Reni - Lise Gast - E-Book

Reni E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Die 11jährige Reni ist ausnahmslos glücklich: Sie hat viele liebe Freunde, lebt in einem Kindererholungsheim und alle 6 Wochen wird sie von neuen Spielkameraden besucht. Ein wunderschönes Leben, doch Reni leidet darunter, dass sie von ihrer Mutter getrennt ist. Doch zum Glück lässt sich das tapfere Mädchen nicht unterkriegen und weiss sich auch in schwierigen Situationen zu helfen. – Eine wunderschöne und mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Geschichte. Lesenswert!Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Reni

Geliebtes Heim am BergeMeine Tochter hat’s nicht leichtBrüder machen manchmal Kummer

Mit Zeichnungenvon Emmy-Claire Haag

Saga

Reni

© 1956 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509975

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Geliebtes Heim am Berge

Reni, wo sie wohnt, und wo sie herstammt

Ganz am Ende der Stadt, dort, wo Anlagen und Park in Wald und Berge übergehen, lag das Haus, in dem Reni wohnte. Das Haus ist übrigens nicht ganz richtig gesagt: eigentlich waren es zwei Häuser, die einander gegenüber lagen, breite, helle Häuser mit schokoladenbraunen Fensterläden und nachgedunkelten, roten Dächern, die weit vorsprangen und wie zu tief gezogene Mützen aussahen. Nicht wie gebaut lagen die Häuser da, sondern wie gewachsen, und damit sie nicht allein waren und sich fürchteten, war es, als gäben sie sich die Hand: hinten, den Raum, der zwischen ihnen lag, wie einen Hof abschließend, lief ein niedriges, breites kleines Gebäude entlang, so wie bei manchen Gasthöfen die Kegelbahn. Dies hier aber war keine Kegelbahn und auch kein Wintergarten, wie man es manchmal hat, es war etwas viel, viel Schöneres. Große, breite, fast bis auf die Erde reichende Fenster hatte es nach beiden Seiten hin, und unter den Fenstern liefen Heizkörper entlang, so daß es auch im Winter warm und zu benutzen war. Das war sehr wichtig, denn nicht nur Reni, sondern auch alle andern Kinder, die hier im Heim am Berge für längere oder kürzere Zeit zu Hause waren, liebten diese Gebäude noch mehr als die hellen Schlafsäle, den großen, getäfelten Wohnraum oder die gemütliche Küche. Wer kann raten, was es war? Niemand. Es war eine Turnhalle.

Dort, wo keine Fenster waren, gingen Leitern an den Wänden hoch, Leitern mit glatten, hellgelben Sprossen, an denen man bis an die Decke klettern und auch sonst die schönsten Übungen machen konnte. In der Mitte gab es einen Rundlauf, viermal Ringe zum Schaukeln und in einer Ecke auch Kletterstangen, schräge und gerade. Auch Sprungmatten waren da, Böcke, Pferde, Hochsprungholme, kurz, alles, was ein zehnjähriges Herz sich erträumt. Hinter der Turnhalle lag eine leichtansteigende Liegewiese, auf der im Sommer die Liegestühle mit den gestreiften Bezügen standen, und dann schloß sich gleich der Bergwald an, mit Bächen und Blaubeerkraut, mit Pilzen und Nadelholz und der herrlichsten, kräftigsten, wunderbarsten Bergluft.

Ja, und vorn, vor der Turnhalle, da war es auch so gemütlich wie in einer Stube. Da standen an dem einen Haus entlang eingerammte Tische mit Bänken davor und dahinter, und darüber wölbten sich alte, dicke Kastanienbäume, die im Frühling ganz weihnachtlich voller Kerzen gesteckt waren, manche mit weißen, manche mit roten Lichtern, — und im Herbst bescherten sie das allerschönste Kinderspielzeug, blank und glatt, rotbraun oder gescheckt, das aus stachlichen Hüllen platzte, jedes Jahr wieder, umsonst und ohne Bestellung. Es waren richtige liebe, vertraute, lebendige Bäume, und sie hatten auch Namen. Der eine hieß Alma, der andere Meta, und der dritte, der fast in der Mitte des Hofes stand und eigentlich schon viel zu alt war, denn er hatte einen ganz, ganz dicken Stamm, der schon hohl war, so daß man sich darin verstecken konnte, der hieß von alters her Henriette. Er sollte eigentlich längst gefällt sein, aber alle, von Tante Mumme angefangen bis zum kleinsten Küchenmädel herunter, erhoben ein lautes Gejammer, wenn der Doktor mit diesem mörderischen Vorschlag kam, und so blieb er von Jahr zu Jahr stehen. „Er wird euch noch auf die Köpfe fallen!“ drohte der Doktor, aber da lachten sie nur, denn sie wußten, daß der Doktor seinen Freund, den Förster, stets fragte, ob Gefahr bestünde. Und dann lachte der alte Rauschebart und sagte, solange das Haus hielte, hielte auch die Henriette.

„Tu doch nicht, als ob unser Heim eine alte, wacklige Bruchbude wäre, Onkel Oberförster“, sagte Reni einmal ganz wütend, als er so geantwortet hatte, und da lachte er noch mehr.

„Euer Heim — bewahre! Ich sage doch nichts gegen euer geliebtes Heim am Berge — wo werd’ ich denn, kleine Reni!“

Heute nun war dieses wunderschöne, lebendige und heißgeliebte Heim übrigens leer, jedenfalls fast leer, nur Tante Mumme war da, als Reni vom Bahnhof kam — sie hatte den letzten Schub Erholungskinder, wie sie das stets tat, zur Bahn gebracht. Es war immer ein bißchen traurig, wenn die andern abfuhren, obwohl die meisten versprachen, zu schreiben oder im nächsten Jahr wiederzukommen — aber sie taten in der Regel weder das eine noch das andere.

Dafür kamen neue Kinder, lustige und stille, Jungen und Mädel, große und kleine ...

Reni kannte das nun schon, so lange sie lebte — sie war das einzige Kind, das blieb. Wenn sie von der Bahn heimkam, war ihr immer zum Heulen zumute, und dann suchte sie schleunigst nach Tante Mumme. Wo? In der Küche. Die war dann immer tipptopp aufgeräumt, denn die Küchenmädel hatten in der Zeit, in der keine Kinder da waren, auch frei — ein einziger Herd von den vier großen, die in der Mitte der Küche wie ein Festungsblock lagen, brannte, und dort fand Reni Tante Mumme. Sie kochte sich Kaffee.

„Damit ich die Ruhe genießen kann“, sagte sie entschuldigend, aber Reni lachte nur. Andere Leute tranken Kaffee, um munter zu werden — jedenfalls sagte der Onkel Doktor so — Tante Mumme aber trank welchen, um schlafen zu können. Komische, kugelrunde, geliebte alte Tante Mumme!

„Was backen wir uns denn diesmal für einen Pausenkuchen?“ fragte Reni auch heute; es war die Frage, die ihr schon während des ganzen, einsamen Heimwegs auf dem Herzen gelegen hatte. Immer, wenn Pause war, wenn die ersehnten und gefürchteten drei Tage zwischen den Sechswochen-Erholungskindern eintraten, durfte sich Reni einen Kuchen ausdenken. Und das war um diese Zeit ein bißchen schwer: Kirschen gab es nicht mehr und Äpfel noch nicht. Blieb Quark oder Streusel — den konnte man aber auch im Winter haben.

„Ich weiß! Hobelspäne! Wenn auch weder Fastnacht noch Sylvester ist! Ich hab’ solchen Appetit auf Hobelspäne“, sagte Tante Mumme. Reni guckte vorwurfsvoll.

„Aber, Tante Mumme! Der Onkel Doktor mag doch keine — oder vielmehr, er mag sie zu sehr. Und er soll doch nicht!“

„Er ist doch nicht da, Kinding, die nächsten Wochen. Er verreist doch“, sagte Tante Mumme. Sie mußte ja schließlich einmal damit herausrücken, Reni mußte es erfahren. Sie hatte es ihr bisher nicht gesagt — hatte immer gehofft, er würde wenigstens so lange bleiben, bis der nächste Kindertransport da wäre. Aber es hatte sich nun doch nicht so gemacht ... Reni guckte entgeistert. „Der Onkel Doktor fährt weg? Heute schon?“

„Aber Kinding, du hast doch mich“, tröstete Tante Mumme. Sie wußte, wie ungeheuer zärtlich Reni an ihrem Bruder hing und daß ihr nichts die Pause so versüßte wie die Tatsache, daß ihr nun der liebe, gute, lustige, dicke Onkel Doktor allein gehörte. Er verwöhnte das Mädel, das war keine Frage, aber es war ja verständlich — er hatte doch sonst nichts vom Leben. Arbeit, Arbeit, Arbeit — er war so sehr beliebt in der Stadt und wurde überlaufen von Patienten, und am liebsten hätte er sich doch einzig und allein dem Kinderheim gewidmet. Das ging ja nun nicht, wie eben vieles auf der Welt nicht so geht, wie man gern möchte ...

