Rettungsgasse - Jörg Helmrich - E-Book

Rettungsgasse E-Book

Jörg Helmrich

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Beschreibung

24. Juli 2010: Jörg Helmrich hatte Dienst, als bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen zu Tode kamen und Hunderte durch die Massenpanik schwer verletzt wurden. Bilder, die er nicht mehr vergisst. Zu seinem Berufsleben gehören jede Menge Einsätze und Erlebnisse. Erfahrungen, die so vielschichtig sind wie das Leben selbst. In den zwanzig hier geschilderten Erlebnissen geht es um Rettung, Hilfe und Nächstenliebe. Um scheinbar ausweglose Situationen, teils wundersam verlaufende Einsätze, in denen sich "Rettungsgassen" aufgetan haben. Aber auch um Gedanken, die Jörg Helmrich nachgegangen sind, wenn ein Einsatz Schlimmeres verhindert hat oder nicht erfolgreich zu Ende gebracht werden konnte. Er schreibt auch über seinen Glauben, der ihm in brenzligen Situationen Kraft gibt und in seinem Leben zu einer persönlichen Rettungsgasse geworden ist.

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Über den Autor

Jörg Helmrich ist Branddirektor und Abteilungsleiter für den Fachbereich Informations- und Kommunikationstechnik bei der Duisburger Berufsfeuerwehr. Er ist verheiratet mit Claudia und Vater von vier Kindern. In seiner Freizeit schreibt er leidenschaftlich gern Beiträge für seinen Blog (helmrichs.blogspot.com) und engagiert sich gemeinsam mit seiner Frau im Rahmen der internationalen Bewegung Der 4te Musketier für Männer-Charakterwochenenden (der4temusketier.de) und Spendenläufe gegen Armut und Menschenhandel (muskathlon.com).

Inhalt

Einleitung

1. Gestrandet auf dem Autobahnkreuz

2. Meine erste Leiche

3. Freier Fall

4. Dicke Säue

5. Ohne Worte

6. Wenn es stinkt

7. Die Explosion von Hermann Wenzel

8. Ein herrliches Unwetter

9. Die weißen Riesen

10. Der Schlafsaal

11. Die Loveparade-Katastrophe

12. Wohnungsbrand an Heiligabend

13. Die Vogelspinne

14. Das Ding mit den Balken

15. Alisa

16. Im Puff

17. PunZug

18. Messehalle 8A

19. Havarie auf dem Rhein

20. Was wir alleine nicht schaffen

Ein Wort zum Schluss

Dank

Anmerkungen

Denn wir wissen, dass Not uns lehrt durchzuhalten,und wer gelernt hat durchzuhalten, ist bewährt, und bewährt zu sein festigt die Hoffnung.Und in unserer Hoffnung werden wir nicht enttäuscht.*

Römer 5,3–5

*Jeder Feuerwehreinsatz ist anders. Und doch gab es in den Jahren meines Dienstes zahlreiche Ähnlichkeiten, Lehren und Erfahrungen, die ich in den vielen unterschiedlichen Erlebnissen erkannt und für mich gefunden habe, um – so jedenfalls die Hoffnung – zukünftige Handlungs- und Entscheidungsprozesse anzupassen und zu verbessern. Ein Gedanke, den ich für mich persönlich so auch abgeleitet in der Bibel finde: Wer in einer Situation – und ist sie noch so dramatisch – durchgehalten hat, ist gefestigt für Zukünftiges. Ein Versprechen, das mir für meinen Dienst Zuversicht und Hoffnung schenkt.

Einleitung

Die Duisburger Feuerwehr zählt zu den größten Feuerwehren der Bundesrepublik Deutschland, sie befindet sich unter den Top 10. Als Teil des Direktionsdienstes dieser Feuerwehr weiß ich um die Professionalität meiner Kolleginnen und Kollegen, dass wir jeden Einsatz nicht nur irgendwie bewältigen, sondern erfolgreich zu Ende bringen. Dennoch ist die Anspannung – die Nervosität, der Respekt vor der Verantwortung, die Unruhe vor dem vielleicht Unlösbaren – eine verlässliche Begleiterin. Sie ist da, wenn ich morgens meine Dienstkleidung anziehe, den Pieper an den Gürtel stecke und damit weiß, dass ich die nächsten 24 Stunden keinen Schritt ohne dieses Ding unternehmen werde. Der Pieper und die Anspannung gehören dazu. Beim Essen, in Besprechungen, auf Autofahrten im Stadtgebiet, ja, sie leisten mir sogar auf der Toilette stets spürbare Gesellschaft. Schließlich weiß niemand, wann der nächste Alarm losgeht, also wann das nächste Unglück passiert oder eine große Not eintritt, die den Bürger veranlasst, „meine“ Feuerwehr anzurufen.

