2,99 €
Auftakt zu einer spannenden und wendungsreichen Zeitreise-Saga
Hätte Neven bloß die Einladung ausgeschlagen. Dann könnte er mit seiner Freundin heute ihren Jahrestag feiern. Stattdessen wurde er unverhofft ins Reversum gezogen, ein paralleles Universum, in dem alles rückwärts abläuft. Gefangen im wirren Labyrinth der Zeit muss er feststellen, dass eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Reversum und seiner eigenen Welt besteht. Beide steuern auf eine Katastrophe zu. Wird Neven seine Liebsten retten können? Der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen.
Printausgabe mit dem Originalcover erhältlich unter: www.zeitreise-saga.de
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2022
REVERSUM
Band 1: Rückwärts durch die Zeit
von Mirko Hübner
Mirko Hübner
Band 1: Rückwärts durch die Zeit
Roman
Copyright: © 2022 by Mirko Hübner (Selbstverlag)
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Autors untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
1. Auflage, Oktober 2022
Autor, Herausgeber, Layout:
Mirko Hübner
Gehrnstr. 50
71720 Oberstenfeld
Umschlaggestaltung: Niels Hübner, Mirko Hübner
Korrektorat: Michael Kanthak
ISBN: 978-3-910357-01-3
Besuchen Sie mich im Internet und bestellen Sie dort die gebundene Ausgabe:
www.zeitreise-saga.de
Wie winzige Blutegel spüre ich die Angst in jeder Ader zucken. Das dünne Licht der gedimmten Stehlampe vor mir flackert. Hinter mir beklemmende Finsternis. Täusche ich mich, oder ist da gerade ein Schatten über die Wand gehuscht?
Ein leiser, schauriger Summton verkündet das Schließen der Jalousien ringsum. Mir ist, als spielten sie extra für mich Mozarts Requiem auf dem Leierkasten. Ein abschließendes Klack. Dann Stille.
Keine visuelle Verbindung mehr zur Außenwelt. Keine Fluchtmöglichkeit. Keine Waffe zum Verteidigen. Ja, nicht einmal einen beruhigenden Kaugummi. Nur Leere.
Stockstill sitze ich auf dem schweren Holzstuhl, von Metallbändern festgehalten, und lausche dem Hämmern meines Herzens. Es schlägt so heftig, dass ich glaube, es könne das Etwas aufwecken, das ich in der Dunkelheit hinter mir zu spüren vermeine.
Obwohl ich eben erst alleingelassen wurde, habe ich das Gefühl, außer mir sei noch etwas Lebendiges im Raum und würde schon beim kleinsten Mucks aufspringen und zähnefletschend über mich herfallen. Ich wage es weder, mich zu bewegen, noch zu sprechen. Meine Muskeln sind wie aus Beton und der Kehlkopf ein fest eingemauerter Ziegelstein.
Die Stille ist tief und unerträglich. Würde ein Hund knurren oder gar ein Löwe brüllen, wüsste ich wenigstens, woran ich bin. Das Unbekannte jedoch bringt mich schier um den Verstand. Die Vorstellung, mich würde jede Sekunde etwas Unsichtbares von hinten packen, lässt ein Frösteln über meinen Rücken laufen. Haben mich die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden etwa paranoid gemacht?
Durchaus möglich. Würde ich all das nämlich einem Unbeteiligten erzählen, er würde mich garantiert für verrückt erklären. Bei jedem Pochen meines Herzens erbebt mein Leib.
Plötzlich zucke ich zusammen. Die Tür hinter mir wird geöffnet. Schritte ertönen. Angesichts der Gegenwart von etwas Menschlichem löst sich ein wenig der Bann des Schreckens vor der Ungewissheit von mir.
Die Person bleibt stehen. Ich höre das Rascheln von Folie – dicker Folie, wie mir scheint.
In der Hoffnung, etwas zu erkennen, drehe ich meinen Kopf nach links, zumindest, soweit es die um meine Brust gespannten Metallbänder zulassen. Doch ein Vorhang aus Dunkelheit verhüllt alles, was dahinter ist.
Lediglich die Geräusche verraten mir, dass der Besucher Folie hinter meinem Stuhl auslegt. Nur: Wozu?
»Wer ist da?«, frage ich mit zittriger Stimme. »Hallo?«
Keine Antwort. Im Augenwinkel bemerke ich einen Schatten rechts vorbeihuschen. Ich reiße den Kopf herum. Nichts.
