zerborsten. Die Zellen zerstoben….

Die Erde glühte noch vom Feuer. Der Dampf des Löschwassers bildete später einen unnatürlichen Nebel über den Krater hinter dem Giebel. Die Bombe war direkt ins Haus gestürzt.

Mutter roch das verbrannte Fleisch ihrer Eltern, das verbrannte Glück ihrer Kindheit.

Sie wäre in diesem Moment zusammen gebrochen, erzählte sie Jahre später ihrem Sohn, und dass sie erst Stunden später bei den Nachbarn in deren unzerstörtem Haus aufwachte. So wurden die Nachbarn zu ihrer Familie.

Robert hatte einmal eine Hausarbeit zu schreiben über die Schrecken des Krieges. 16 Jahre war er da, was wusste er von diesen Schrecken, die er nicht erlebt hatte. So fragte er seine Mutter.

Sie erzählte ihm dieses Erlebnis, es war ihr persönlicher Schrecken gewesen. Doch der Lehrer sah es anders: Thema verfehlt, Note 6, ungenügend, stand unter der Arbeit.

Die persönliche Geschichte sei ja wirklich ergreifend und sicher traurig, wäre aber nicht das Thema dieser Hausarbeit gewesen, vielmehr wurde erwartet, dass sich die Schüler mit den Schrecken auseinanderzusetzen hätten, den Deutschland verbreitet hatte. Somit Thema verfehlt.

So einfach machen es sich Lehrer, denkt sich Robert in diesem Augenblick. Zum Glück ist er nur Dozent, kein Lehrer, der begutachten und werten muss. Der sein Wissen und manchmal auch sein Nichtwissen weitergibt, in der Hoffnung, dass ein Stückchen davon in Erinnerung bleiben würde.

Wie würde es Marlies die frühere Freundin der Mutter es gewertet haben? Sie, die Lehrerin. Die Freundin, die plötzlich zur Feindin wurde. Mutter wurde stets traurig, wenn sie davon erzählte.

‚Die Zeit, Robert, das ist halt die Zeit. Wenn man einen Krieg verloren hat, dann ist das halt so’, meinte stets die Mutter.

Robert war sich damals sicher. Nie wollte er einen Krieg verlieren. Was immer das auch war.

Es ist jetzt schon später Nachmittag, ja in den frühen Abendstunden, so zwischen 18 und 19 Uhr. Der rote Sonnenball, der mit seinen langen Strahlen ein wunderschönes Abendrot an den fast wolkenlosen Himmel zaubert, wirft einen langen Schatten der mächtigen ausufernden Eibe auf den Weg, dessen unregelmäßige Steinplatten fast unter dem Moos und dem Bewuchs des Gartens verschwunden sind.

Dahinter muss gleich das Haus der Großeltern auftauchen. Nach dem Krieg wurden alle Ruinen im Dorf abgerissen um die Steine für einen Neuaufbau an einem anderen Ort zu verwenden. Nur das Haus der Heilemanns, gelegen an einem kleineren See, blieb stehen, allein auf weiter Flur.

Robert findet es ungefähr 30 Meter entfernt zwischen den mittlerweile riesigen Bäumen stehend, mit seinen festen Holzbalken, seinem mächtigen Giebel über der blau gestrichenen Eingangstür mit dem tief heruntergezogenen Vordach, welches durch zusätzliche dicke massive Balken fest im Erdboden verankert war und früher jedwedem Regen strotzte.

Rechts das Küchenfenster mit ebenfalls blau gestrichenen Fensterläden und einem extra tiefen Fensterbrett. Dort stellte die Großmutter immer ihre leckeren Kuchen zum Auskühlen hin.

Wie lange musste dies her sein, als das letzte Mal der köstliche Duft von Großmutters Streuselkuchen am Fensterbrett auf diesem Weg seine Nase fand. Auch als damals Robert die Flucht seiner unglücksvollen Tat antrat, war die Großmutter gerade am Backen gewesen.

Zwei Kuchen sollten es an diesem Tag sogar werden, denn am nächsten Tag wollten die Großeltern in die Stadt fahren und seine Eltern besuchen, um Robert nach Hause zu bringen. Die fertigen Kuchen wollte die Großmutter dazu mitnehmen.

Robert war oft bei seinen geliebten Ersatzgroßeltern, so wie sich sein Vater Hermann oft ausdrückte. Die Ferien über immer, denn Roberts Eltern hatten nicht genug Geld. Vater war im Krieg schwer verwundet worden, bekam, nach dem er nicht mehr arbeiten konnte, nur eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente und Mutter Martha versuchte durch kleine Näharbeiten etwas hinzuzuverdienen. Da war nicht viel Platz in der ständig leeren Geldbörse für Urlaub.

