Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Was bedeutet eigentlich Demokratie? In Zeiten, in denen angesichts zunehmender extremistischer Strömungen die Alarmglocken schrillen, ist es höchste Zeit, einige Grundlagen zu klären: Was sind die Voraussetzungen einer Demokratie? Welche Rolle spielen dabei politische Institutionen – oder noch genauer: Wie wird eigentlich Politik gemacht? Klar und prägnant geschrieben, öffnet der Essay die Augen dafür, wo die wirklichen Probleme liegen und wie sinnvolles Engagement jenseits rhetorischer Erregung aussieht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jörg Phil Friedrich
Republik in der Krise
Was eine lebendige Demokratie ausmacht
Einführung
Kapitel 1
Zwei Mythen von den Anfängen der Demokratie
Kapitel 2
Was ist Politik?
Kapitel 3
Der Charakter der politischen Institutionen
Kapitel 4
Die undemokratische Republik
Kapitel 5
Warum Parteien disziplinieren
Kapitel 6
Ist eine demokratische Republik möglich?
Kapitel 7
Auf der Schwelle
Anmerkungen
Impressum
Demokratie ist derzeit in aller Munde. Sie steht auf dem Spiel und soll verteidigt werden. Das haben sich allerdings ganz verschiedene Gruppierungen auf die Fahnen geschrieben. Die einen fürchten um die Stabilität der politischen Institutionen der Republik und meinen, die Demokratie gerate in Gefahr, wenn sich Skepsis über das Funktionieren von Parlamenten und Regierungen, Gerichten und Behörden verbreitet, die anderen halten genau diese Institutionen in ihrer aktuellen Erscheinung für das Ende der Demokratie. Die einen verknüpfen moralisch hohe Ziele wie die Bekämpfung von Klimawandel, Umweltzerstörung und Armut im Wesen mit der Demokratie, die anderen meinen, dass Demokratie im Namen dieser hehren Ziele gerade ausgehöhlt wird.
Aber vielleicht sind gerade all diese Diskussionen und Konflikte der Beleg dafür, dass zwar die Republik in der Krise ist, die Demokratie aber heute so lebendig ist wie schon lange nicht mehr. Vielleicht ist all diese Unübersichtlichkeit, dieses widerspruchsvolle Chaos im Grunde das, was Demokratie in ihrem Wesen ausmacht.
Dass Demokratie und Republik nicht das Gleiche sind, daran erinnert noch die Tatsache, dass es im Mutterland der modernen Staatsgebilde, den USA, zwei politische Parteien gibt, von denen die eine sich demokratisch nennt, während die andere sich als republikanisch bezeichnet. Im Alltag sprechen wir fast nur noch von Demokratie, wenn wir die politische Organisationsform der Staaten bezeichnen wollen, die Republiken genannt werden. Es scheint, als wäre dies das demokratische Ideal der Herrschaft aller in den modernen Großgesellschaften durch ihre Verfassung als Republik gesichert. Aber das ist nicht selbstverständlich. In diesem Essay will ich zeigen, dass sich eine Republik weit von dem Anspruch entfernen kann, demokratisch zu sein oder Demokratie zu sichern.
Um Klarheit über das Problem, das uns beim Anblick der politischen Situation in den sogenannten demokratischen Staaten der Welt in Sorge versetzt, zu bekommen, ist es nötig, von hier ab begrifflich zu trennen zwischen Demokratie und Republik. Die begriffliche Trennung fällt schwer, weil wir es so sehr gewohnt sind, von „der Demokratie“ und von „demokratisch“ zu sprechen, wo wir eigentlich „die Republik“ und „republikanisch“ meinen. In diese missverständliche Sprechweise mischt sich der normative, moralische Anspruch, dass Politik demokratisch sein sollte. Eine reibungslos funktionierende Republik muss aber nicht zugleich demokratisch sein, vielleicht soll sie es auch gar nicht, vielleicht muss sie auch durch demokratische Prozesse außerhalb ihrer Institutionen immer wieder zur Demokratie gezwungen und getrieben werden.
Ich spreche also im Weiteren von der Republik und von republikanisch, wenn ich von den politischen Institutionen spreche, die durch bestimmte Verfassungsgrundsätze definiert sind und die diesen Grundsätzen wenigstens formal genügen. Diese Grundsätze werde ich in diesem Buch mit Blick darauf beschreiben, ob sie tatsächlich, wie es der Anspruch der zugrundeliegenden Verfassungen meist ist, auch eine Demokratie erzeugen, und warum es möglich ist, dass das im Laufe der Zeit verschüttet wird, ob das problematisch ist und schließlich, welche Formen anderer politischer Aktivitäten dafür sorgen können, die Republik sozusagen in der Nähe der Demokratie zu halten.