Wieder das schauerliche Rascheln in meinem Rücken. Mein Herz rast. Ich will erneut etwas sagen, doch mit einem Mal wird mir der Zweck der Folie klar. Sekundenlanges Entsetzen lähmt mich. Obwohl es mir bereits angekündigt wurde, führt mir die Folie mit blutgefrierender Intensität vor Augen, was jeden Augenblick passieren wird.
Der schweigsame Fremde wird mir eine Kugel in den Kopf jagen. Zweifellos. Die Folie hat er wohl ausgebreitet, damit mein Blut auf dem Boden keine Spuren hinterlässt.
Endlich finde ich die Sprache wieder. Doch meine Worte balancieren wie auf einem vereisten Dachfirst. »Hast du nicht den Mumm, mir in die Augen zu sehen, wenn du mich umlegst?«
Stille.
Dann abermals knisternde Schritte. Sie bewegen sich links an mir vorbei. Mit rasendem Puls verfolge ich den Weg der finsteren Gestalt. Sie ist von schlanker Statur und setzt sich mir gegenüber an den von der Stehlampe beleuchteten Tisch. Ihre Gesichtszüge sind im Dunkeln nur zu erahnen.
Schier endlos langsam bewegt sich das Gesicht des Fremden aus dem Schatten heraus ins spärliche Licht. Tiefe, dunkle Augen durchbohren mich mit ihrem Blick. Ein bedrohliches Funkeln liegt darin.
Ich höre einen scharfen Atemzug – meinen eigenen, einen Ausdruck des Erstaunens. Doch nach allem, was ich bisher durchmachen musste, sollte mich kaum noch etwas überraschen. Meine Ahnung hat sich bestätigt. Ich kenne die Person.
Mit ausdrucksloser Miene richtet sie eine Pistole auf mich. Ich spüre, wie die Angst in die Gänge meines Verstandes kriecht. Doch ich versperre ihr den Weg zur Zentrale. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren, Neven!
»Warum das Ganze?«, frage ich mühsam, um Zeit zu gewinnen, spüre gleichzeitig aber Hilflosigkeit in mir aufsteigen. »Was ihr vorhabt, das … das ist doch Wahnsinn. Glaubt ihr allen Ernstes, dass ihr damit durchkommt?«
Mein Gegenüber hüllt sich weiterhin in Schweigen und beginnt damit, in aller Seelenruhe einen Schalldämpfer auf die Pistole zu schrauben. Ich habe das Verlangen, um Hilfe zu schreien, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Es würde vermutlich ohnehin nichts bringen.
Im Angesicht des Todes spielen sich während dieser endlos erscheinenden Sekunden die Ereignisse der letzten Stunden vor meinem geistigen Auge ab.
Alles begann ganz harmlos. Heute Morgen gegen 9 Uhr riss mich das Klingeln meines Spacephones unsanft aus dem Schlaf. Viel zu früh! Ich Trottel hatte es auf den Nachttisch gelegt und vergessen, es lautlos zu stellen.
Da meine Freundin Amina Sattari für ein paar Tage in Afghanistan weilte, hatte ich mich gestern mit Freunden zu einem feuchtfröhlichen Skatabend getroffen. Gegen 4 Uhr war ich todmüde ins Bett gefallen. Für den Fall, dass Amina anrief, hielt ich mein Spacephone dieser Tage stets griffbereit.
Doch nach so wenig Schlaf und mit reichlich Alkohol im Blut war der schrille Klingelton besonders nervtötend. Ich fühlte mich wie ein Frosch, der in einen laufenden Mixer geraten war und dies um Haaresbreite überlebt hatte. Mein Schädel brummte. Mit Mühe hob ich meine schweren Lider, ertastete das Spacephone auf dem Nachttisch und lugte aufs Display: Ben Rahimi – Labor.
O Mann! Mein Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, war in diesem Moment in etwa so groß wie das auf ein alkoholisches Mixgetränk. Wenn Ben von seinem Labor aus anrief, konnte es sich nur wieder um eine seiner irrwitzigen Erfindungen handeln. Dafür war sicher auch später noch Zeit. Murrend stellte ich das Mobiltelefon auf stumm, vergrub mein Gesicht wieder im Kissen und schlief ein.