In meiner Funktion als Direktionsdienst fahre ich mittlerweile nicht mehr bei allen möglichen Einsätzen raus, aber wenn bei mir der Pieper mit seinem markant durchdringenden Ton losgeht, weiß ich, dass eine größere Alarmsituation gegeben ist. In diesem Augenblick arbeite ich, reflexartig und einem Raketenstart gleich, gedanklich einen ganzen Fragenkatalog ab: Was ist passiert? Wo muss ich hin? Wie komme ich am schnellsten dorthin? Was wird meine Kollegen und mich dort erwarten? Welcher Situation werde ich begegnen? Bin ich den Herausforderungen gewachsen? – Das sind nur die ersten Gedanken. Es startet ein Handlungsmuster, das über Jahre antrainiert und immer wieder geübt wurde. Beinahe intuitiv erfolgen dann Handgriffe und Denkmuster, die jetzt schon den Einsatzerfolg beeinflussen. Positiv, wie negativ.

Seit 1994 bin ich Teil der Berufsfeuerwehr Duisburg. Mittlerweile gehören jede Menge Einsätze und Erlebnisse zu meinem Berufsleben. Nicht jede Situation endet nachher mit einer Schlagzeile in irgendeiner Tageszeitung oder mit einem O-Ton in den Nachrichten. Glücklicherweise ist das eher die Ausnahme. Doch selbst ohne die Presse werden in Zeiten von Smartphone, YouTube, Facebook und Co. Feuerwehreinsätze, Gefahrensituationen und Menschen in Not auf den Präsentierteller gebracht. Irgendwie scheint es da eine Art Wettstreit zu geben, die Jagd nach dem besten Bild, der erschütterndsten Aufnahme. Und: Wer zuerst postet, hat gewonnen. Das Ganze erweckt den Eindruck, vielen gehe es nur darum, eine möglichst spektakuläre Aufnahme zu machen, um diese sofort und für alle Zeiten ins Internet zu stellen, um so endlich auch mal selbst für Schlagzeilen zu sorgen. Das Interesse daran geht mittlerweile so weit, dass auf Autobahnen der Stau auf der Gegenfahrbahn manchmal länger wird als auf der Unfallspur. Warum? Weil Handy-Gaffer immer skrupelloser werden und in Schleichfahrt die Unfallstelle passieren, damit ihre Aufnahmen nicht so arg verwackeln. Es ist katastrophal, wie mittlerweile Menschen bei Unglücksfällen Grenzen der Würde, des Respekts und des Anstands überschreiten, um sich an dem Schrecken der Not anderer zu ergötzen. Kopfschüttelnd stehe ich da inmitten des Schauplatzes der Not oder Gefahr und widme mich mit meinen Kollegen den Menschen, die jetzt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit brauchen.

Nicht jede Geschichte ist für Außenstehende spektakulär. Nicht jeder Einsatz bringt mich als Einsatzleiter aus der Ruhe. Aber man kann mit großer Gewissheit sagen, dass jede Person, die aus gutem Grund den Notruf 112 gewählt hat und sehnsüchtig auf das Eintreffen der helfenden und in diesem Augenblick als übermenschlich erscheinenden Einsatzkräfte wartet, eine Situation erlebt, in der Hilfe von außen erforderlich ist.

Mal ist es der alte Wäschetrockner, der seine Aufgabe im Keller etwas zu genau nimmt und die Wäsche nicht nur trocknet, sondern in Brand setzt und beinahe pulverisiert. Ein anderes Mal sind es die Filetspitzen, die man nur „mal eben“ auf kleiner Flamme auf dem Herd zurückgelassen hat, um währenddessen noch rasch fehlende Zutaten aus dem Supermarkt gegenüber zu holen. Die Filetspitzen wissen aber nicht, wann sie durch sind. Und der Herd weiß es auch nicht. Irgendwann ist das Fleisch dann einigermaßen „kross“ und wenig später auch die Küche. Der entstandene Schaden ist immens. Rauch und Dreck ziehen bei solch einem Küchenbrand bis in die kleinste Ritze. In alle Zimmer, Schubladen und Schränke. Und ist der Mieter selbst nicht zu Hause, müssen wir leider auch noch die Tür öffnen – mit Werkzeug, bei dem jedem Schlüsseldienst das Herz stehen bleibt.