„Aber warum hast du mir das denn nicht gesagt?“ fragte Reni nach einer Weile, in der sie stumm neben Tante Mumme am Herd gelehnt hatte. „Ich wollte dir das Herz nicht unnütz schwer machen“, sagte Tante Mumme leise. „Es geht dem Onkel Doktor nicht gut, weißt du. Er fährt nicht zum Vergnügen. Er soll sich endlich mal ganz auskurieren und erholen!“

„Aber das könnte er doch hier!“ rief Reni, den Tränen nahe. „Hierher kommen doch alle, um sich zu erholen — es steht doch in allen Zeitschriften und überall: Kinderheim für Erholungsbedürftige.“

„Ja, Kinder heim, für erholungsbedürftige Kinder, natürlich“, sagte Tante Mumme. „Aber sieh mal, der Onkel Doktor kommt doch hier zu keiner Erholung. Immerfort kommen Leute, auch wenn er das Telefon abstellt ...“

„Ist er etwa schon fort?“ fragte Reni. Ihr ahnte das Schlimmste. Aber Tante Mumme beruhigte sie.

„Nein, nein, Reni, er ißt heute nochmal mit uns, nachher gleich.“

Gottlob. Das wenigstens blieb ihr noch — es war immer so hübsch, wenn sie einmal allein zu dritt aßen, unten im Hof, am Ende eines der langen Tische, mit einem weißen Tischtuch und dem guten Geschirr. Und Tante Mumme kochte dann immer etwas besonders Gutes.

Aber über die schreckliche, vielleicht wochenlange Trennung konnte nicht mal ein Fischfilet mit grünem Salat hinwegtrösten, — Reni verließ die Küche leise und trat hinaus in den Hof. Wie stumm alles war — kein Gekribbel von kleinen Kindern am Sandkasten unter der Henriette, kein Gespritze und Geschrei von den größeren am Planschbecken. Dabei war es so herrlich heiß heute ...

Reni trug ein weißes Kleid mit roten Tupfen, einem roten Gürtel und rotem Kragen. Sie hatte, als sie zur Stadt hinuntergefahren war, ihre Halbschuhe angehabt, sie aber jetzt ausgezogen und im Flur stehen gelassen. Barfußlaufen gehörte hier zum guten Ton, der Onkel Doktor sagte immer, daß viele, viele Krankheiten einfach nicht da wären, wenn die Menschen mehr barfuß liefen. Besonders früh auf der Wiese, wenn sie noch taunaß war — Tautreten nannte man das. Reni war immer sehr dahinter her, daß alles befolgt wurde, was der Onkel Doktor sagte.

Er war so gut und so lustig — und bestimmt ganz einzigartig. Schon oft hatte sie beobachtet, daß Kinder, die neu hier waren und ihren Onkel Doktor nicht kannten, sich fürchteten, wenn es hieß: der Arzt kommt. Sie konnte das nicht verstehen. Niemand war so lieb, so sanft und zärtlich und feinfühlig wie dieser große, dicke Mann mit dem kleinen schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe und der schwarzgeränderten Hornbrille. Niemand konnte so herzlich lachen, so wunderbar erzählen, so munter und muntermachend zum Spielen anregen — niemand vermochte so entzückend zu zeichnen, wenn man einmal im Bett lag und sich langweilte. Gewiß, Tante Mumme war auch lieb, wenn sie abends kam, nachsah, ob auch alle Kinder gut zugedeckt waren und keins weinte, weil es nun doch ein bißchen Heimweh bekommen hatte. Aber sie war eben ein bißchen wie das tägliche Brot — man kam nicht ohne sie aus, aber man hatte sie schließlich immer. Der Onkel Doktor dagegen ... Er war wohl noch gar nicht so alt, wie Reni glaubte — jedenfalls viel jünger als Tante Mumme. Tante Mumme hatte schon graue Haare, er nicht ein einziges. Er war ihr „kleiner“ Bruder, wie er manchmal aus Spaß sagte.

Reni war hier im Kinderheim aufgewachsen und ging von hier aus in die Schule in der Stadt, vormittags. Aber die Schule spielte keine allzu große Rolle in ihrem Leben; sie kam ohne Mühe mit, und Schulfreundinnen hatte sie eigentlich keine. Dazu war ihr Leben im Heim viel zu bunt und lebendig — im Heim war sie zu Hause, wie andere Kinder bei ihren Eltern. Warum — sie hatte nie danach gefragt, bis es ihr der Onkel Doktor einmal in einer Pause erzählt hatte — im Winter, als draußen der Schnee stöberte und das Heim so unglaublich still dalag. Da hatte er in seinem Zimmer ein Kaminfeuer gemacht und sie dazu eingeladen, sie ganz allein, denn Tante Mumme war müde und ging lieber ins Bett — „weil Kaminabende ja doch nie ein Ende nehmen!“ Da hatte er ihr erzählt, warum sie immer hier blieb, während die andern Kinder doch stets zu ihren Eltern zurückfuhren, wenn sie sich erholt und rote Backen angefuttert hatten.

Reni hatte auch Eltern, aber ihr Vater war gestorben, als sie noch ganz kleinwinzig gewesen war. Er war sehr jung, als er Renis Mutter heiratete, und er hatte noch keinen richtigen Beruf. Vielmehr, einen hatte er schon, er war Lehrer gewesen, aber er wollte so sehr gern ein Onkel Doktor werden, weil er da vielen Menschen helfen und sie gesund machen könnte, genau so wie er selbst es tat. Die Mutter hatte auch ja dazu gesagt, sie war einverstanden, auch damit, daß sie trotzdem mit dem Heiraten nicht warten wollten, bis der Vater fertig mit dem Studieren war. Ihre Eltern aber, Renis Großeltern also, waren durchaus nicht einverstanden gewesen ...

„Verstehst du das, Reni, ja? Sie sorgten sich um deine Mutter“, sagte der Onkel Doktor und sah in die großaufgerissenen, ernsten Kinderaugen hinein, in denen sich das Feuer spiegelte und Funken darin weckte wie ein Abendhimmel in einem Gebirgssee, „und sie wollten, daß deine Eltern noch warten sollten mit dem Heiraten. Dein Vater sollte erst so viel verdienen, daß er deiner Mutter ein Haus bauen könnte und Möbel kaufen, und eine ganze Herde Kinder satt machen — denn deine Eltern wollten nicht, daß sie nur ein einziges Kind hätten, eins ohne Geschwister, verstehst du. Aber deine Mutter meinte, warten wollte sie nicht, sie wollte lieber mitverdienen und deinem Vater helfen und gleich seine Frau werden.

Viele tapfere Frauen denken und handeln so, aber viele Eltern in ihrer Liebe und Güte sind zu ängstlich dazu, es zu erlauben, denn sie denken, es wird ein zu schweres Leben für ihr Kind. Deine Mutter bekam es auch wirklich schwer, siehst du, denn dein Vater starb, ehe er fertig mit Studieren war, und du warst nun schon auf der Welt und deine Mutter mußte dich ganz allein großziehen.

Deine Großeltern hatten es ihr sogar verboten, hatten ihr gedroht, wenn sie nicht gehorchte, würden sie ihr gar nicht helfen, wenn sie einmal in Not käme. Nun war sie in Not — die Großeltern hätten ihr sicher geholfen, wenn sie zu ihnen gekommen wäre, aber nun wollte sie nicht. Sie ging auf ein Gut und wurde dort Sekretärin, und dich gab sie zu uns, zu Tante Mumme und mir. Sie hatte die Anzeige und das Bild von unserm Heim in einer Zeitschrift gesehen und kam nun und sprach mit Tante Mumme, und Tante Mumme hat dich gern hier aufgenommen, weil sie ja selbst nicht verheiratet ist und keine Kinder hat.“

„Und da gehöre ich nun euch“, sagte Reni befriedigt, als er so weit gekommen war. „Nicht wahr, ich gehöre euch — ich bin nicht so ein Kind wie die andern, die hier bloß für ein paar Wochen zur Erholung sind!“

Der Doktor lachte.

„Nein, so ein Durchgangskind bist du nicht“, bestätigte er und klopfte sie auf die Backen, lachend und vergnügt. Dann aber wurde er wieder ernster.

„Trotzdem gehörst du deiner Mutter, nicht uns“, sagte er freundlich, „wenn wir auch wünschen, du wärst unser Kind.“ Das letzte sagte er leiser und wie zu sich selbst. Reni sah das nicht ein.

„Aber wieso denn? Tante Mumme gibt mir zu essen und macht mir die Kleider, und ...“

„Aber deine Mutter bezahlt das alles“, hielt der Doktor dagegen. „Tante Mumme schreibt alles auf und —“

„Nein, Onkel Doktor“, sagte Reni unbefangen, aber durchaus ihrer Sache sicher, „das macht sie nicht. Sie hat mir neulich erst ein Kleid gemacht, das war aus einem alten von ihr selber.“

Der Doktor lachte, diesmal ein bißchen unsicher.