Dieses Wochenende war Robert bereits am Samstag früh gekommen. Der Vater hatte ihn gebracht. Durch seine Kriegsbeschädigung hatte er das Recht kostenlos zu fahren und außerdem noch eine Begleitperson mitzunehmen. An diesem Tag durfte Robert diese Begleitperson sein und darauf war er sehr stolz.

Die Eltern hatten Karten für die Komische Oper geschenkt bekommen und wollten ihren Sohn nicht allein zu Hause lassen. So durfte Robert bei den herzlichst verehrten Großeltern übernachten, in seinem wunderbaren Bett, welches der Opa Heilemann eigens für ihn gebaut hatte. Am hinteren Giebel lag die kleine Kammer, ganz unter dem Dach, mehr ein Verschlag auf dem Dachboden als ein vollwertiges Zimmer, aber für Robert das Reich für seine Träume.

Hier konnte er aus dem kleinen Giebelfenster den gesamten See überblicken, konnte die Wildgänse fliegen und den Fischreiher in den frühesten Morgenstunden noch zu einem leckeren Mal in den See tauchen sehen.

Doch diesmal nahm dieser Tag kein schönes Ende, denn er verletzte seinen Großvater mit dem Hammer am Kopf.

Weg, weg, nur weg, sich nicht verantworten müssen, fort, fort, nur nach Hause.

Wie betäubt rannte er die Abkürzung über den kurzen Weg den Berg hinauf, am Schild entlang zum naheliegenden Bahnhof. Gerade ertönte der lang gezogene Pfiff des Stationsvorstehers. Er wollte Robert noch zurückhalten, doch Robert war schnell. Die Lok stöhnte und ächzte unter ihrer Last.

‚Ich fahr jetzt los, ich fahr jetzt los’, die schmutzverkrusteten, roten Räder der Dampflokomotive drehten sich immer schneller. Weißgrauer Dampf stieß aus den seitlichen Kolben der Lok hervor. Der wabernde Dampf legte sich über den Boden, versperrte Robert teilweise die Sicht, doch er rannte weiter, war schneller als der langsam anfahrende Zug, der zur fernen Stadt zurück wollte.

Robert holte schnell den letzten Wagen ein, zog sich an der Perronstange empor und sprang auf, sich dabei mit dem linken Fuß am schwarzen, gusseisernen Puffer abstoßend.

Der zweiachsige 3. Klasse-Wagen, der von seinem Vater „Donnerbüchse“ genannt wurde, war leer. Erst mit dem letzten Zug würde es wieder voll werden. Vor der Donnerbüchse war ein sogenannter „Hecht“ gekuppelt, ein vierachsiger, schlank wirkender Personenwagen.

In diesem war eine Toilette, am Ende des Waggons eingebaut. Robert schaffte es bis dorthin, ohne, dass ihn einer in diesem größeren, mit einigen Fahrgästen besetzten Wagen sah.

Zitternd öffnete er die Tür zur Toilette und schloss sich ein.

Eine dreiviertel Stunde brauchte der Zug in die Stadt zurück. Früher waren es nur 20 Minuten gewesen, doch die Gleise waren teilweise demontiert worden und das ramponierte Schotterbett ließ keine schnelleren Fahrzeiten zu.

Es war eine Ewigkeit für den am Boden zusammen gekauerten, zitternden und schluchzenden Jungen. Keiner nahm Notiz von ihm auf der Fahrt zurück in die Stadt.

Diese vielen Flashbacks, die ihn regelrecht überrollen, erschöpfen Robert und er will sich irgendwo ausruhen.

Nur wenige Schritte muss er durch die verkrautet gewachsenen Fingerhutstauden gehen, denen der wildernden Giersch mit den Dolden bildenden Schafgarbenstauden, fast die Luft zum Atmen abdrückt. Noch einmal rechtsherum, vorbei am hoch und dicht gewachsenen Schlehenstrauch, aus dessen Früchte wundervolles, herb schmeckendes Gelee gemacht werden kann.

Robert erinnert sich auch an eine Flasche mit flüssigem Gelee, nach dessen Genuss sich der Großvater stets mit Wohlbehagen schüttelte und dabei mehrmals mit der geballten Faust auf den Tisch haute, wenn diese Flüssigkeit in seinen Magen hinab gluckerte.