Demokratie bedeutet die Umsetzung des Anspruchs, alle Mitglieder der Gesellschaft gleichberechtigt an der politischen Macht zu beteiligen – zumindest, wenn sie das wollen. Die Republik, so könnte man sagen, ist die Antwort des demokratischen Souveräns auf das Misstrauen, das er sich selbst gegenüber in politischen Fragen empfindet. Der Demos, das Volk, schafft sich oder akzeptiert wenigstens die Republik mit ihren politischen Institutionen, weil er befürchtet, dass bei einer wirklichen Demokratie in einer komplexen Gesellschaft, in der Menschen unter ganz verschiedenen Lebensbedingungen und mit ganz unterschiedlichen Zielen, Wünschen, Sorgen und Hoffnungen zusammenleben, nicht viel herauskommen kann, was langfristig wirklich gut ist in dem Sinne, dass es die Existenzbedingungen möglichst aller und jedes Einzelnen sichert.
Es gibt allerdings auch noch eine schwache Form des demokratischen Anspruchs an die Republik, in der es darum geht, dass sie im Interesse des Demos, des Volkes wirkt. In unserer technischen Gegenwart hat sich die Meinung ausgebreitet, dass das politische System als Republik funktionieren müsse, dass das republikanische politische System am besten wie eine gut entworfene und ausgereifte Maschine geräusch- und reibungslos arbeiten müsse und problemlos gute Produkte, nämlich allgemein anerkannte Entscheidungen zur Lösung auftauchender Probleme hervorbringen müsse. Das politische System ist in dieser Sicht ein Apparat, der Probleme erfasst, noch bevor sie überhaupt ernsthaft problematisch geworden sind, und die richtigen Prozesse zu ihrer Beseitigung in Gang setzt, noch bevor aus ihnen Krisen entstanden sind. Das Demokratische an diesem Apparat soll im Grunde dann gar nicht sein, dass das Volk an der Problemlösung beteiligt wird, sondern dass diese im Interesse aller oder der Mehrheit, für das Wohl des Volkes gelöst werden und zudem auch die Interessen kleinerer Gruppen und Minderheiten wahrt und befördert, die im Rahmen von Verfassungsgrundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit unterstützt werden sollten.
In dieser technischen Vorstellung sind sich verschiedene Gruppierungen, die sich um die Demokratiefähigkeit der Republik auf ganz gegensätzliche Weise sorgen, vielleicht sogar einig. Der Streit geht eher darum, dass die einen meinen, dass die Institutionen, die es heute in den sogenannten demokratischen Staaten gibt, diese Funktion eigentlich ganz gut erfüllen würden, wenn man sie nur machen lassen würde und wenn der Apparat nicht immer wieder durch Störenfriede, externe Kritiker und womöglich durch unlautere Einzelpersonen, die sich in den Mechanismus einschleichen, gestört würde, während die anderen meinen, dass der Apparat seine Funktion eben nicht erfüllt, weil er nicht das produziert, was gut fürs Volk ist, sondern die Interessen von Einzelgruppierungen, moralischen Eliten, ökonomisch Mächtigen oder von denen, die zum Apparat selbst gehören, befördert.
Als Fluchtpunkt aller Vorstellungen, die sich auf die Demokratie berufen, dient ein Mythos, nämlich der von der Gesellschaft, in der dieses Wort entstanden ist, dem sogenannten alten Griechenland, in dem die Volksherrschaft als eines der politischen Modelle der Machtorganisation und Entscheidungsfindung in Stadtstaaten bestimmt wurde. In diesem Mythos sind alle freien Bürger der Stadt vollkommen gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung in allen politischen Fragen beteiligt, sie kommen öffentlich zusammen, diskutieren, beratschlagen und entscheiden gleichberechtigt und gemeinsam.
Bei Aristoteles, der die möglichen Verfassungen als Erster systematisch dargestellt hat, ist die positive Form der Herrschaft der Vielen allerdings nicht die Demokratie, sondern die politeía, die Politie.1 Schon von Platon2 ist ein Werk mit dem Namen Politeía bekannt, in lateinischer Übersetzung heißt es Res Publica und die deutschen Ausgaben tragen den Titel Der Staat. Die Politie des Aristoteles entspricht – wie schon die lateinische Übersetzung des Platon-Werks nahelegt – eher dem, was wir heute „die Republik“ nennen, eine staatliche Organisation, die durch bestimmte feste Einrichtungen sichern soll, dass politische Entscheidungen zum Nutzen aller getroffen werden.