Wohnungsbrände dieser Art sind für Außenstehende durch ein Großaufgebot an Feuerwehrfahrzeugen erkennbar. Sind wir anschließend wieder abgerückt, ist bei allen Schaulustigen die Aufregung vergangen. Dagegen beginnt beim betroffenen Wohnungs- oder Hauseigentümer, Mieter oder Nachbar jetzt erst die Arbeit: das Aufräumen, Renovieren und vor allen Dingen das emotionale Verarbeiten der Erlebnisse, die sicher noch Jahre später ausführlich erzählt werden.

Glücklich schätzen dürfen sich die Menschen, die in einer Notsituation keinen gesundheitlichen Schaden erleiden. Um genau dieses Ziel zu erreichen, rücken wir als Feuerwehr aus. Für uns hat die Menschenrettung oberste Priorität. Nichts ist wichtiger, eiliger und bedeutender, als verunfallte Personen zu retten, von Feuer eingeschlossene Menschen zu befreien und nach vermissten Personen zu suchen. Hierfür setzen Feuerwehrleute viel aufs Spiel. Nicht leichtsinnig, sondern professionell. Diese Form der „Dienstleistung“ ist unser Ding. Wir kommen, arbeiten und verschwinden wieder, sobald die Lage stabilisiert und den Notleidenden geholfen wurde.

Als Einsatzleiter stehe ich während meines 24-Stunden-Dienstes dabei stets latent „unter Strom“. Und manchmal, das gebe ich offen zu, gibt es da Situationen, die mir über den Kopf zu wachsen drohen. Doch genau dann öffnet sich vor mir eine Art „Rettungsgasse“. Denn bei aller Anspannung, sei es beim Quittieren der Alarmmeldung am Pieper, beim Start des Motors oder während des Einsatzes selber, hilft es mir, mich an meine christliche Grundüberzeugung und an die Anwesenheit Gottes zu erinnern. Ich beginne dann einen Dialog mit Jesus Christus, also demjenigen, den ich als junger Mann in einer ziemlich heruntergewirtschafteten Lebenssituation kennengelernt habe, dem ich seitdem vollstes Vertrauen schenke und von dem ich weiß, dass er mich absolut ernst nimmt. Das geschieht nicht auf Knopfdruck, sondern indem ich mit ihm ins Gespräch finde.

„Jesus – wir müssen reden.“ So oder ähnlich beginne ich die Gebete, die ein absolut wichtiger Teil, ein unverzichtbares Fundament, für mein Leben sind. Natürlich weiß ich, dass das nicht für jeden sofort nachvollziehbar klingt, doch aus mehr als 25-jähriger Erfahrung kann ich nur empfehlen, als Mensch das Gespräch mit Gott zu suchen und zu pflegen.

In den nun folgenden zwanzig geschilderten Erlebnissen, die ich während meiner Dienstjahre gemacht habe, geht es um Rettung, Hilfe und Nächstenliebe. Um scheinbar ausweglose Situationen, teils wundersam verlaufende Einsätze, in denen sich „Rettungsgassen“ eröffnet haben. Aber auch um Gedanken, die mir nachgegangen sind. Vor allem, wenn ein Einsatz nicht erfolgreich beendet oder Schlimmeres verhindert werden konnte. Sie werden aber auch von Kuriosem erfahren, das wir Feuerwehrleute erleben. Dabei schreibe ich auch immer wieder kurz und hoffentlich für Sie als Leser nicht zu aufdringlich über meinen Glauben an Jesus Christus, der auf seine besondere Art und Weise mich persönlich gerettet hat. Eine Rettung, die deutlich nachhaltiger ist, als ich sie in meiner Eigenschaft als Feuerwehrmann je bieten kann, denn es geht um das Leben bei Gott selbst.