Gegen 11 Uhr erst kitzelte mich die penetrant ins Schlafzimmer scheinende Sonne wach. Jetzt fühlte ich mich um einiges erholter. Lediglich den obligatorischen Morgenkuss meiner Freundin Amina vermisste ich. Sie ist das mit Abstand Beste, was mir in meinem Leben widerfahren ist. Abgesehen von ihrer außerordentlichen Schönheit ist sie klug, lustig, zuverlässig und überaus gutmütig. Dank ihr habe ich es sogar geschafft, mein großes Laster namens Nikotin loszuwerden. Ersatz bieten mir bisweilen Kaugummis. Einer von Aminas größten Verdiensten jedoch ist, dass sie mir geholfen hat, über den unerwarteten Tod meiner Mutter hinwegzukommen, die zwei Wochen, bevor ich Amina kennenlernte, bei einem Autounfall gestorben war. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.
Ihr Vater stammte aus Afghanistan. Dort hatte er ihre Mutter, eine Deutsche, die damals auf einer Dienstreise war, kennengelernt. Ein Jahr später heirateten sie. Als Amina neun Jahre alt war, zogen die drei nach Deutschland. Ihre Eltern leben nicht mehr. Vor einer Woche war nun ein Onkel väterlicherseits in Afghanistan gestorben, weshalb Amina drei Tage später zur Beerdigung geflogen war.
Ich zwang mich aus dem Bett und prüfte das Display meines Spacephones. Es zeigte Samstag, den 29.09.2029. Endlich! Voller Spannung hatte ich diesen Tag erwartet. Heute Abend wird Amina mit dem Flugzeug wieder in Frankfurt landen. Der eigentliche Grund meiner fieberhaften Vorfreude auf diesen Tag war jedoch ein anderer.
Mein Puls beschleunigte sich, als ich die Nachttischschublade öffnete und ihr eine blaue Schatulle entnahm. Langsam öffnete ich sie. Zwei goldene Ringe funkelten mich an und ließen mein Herz noch lauter schlagen. Der Gedanke daran, gemeinsam mit Amina alt zu werden und Kinder zu haben, machte mich glücklich und rief gleichzeitig Erinnerungen in mir wach.
Im Geiste sah ich Amina vor mir, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Mir war, als sei es erst gestern gewesen. Vor genau zwei Jahren, am 29.09.2027 also, war der 25. Hochzeitstag meiner Freunde Sarah und Ben. Es war ein Mittwoch, weshalb die große Feier erst am folgenden Samstag stattfand. Doch an jenem schicksalhaften Tag waren wir drei zu einer Party eines gemeinsamen Freundes eingeladen.
Peter Kurz war ein in die Jahre gekommener Chemiestudent im 27. Semester mit langem, strähnigem Haar und eingefallenen Wangen, der auch gern mal einen über den Durst trank. Er feierte den ersten Geburtstag seines Hamsters. Ich staune noch heute über den Einfallsreichtum von Studenten, wenn es darum geht, einen Grund für eine Party zu finden.
Ein paar Minuten nach unserem Eintreffen gesellte sich ein weiterer Gast hinzu, und zwar eine Freundin von Peter, die er – wie sich im Laufe des Nachmittags herausstellte – erst wenige Tage vorher kennengelernt hatte. Sie hieß Amina Sattari. Als sie eintrat, verschlug es mir die Sprache: Rabenschwarzes Haar fiel in dichten Locken auf ihre Schultern, und ein schelmisches Lächeln spielte in den Winkeln ihrer rehbraunen Augen. Ich war wie verzaubert. Mein Herz raste. Nie zuvor hatte eine Frau solche Gefühle in mir ausgelöst. War das Liebe auf den ersten Blick?
Sowohl Sarah als auch Amina sind gebürtige Afghaninnen, wie ich später erfuhr, und wetteiferten förmlich mit ihrem bombastischen Aussehen. Sie sind sich sogar so ähnlich, dass man meinen könnte, sie seien Geschwister oder Mutter und Tochter, da Sarah gut zwanzig Jahre älter ist. Tatsächlich aber hatten auch sie sich erst an diesem Abend kennengelernt.
»Hallo, ich bin Amina«, sagte sie und reichte mir die Hand.
Bei der Berührung war ich wie elektrisiert. Amina hatte mir so sehr den Kopf verdreht, dass ich meine ersten Worte komplett vermasselte: »Ha… hallo! Ich, äh … ich bin Ben … äh, ich meine, ich bin Bens Freund Neven. Äh, Neven Renner.«
Sie hielt noch immer meine Hand fest und sah mir tief in die Augen. Dann legte sie den Kopf schräg und runzelte nachdenklich die Stirn. »Kennen wir uns?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das hätte ich sicher nicht vergessen.«
»So sicher wie deinen Namen?« Sie lächelte verschmitzt, und mir stieg im Beisein meiner Freunde die Schamesröte ins Gesicht.