„Hat sie? Sie soll doch lieber neuen Stoff kaufen, die alte Morchel“, brummte er. „Aber sie denkt immer, sie muß sparen!“

„Und alle ihre alten Bilderbücher hat sie mir geschenkt und ihre Puppen, die sie selbst als Kind gehabt hat. Das macht sie doch mit den andern Kindern nicht — ich glaube, das weißt du nicht so. Ich gehöre doch viel mehr zu euch als zu meiner Mutter. Von ihr habe ich noch gar kein Kleid, und keine Puppe, und nicht mal ein Bilderbuch ...“

„Na, und das große Schaukelpferd zum Beispiel, das du bekamst, als du drei Jahre alt wurdest?“ fragte der Doktor, beinah ärgerlich. Er suchte in seinem Gedächtnis — mein Himmel, man hatte doch weiß Gott genug im Kopf zu behalten. Nun sollte er auch noch wissen, was Frau Jahnecke ihrer Tochter alles Gutes getan hatte ... „Und der Pferdestall mit den vier Boxen nebeneinander, war der nicht großartig? Also: Hat dir Tante Mumme oder ich jemals was so Schönes geschenkt?“

„Nein, der war schön. Schöner als Puppen“, sagte Reni nachgiebig, „aber er war doch nicht von Mutter, ich meine, von ihr von früher her!“

„Gewiß. Das kommt aber wahrscheinlich davon, daß deine Großeltern noch immer böse sind auf deine Mutter, so daß sie nicht zu ihrem alten Spielzeug kann“, erklärte der Doktor. „Du gehörst aber trotzdem deiner Mutter. Wir sind nur froh, solange wir dich geborgt bekommen, denn wir haben dich beide lieb — auch wenn du dumme Fragen stellst“, lachte er. Am nächsten Morgen berichtete er seiner Schwester von dieser Unterhaltung.

„Das Mädel macht sich Gedanken, ganz erwachsene Gedanken“, sagte er ärgerlich. „Schreib doch an Frau Jahnecke, daß sie verschiedenes herschickt. Dann wird Reni sich beruhigen. Und laß sie an die Mutter schreiben. Wir dürfen das Kind nicht verwirren, auch nicht aus Liebe ...“

Tante Mumme nickte. Er hatte recht. Von nun an ließ sie Reni an jedem Regentag, an dem alle Kinder nach Hause schrieben, auch einen Brief an die Mutter verfassen. Reni tat es mit der Sorgfalt, mit der sie ihre Schularbeiten erledigte — und vergaß, sobald sie fertig war, die Mutter wieder, so wie sie die Schule vergaß, wenn sie ihre Aufgaben gemacht hatte.

Tante Mumme sah das und machte sich ihre Gedanken darüber. Aber nicht lange — sie war nicht so geartet, sich viele Gedanken zu machen außer denen, die jeden Augenblick von allen Seiten auf sie einstürmten. Außerdem denkt man nicht allzugerne an Sachen, die man am liebsten vergessen möchte — sie hatte Reni herzlich lieb und wünschte nichts sehnlicher, als sie noch lange, lange behalten zu dürfen. So blieb es bei den Briefen, die Renis Mutter immer treulich beantwortete. Manchmal kam sie auch auf Besuch, aber immer nur kurz; sie hatte mit den ersten Dienststellen wohl etwas Pech, wechselte öfters und wagte nicht, um längeren Urlaub einzukommen.

In letzter Zeit schien sie sich auf dem Gut, auf dem sie war, besser eingerichtet zu haben, aber sie war wohl dort ganz unentbehrlich geworden, da der Gutsherr kränklich war und vieles nur mit ihr allein besprach. So konnte sie auch jetzt kaum fort. Außerdem gab es auf diesem Gut etwas, was der Mutter wichtig und schließlich ganz unentbehrlich geworden war: es gab Pferde — nicht nur die nötigsten Acker- oder Kutschpferde wie überall auf dem Lande, sondern auch eine Pferdezucht. Die war der Mutter fast ganz überlassen, und ihr warmes und liebevolles Herz hatte sich dieser Aufgabe weit geöffnet, weil es zwischen all den fremden Menschen etwas zum Pflegen suchte.

Reni konnte sich kaum mehr vorstellen, daß Mutter beispielsweise einen Brief schreiben könnte, in dem nicht drei von vier Seiten von Pferden handelten. Auf allen Fotos von Mutter waren Pferde mit darauf, zottige Fohlen, sanfte, schöngewachsene Stuten oder wilde Zweijährige. Mutter konnte auch großartig reiten. Reni freute sich immer, wenn die Mutter einmal kam, aber sie trennte sich nicht schwer nach den Besuchen. Ihr Zu-Hause war eben das Heim am Berge. Aber was war das geliebte Heim ohne Onkel Doktor, und nun sollte er so schrecklich lange wegbleiben!

Reni konnte sich das gar nicht vorstellen und lauerte unten am Hoftor, daß er endlich zum Essen käme. Ihr Gesicht war ganz unglücklich, als er endlich kam und ihr seine Fahrhandschuhe mit einem munteren: „Hunger, Kindel, Hunger, Hunger!“ zuwarf. „Nun, bewölkt? Regenfälle zu erwarten?“

„Du fährst weg, Onkel Doktor?“ fragte Reni kläglich. Er kam um den Wagen herum, nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände und sah ihr in die Augen.

„Ja, Kind, ich muß. Und weißt du, worauf ich mich bei dieser Reise am meisten freu?“

„Na?“ fragte Reni, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Er freute sich auch noch!

„Aufs Wiedersehen, Dummerle“, lachte er und gab ihr einen Klaps auf die Backe. „Nun aber kein Murrgesicht! Sonst freu’ ich mich nämlich nicht mehr!“

Frau Jahnecke bekommt einen Brief, und Erika schmiedet einen Plan

„Liebe Mutter! Ich schreibe Dir, weil es jetzt so traurig bei uns ist. Der Onkel Doktor ist fort und kommt so bald nicht wieder. Er ist nämlich krank. Wenn er nicht da ist, ist hier gar nichts los. Außerdem haben wir gerade Pause, da ist es nie schön. Tante Mumme hat aber Hobelspäne gebacken. Ich esse sie sehr gern. Tante Mumme ist auch lieb, aber der Onkel Doktor noch viel mehr. Ich hab einen neuen Luftanzug bekommen, blau mit weißen Sternchen, er ist sehr hübsch. Ich bin schon sehr braun gebrannt. Tante Mumme wird nie braun, nur rot. Wie geht es Dir? Mir geht es gut, ich meine mit der Gesundheit. Sonst bin ich immer noch traurig.

Viele Grüße Deine Reni.“

Seufzend steckte Frau Jahnecke den Brief in die Tasche ihrer Reithose. Sie hatte ihn schon mehrmals gelesen, aber immer wieder fand sie ihn betrüblich. Obwohl sie sich einzureden versuchte, daß Kinder oft in einer augenblicklichen trüben Stimmung schreiben, dann den Brief in den Kasten werfen und fröhlich pfeifend zum nächsten Spiel springen ... Es brauchte wirklich nichts Ernstes zu sein.

Aber es bedrückte sie. Sollte sie denn nie aus den Bedrückungen herauskommen? — fast schien es ihr heute so. Nun hatte sie doch endlich eine Stellung gefunden, in der es ihr gefiel, die ihr durch die nette Behandlung der Gutsleute und vor allem durch die geliebten Pferde innerlich etwas gab — die nicht nur einzig und allein ihr und Reni den Lebensunterhalt sicherte.

Und nun kam dies, daß Reni so traurig schrieb.

Es war ja wohl kein Wunder. Die Mutter ersetzt niemand, sagt man immer, und Reni wuchs eben ohne Mutter auf. Immer hatte sie gedacht, Kinder müßten mit Kindern aufwachsen, deshalb hatte sie Reni im Heim gelassen, wo immer Kinder waren — sie hatte sich selbst früher mehr Kinder als nur ein einziges gewünscht. Nun aber dachte sie, daß es doch vielleicht falsch war — daß auch gleichaltrige Kameraden und Gespielen nicht so wichtig sind wie die Mutter. Sie liebte ihr kleines Mädel, liebte es umsomehr, da es ja ihr einziger Besitz war — nur um Renis willen hatte sie auf ein Zusammenleben verzichtet.

Draußen schien die Sonne, es war ein wolkenloser, herrlicher Tag, aber ihr Herz war schwer. Schließlich schob sie ihre Rechnungen zusammen, schloß den Rollschreibtisch ab und stand auf. Sie hatte noch draußen im Vorwerk zu tun, vielleicht kam sie auf andere Gedanken, wenn sie das jetzt sofort erledigte.

Wirklich fühlte sie sich gleich ein bißchen besser, als sie den Pallasch auf den Hof hinausführte — er hob den Kopf und schnoberte in den wunderbaren Morgen hinaus. Sie saß auf; ach, nichts kam dem gleich, wenn der Sattel knarrte, wenn man das Pferd lebendig und geschmeidig unter sich fühlte. Reni müßte reiten lernen ... Sie trabte an. ‚Das höchste Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde‘, hieß es — ja, das war wohl nicht übertrieben. Es war, als streifte der Frühwind alle trüben Gedanken von ihr ab.