Ich habe mich bemüht, die beschriebenen Personen und Sachverhalte so anonym und zugleich so authentisch wie möglich zu beschreiben. Natürlich sind die Schilderungen über Großeinsätze wie das Unglück bei der Loveparade in Duisburg oder der Brand unserer Hauptwache hervorstechende Ereignisse, doch andere Berichte haben nie den Weg in die lokale Presse gefunden. Dieses Buch möchte also neben sehr emotionalen Erlebnissen auch andere Geschichten – die, über die man den Kopf schüttelt – nacherzählen und Ihnen als Leser griffig und erlebbar machen. Sie gehören zu unserem Leben dazu. Mit allen Schilderungen verbinde ich ganz persönliche Sichtweisen auf das Leben, die (so hoffe ich) vielleicht auch Ihnen einen Weg eröffnen, wo manches festgefahren scheint. Zugleich möchte ich Sie ermutigen, auf Gottes Hilfe und Rettung aus einer für Sie ausweglos erscheinenden Lebenssituation zu vertrauen. Dem Leitspruch „Gott zur Ehr’, dem Nächsten zur Wehr“ gilt dabei besondere Wertschätzung.

1.Gestrandet aufdem Autobahnkreuz

Einsätze beginnen für gewöhnlich mit einer lautstarken und gut sichtbaren Alarmierung. Auf allen Feuerwachen, in allen Büros und Räumlichkeiten sind dazu Lautsprecher montiert, die von der Leitstelle bedient werden können. Mit den Jahren entwickelt man als Feuerwehrmann eine Art Instinkt, wann der nächste Alarm ertönt, jedenfalls bildet man sich das ein. Auf mancher Feuerwache knackt auch etwa ein oder zwei Sekunden vor dem Alarm der Lautsprecher. Ein kaum hörbares, aber dennoch wahrnehmbares Knacken. Dann folgt die Durchsage der Leitstelle, die nicht nur den Anlass und den Einsatzort bekannt gibt, sondern auch die nötigen Informationen mitteilt, wer losfahren soll. Allerdings plärrt manche Durchsage so schrecklich aus den Lautsprechern, dass man gelegentlich Mühe hat, sie zu verstehen. Vor allem, weil fast parallel dazu ein unüberhörbarer Gong erklingt und – äußerst praktisch des Nachts – zugleich das Licht in den Räumen und Fluren eingeschaltet wird. Jetzt wird jedem klar, dass ein Einsatz bevorsteht. Dann heißt es ab zum Fahrzeug. Schutzkleidung in Form von Überhose, Stiefel, Jacke und Helm an. Einsteigen. Blaulicht und Martinshorn einschalten. Und ab geht die Feuerwehr.

Doch es gibt auch die Einsätze, die sich schon vorher irgendwie ankündigen, und zwar lange vor der eigentlichen Alarmierung. So auch jener, der in Form einer Rauchsäule, die eines heißen Sommertages vom Bürofenster meines Kollegen aus deutlich über dem Autobahnkreuz Duisburg-Kaiserberg zu sehen war.

„Deine Baustelle!“, war seine schlichte Reaktion, denn an diesem Tag war ich Einsatzleiter für die Nordhälfte des Stadtgebietes. Und dieser Bereich schloss das Autobahnkreuz, das die viel befahrene A3 (Oberhausen – Frankfurt) mit dem „Ruhrschnellweg“ (A40) verbindet, mit ein.

„Abwarten“, dachte ich einen Moment lang. Doch dieser Gedanke hatte mein Hirn noch nicht ganz überwunden, da ging mein Pieper los und die Durchsage und der Gong der Leitstelle übertönten die emsige Büroatmosphäre. Der gerade frisch eingeschüttete heiße Kaffee musste nun in meinem Büro ohne mich klarkommen. Nur wenige Augenblicke später saß ich im Fahrzeug und verließ das Gelände der Feuerwache schnell und zielsicher Richtung Autobahn.

Autobahnkreuze haben als Einsatzort so ihre Tücke. Auf welcher Fahrspur befindet sich die Gefahrensituation? Und in welcher Richtung? Die Person, die den Unfall meldet, muss genau wissen, wo sie sich im Autobahnkreuz befindet. Und diese Information muss sie anschließend am Telefon über den Notruf sachlich, schnell und möglichst fehlerfrei übermitteln. Wenn dann der Kollege in der Leitstelle noch nachfragen muss, weil sich die Stimme des Anrufers vor Aufregung überschlagen hat, wird das Ganze noch schwieriger. Daher sind solche Einsatzstellen nicht immer leicht zu finden. Von der Autobahn aus das letzte Stück auf Sicht zu fahren, ist leider, selbst wenn man die Rauchsäule sieht, keine Option. Schließlich heißt das Autobahnkreuz Kaiserberg im Volksmund nicht umsonst „Spaghettiknoten“. Zwar findet man sich als ortskundiger Feuerwehrmann eigentlich ganz gut zurecht. Wie gesagt: eigentlich. Denn letzten Endes ist man angewiesen auf die Beschreibung des Anrufers, einer vielleicht ortsfremden Person, die dieses Gewirr an Fahrspuren, Ebenen, Auf- und Abfahrten nicht so einfach zu durchschauen vermag.