Wenn Robert ihn dabei verstohlen beobachtete, dann zuckten dessen dichte weißen Augenbrauen lustig hin und her. Meistens bot er Robert an, von dieser geheimnisvollen Flüssigkeit zu kosten, aber Großmutter kam dann stets schnell herbeigeeilt und schloss die Flasche wieder weg, noch bevor Robert den Mund aufmachen und freudig: ‚Ja gerne, Großvater’ sagen konnte.

Ob noch eine Flasche in Großvaters Geheimfach stand?

Robert hatte ihn einmal beobachtet, wie er an dem großen Bücherregal, welches rechts neben dem steinernen Kamin in der ‚Guten Stube’ stand, eine kleine geschnitzte Rosette im Holz drückte. Eine Stollenleiste öffnete sich und gab dabei ein geheimes Fach frei, groß genug für einen kleinen Vorrat von Großmutters ortsbekannten Schlehenschnapses, wohl versteckt für jene Stunden, zu denen Großmutter die große Flasche nicht rausrücken wollte.

Ob Großvater ihn damals gesehen hatte, fragte sich Robert öfters. Wohl nicht, denn er hatte sich gut hinter dem Türrahmen versteckt, der nur ganz leise knarrte. Robert hatte sich vorgenommen, irgendwann einmal sich an dieses Fach zu schleichen und unbeobachtet und nicht reglementiert von Großmutter von diesem tollen, flüssigem Gelee zu kosten.

Da steht das Haus, groß und mächtig wie eh und je, wie früher in seinen Kindertagen. Doch das vertraute Vordach fehlt. Nur noch die morschen Holzbalken schauen aus der Giebelwand hervor. Teile des Daches sind herabgefallen und liegen auf der dreistufigen Treppe, deren Ziegelsteine noch hinlänglich erhalten sind.

Die Fensterscheiben sind zwar überwiegend blind vor Schmutz und Spinnweben, aber sie sind nicht zerbrochen oder eingeworfen. Von der blau gestrichenen Eingangstür ist der Schutzlack überall durch Feuchtigkeitseinwirkung aufgequollen und abgeplatzt. Doch es ist eine stabile Tür, welche Großvater damals eigenhändig gebaut hat, weil der Druck der Bombe, die das Nachbarhaus zerstörte auch die alte Tür eingedrückt und aus den Angeln gehoben hatte.

‚Ein gutes Holz, das hält ein Leben lang’, hatte Großvater immer betont.

Die Erinnerungen überfordern den alt gewordenen Robert. Zaghaft klopft er an, fast glaubend es würde sich die Tür öffnen und Großmutter und Großvater würden heraustreten und ihn in die Arme nehmen. Das ist die ganzen Jahre sein Wunsch gewesen, seine Hoffnung, sein Traum.

3. Kapitel - Harald

Robert steht nun vor dem alten Haus und es übermannen ihn weiter die Erinnerungen, so dass er sich kurz auf die Stufen setzen muss, um wieder zu Atem zu kommen.

Nach seiner überstürzten schrecklichen Rückkehr aus dem Vorort Berlins musste der kleine Robert an diesem Abend zur Tante, der Schwester seines Vaters. Seine Eltern wollten die Karten für den Opernbesuch nicht verfallen, ihn aber auch nicht alleine lassen.

Er war verstört, schluchzte, war schmutzig, aber seine Eltern vermochten den ganzen Nachmittag kein Wort aus ihm herauszubringen. Ein Telefon hatte man nicht und so warteten die Eltern auf Erklärungen der Heilemanns am nächsten Tag. Am frühen Abend brachte ihn der Vater zu Tante und Onkel, die nur zwei Stationen mit der Elektrischen entfernt wohnten. Doch die Nacht bei der Tante war ungemütlich. Die Wohnung klein, das Sofa kurz und schmal, die Uhr, die an der mit gestreiftem Papier tapezierten Wand tickte unaufhörlich und unerbittlich laut.

…tick, tick, tick….

Und alle 60 Schläge einmal …tack…

Dann sprang der lange, ehemals goldene Zeiger eine Minute weiter. Vom vielen Polieren war er schon recht abgeschubbert und das unter der abgetragenen, einstmals goldenen Farbschicht liegende glänzende Metall schaute heraus.

Robert durfte sich nur vorsichtig in der Nacht umdrehen, dass hatte die Tante ihm extra eingeschärft.

‚Nicht so unruhig schlafen, Kind.’