An der Parkecke machte der Pallasch einen erschrockenen Sprung, es kläffte um seine Beine. Max und Moritz, die beiden kleinen Schnauzer, waren auf ihn losgefahren — Frau Jahnecke sah sich um und entdeckte Erika drüben am Zaun. Sie parierte und wartete, bis das kleine Mädel herübergekommen war.

„Sind sie dir wieder mal ausgerissen?“ fragte sie freundlich.

„Ja, sie hören nicht“, sagte Erika ärgerlich, „ich kann pfeifen und rufen, soviel ich will ...“

„Sie werden es schon lernen, sie sind ja noch jung“, tröstete Frau Jahnecke, saß ab und versuchte, Erika zu helfen. Sie haschten nach den Hunden, die sich überkugelten, nach ihren Händen schnappten und sich um nichts in der Welt anleinen lassen wollten. „Jugend hat keine Tugend, Erika!“

„Ach, das sagt Fräulein Sonneson auch immer“, sagte Erika und lachte trübe, „als ob man was dafür könnte, daß man noch nicht älter ist!“

Frau Jahnecke sah in das hübsche, helle Mädchengesicht unter dem dunklen Haar, das jetzt mürrisch und verdrossen aussah — — nein, eigentlich mehr traurig. Sie mußte sofort wieder an ihr kleines Mädel denken. Zwölf Jahre alt war Erika Niethammer, ein Jahr älter als Reni ...

„Nein, dafür kann man nichts“, sagte sie lustig, mit dem Willen, ein bißchen zu trösten und aufzumuntern. „Aber es ist doch manchmal auch gut, wenn man noch klein ist ...“

„Wieso?“ fragte Erika mißtrauisch.

„Zum Beispiel, weil einen die Frau Jahnecke da mitnehmen kann auf dem Pallasch, was sonst nicht ginge — wenn man nämlich schon größer wäre“, lachte sie und nahm Erika mit einem Schwung vor sich auf den Sattel. „So, nun wollen wir uns mal tüchtig tummeln, du sollst mal sehen, wie einem da die schwarzen Gedanken vergehen.“

Sie trabte an. Erika strahlte — sie war nicht verwöhnt mit solchen Freuden. Und die Hunde kugelten hinter ihnen her, überpurzelten sich vor Eifer und jappten und kläfften — es war wirklich lustig. Frau Jahnecke sah mit Vergnügen, daß Erikas Gesicht sich autgehellt hatte. „Na, kann man auch mal wieder lachen?“ fragte sie freundlich.

„Ach, Sie sind immer so lieb zu mir“, sagte Erika dankbar, „mit Ihnen bin ich gern zusammen. Aber Sie haben ja auch niemals Zeit für mich — jedenfalls fast nie — höchstens mal abends, oder so wie jetzt.“

„Im Winter hab ich wieder mehr“, tröstete Frau Jahnecke. Es tat ihr selbst leid für das Kind — das wuchs so allein zwischen all den Erwachsenen auf, hatte kränkliche, überängstliche Eltern, eine freundliche, aber doch ziemlich strenge und sehr gewissenhafte Hauslehrerin ...

„Du müßtest eine Freundin haben, Erika, weil du doch keine Geschwister hast“, sagte sie herzlich, „Reni hat immer schrecklich viel Freundinnen und Freunde. Ihr Poesiealbum ist schon voll, sie wünscht sich zum Geburtstag ein neues!“

Sie brach ab. Renis Brief war ihr eingefallen — der klang ja nun nicht gerade übermäßig lustig. Erika konnte das natürlich nicht wissen, sie fuhr in dem leise betrübten Ton fort, der so viel schlimmer ist als Verdrossenheit und Nörgelei:

„Ja, Reni hat’s gut! Immer mit andern Kindern zusammen sein dürfen — das denke ich mir himmlisch. Wieviel sind da immer im Heim? Fünfzig? Da muß man doch herrlich spielen können. Und der Spaß abends im Schlafsaal!“

„Du hast doch dafür immer deine Mutter da“, sagte Frau Jahnecke leise. Erika wandte den Kopf nach ihr und sah sie an, nur einen Augenblick. Sie, ein Kind, das nur mit Erwachsenen zusammenkam, hatte eine viel feinere Witterung für die Stimmung der andern um sie her als sonst vielleicht ein zwölfjähriges Kind.

„Bangt sich Reni nach Ihnen, Frau Jahnecke?“ fragte sie still. Die Frau antwortete nicht gleich. Sie lenkte das Pferd in einen Feldweg und ließ es in Schritt fallen, klopfte ihm den Hals. Dann schwang sie sich vom Sattel und fing Erika auf, die auch herunterrutschte.

„Willst du hier auf mich warten, Erika? Mit dem Pallasch? Dann spring’ ich schnell über die Koppel zum Inspektor hinüber und sprech’ mit ihm, und du kannst rückzu wieder mitreiten. Willst du inzwischen Renis Brief lesen? Ich bekam ihn heute früh.“

Sie gab ihn dem Kind und nickte ihm zu, freundlich und herzlich. Dann kroch sie durch den Koppelzaun und ging über das kurze, federnde Gras hinüber nach dem Vorwerk, wo sie die Gestalt des Inspektors erkannt hatte.

Erika hatte den kurzen Brief sogleich überflogen. Sie sah ihn, im Gras sitzend und die Hunde, die immerfort mit ihr spielen wollten, abwehrend, noch einmal langsam durch, genau und sehr aufmerksam. Sie wußte seit vielen Jahren von Reni, es war ja klar, daß Frau Jahnecke oft mit ihr von der Tochter sprach. Gesehen hatte sie Reni noch nie, aber sie kannte alle Bilder, die Tante Mumme schickte. Als Reni sich Zöpfe wachsen ließ, wollte auch Erika welche haben und daß Renis Zöpfe hell waren wie verblaßtes Gold und ihre dunkelbraun, fast schwarz, das hatte sie oft gewurmt — sie fand nun einmal blondes Haar schöner. Frau Jahnecke tröstete sie — „Es ist Schneewittchenhaar“, hatte der Doktor einmal gesagt, als Reni ihm ein Bild von Erika zeigte, „wunderschön — bei einem Mädel wie dir hätte die Frau Königin sagen müssen: Ach hätt ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so goldig wie ein Bilderrahmen!“ Erika mußte lachen, als sie daran dachte.

Dann aber wurde sie wieder ernst. Reni tat ihr leid, aber eigentlich war es doch ein bißchen kläglich, so zu jammern. Eine solche Pause dauerte doch wohl nicht länger als einige Tage, und dann kamen wieder neue Kinder. Und der Doktor würde ja auch einmal wiederkommen — sie konnte sich nicht vorstellen, daß man sich nach einem Erwachsenen ernstlich bangen könnte. Sie, die immerzu mit Erwachsenen zusammen und noch keinen einzigen Tag von den Eltern getrennt gewesen war ...

Sie saß und sann. Erika hatte schon manches ausgebrütet, wenn sie so allein da hockte, die Hände um die Knie gefaltet, und ins Weite guckte. Sie fuhr zusammen, als Frau Jahnecke, auf dem weichen Boden unhörbar ausschreitend, hinter sie getreten war und ihr die Augen zuhielt. „Wer ist’s? Schwer zu raten, was?“

„Frau Jahnecke, ich hab’ mir was ausgedacht, was Wunderschönes — aber die wunderschönen Sachen werden fast nie wirklich“, sagte sie, als sie wieder zusammen auf dem Pallasch saßen und sich vorwärts wiegen ließen, „soll ich es Ihnen verraten? Es ist etwas für meinen Geburtstag, jedenfalls wünsch’ ich es mir dazu!“

„Ja? Dann sag’s nur, alle Wünsche kann man nicht erraten“, ermunterte Frau Jahnecke. Erika zögerte.

„Aber bitte nicht sofort wieder nein sagen“, bat sie ängstlich, „meistens heißt es sofort nein, wenn ich mir was ausgedacht hab’!“

„Armes Kind“, bedauerte Frau Jahnecke sie lachend und ein bißchen spottend, „bekommt keinen einzigen Wunsch erfüllt! Jetzt erst wieder die beiden Hunde, voriges Jahr das Pony ...“

„Ja, aber drauf reiten darf ich nicht, und kutschieren auch nicht, wenigstens fast nie“, rief Erika, „und nicht mal radfahren darf ich — Vater denkt, ich fall’ runter oder komm’ unter ein Auto, und Mutter meint, ich überanstreng’ mich — hier, wo alles eben ist und nirgends ein Berg!“

„Und keins von den Büchern, die man sich wünscht, bekommt man“, neckte Frau Jahnecke; sie wußte, daß gerade vorige Woche ein großes Bücherpaket gekommen war: Erika las viel und konnte davon nie genug bekommen.