Was war nun passiert? Die Meldung, die wir auf der Wache bekommen hatten, lautete: schlicht: Pkw-Brand. Oder etwas ausformulierter: Ein Wohnmobil war in Brand geraten.

Die Anfahrt auf der Autobahn gestaltete sich für uns kompliziert. Alle drei Fahrspuren waren dicht. Keine Rettungsgasse. Kein Durchkommen. Wir kamen nur im Schritttempo voran. Natürlich mit eingeschaltetem Martinshorn. Dass diese Warnanlage außerhalb der Fahrzeuge, auf den Straßen, schön laut ist, damit wir während einer Einsatzfahrt gehört und besser wahrgenommen werden, ist prima. So schaffen andere Verkehrsteilnehmer schnell Platz, damit wir weitgehend ungehindert durchkommen. In einem Stau auf der Autobahn nutzt das ohrenbetäubende Getöse dagegen aber recht wenig. Es ausschalten kann man jedoch auch nicht. Also rollen wir laut dröhnend in Schrittgeschwindigkeit dem Unfallort weiter entgegen. Mittendrin trifft dann noch der ein oder andere Hinweis über Funk ein, der kaum zu verstehen ist – eben weil das Martinshorn auch den Innenraum ordentlich beschallt.

Die Geräuschkulisse belastet nicht nur das Gehör, sondern auch das Nervenkostüm. Jedenfalls meins. Doch am nervigsten an der ganzen Situation ist, dass man zwar schon von Weitem sehen kann, wo die Einsatzstelle ist, da die Rauchsäule kerzengerade nach oben abzieht, man aber nur wie eine Schnecke vorankommt, weil die Autobahn komplett dicht ist. Wären die Autofahrer nicht so nah aufgefahren, sondern hätten ausreichend Abstand zu ihrem jeweils vorausfahrenden Fahrzeug gehalten, könnte jetzt jeder ganz bequem nach links oder rechts ausweichen und die dringend benötigte Rettungsgasse bilden. Haben sie aber nicht! Stoßstange an Stoßstange ist der Tod jeder Rettungsgasse. Immer.

Es schmerzt jeden Feuerwehrmann, den Einsatzort bereits vor sich zu sehen und wichtige Sekunden oder gar Minuten zu verlieren, weil der Verkehr stockt. Aussteigen und losrennen ist da auch keine Option, obwohl es mittlerweile auch Berichte gibt, wie Kollegen sich ein Herz gefasst haben und in voller Montur Hunderte Meter, in einigen Fällen sogar Kilometer, zum Unfallgeschehen gespurtet sind.1

Endlich sind wir angekommen. Am Statusgeber im Fahrzeug drücke ich die „4“. Damit weiß die Leitstelle, ohne dass ich funken muss, dass ich an der Einsatzstelle eingetroffen bin. Ein System, das vor Jahrzehnten eingeführt wurde und bestens funktioniert.

Hinter der Leitplanke sehe ich zwei Erwachsene stehen, einen Mann und eine Frau. Die Frau hält ein Baby auf dem Arm. Vor ihnen qualmt nur noch eine Rauchsäule, die in der Zwischenzeit deutlich kleiner geworden ist. Kein Wunder, denn das Wohnmobil ist nun weitgehend abgebrannt und fast ganz verschwunden. Ich übertreibe nicht. Vorhanden war nur noch das Fahrgestell inklusive Felgen und den Fragmenten zweier Nummernschilder, von denen eins sich in den Asphalt fest eingebrannt hatte.

Die dreiköpfige Familie stand da und war völlig erschüttert. Sie hatte tatenlos mitansehen müssen, wie ihr Wohnmobil in Flammen aufging. Wir löschten den Rest des Fahrzeugs schnell ab. Anschließend ließ ich über den anwesenden, aber etwas überfordert wirkenden Polizisten einen Abschleppdienst bestellen. Der Schrott musste ja irgendwie weg, runter vom Autobahnkreuz.