Hin- und Herwerfen, wie er es zu Hause tat und wie es die Eltern immer schmunzelnd erzählten, war zu vermeiden.

‚Und nicht umher werfen in der Nacht’, betonte die Tante nochmals. ‚Sonst wachen die Nachbarn auf.’

Von den Eltern wusste Robert, dass das Haus durch den Krieg einen Bombenschaden hatte. Der kleine Robert konnte sich zwar nichts darunter vorstellen, aber er wusste, wenn er sich zu stark umdrehte, dann bestand die Gefahr, dass alles einstürzte, denn es wackelte heftig im Haus, wenn er freudig umher sprang.

Es wackelte so sehr, dass die Scheiben in der Vitrine stark klirrten und die Tante Angst um die von ihr dort zu Schau gestellten Sammeltassen bekam.

Doch an diesem Abend war Robert ungewöhnlich schweigsam, fand die Tante und er lag außerordentlich ruhig im Bett. Nur langsam kam der Schlaf für den erschöpften kleinen Robert.

Mehr als 50 Jahre später kommt Robert nun wieder zurück nach Renda. Er versucht die blau gestrichene Tür zu öffnen, stößt sie langsam auf, ganz vorsichtig, als könnte er Großmutter und Großvater Heilemann vom Mittagsschlaf aufwecken, und tritt ein.

Anders als sonst ist es….leer, irgendwie ungemütlich, aber es wirkt nicht unbewohnt.

Der Geruch eines Aftershaves liegt in der Luft, herb, frisch, irgendetwas von Boss, vermutet Robert. Doch wer wohnt hier? Er hatte keinen Wagen gesehen, aber er war natürlich von hinten gekommen, hatte sich angeschlichen, unbewusst sicher, aber so war er doch ein Eindringling.

Links die Treppe zum Obergeschoss, rechts eine kleine Toilette und dahinter die Küche, das Reich von Großmutter Heilemann. Robert schaut kurz hinein. Er kann durch das Fenster kaum hinaus sehen, so schmutzig ist es. Die Küchenmöbel stehen noch, Eine Schranktür steht offen und Robert sieht wehmütig die vertrauten Tassen und Teller dort stehen.

‚Komm Robbilein, nimm dir nen Stuhl und ruff mit dir. Helf der Oma Heilemann mal beim Tischdecken, der Kuchen is gleich fertich. Und denn darfste raus und Großvater beim Schildfestmachen helfen.’

Zitternd schüttelt Robert den Kopf, bekommt eine Gänsehaut, so vertraut ist ihm alles, er versucht förmlich die ganzen Erinnerungen, von denen er in den letzten Minuten überflutet wurde, fort zu schütteln und geht schnell weiter.

Geradezu ist die Tür zum Wohnbereich. Doch wo eine Tür einst war, sieht Robert nur die Türbalken. Die Tür ist aus den Angeln gehoben und liegt am Boden. Die Scheibe ist zerbrochen, zerbrochen wie so vieles, was dieses Haus einst liebens- und lebenswert machte.

Robert sieht Spinnweben am Türrahmen hängen, doch er muss sie nicht mehr wegschieben, sie zerstören, ein anderer muss es bereits getan haben. Zerrissen hängen sie in Fäden herab, wie zusammengeklebt. Robert schiebt sich hindurch.

„Hallo!“ ruft Robert laut. „Hallo? Ist hier jemand?“ Sein Herz pocht aufgeregt und sein Puls geht schnell. Doch es antwortet keiner. Lautlos und unheimlich ist die Stille im Haus. Sie wird nur unterbrochen vom Knarren der Dielen und den vortastenden Schritten Roberts.

Der Boden ist von Staub und Wollmäusen bedeckt. Die meisten Möbel, welche Robert noch kannte, sind fort.

Die Bank am steinernen Kamin, sie fehlt. Das Ofenrohr darüber, in dem Großmutter Weihnachtsäpfel hineinsteckte, mit Rosinen und Zucker bedeckt, es steht offen. Das große Fenster zeigt wie immer zum See, auf dem sich die Sonne spiegelt und Robert muss die Hand schützend vor die Augen legen, damit er die sich kräuselnde Oberfläche erkennen kann. Sehnsuchtsvoll holt Robert tief Atem, als wenn er die Vergangenheit dadurch wiederbeleben kann. Er verharrt still, hört Großmutters Stimme, wie sie lachend ruft:

„Ja Robbilein, biste wieder ins Wasser jehüppt. Du musst uffpassen, da unten ist det Reich des Wassermannes. Nich, dasser dir holt und dich an deene Beene runterzieht.“

So vertraut ist die Stimme für Robert, als wenn es gestern war. Links an der Wand steht das Bücherregal mit den dicken Holzstollen und der Rosette, hinter dem… Die Erinnerung überwältigt ihn wieder.