„Ach, Sie lachen mich ja doch bloß aus“, schmollte Erika, „nein, ich wünsch’ mir diesmal etwas ganz anderes. Was Schönes, nicht nur für mich ...“

„Also schieß los, ich bin gespannt!“

„Passen Sie auf: Reni müßte herkommen. Für immer, für ganz. Sie müßte immer mit in meinem Zimmer schlafen und mit mir Zusammensein, beim Lernen und beim Schularbeiten machen und nachmittags, wenn wir frei haben. Und sie müßte auch ein Pony bekommen und Hunde — oder einen von meinen — und wir wären dann immer zu zweien — denn es gefällt Reni doch dort gar nicht mehr, sie schreibt doch ganz traurig. Finden Sie das nicht? Vielleicht ist die Tante Mumme gar nicht mehr nett zu ihr, es gibt doch Leute, die große Kinder nicht leiden mögen, bloß kleine. Im Dorf die Frau vom Lehrer — die war immer so nett zu mir und schenkte mir immer was, wenn ich hinkam, aber jetzt sieht sie mich gar nicht mehr an. Da hab ich die Marie gefragt, die älteste von dort, und die sagte: Mutter ist so. Die Kleinen frißt sie auf vor Liebe, aber auf uns schilt sie ...“

„Kindskopf du“, lachte Frau Jahnecke, „ihr Großen ärgert uns eben mehr als die Kleinen!“

„Aber wir würden Sie gar nicht ärgern, Reni und ich“, versprach Erika eifrig und mit ganz glühenden Backen — sie war sonst meist ziemlich blaß und farblos. Jetzt aber sah sie entzückend aus in ihrer Begeisterung, lebendig und munter. „Wir würden uns sicher herrlich verstehen, ach, und es müßte so wunderschön sein, nicht immer allein sein zu müssen.“

„Ja, das wäre schön für dich“, meinte Frau Jahnecke leise. „Dir wäre es schon zu gönnen!“

„Würden Sie denn wollen? Daß Reni wirklich ...“

Erika vermochte gar nicht zu Ende zu sprechen, so aufgeregt war sie. Frau Jahnecke war am Ende wirklich dafür, vielleicht sprach sie sogar mit den Eltern ...

„Können Sie nicht — ich meine, vielleicht könnten Sie mit Mutti sprechen und ihr sagen ...“

„Ach, Kind, ich! Ich kann doch nicht zu deiner Mutter gehen und ihr sagen: Ich möchte gern, daß meine Reni herkommt und es hier wie eine Prinzessin hat. Daß sie ein Pony bekommt und zwei Hunde, ein wunderschönes rosa überzogenes Bett, vierzehn Puppen ...“

„Frau Jahnecke, Sie machen Unsinn“, maulte Erika lachend, „außerdem hab ich nur dreizehn Puppen. Und Reni spielt doch gar nicht so gern mit Puppen, sagten Sie mal, — na ja, wenn sie auch immer Freundinnen da hat, braucht sie ja auch keine —!“ Das klang so bitter, daß Frau Jahnecke Erbarmen fühlte. Sie wurde ernst.

„Erika, du bist doch gar nicht mehr so klein, du kannst schon vieles verstehen, was Reni noch nicht kapiert“, sagte sie freundlich. „Glaubst du nicht, daß ich Reni sehr gern hier hätte? Daß das schon immer mein heißester Wunsch war — aber manche Wünsche erfüllen sich eben nicht!“

„Warum denn nicht? Es würde doch herrlich gehen“, meinte Erika, hartnäckig an ihrem Plan festhaltend. „Warum soll ich denn immer allein bleiben? Wenn ich schon keine Geschwister hab’, will ich wenigstens eine Freundin haben dürfen!“

„Schön wäre es freilich“, sagte Frau Jahnecke leise, „vor allem für dich.“ Sie hatte schon immer diesen geheimen Wunsch mit sich herumgetragen, aber noch mit niemandem darüber gesprochen, da es Reni im Heim so gut zu gefallen schien. Immer hatte sie gedacht: Das Glück des Kindes ist wichtiger als mein eigenes. Nun aber, da Reni so betrübt geschrieben hatte ...

Sie stieg ab, denn sie waren am Park angekommen, und half auch Erika aus dem Sattel.

„Danke“, sagte Erika und sah zu ihr auf, merkwürdig forschend und fragend. „Möchten Sie — möchten Sie, daß Reni lieber nicht herkommt?“ fragte sie jetzt leise und seltsam eindringlich. Frau Jahnecke erschrak.

„Aber warum denn nicht? Natürlich möchte ich es, natürlich wäre es für mich das Allerschönste ...“

„Aber?“ fragte Erika.

„Aber ich kann doch nie und nimmer deine Eltern um einen solchen großen Gefallen bitten, das ginge denn doch zu weit“, schloß Frau Jahnecke freundlich, aber bestimmt. Erika sah sie noch rasch aus den Augenwinkeln an. Dann sagte sie ganz leise, so daß Frau Jahnecke es nicht mehr hören konnte, aber sie sagte es und nickte dazu mit ihrem eigensinnigsten Gesicht, einem Gesicht, das nicht mehr wie zwölf, sondern wie mindestens zwanzig Jahre aussah, also sehr erwachsen und sehr zielbewußt: „Sie nicht. Aber ich.“

Sie wanderte durch den Park dem Gutshaus zu, hatte alles Interesse an den Hunden verloren. Wenn sie sich ausmalte, daß sie hier nicht mehr allein gehen würde — es war kaum auszudenken! Einem andern Kind alles zu zeigen, die Ställe, die Scheunen, ihr eigenes Zimmer, die Bücher — und die Puppen auch. Sie, Erika, liebte nämlich die Puppen noch sehr, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Sie hatte so viel Freude an allen Handarbeiten, und da war es natürlich schön, viele Puppen zu haben, die man anziehen konnte. Ihr Puppenbaby hatte einen ganz richtigen, in buntem Muster gestrickten Strampelanzug, rosa und hellblau, mit Knöpfen auf den Schultern und richtigen Füßlingen, alles so echt, wie es sonst nur für kleine Kinder gemacht wird. Und die Dorle, die größte Puppe, besaß einen Hut, den sie, Erika, ganz ohne Vorlage selbst gemacht hatte — ob Reni das auch konnte? Sicher hatte Reni nur immer keine Zeit gehabt, sich mit Puppen abzugeben, das war ja erklärlich, wenn man immerfort neue Gesichter um sich hatte. Vielleicht lernt sie es hier bei ihr und wird noch eine ganz richtige, eifrige Puppenmutter .. Was sie zu ihrem Puppenhaus sagen würde! Ein richtiges Puppenhaus mit aneinanderzuhängenden Wänden, die so hoch waren, daß man gerade noch darüber weggucken konnte — so eins hatte Reni bestimmt noch nie gesehen! Es hatte in der einen Wand ein Fenster mit Glas und Gardinen, und in der andern eine Tür — und Tapete — sie würden es dann, wenn solches Wetter war wie heute, in den Garten stellen, am Schaukelplatz, oder etwas mehr in die Büsche, damit nicht jeder es gleich sah. Und dann machten sie sich Bänke und Tische und Stühle aus Ziegelsteinen mit Brettern, die man drüberlegte, und mit dem kleinen Spirituskocher konnten sie kochen. Im Freien durften sie das bestimmt, da konnte ja nichts anbrennen, oder — sie fragten ganz einfach nicht erst ...

Und Reni mußte natürlich mit in ihrem Zimmer schlafen. Einmal war eine Kusine von ihr dagewesen, vierzehn Tage lang, die hatte auch in ihrem Zimmer gewohnt, das war unbeschreiblich und unvergeßlich schön gewesen. Sie hatten sich abends vor dem Einschlafen immer so viel erzählt — dabei war die Susi noch ein paar Jahre älter als sie, wieviel schöner mußte das mit einem gleichaltrigen Mädel sein! Und ...

„Aber Erika? Wo steckst du denn? Ich warte und warte!“

Erika fuhr aus ihren Träumen auf und sah erschrocken in Fräulein Sonnesons vorwurfsvolles Gesicht.

„Ich wollte nur ...“

„Es ist längst elf, und du kommst nicht“, schalt Fräulein Sonneson halblaut, nicht bissig und wütend, sondern mehr müde — sie war keine böse Sieben, diese ihre langjährige Hauslehrerin. Sie war freundlich und gutmütig und auch geschickt, einem etwas beizubringen; Erika lernte bei ihr eigentlich ohne große Mühe viel. Aber sie war doch eben nicht jung ...

Erika bat um Entschuldigung, jagte die Hunde in den Hof und ging ins Lernzimmer hinauf. Ihr Schulranzen lag auf dem Tisch mit der grünen Decke — sie sah auf einmal zwei Schulranzen dort liegen. Zwei Stühle hinter dem Lerntisch, zwei aufgeschlagene Lesebücher, zwei gelangweilte oder vor unterdrücktem Lachen fast platzende Mädelgesichter ...

„Heute wollen wir mal ein Gedicht besprechen und dann auch lernen“, begann Fräulein Sonneson freundlich. „Du magst doch Gedichte gern, nicht wahr? Ich hab es auch gelernt, als ich so alt war wie du — ich ging damals noch in die Dorfschule.“

„Hoffentlich nicht ‚Die alte Waschfrau‘“, dachte Erika, während sie ihr Lesebuch aufschlug, aber Fräulein Sonneson sagte eine andere Seitenzahl an.