Doch die Situation entspannte sich schnell. Amina nahm alles mit Humor. In den folgenden Stunden entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung zwischen ihr, Sarah, Ben und mir. Dabei musterte sie mich immerfort, als sei sie sich nicht sicher, ob sie mich kannte.
Peter, der Gastgeber, mühte sich indessen vergeblich damit ab, mit ihr zu flirten. Er wurde von ihr mehr oder weniger abserviert. Zu meinem Glück schien sie sich mehr für mich und die Rahimis zu interessieren. Im Laufe des Gesprächs erfuhr sie unter anderem von Bens Labor und von seinen Erfindungen. Sie zeigte sich überaus interessiert, sodass er letztlich versprechen musste, ihr irgendwann einmal das Labor und seine technischen Errungenschaften zu zeigen.
Als sich Amina zwischendurch für ein paar Minuten entschuldigte, verriet mir Sarah mit einem Augenzwinkern, dass sie vorher erfahren habe, dass Amina Single sei. Wollte sie uns etwa verkuppeln? Egal, mein Ziel stand ohnehin fest: Ich musste diese Wahnsinnsfrau unbedingt näher kennenlernen.
Und wie es der Zufall wollte, war Amina mit der Bahn zur Party gekommen – meine Chance! Ich bot ihr im Anschluss an, sie nach Hause zu fahren, womit sie prompt einverstanden war.
Doch kaum saßen wir im Wagen, sagte sie mit einem Rehblick: »Also das Essen eben war ja nicht gerade der Hammer. Ich könnte jetzt schon noch etwas Richtiges vertragen.«
Ich verstand den Wink und lud sie sogleich in ein griechisches Restaurant ein – offensichtlich genau nach ihrem Geschmack. Beim Essen kundschafteten wir angeregt unsere Musikgeschmäcker, Hobbys und Interessen aus. Ich erfuhr unter anderem, dass sie als Polizistin im Innendienst arbeitete. Es wurde ein langer, aufregender und lustiger Abend. Sie besaß nicht nur anziehenden Charme, sondern bewies auch exquisit fiesen Humor. Hinterher wusste ich so viel über sie, dass mich das Gefühl nicht losließ, ich würde sie bereits mein ganzes Leben lang kennen.
Gegen Mitternacht fuhr ich Amina nach Hause. Zum Abschied gab sie mir einen Kuss auf die Wange, was mich sehr überraschte. Einerseits hatte sie sich an jenem Abend sehr offen und mitteilsam gezeigt, andererseits wirkte sie auch teilweise reserviert und in sich gekehrt, sodass es fast schon den Eindruck erweckte, sie hätte mit Männern schlechte Erfahrungen gemacht.
Mich jedenfalls schien sie zu mögen, sie war nur noch nicht bereit, sich auf eine feste Beziehung einzulassen. Dementsprechend schwierig gestaltete sich auch mein Eroberungsfeldzug. Obwohl wir uns fast täglich trafen, dauerte es über vier Wochen, bis sie mir endlich auch ihre »Briefmarkensammlung« zeigte. Seitdem sind wir ein glückliches Paar.
Ich kehrte aus den Erinnerungen in die Gegenwart zurück, in der ich noch immer wie paralysiert auf die Ringe starrte. Heute vor genau zwei Jahren hatten wir uns also kennengelernt. Um unseren Jahrestag gebührend zu feiern, wollte Amina spätestens heute Abend zurück sein. Die Ringe hatte ich vor zwei Tagen gekauft, um ihr bei einem romantischen Essen bei Kerzenschein einen Heiratsantrag zu machen. Meine Wahl für das Diner fiel auf Bandnudeln mit Lachs und Spinat – ihr Lieblingsgericht. Dazu eine Flasche Barolo. Zwar war ich nicht gerade der geborene Koch, hatte mich dieser Tage aber fleißig an dem Gericht geübt, sodass eigentlich nichts schiefgehen konnte. Ich war guter Dinge, doch es gab noch einiges zu tun. Allmählich wurde ich nervös.
Ich schloss gerade die Schatulle, als plötzlich eine bekannte Musik aus dem Wohnzimmer zu mir herüberdrang. Das Telefon.