Wenn Platon und Aristoteles von der Demokratie, also der Herrschaft des Demos, des Volkes, sprachen, dann meinten sie mit dem Begriff Volk die einfachen Leute, die zwar freie Bürger waren, die aber gerade nicht durch Reichtum, besonderes Wissen, Adel oder Einfluss zu einer Führungsschicht, zur Elite gehörten. Das Volk steht in dieser Sichtweise den Eliten gegenüber, eine Demokratie ist die Herrschaft derer, die nicht zur Elite gehören.
Heute ist es anrüchig geworden, vom Volk als denen zu sprechen, die die einfachen Leute sind, die weder Politiker, einflussreiche Wissenschaftler und Intellektuelle noch Unternehmer sind. Umgekehrt spricht man auch ungern von Eliten, in einer Demokratie möchte man nicht zur Elite gezählt werden und elitär sein, das ist ein Schimpfwort geworden. Aber es würde das Verständnis der faktischen Verhältnisse erleichtern, wenn man diese Unterscheidung trifft, denn es gibt Leute, die zwar von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, ansonsten aber kaum politisch aktiv werden, und auf der anderen Seite Leute, die in politischen Führungspositionen sitzen, die Expertise einbringen und entweder direkte politische Beratung leisten oder in den Medien befragt werden, die Bücher oder Kommentare schreiben, zudem Leute aus der Wirtschaft, die über Interessensvertretungen Einfluss auf die Politik nehmen. In diesem Essay werde ich die erste Gruppe den Demos, die letztere die politische Klasse nennen. Es gibt zudem Leute an der Grenze, auf der Schwelle zwischen beiden, etwa die sogenannten einfachen Parteimitglieder, die Leute in den Bürgerbewegungen, Leute, die demonstrieren und protestieren. Es wird sich am Ende des Essays zeigen, dass diese für eine gute Demokratie unter den Bedingungen der Republik besonders bedeutsam sind.
Es kann hier dahingestellt bleiben, inwiefern und in welchem Umfang der Mythos einer Demokratie im alten Griechenland überhaupt je Realität war, denn es ist offensichtlich, dass eine politische Struktur, die in einer überschaubaren Stadt überschaubare politische Herausforderungen zu bearbeiten hat, nicht viel mit dem zu tun haben kann, was heute bevölkerungsreiche und komplexe, intern und extern vielfältig verwobenes Gebilde wie es die modernen Nationalstaaten sind. Auch der Verweis auf das parlamentarische Vertretungsprinzip bringt da nicht viel, im Gegenteil, er zeigt schon, dass auch der demokratischste moderne Staat als Republik eher der Aristokratie oder der Oligarchie, in gewisser Weise auch der Monarchie gleichen muss als der mythischen Ursprungsform der Demokratie – nur, dass die Aristokraten, Oligarchen und Monarchen in der modernen Fassung auf Zeit gewählt werden und nicht durch Abstammung oder Besitz bestimmt sind. Schon wenn man sich die Politie, die Republik, wie Platon und Aristoteles sie beschreiben, genauer ansieht, stellt man schnell fest, dass sie den Unterschied zwischen Demos und politischer Klasse sehr gut kannten und dass sie diesen Unterschied auf keinen Fall durch etwas ersetzen wollten, was wir heute Basisdemokratie oder direkte Demokratie nennen. Die Politie wird eher als gelungene Mischung aus Elementen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie beschrieben, wobei niemand durch seine Geburt schon zu den Gremien politischer Macht gehört.