„Ich lese es dir erst einmal vor”, sagte sie, und Erika guckte auf die Sonnenkringel, die durch das dichte Weinlaub am Fenster hereinfielen. Dabei hörte sie zu, wie ihre Lehrerin begann:

„Der Mensch hat nichts so eigen,

So wohl steht ihm nichts an,

Als daß er Treu erzeigen,

Und Freundschaft halten kann.

Wenn er mit seinesgleichen

Soll treten in ein Band,

Verspricht sich, nicht zu weichen

Mit Herzen, Mund und Hand ...“

Ach, wie schön, dachte Erika entzückt, das ist doch, als ob der liebe Gott es gehört hat, was ich mir ausgedacht habe — schon ehe ich es ihm richtig gesagt und ihn darum gebeten habe. Er sieht einem eben ins Herz. Soll treten in ein Band ... ein Freundschaftsband. Dazu gehört eigentlich, daß wir uns auch ein äußeres Freundschaftsabzeichen ausdenken, etwas gegenseitig schenken, vielleicht eine Halskette? Mit den gleichen Anhängern ... oder einen Freundschaftsring ...

„Ja, ich kann das Gedicht schon, wenigstens den Anfang“, sagte sie zu Fräulein Sonneson, als diese danach fragte. „Ja, ich habe es einmal in einem Poesiealbum gelesen.“

In Renis Album schreib’ ich dann auch, vielleicht in das neue — oder ich schenk’ ihr eins — ich muß nur erst mit Frau Jahnecke sprechen. Das alte ist schon ganz voll, sagte sie — sie fühlte eine leise bohrende Eifersucht, beruhigte sich aber sofort wieder. Die Mädels, die nur sechs Wochen im Kinderheim gewesen waren, waren ja gar keine richtigen Freundinnen, nein, das konnten sie gar nicht sein. Aber wir, wir sind dann immer beisammen, immer, im Sommer und im Winter und in den Ferien und in der Schulzeit — und sonntags und wochentags. —

Ja, es war sicher ein Zeichen vom lieben Gott, daß er einverstanden war mit ihrem Plan, daß er sie gerade heute dies Gedicht lernen ließ. Wie gut, daß man Geburtstage hat, zu denen man sich etwas wünschen darf — und daß der Wunschzettel dies Jahr noch nicht geschrieben war. Sicher war Mutti einverstanden — sonst mußte sie es eben beim Vater versuchen, mit allen Mitteln ... wenn sie ihn bat, bat und bettelte: „Vater, ich will auch schrecklich folgsam und vernünftig sein — und fleißig in der Schule und artig zu Hause — Vater, ich möchte doch auch mal eine Freundin haben dürfen, bitte, bitte, Vater ...!“

Und vielleicht tat er es auch Frau Jahnecke zuliebe, dachte sie, wenn sie verzagt werden wollte — denn, daß das ein großer Geburtstagswunsch war, fühlte sie deutlich. Er hatte Frau Jahnecke doch gern — sie war so tüchtig und nett. Ja, schon ihr zuliebe würde Vater nicht nein sagen!

Leben und Betrieb im Heim Reni passiert etwas Schreckliches

Es war nicht mehr still im geliebten Heim am Berge, o nein, ganz im Gegenteil. Wenn auch die Hauptperson, der Doktor, fehlte, wenn die Garage zublieb und kein Auto am Abend oder nachts oder gegen Mittag den Hang heraufbrummte — Leben war doch wieder eingezogen, vielfältiges und buntes und junges Leben. Erst kamen die Tanten zurück. Wer sich unter dem Wort „Tante“ etwas Altes, Umständliches oder Vertrocknetes vorstellt, der schießt vorbei: diese Tanten hier waren sämtlich jung, außer Tante Mumme, die nun schon jahrelang den Betrieb leitete. Die andern aber sahen aus wie große Schwestern von den Erholungskindern, mit kurzen Röcken und bunten Dirndlröcken und nackten braunen Beinen und den allerlustigsten Augen. Auch sie wechselten, wenn auch nicht so schnell wie die Kinder, aber länger als zwei Jahre war fast nie eine Tante hier, dann heiratete sie bestimmt.

Reni liebte am meisten die Tante Thea, die süße Tante Thea, die Turntante, an der aber auch alle andern Kinder immer am meisten hingen. Sie war klein und schlank und so biegsam wie eine Gerte, und es störte bei ihr nicht einmal, daß sie eine Brille trug. Ihre buschigen Haare flogen, wenn sie am Reck die Riesenwelle machte oder wenn sie wie ein Gummiball vom Trampolin wippte. Jetzt im Sommer waren alle Fenster in der Turnhalle heruntergelassen, so daß man dort wie im Freien spielte, wenn man an den Geräten war, und wieviel Bodengymnastik gab es draußen auf dem Hang, nur so zum Zeitvertreib und gar nicht in den „Stunden“!

Reni war um diese Zeit — wie immer, wenn Neue gekommen waren — so schwer beschäftigt, daß der Vormittag in der Schule eigentlich eine Erholung, ein Ausruhen bedeutete. Zu Hause, also im Heim, kam sie, außer beim Essen, keine Zehntelsekunde zum Sitzen. Die vielen neuen Kläuse und Peters, Lieselotten und Ingen zu behalten fiel ihr, da sie darin Übung hatte, gar nicht schwer; sie wußte auch immer, wohin jedes gehörte. Es gab drei Schlafsäle im Haus, einen für Mädel, einen für Jungen und einen für Kranke. Zuerst verliefen sich die Neuen sämtlich wie auf einem großen Schiff, und Reni mußte den Lotsen spielen. Sie kam die ersten Tage aus einem beständigen Schweinsgalopp nicht heraus.

Sie selbst hatte ein kleines Zimmer im andern Haus, in dem, das auf der linken Seite vom Hof stand, wo auch Tante Mumme und der Onkel Doktor wohnten. Es war nicht viel anders eingerichtet als ein winziger Schlafsaal, denn Reni wollte vor den andern nichts voraus haben — ein schmaler weißer Schrank stand darin, das Bett, ein Bücherregal — das allerdings war ein Sonderbesitz, aber doch nötig — und ein kleiner runder Tisch am Fenster. Oft wurde sie auch „eingeladen“, wenn sie sich mit einem Mädel besonders angefreundet hatte, und dann durfte sie für eine oder mehrere Nächte mit in einem Schlafsaal schlafen. Tante Mumme war darin großzügig und freundlich, seit Reni etwas größer geworden war. Dann wieder lud Reni die andern ein, zu ihr ins Zimmer zu kommen, und sie bewunderten dann ihre Bücher und Bilder, und erzählten von ihren eigenen Zimmern zu Hause, von ihren Freundinnen und Geschwistern.

Auf dem Tisch am Fenster stand ein schönes Bild, eine vergrößerte Photographie in einem schmalen, glatten Silberrahmen. Sie zeigt ein junges Mädel im Dirndlkleid und Spenzer, das auf einem großen Stein sitzt und sich gerade den einen derben, hohen Bergstiefel zuschnürt. Und daneben steht, nur im Halbprofil zu sehen, ein junger Mann, der über das Mädel hinweg nach den Bergen guckt, die gleich dahinter aufsteigen. Er ist auch in Trachtenzeug gekleidet, in kurzer Hose und Janker, aber sein Gesicht ist kein Jungengesicht mehr, sondern ernst und ruhig — wie die Berge sind. „Das sind meine Eltern“, sagte dann Reni immer, wenn die fremden Mädel bewundernd davor standen, und jedesmal fühlte sie, wie ein glücklicher Stolz in ihr aufstieg. Die andern hatten Freundinnen und Geschwister, aber solch großartige und wunderschöne Eltern hatte bestimmt keins von ihnen.

Alle Erholungskinder beneideten Reni stets, daß sie hierbleiben durfte, für immer. Sie fanden das wundervoll und begeisternd — dann konnte sie doch immerfort am Rundlauf turnen und an den so sehr begehrten Ringen schaukeln — und im Schlafsaal ringsum in allen Betten schlafen, wenn sie allein war — sie nickte und lachte. Gerade jetzt war so eine wilde und lustige Liselotte da, die ihr tausenderlei vorschlug, was sie allein hier treiben würde — so als reichten die sechs Wochen, die sie hier wäre, nicht aus.

„Nein, aber nun müssen wir wieder rüber, die Tante Thea wartet sicher schon“, sagte Reni endlich, „wir haben doch heute nachmittag noch mal freiwilliges Turnen. Und hinterher spielen wir noch ein bißchen Anschlagverstecken im Dustern, wollen wir? An der Henriette ist Anschlag, und ins Haus laufen gibt’s nicht ...“

„O ja, o ja!“ riefen die andern und liefen hinter ihr her. Am Abend saß sie dann allein in ihrem Stübchen und schrieb einen Bericht an den Onkel Doktor. Er mußte doch alles wissen. Dann fiel sie todmüde ins Bett.