Knapp wäre es gewesen, sagte die Mutter am Morgen zum Vater. Die Tante hatte ihn am frühen Morgen zurückgebracht. Robert sieht an den rot geriebenen Augen der Mutter, dass sie geweint hat. Er sitzt auf dem kleinen roten Sessel am Fenster, um noch vor dem Frühstück in seinem Comicheft zu schmökern, welches ihm die Tante gestern schenkte, damit er nicht so laut hin- und her springen sollte und beschäftigt war. Die Tante hatte keine Kinder, sowieso waren keine weiteren Kinder da zum Spielen für Klein-Robert und er hatte auch keine Geschwister. Öfters fragte er, meistens die Tante, weil er sich nie traute die Eltern zu fragen, warum er denn keine Geschwister hätte.

'Dein Vater ist sehr krank’, sagte die Tante dann immer, ‚sei froh, dass du auf der Welt bist und hier leben darfst.’

Es dauerte Jahre bis Robert diese Worte verstand. Denn keiner erklärte Robert etwas. Sie tuschelten nur hinter vorgehaltener Hand.

Vater stellte das Radio an und bedeutete Robert leise zu sein und zuzuhören, obwohl Robert sowieso kaum was sagte.

Das Geräusch von Presslufthämmern war im Hintergrund zu hören:

„Seit etwa ein Uhr heute Nacht rattern die Pressluftbohrer und bohren einen Graben quer durch die Ebertstraße, hier am Brandenburger Tor. Der Graben ist etwa einen halben Meter tief und einen halben Meter breit. Es sind Volkspolizisten in ihrer Arbeitskleidung, es ist eingesetzt die Feuerwehr, es sind eingesetzt die Beamten des Ministeriums für Zoll und Warenkontrolle und auf der anderen Seite des Brandenburger Tors stehen etwa 30 LKW’s die hier die Mannschaften herangebracht haben und es sind etwa schätzungsweise 50 Uniformierte, die hier das Brandenburger Tor bewachen. Wenn ich einen Blick die Ebertstr. hinunterwerfe – ich darf den Bürgersteig nicht betreten, denn er gehört schon zum Osten – dann sehe ich, wie etwa 200, 250 m entfernt vom Brandenburger Tor gleichfalls eine Schneise durch die Straße gebohrt wird. Die Polizisten von drüben in ihrer Arbeitskleidung, die Ostpolizisten, die Ostfeuerwehr, sie blicken hierüber, ja, sie lächeln sogar dabei, wie sie den Pressluftbohrer in die Erde bohren dabei und einer schaute mich an und es war in seinem Gesicht zu lesen: Ja, ich höre nur das Geräusch, ich mache es extra für dich, damit du es auch auf dein Tonband bekommst.“

Vater dreht am Radioknopf und suchte einen anderen Sender.

„Heute, in den frühen Morgenstunden haben Soldaten der Sowjetzone damit begonnen die innerdeutsche Grenze und die Westsektoren Berlins mit Stacheldraht abzuriegeln. Auf den Straßen vor den Häusern spielen sich unfassbare Szenen ab. Bürger aus den Westsektoren sehen ihre Angehörigen auf der anderen Seite und winken ihnen mit Taschentüchern zu, wischen sich ihre Tränen aus den Augen…“

Robert richtet sich auf. Er will gegen diese Flashbacks ankämpfen und wischt sich mit dem verschwitzten und von den Obststräuchern verkratzten Handrücken über das Gesicht, als könne er sie unwiderruflich vertreiben, sie ungeschehen machen, aber das ist wohl unmöglich. Diese Erinnerungen sind fest verankert in seinem Leben. Sie bestimmen ihn, die Erlebnisse wirken nach und er kann sich ihnen nicht mehr entziehen. Der Vater ist ständig krank, ausgemergelt, die Mutter oft fahrig und weinerlich.