Es gab also in den Stadtstaaten des antiken Griechenlandes bereits republikanische Strukturen. Das muss uns hier aber nicht interessieren, in der heutigen mythisierenden Beschreibung der antiken Demokratie kommen sie nämlich nicht vor. Der erste Mythos der Demokratie ist das, was wir heute als Basisdemokratie bezeichnen. Man weiß allerdings, dass es selbst in basisdemokratischen Strukturen einflussreiche Leute und namenlose Mitläufer, laute und leise, Leute, die vorschlagen und Leute, die zustimmen, gibt. Aber wirkliche Basisdemokratie ist überhaupt nur denkbar in kleinen, überschaubaren Gruppen, in denen es wenigstens möglich ist, dass alle zu Wort kommen. Das ist in Gesellschaften mit Millionen von Bürgern nicht machbar. Somit ist es also vermutlich wenig erhellend, sich für die Bestimmung dessen, was heute Demokratie sein kann, auf die diesen Mythos zu beziehen. Dass alle, die zum Volk gehören, bei den politischen Entscheidungen gehört werden und unmittelbar mitwirken können, kann für eine Gesellschaft der Gegenwart nicht ohne Weiteres Kriterium für eine akzeptable und erfolgreiche Demokratie sein. Dennoch muss ein Vorverständnis des Begriffs Demokratie gefunden werden, von dem sich annehmen lässt, dass es auch für Menschen mit den unterschiedlichsten politischen Positionen akzeptabel ist und zugleich verständlich macht, warum die Überzeugung heute so weit verbreitet ist, dass eine gelungene Demokratie letztlich Voraussetzung für eine Gesellschaft ist, in der es sich langfristig gut leben lässt.
Neben dem Mythos von der Demokratie im sogenannten alten Griechenland, die vor rund zweieinhalb Jahrtausenden in einigen Städten am Mittelmeer existiert haben soll, gibt es einen zweiten Mythos, von dem sich unser modernes Vorverständnis von Demokratie nährt und in dem auch die missverständliche Gleichsetzung von Demokratie und Republik ihren Anfang genommen hat. Ich spreche hier von einem Mythos, weil es nicht darauf ankommt, wie es zu der Zeit, auf den sich der Mythos bezieht, wirklich gewesen, ist, welche politischen Strukturen damals tatsächlich erdacht und praktisch ausprobiert wurden, wie zufrieden die Leute damit waren und welche Schwächen die politische Organisation womöglich hatte. Es kommt für unser heutiges Verständnis von Demokratie, wie es wirklich in unseren Köpfen und in unseren Diskussionen mehr oder weniger klar vorzufinden ist, darauf an, welche Geschichten wir uns über diese Zeiten erzählen, was wir damit illustrieren und wie wir damit metaphorisch unsere verschwommenen, schillernden Begriffe von einer guten Organisationsform der politischen Sphäre ins Gespräch bringen.
Der zweite Mythos beginnt irgendwann zwischen dem Anfang der Neuzeit und dem Erwachen des aufklärerischen Denkens. Er hat mit ein paar Staatstheoretikern zu tun, die sich jenseits der etablierten monarchischen oder diktatorischen Herrschaftssysteme gerechte und zugleich stabile politische Organisationsformen ausgedacht haben, die nicht von der Intelligenz und dem Großmut Einzelner abhängen. Der Mythos erzählt aber auch Geschichten von großen Revolutionen, namentlich der französischen, vom Unabhängigkeitskrieg in Nordamerika, von der Gründung der USA, von bedeutenden Urkunden und Erklärungen, die in diesem Zusammenhang verfasst wurden, namentlich der Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Das ist der Gründungsmythos der modernen Vorstellungen von einer Demokratie, die den komplexen Strukturen der modernen Gesellschaft gerecht werden und auf republikanischen Prinzipien basieren soll. Bemerkenswert ist, dass auch die Leute, die als erste staatliche Strukturen ähnlich unseren heutigen parlamentarischen Republiken erdacht und umgesetzt haben, nicht von Demokratie, sondern eben von der Republik gesprochen haben.
Die für den demokratischen Mythos vielleicht wichtigste Aussage ist, dass alle Menschen gleich sind, dass nicht durch den zufälligen Platz ihrer Geburt unter ihnen rechtliche Unterschiede gemacht werden sollen, dass sie alle die gleichen Rechte haben sollen. Damit ist zweierlei klar: Die Demokratie wird bestimmt in Abgrenzung von politischen Systemen, in denen einigen wenigen ein Vorrecht auf die Lenkung der Geschicke der Gesellschaft eingeräumt wird, sei es durch Abstammung oder sei es durch ihre zufällige gesellschaftliche Situation. Demokratie ist also zunächst das Gegenteil von bestimmten anderen politischen Systemen, insbesondere der Diktatur und der Erb-Monarchie. Zudem soll die politische Verfassung der Gesellschaft als demokratische Republik allen, die zur politischen Einheit gehören, die Möglichkeit geben, sich im politischen System selbst zu betätigen, es soll keine rechtlichen Hürden geben, die verhindern, dass jemand irgendeine politische Machtposition erlangen kann.