Es zeigte sich, daß der Onkel Doktor, obwohl er doch beileibe nicht immer da war, doch die Seele des Kinderheims darstellte. Jetzt, wo er verreist war, fehlte er überall. Er hatte natürlich einen Vertreter da, aber der war jung und kannte so einen Betrieb überhaupt nicht, er wurde nur zu Krankheitsfällen gerufen. Und Tante Mumme ging es im Augenblick gar nicht gut, sie war durch die Hitze matt und viel nervöser als sonst. Fast jeden Tag passierte etwas Unvorhergesehenes.

Vielleicht lag es auch an den Kindern. Es waren dieses Mal besonders wilde und unbändige Exemplare, die zwar gut zusammenpaßten, aber doch mehr Unfug anstellten, als so leicht wieder gutzumachen war. Die Allerwildeste und Allerlustigste war wohl Liselotte, und gerade sie hatte sich mit Reni sehr zusammengetan.

An einem krachheißen Sonnabend erbarmte sich die Tante Thea, die sah, daß Tante Mumme ein Aufatmen nötig hatte, mitsamt einer andern jungen Helferin und schlug vor, mit allen Kindern einen Ausflug in die Berge zu machen. In die Blaubeeren — da konnte Tante Mumme sich erholen und Kraft sammeln für den Sonntag.

Die Kinder waren einverstanden, und Tante Mumme versprach ihnen bei ihrer Rückkehr eine große Menge rote Grütze mit Vanillesoße. Es wurde also gepackt, Brote mußten gestrichen und eingewickelt werden, und Reni überwachte wie immer deren Ausgabe und steckte für Liselotte und sich selbst vorsorglich noch zwei zusätzliche Päckchen ein. Schließlich ging es auch wirklich los. In den Bergen war es durchaus erträglich, denn die Bäume hielten die Luft kühl, und Tante Thea wußte herrliche Blaubeerflecke. Sie war ja hier aufgewachsen und kannte das Gebirge wie ihre Tasche.

Es ging alles glatt wie immer, wenn die junge Turnlehrerin das Kommando hatte. Sie ließ die Kinder sich erst einmal richtig satt tollen, dann jagte sie diese in die Blaubeeren, und gegen Abend sammelte sie alle um sich und erzählte ihnen, während sie ihre Brote aßen, eine lange Geschichte. Das war fast das Allerschönste.

Alle waren eigentlich ziemlich müde, nur Liselotte blitzte der Übermut noch so richtig aus den Augen. Sie hatte zu Hause nur Brüder und war selbst ein halber Junge. Die andern waren alle ein bißchen klein geworden und wollten nach Hause.

Nun konnten sie sich aber über den Heimweg nicht recht einigen. Reni und Liselotte behaupteten, sie wüßten einen Abschneider, sie wären erst vor kurzem hier gewesen und dann ganz schnell nach Hause gekommen, durch eine Schneise und dann durch Gebüsch — sie wollten es den andern zeigen. Tante Thea war nicht sehr für Abschneider.

„Meistens verläuft man sich und muß dann erst recht lange laufen und suchen, bis man die richtige Straße wieder hat“, sagte sie aus Erfahrung. Reni aber lachte.

„Ich kenn den Weg schon!“

„Dann gehen wir ihn alleine — und zu Hause helfen wir die Tische decken, damit ihr gleich losessen könnt, wenn ihr heimkommt“, schlug Liselotte vor. Tante Thea lachte.

„Oder ihr verlauft euch und kommt erst spät an, hungrig und durstig, und wir haben euch alles weggegessen.“

„Jaja!“ Die andern lachten und jubelten.

„Wir finden aber wirklich — wollen wir wetten? Wir sind bestimmt eher da als ihr!“ beteuerte Reni, und nun waren die andern dafür, daß die Wette gelten sollte. Die beiden konnten ja ruhig mal sehen, wie sie allein durchkamen, und waren sie erst später daheim, so bekamen sie nichts von der ersehnten roten Grütze, auf die sich alle schon mächtig freuten. Damit sie sich endlich einmal ihre Großsprechereien abgewöhnten, jawohl!

„Wer spricht denn hier groß?“ lachte Liselotte, die immer das letzte Wort behielt. „Ich etwa?“

Tante Thea hatte Reni zugeblinzelt. Sie mochte die kecke und selbstbewußte Liselotte gern und flüsterte deshalb mit Reni. Ob sie den Weg wirklich sicher wüßte? Ja? Dann sollten sie doch die Wette ruhig abschließen, aber gewinnen müßten sie diese. Reni nickte mit glänzenden Augen. Sie war ihrer Sache sicher.

So trabten sie also, nachdem noch einmal alles genau besprochen worden war, allein los, Reni und Liselotte, während die andern, die nun darauf brannten, loszugehen, den richtigen, markierten Weg einschlugen, den sie auch hinzu gegangen waren. Reni konnte Liselotte kaum folgen, sie sprangen über eine Lichtung, zwängten sich dann durch Gebüsch und rannten, als gälte es ihr Leben.

Reni fühlte, wie ihr die Haut unter den dicken Zöpfen ganz naß wurde, aber sie rief Liselotte nicht zurück. Sie mußten doch unbedingt zuerst ankommen!

Nach einer Weile merkten sie, daß sie sich verlaufen haben mußten. Hier waren sie damals nicht vorbeigekommen — „... wir müssen mehr nach links und einfach bergab“, meinte Reni. Liselotte nickte, sie kämpften sich durch Brombeerranken und Unterholz und kamen dann auf eine ihnen völlig fremde Straße. Dann aber erkannte Reni eine Bank, die etwas unterhalb durch die Bäume schimmerte, und von neuem rannten sie los. Hopphopp — wirklich, sie hatten die richtige Richtung, und nach einer Viertelstunde trabten sie, schweißnaß und atemlos, im Heimhof ein, der noch — Gott Lob und Dank und Hurra! — leer war.

Erschöpft ließen sie sich auf eine der eingerammten Bänke fallen und schnappten erst mal nach Luft. Tante Mumme war nicht zu sehen, alles war noch friedlich und still. „Wir hopsen ins Planschbecken!“ schlug Liselotte vor, aber das fand nun Reni doch zu unvernünftig.

„Nein, weißt du, das darf man nicht, so erhitzt ins kalte Wasser, aber duschen gehen wir, lauwarm duschen, das erfrischt auch herrlich!“

Sie taten es. Es war wunderbar, im Duschraum nackt herumzuspringen und sich zu spritzen, soviel man wollte, dann zogen sie ihre Luftkittel an und sahen sich nach neuen Taten um. Es war so schön, das Feld einmal ganz für sich allein zu haben.

„Wir haben doch versprochen, die Tische zu decken“, erinnerte sich Reni. Liselotte machte ein saures Gesicht, gab aber dann nach. „Wir wollen nur erst mal sehen, ob es wirklich rote Grütze gibt“, meinte sie, „sonst decken wir womöglich falsche Teller.“ Sie liefen in die Wirtschaftsküche und riefen nach den Mädeln, aber durch irgend einen Zufall fanden sie niemanden.

„Komm, wir gucken selbst nach“, flüsterte Reni und zog Liselotte, die mit den Örtlichkeiten nicht so vertraut war, an der Hand mit sich. Ein großer, heller, luftiger Keller, der die „Verwaltung“ hieß, öffnete sich vor ihnen. Hier standen ganze Regale voller Weckgläser, Flaschen mit Obstsaft, die man kaum zählen konnte, und auf dem Fußboden, auf Stroh aufgestapelt, Unmengen von Blechbüchsen. Die Hurden, auf denen winters die Äpfel lagerten, waren leider leer.

„Aber siehst du, hier — es stimmt schon!“ jubelte Reni auf. Liselotte huschte hinter ihr her in den zweiten Keller: da standen auf einem Tisch im Dämmerlicht viele breite und große Schüsseln mit der dunkelroten, durchsichtigen Wabbelspeise, die niemand so herrlich und würzig kochte wie Tante Mumme. Und auf der Erde stand ein großer brauner Steintopf mit Vanillesoße. Die war gelb von Eiern und hatte oben eine wunderbare, runzlige, dicke, appetitliche Haut darauf. So schrecklich Milchhaut für die meisten Kinder ist, so gern mögen sie meistens Kakao- oder Vanillesoßenpelle. Liselotte jedenfalls sagte, sie äße sie schrecklich gern, und Reni nickte mit glänzenden Augen.

„Die Küchenmädel machen sie bloß immer kaputt, sie zerquirlen sie, ehe die Soße ausgegeben wird“, sagte sie bedauernd.

„Ja? Da essen wir sie runter!“ juchzte Liselotte leise. „Wenn sie doch nicht mit auf den Tisch kommt ...“ „Aber wie?“ Reni sah sie bedenklich an. Vielleicht fragte doch jemand danach, und ...

„Mit den Fingern!“ schlug Liselotte vor, dann aber sahen sie ihre Hände doch zögernd an. Beim Duschen war zwar manches abgegangen, aber das Blaubeersuchen den ganzen Tag über hatte sie doch so gefärbt, daß man unmöglich damit in den Topf langen konnte. Aber vielleicht war hier irgendwo ein Löffel?