Er sieht wieder den kleinen, runden Tisch mit der gehäkelten Tischdecke vor sich. Die zwei roten, abgewetzten Cocktailsessel mit den hölzernen Armlehnen. Er sitzt auf dem einen Sessel, blättert in seinem Heft, der Vater im anderen Sessel. Die Mutter steht in der Küche. Das Röhrenradio der Firma Graetz mit dem grünen Abstimmungsauge, das mit sattem Ton die Unglaublichkeit der Geschichte ausspuckt, steht auf einem kleinen Schränkchen. Der kleine Robert begriff nicht, was das bedeutete, über die Folgen klärte ihn man nicht auf. Er wusste nur eines. Großmutter und Großvater Heilemann würden heute nicht kommen und über die Verletzung des Großvaters berichten können. War das Glück, was er damals fühlte? Er schämt sich jetzt so sehr dafür.

Doch jetzt ist alles vorbei. Die Mauer, die über 28 Jahre die beiden deutschen Staaten trennte, war vor vielen Jahren gefallen und er steht hier herum im Haus derjenigen, die er als Großeltern kannte.

Auch jetzt noch steht ein kleiner Sessel an der Tür zum Garten, er sieht anders aus als früher, wirkt aber bequem. So sieht er zum Fenster, zum Sessel, der so einladend auf ihn wartet. Er stellt ihn sich so auf, dass er hinaus zum See blicken kann und setzt sich schwerfällig hinein. Da sieht er aus dem Garten einen Mann auf sich zukommen, gut aussehend, irgendwie bekannt, fast vertraut.

Robert ist verwirrt. Wer ist das, fragt er sich. Ein merkwürdiges Gefühl durchströmt ihn. Der Mann kommt langsam auf ihn zu, er trägt eine graue kurze offene Weste mit Schulterstücken, und eine hellgraue Cargo Hose. Er hat kurze militärisch kantig geschnittene, graue Haare. Vielleicht 60 oder einige Jahre mehr.

Er sieht ebenfalls irritiert aus, greift entschlossen den Knauf zur Terrassentür und öffnet sie von außen.

„Darf ich fragen, was Sie hier wollen?“ fragt er in barschem Ton.

„Ich, ich…“, stottert Robert, „ich war vor vielen Jahren schon mal hier“, beginnt er langsam.

Er erzählt von dem Haus, das was er in Erinnerung hat, in kurzen Fragmenten.

Der Mann hört ihm aufmerksam zu und nickt oft dabei den Kopf.

Als Robert beendet hat, atmet der Fremde tief ein und umarmt Robert.

„Willkommen daheim, mein Freund, sagt er. „ Dies ist das Haus meiner Großeltern und du“, er holte tief Luft, als würde er sich scheuen, das auszusprechen, was nun kommen sollte. „Du bist das Feindkind, wie meine Tante Marlies sich immer auszudrücken pflegte. Erinnerst Du dich denn nicht mehr an mich? Naja, warst ja noch lütt damals. Wenn ich daran denke, dass… naja das waren andere Zeiten.

Ich darf doch weiter Du sagen, oder?

Schließlich haben wir eine Art von, naja, sagen wir mal, gemeinsame… und er betont dies ganz besonders mit einem Schmunzeln im Gesicht…nennen wir es mal gemeinsame Großeltern.

Ach so, ich bin der Harald.“

Robert schluckt. Das ist also aus dem Harald geworden, dieser Harald mit dem….nun ja….jedenfalls der richtige Enkel seiner Ersatzgroßeltern.

Der Harald, den er aus der Erinnerung raus nur an wenigen Tagen in seinem bisherigen Leben sah und zwar das erste Mal an einem der Tage, zu denen nach Bau der Mauer den Westberliner Bürgern über Weihnachten 1963 einen kurzen Zeitraum lang erlaubt wurde aus humanitären Gründen ihre Verwandten in Ostberlin zu besuchen. Damals erfuhren die Eltern auch vom Tod von den Heilemanns. Sie sprachen kein Wort den ganzen Rückweg. Waren stumm, obwohl Robert dauernd löcherte und fragte, was sei.

Seine Mutter hatte Tränen in den Augen. Auch die nächsten Tage waren voller Stille in der kleinen 2 Zimmer-Wohnung in Berlin-Neukölln. Klein-Robbi wollte mit 9 Jahren unbedingt ein Indianerkostüm zum Fasching tragen und drängte seine Mutter ihm eins zu nähen.

Es dauerte lange, bis es fertig war. Die Nähte waren teilweise nass von den Tränen der Mutter. Er traute sich nie zu fragen, was damals geschehen war.

Vielleicht bekam er jetzt Antworten.

„12.30 Uhr. Hier ist RIAS Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt.

Guten Tag verehrte Hörer, wir bringen Ihnen Nachrichten.