Der Fahrer und Besitzer des einstigen Wohnmobils erklärte mir noch, dass er erst vor ein paar Stunden das Fahrzeug vom TÜV abgeholt habe und alles in Ordnung gewesen sei. Ich drückte halb interessiert mein Erstaunen darüber aus und dachte zugleich: Tja, der TÜV nützt jetzt leider auch nix mehr! Mehr wusste ich aber nicht dazu zu sagen.

Die Ursache dafür, warum das Wohnmobil in Brand geraten war, blieb uns unklar. Warum etwas in Brand gerät, interessiert uns als Feuerwehr selten. Hierfür gibt es bei der Kriminalpolizei Profis, die kommen, nachdem wir fertig sind. Unsere Aufgabe ist das Retten, Löschen, Bergen und Schützen – nicht das Ermitteln.

Während der Löscharbeiten stand die kleine Familie sichtlich schockiert und fast regungslos in sicherem Abstand zum Wrack hinter der Leitplanke und sah uns zu. Für eine Feuerwehr ist solch ein Kraftfahrzeugbrand nichts Besonderes. Wir rücken aus, löschen das Fahrzeug, kehren rasch das eine oder andere zusammen, streuen eventuell noch etwas Öl ab, geben anschließend der Polizei Bescheid und verabschieden uns wieder. Business as usual. Nichts wirklich Aufregendes.

Im Grunde hätte auch dieser Einsatz so verlaufen können. Ich selbst war sowieso nur deswegen dabei, weil es sich um eine Einsatzstelle auf der Autobahn handelte und es dadurch eventuell einen größeren Koordinierungsbedarf mit der Polizei hätte geben können. Doch den gab es nicht … jedenfalls so lange nicht, bis mir klar wurde, dass wir nicht einfach wieder einrücken konnten, wie wir es normalerweise tun. Wir standen immerhin mitten im Autobahnkreuz Kaiserberg. Überall um uns herum waren Fahrspuren, in jede Himmelsrichtung. Und hinter der Leitplanke stand immer noch mitten in der prallen Sommersonne eine dreiköpfige Familie: Vater, Mutter und ein Baby, die soeben ihren fahrbaren Untersatz und damit vermutlich eine ganz Menge persönlicher Sachen verloren hatten.

„Können Sie die drei mitnehmen?“, fragte ich den Polizisten. Seine Stirn legte sich in Falten, und zwar so, als ob ich eine komplizierte Rechenaufgabe oder geradezu unmögliche Frage gestellt hätte.

„Also, ich meine die Familie mit dem Baby. Die drei kommen ja wohl kaum von hier weg! “, ergänzte ich.

Der Polizist brauchte noch einen Moment.

Daraufhin machte ich den dritten Anlauf, diesmal etwas ernster und mit dem Nachdruck eines Einsatzleiters, der sich jetzt endlich Gehör verschaffen wollte.

„Sie fahren einen Pkw, haben drei Plätze frei. Also, wie wär es, wenn sie die drei jetzt mitnehmen?“

„Nein!“, antwortete der Polizist. Es ginge einfach nicht. Seine Antwort irritierte mich sehr; sie rauschte bei mir von einem Ohr zum anderen und verließ sogleich wieder meinen Kopf. Jetzt lag meine Stirn in Falten. Aber so was von! Normalerweise bin ich jemand, der in einer solchen Situation erst einmal tief Luft holt. Entweder um anschließend aufgebracht und einigermaßen ungehalten davonzulaufen oder um meinem Gegenüber recht unmissverständlich meinen Standpunkt deutlich zu machen. Ich entschied mich für den Mittelweg: Luft holen, keine weitere Diskussion, weggehen und nach einer eigenen Lösung suchen.

Als Feuerwehrmann muss man manchmal erfinderisch sein. Wir leben stets nach dem Prinzip: Problem erfasst, Lösung wird gesucht, gefunden und rasch umgesetzt.

Der Vater hinter der Leitplanke schaute zu mir und ich sah in seinem Gesicht ein gewisses Maß an Hilflosigkeit. Kaum verwunderlich. Er hatte mein Gespräch mit dem Polizisten beobachtet, aber wegen der lauten Nebengeräusche hier an der Autobahn nicht mitbekommen. Ich versuchte erst gar nicht, mir vorzustellen, wie ich es an seiner Stelle empfinden würde, wären meine Frau, unser Kleinkind und ich in dieser Situation.