Sie suchten umher, schoben ein paar Schubladen auf und zu und horchten immer wieder hinaus, ob auch niemand käme. Endlich rief Liselotte triumphierend: „Hier!“

Sie hatte auf dem Fensterbrett einen hölzernen Rührlöffel entdeckt. Eins zwei drei fuhr sie damit in den Topf und angelte nach der begehrten kühlen, süßen Haut, Reni drängte sich neben sie, und sie schleckten und leckten. Ah, wunderbar — dort schwamm noch ein Stück — da hörte man draußen einen Schritt. Erschrocken richteten sie sich auf, wollten fort, Liselotte blieb am Topfhenkel hängen — bauz! — ein großer gelber See auf der Erde, die ganze Soße lief davon. Die beiden Mädel standen wie erstarrt.

„Liselotte!“ — „Renil“

Die Schritte gingen vorbei. Aber damit war ja nichts geholfen ...

„Wir gehen gleich zu Tante Mumme“, sagte Reni dann zaghaft, ohne große Überzeugung, „oh, was wird sie sagen!“

„Wo sie doch auch noch krank ist!“ flüsterte Liselotte bedrückt. „Wir sagen lieber gar nichts — niemand hat uns doch gesehen!“

„Aber ausgegossen ist sie doch ...“

„Dann war es eben Mohrchen, wie neulich —.“ Vor zwei Tagen hatte der schwarze Kater, der im Heim lebte und von allen Kindern heiß geliebt wurde, etwas Wurst stibitzt. Tante Mumme hatte sehr gescholten, aber alle hatten flehentlich gebeten, Mohrchen nicht zu hauen. Sie wollten auch gern ihre Butterbrote „ohne“ essen. Reni war den Tränen nahe. „Ich mag nicht lügen!“

„Aber wir lügen doch nicht! Wir warten bloß ab — wenn uns jemand fragt, können wir immer noch die Wahrheit sagen!“

Sie horchten nach draußen. Liselotte faßte Renis Hand. „Los!“

Wirklich kamen sie ungesehen aus der Verwaltung und dem Wirtschaftsgebäude heraus. Reni dachte, das wäre vielleicht ein Zeichen, daß sie tatsächlich nichts sagen und Tante Mumme den Kummer ersparen sollten ... Die Soße war hin, so oder so, aber Tante Mumme war bestimmt viel ärgerlicher, wenn sie erfuhr, daß sie es gewesen war. Wenn Mohrchen es war, war es eben ein Küchenpech, weiter nichts. Bei ihnen aber war es eine richtige Ungezogenheit — sie bekamen so gutes Essen im Heim, daß Naschen wirklich häßlich war. Sie tat es sonst auch nie ...

Während sie noch, mit widerstrebendem Gefühl, neben Liselotte herlief, ertönte von der Liegewiese her „Huhu!“ und „Hallo!“ herunter, und die andern kamen im Rudel herabgerannt. Mit ihnen Tante Thea, lachend und fröhlich.

„Also habt ihr doch gewonnen! Aber lange könnt ihr noch nicht da sein!“ rief es durcheinander.

„Warum denn nicht?“ fragte Liselotte streitbar.

„Weil ihr noch keine Tische gedeckt habt, ätsch!“

„Ach, aber wir haben lange geduscht — und uns umgezogen ...“

„Aber Tischdecken gehörte auch mit zur Wette“, ereiferten sich die andern, die nicht zugeben wollten, daß sie verloren hatten. Es war ein lautes Hin und Her, das Tante Thea beendete, indem sie ihre Schützlinge in den Duschraum trieb. „Nun aber fix!“

Reni hatte im Augenblick ihr Unglück vergessen gehabt. Jetzt fiel es ihr wieder ein.

„Ich geh doch zu Tante Mumme“, dachte sie und sah sich nach Liselotte um. Die war nicht zu sehen ...

Da hörte sie hinter sich ihren Namen rufen. Sie fuhr herum —

„Reni! Hörst du denn nicht?“ Das war doch Mutters Stimme! Reni wirbelte herum, rannte, daß ihre Beine flogen, und gleich darauf hing sie an Mutters Hals.

Am Abend saßen sie bei Tante Mumme, Frau Jahnecke und Reni, und unterhielten sich. Tante Mumme war sehr betrübt, daß Reni fort sollte, aber sie sprach eigentlich nicht dagegen.

„Es ist zu viel, Frau Jahnecke, ich schaff’ es nicht mehr“, seufzte sie bekümmert, „ich werde alt! Am meisten merk’ ich es, wenn mein Bruder nicht da ist. Mit ihm zusammen, ja, da mag es noch gehen, aber allein ... Ich kann mich um das Kind nicht mehr richtig kümmern, neben dem ganzen Betrieb hier. Dabei täte ich es so gern! Ach, es ist hart, alt zu werden. Ich täte so gern noch ein paar Jahre mit! Aber ich versage, ganz und gar!“

„Aber Tante Mumme, Sie versagen doch nicht!“ tröstete Frau Jahnecke herzlich und legte ihre Hand liebkosend auf den Arm der alten Dame. „Es ist doch alles so schön in Schuß hier!“

„Nein, gar nicht“, widersprach Tante Mumme bedrückt, „ich bin nicht mehr die, die ich war. Heute erst — da hab’ ich doch gesagt, es sollte Vanillesoße geben, den Kindern hab’ ich’s versprochen und den Küchenmädeln hab’ ich es auch gesagt, bestimmt. Aber die — zu faul, welche zu kochen, oder hatten sie es verhört — bringen einfach Milch statt dessen auf den Tisch. Ich hätte nichts anderes gesagt. Und die Kinder hatten sich schon gefreut — man muß doch Kindern sein Versprechen halten!“

Reni sah zu Boden, ihr war, als müßte jeder, aber auch jeder an ihrem Gesicht sehen, was sie jetzt dachte. Oh, wie sie sich schämte!

Da hatten die Küchenmädel einfach den Mund gehalten, anständig und nett wie sie waren — wahrscheinlich hatten sie sie doch gesehen, als sie aus dem Keller hinausliefen, und wollten sie nicht verpetzen. Oder sie konnten es sich selbst nicht erklären ... Jetzt jedenfalls konnte sie doch aber nichts mehr sagen, oder? Denn dann zog sie die Mädel, die so nett zu ihr waren, mit hinein — und Liselotte natürlich auch ...

Sie sagte nichts. Niemand fragte sie ja, — aber sie hatte ein sehr, sehr schweres Herz, als sie an diesem Abend ins Bett ging, in ihr liebes, schmales, weißes Bett hier ...

Die Reise - Erika und ein neuer Anfang

„Du, Reni“, sagte die Mutter und hielt im Packen inne — sie stand über den großen Koffer gebeugt und hatte gerade den Bademantel hineingelegt — „sag mal, fährst du eigentlich gern mit? Oder — nach deinem Brief dachte ich nämlich ...“

„Nach welchem Brief?“

„Nun, nach dem, den du mir neulich schriebst — daß es so traurig hier wäre, keine Kinder da, und der Onkel Doktor auch fort!“

„Ach ja, der.“ Reni stand und sah aus dem Fenster. Ihre Mutter blickte nachdenklich zu ihr hinüber.

„Ich habe mir immer so sehr gewünscht, daß du bei mir wärst, für immer. Aber ich mochte Niethammers nicht bitten — es ist doch eine sehr große Gefälligkeit, weißt du, wenn du mit dort wohnen und mit Erika zusammen erzogen werden sollst. Nun bat Erika von sich aus darum — und sehr dringend. Sie sehnt sich so sehr nach einer Freundin, war immer allein. Und du schreibst so betrübt, vor allem deshalb wollte ich dich mitnehmen. Nun weiß ich nicht — du hast dich wohl mit Liselotte sehr angefreundet?“

„Mit Liselotte? Ach wo! Jedenfalls nicht mehr als mit den andern Mädeln hier“, sagte Reni hastig. Es kam so rasch und unsicher heraus, daß Frau Jahnecke merkte: hier stimmte irgend was nicht. Aber sie war sowenig mit Kindern zusammen, immer hatte sie mit großen Leuten zu tun gehabt, und so meinte sie, sie könne sich auch irren. Trotzdem fragte sie noch einmal:

„Also kommst du gern mit, mein Mädel? Du brauchst mich nicht zu beschwindeln, bestimmt nicht — ich möchte wissen, wie du wirklich denkst ...“

Reni verließ ihren Platz am Fenster, legte die Arme um Mutters Hals und schmiegte sich an sie an. „Ich komme gern mit, Mutter“, flüsterte sie erstickt.

Es war wahr. Sie wollte fort hier — noch nie hatte sie so etwas getan wie die schreckliche Geschichte gestern. Sie mochte nicht hierbleiben. Vor Tante Mumme ein schlechtes Gewissen haben müssen, den Küchenmädeln begegnen und denken müssen: sie haben für dich gelogen — und gar Liselotte ins Gesicht sehen! Ach nein, sie wollte fort. Und wenn Mutter es sich wünschte, und Erika sich so freute ...