Aus der Gleichheit der Bürger ergibt sich im Zusammenhang mit der Abgrenzung von diktatorischen oder monarchischen Staatsformen ein Zweites: dass das Schicksal eines Bürgers nicht von der Willkür bestimmter Personen, die an einer bestimmten Machtposition sitzen, bestimmt werden darf, sondern dass in das Leben der Bürger überhaupt nur durch unpersönliche, allgemein und für alle geltende Gesetze eingegriffen werden soll. Ansonsten soll jeder tun können, was er mag, insbesondere soll er nach Glück und Wohlstand streben dürfen und soll, soweit er andere nicht behelligt, auch nicht von anderen, insbesondere nicht vom Machtapparat des Staats, behelligt werden. Dieser Teil des demokratischen Mythos wird bekanntlich als Rechtsstaatsprinzip bezeichnet.
Man sieht, dass der moderne demokratische Mythos zunächst gar keine Festlegungen hinsichtlich der politischen Entscheidungsfindung im Staat trifft, im Gegensatz zum antiken demokratischen Mythos, der aus dem alten Griechenland stammt. Er ist vielmehr ganz negativ formuliert, er dient der Abgrenzung zu den Formen der Willkürherrschaft, die bei seiner Entstehung alltäglich waren.
Im Prinzip könnte ein Staatswesen, das auf diesem Mythos beruht, auch ganz ohne diejenigen republikanischen Institutionen auskommen, die wir heute wie selbstverständlich den demokratischen Staaten zurechnen, etwa regelmäßige allgemeine Wahlen und Parlamente. Denkbar wären z. B. auch politische Vereine, bei denen sich grundsätzlich alle beteiligen können und die auf der Basis interner Prozesse bei Bedarf immer einmal wieder ein paar neue Verantwortliche bestimmen – oder die bisherigen Verantwortlichen absetzen, wenn sie mit deren Arbeit nicht mehr zufrieden sind. Es könnte sich um eine Wahl-Monarchie handeln, die sich selbst organisiert, vielleicht ähnlich der Organisationsstruktur einer Behörde oder eines Unternehmens. Zwar würden die meisten Menschen intuitiv sagen, dass die Entscheidungen über Machtbefugnisse in solchen Organisationen gerade nicht sehr demokratisch sind, aber wenigstens im Prinzip sind sie mit dem modernen demokratischen Mythos auf der Basis der Erklärungen von Bürgerrechten vereinbar.
Das zeigt, dass zu dem demokratischen Mythos noch eine andere Quelle gehört, die allerdings heute nicht so präsent ist, wie es die allgemeine Gleichheit der Menschen und ihre Gleichberechtigung in juristischen und politischen Dingen sind. Diese Quelle liegt in den Staatstheorien, die im Vorfeld der genannten politischen Umwälzungen in Nordamerika und Europa entstanden sind und auf die diejenigen aufgebaut haben, die die Verfassungen der ersten Nationalstaaten als Republiken entworfen haben. Diese Leute hatten ein tiefes Misstrauen gegen Menschen, denen Macht gegeben wird. Sie waren nicht speziell misstrauisch gegen Monarchen und Diktatoren, sie glaubten nicht, dass man genau diese konkreten Leute nur von der Macht entfernen und dafür sorgen müsste, dass eben bessere Leute die Macht bekommen – sie waren davon überzeugt, dass auch der beste Bürger zum Diktator werden kann, wenn er zu viel Macht bekommt, und dass man diese Macht deshalb organisatorisch begrenzen muss. Deshalb wurden die regelmäßigen allgemeinen Wahlen konzipiert, nach denen jeder Mächtige sich erneut dem Votum aller Bürger stellen muss, deshalb wurden die verschiedenen politischen Institutionen eingeführt, Parlamente, Regierung, Ministerien, Gerichte, die sich die Macht zu teilen haben, die unabhängig voneinander agieren sollen und die sich gegenseitig kontrollieren. Das alles ist es, was die Republik ausmacht. Die Republik wurde entworfen und eingerichtet auf Grund der Überzeugung, dass Leute, die politische Macht bekommen, an gleichberechtigter Beteiligung aller anderen das Interesse verlieren, dass sie, womöglich in „bester Absicht“ und mit der Überzeugung, moralisch das für alle Gute zu tun, dazu neigen, die Ideale der Demokratie beiseite zu schieben. Die Frage, die uns hier beschäftigt, ist, ob die republikanischen politischen Institutionen das wirklich dauerhaft leisten.