Der Einsatz war für uns als Feuerwehr nun weitgehend abgeschlossen. Die lange Autoschlange, die sich hinter uns gebildet hatte, passierte nun allmählich die Unfallstelle. Und manch neugieriger Blick versuchte bei Tempo 10 km/h Details an der Unfallstelle zu erspähen. Eigentlich wartete nur noch jeder meiner Kollegen auf mein Signal, dass wir wieder einrücken, zurück zur Feuerwache fahren, raus aus den dicken Klamotten und eine kalte Flasche Wasser trinken könnten. Also beriet ich mich kurz mit meinen Kollegen und fragte sie dann, ob sie für die Familie etwas enger im Löschfahrzeug zusammenrücken könnten. Das „Gruppenkuscheln“ war sofort beschlossen.

Die Sache war klar: Wir nehmen diese zweieinhalb Personen mit.

Irgendwie.

Schließlich ist auch das eine Form der Menschenrettung.

Und ihr weniges Hab und Gut, das noch am Straßenrand stand, verstauten wir in irgendwelchen Ecken und Schubfächern unserer Fahrzeuge. Der Vater stieg dann ins große Löschfahrzeug und die Mutter kam mit dem Säugling zu mir in den Einsatzleitwagen, damals so ein SUV, der von außen groß, von innen aber sehr klein war. Meine Passagiere nahmen Platz auf der Rücksitzbank.

Das Ganze war eine wirklich komische Situation. Der Leitstelle erklärte ich über Funk, dass wir zwar einrücken, aber nicht wieder einsatzbereit für den nächsten Einsatz wären – ohne weitere Angabe von Gründen.

Während der Rückfahrt gab der Säugling eine Kostprobe seines Geschreis. Ohrenbetäubend beschreibt es wohl am besten. Und ich dachte kurz zurück an das lange Getöse auf der Hinfahrt. In einem Wettbewerb gegen die Lautstärke eines Martinhorns hätte der Kleine wohl gewonnen. Sehr beeindruckend, wie ich finde. Die Mutter sprach zu allem Überfluss kein Wort Deutsch und das Kind sowieso nicht.

Als Vater kennt man vielleicht solche Situationen: Das eigene Kind weint und sofort geht die Analyse los, was denn wohl der Grund dafür sein und wie man das Weinen am schnellsten und nachhaltigsten besänftigen könnte. Und das aus zwei guten Gründen: Zum einen möchte man dem Kind das Problem nehmen, zum anderen möchte man seine Ruhe haben. Die Reihenfolge ist dabei austauschbar.

Für mich bekommt manchmal eine bestimmte Bibelstelle eine ungeahnte Griffigkeit. Und ich stelle fest: Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die vielleicht sogar unscheinbaren Momente, die sich lohnen, im Licht der Bibel betrachtet und durchdacht zu werden. Insofern bedeutet für mich der christliche Glaube nicht das Abarbeiten eines Regelwerkes oder der Versuch dem äußeren Schein nach ein lieber Mensch zu sein. Jeder, der mich kennt, wird das (leider) bestätigen können. Mir ist wichtig, dass die tägliche Praxis, die Lebensschule, durch die wir alle irgendwie durchmüssen, wenn auch nicht durchwollen, mit Vertrauen auf Gott in ein geniales Mischungsverhältnis gerät, sodass Gott selbst erfahrbar wird. Und ich möchte gerne zeigen, dass Theorie und Praxis in punkto Christsein nicht zwei unterschiedliche Dinge, sondern deckungsgleich zu leben sind. Zeitlich, inhaltlich und emotional. Zugegeben: Bisweilen diene auch ich nur als schlechtes Beispiel und verdecke diese Frömmigkeit durch mein viel zu großes Ego. Aber: Ich lerne noch.

Und manchmal sind es eben Kinder, die den Blick für das große Ganze öffnen und es praxistauglich machen. Nicht unbedingt die eigenen, sondern die, die man an der Einsatzstelle trifft und darüber einen kurzen und intensiven Impuls erhält.

In diesem Fall schrie das Kind ohne Unterlass, weil es Durst hatte. Das Gefühl kannte ich sehr gut, ging es mir doch nach diesem Einsatz in sengender Hitze nicht sehr viel anders. Also reichte ich der Mutter eine große Flasche Sprudelwasser. Mit beeindruckendem Geschick verabreichte sie dem Kind das köstliche Wasser und gab ihm damit genau die Erfrischung, die es so nötig hatte. Als ich das mitbekam, bis hin zum fröhlichen Glucksen eines trinkenden Säuglings, der dabei mehr Wasser über seinen ohnehin schon durchgeschwitzten Body bekam als in den Rachen, wurde mir wieder einmal deutlich, dass es mit uns „Großen“ doch eigentlich genau so ist:

Wir schreien in unserem Leben herum, sind vielleicht angesichtsausweglos erscheinender Lebenssituationen komplett durchgeschwitzt und saugen schließlich durstig das Wasser des Lebens in Form von Trost, Auferbauung und Hoffnung auf. Dabei handelt es sich nicht um ein Wasser aus natürlicher Substanz, sondern um Worte aus der Bibel, die – ob wir es uns je eingestanden hätten oder nicht – eine Macht und eine Wirkung auf uns haben, nach der wir so lange sehnsüchtig laut schreiend gesucht haben. „Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ (Offenbarung 22,17). Wir glucksen zwar etwas leiser, aber der Vorgang als solcher ist durchaus vergleichbar.

Die Rückfahrt dauerte nur ein paar Minuten. Wir luden die Familie bei der erstbesten Autovermietung ab und hatten ein sehr zufriedenes Gefühl. Wenngleich das Wohnmobil buchstäblich in Rauch aufgegangen war, so konnten wir doch mit sehr geringem Aufwand einer Familie wenigstens ein bisschen helfen.

Eine Feuerwehr ist kein medienaffines Unternehmen, das ausschließlich große Heldentaten vollbringt. Zugegeben, diese bestreiten wir auch, aber uns geht es mehr um das tägliche Einerlei, um die kleinen Handreichungen und Hilfestellungen, die jeder Mensch in einer Ausnahmesituation dringend benötigt. Und da kann selbst ein Glas Wasser eine große Hilfe sein, wenn es darum geht, den inneren Brand zu löschen und damit der Feuerwehr eine völlig neue Bedeutung zu geben. Löschen – eben auch den Durst eines Säuglings.

2.Meine erste Leiche

Mein Weg zur Feuerwehr glich einem Sprung ins kalte Wasser. Noch während meines Elektrotechnikstudiums an der Uni Duisburg erfuhr ich von meiner Frau, dass „wir“ schwanger sind. Eine Neuigkeit, die mir damals ein bombastisches Gefühlschaos aus Angst und Vorfreude bescherte. Vater werden – ein Status quo ante, der sich natürlich toll anhört, aber angesichts des eigenen Studentendaseins mit fast null Einkommen und einer plötzlichen Versorgerrolle ziemlich rasch jegliche Vorfreude verliert. Mir blieben also nur noch neun Monate Zeit, um mein Studium erfolgreich zu beenden und einen möglichst gut dotierten Arbeitsplatz zu finden. Anfang der 1990er-Jahre ein durchaus sportliches Ziel, wenn man bedenkt, dass mich zu diesem Zeitpunkt weder ein Gedanke an eine mögliche „Wir bekommen ein Kind“-Botschaft noch einer ans Studienende beschäftigte. Zu studieren bedeutete damals in erster Linie: Lernen bis zum Umfallen, und zwar verbunden mit dem schönen Aspekt freier Zeiteinteilung. Manchmal schlug dabei die Waagschale eher zum Letzterem aus – je nach Wetter und Stimmung zwischen den Studierenden.

Nicht neun, sondern 18 Monate später hatte ich tatsächlich das Diplom in der Tasche und einen Ausbildungsplatz bei der Feuerwehr Duisburg. Für den gehobenen Dienst, wie es früher hieß. Allerdings hatte ich praktisch keine Ahnung, auf was genau ich mich da eingelassen hatte. Mit dem Begriff Feuerwehr verband ich damals nur die Telefonnummer 112 und rote Autos. Das war auch schon alles. Insofern versuchte ich meine Unkenntnis bei dem Vorstellungsgespräch weitgehend zu verbergen. Vergebens. Mein mutiger Versuch, gegen Ende des Gesprächs durch eine Frage Interesse zu zeigen, endete mit der Quittung: „Das bringen wir Ihnen schon alles bei!“ Natürlich. Klar. Das dachte ich mir schon. Ich war sehr unsicher, ob ausgerechnet ich derjenige unter den vielen Bewerbern sein sollte, der diesen Platz bekommt. Eine Woche später erhielt ich die vorläufige Absage. Ich stand auf der Warteliste. Es gab mindestens einen Mitbewerber, dem man diesen Beruf eher zutraute als mir. Ich hatte Verständnis dafür.