»Amina!«, fuhr es mir in den Sinn. Das musste sie sein. Aufgrund von Empfangsschwierigkeiten in Afghanistan hatte ich mit ihr bisher nur ein Mal telefonieren können.
Unverzüglich stürzte ich – die Schatulle noch in der Hand – ins Wohnzimmer, schnappte mir das Telefon vom Esstisch und blickte aufs Display. Es war Ben. Enttäuscht verdrehte ich die Augen, ehe ich das Gespräch annahm.
»Morgen, Ben«, sagte ich etwas gereizt.
»Mahlzeit, Neven.«
»Was gibt’s denn so Dringendes, dass du mich so früh am Morgen wecken musstest?«
»Früh am Morgen?« Ben feixte. »Kaum ist die Frau aus dem Haus, schon tanzen die Mäuse auf dem Tisch, was?«
»Quatsch«, widersprach ich gespielt empört. »Ich hab lediglich ein paar Kumpels einen Gefallen getan.«
»Einen Gefallen getan?«, erwiderte Ben in fast schon zynischem Unterton.
»Nicht, was du schon wieder denkst. Meine Kumpels konnten es einfach nicht verkraften, dass ich ihnen bei unserer letzten Skatrunde die Hosen ausgezogen habe.«
»Ah, verstehe. Du bist zum Wiederholungstäter geworden. Neven, wir müssen unbedingt mal wieder Schach spielen, damit du von deinem hohen Ross runterkommst.«
»Ach, weißt du, von da oben sieht die Welt eigentlich ganz nett aus. Aber wenn du willst, kann ich mich gerne auf dein Niveau hinabbegeben. Aber nicht, dass du nach dem Spiel wieder depressiv wirst.«
»Ach, mach dir da mal keine Sorgen. Erinnerst du dich noch an deine letzte Einzugsparty?«
»Einzugsparty?« Ich konnte mich an kein derartiges Event erinnern.
»Ja, die Einzugsparty«, wiederholte Ben. »Erinnerst du dich nicht mehr? Bei unserer letzten Partie hast du nach bereits einem Zug das Handtuch geworfen.«
Es dauerte einen Moment, bis ich das Wortspiel begriffen hatte und loslachte. Mit der Ein-Zugs-Partie hatte Ben ins Schwarze getroffen. Seit ich ihn kenne, bombardieren wir uns gegenseitig auf ironische Art mit Sprüchen, die zumeist auf Kosten des anderen gehen.
»Also, weshalb rufst du nun an, Ben?«, beruhigte ich mich schließlich. »Doch sicher nicht, damit ich dir das Schachspiel beibringe, oder?«
»Nein, Neven. Ich wollte dir nur sagen, dass du heute unbedingt ins Labor kommen musst. Mir ist nämlich was Großartiges gelungen, das ich dir zeigen muss.«
»Was denn? Hast du einen Fön für deine Glatze erfunden?«
»He, nichts gegen meine Bruce-Willis-Frisur. Nein, diesmal ist mir wirklich ein Durchbruch gelungen. Und nicht nur durch morsches Holz.«
Ich schmunzelte und holte tief Luft. »Also nichts für ungut, Ben, aber ich muss Amina um 19 Uhr vom Flughafen abholen. Wir haben heute unser Zweijähriges.«
»Bis 19 Uhr sind es noch fast acht Stunden.«
»Naja, ich muss hier auch noch Ordnung machen und das Abendessen vorbereiten.«
»Willst du neu tapezieren, Neven? Okay, dann halt dich jetzt mal fest: Ich glaube, ich habe jetzt endlich den Beweis für meine Theorie.«
Schweigen. Ben hatte viele Projekte am Laufen. Doch wenn er von meiner Theorie sprach, konnte es sich eigentlich nur um eine handeln. Und das machte mich in der Tat neugierig.
»Ehrlich?«, hakte ich nach.
»Ja, ehrlich. Es wird auch nicht lange dauern.«
»Hm, na gut.«, lenkte ich ein. »Aber höchstens eine Stunde.«
Ein erleichtertes Stöhnen drang an mein Ohr. »Ja, geht klar! Wann kommst du?«
»Ich werde erst mal frühstücken und ein wenig aufräumen, damit Amina heute Abend keinen Schreck bekommt. Ich komm dann so gegen 14 Uhr. Ist das okay?«
»Super, du wirst es nicht bereuen, Neven. Ich lass die Hintertür offen. Und bring genügend Kaugummis mit, sonst zerreißt es dich bei meiner Show vor lauter Spannung!«
Gegen 14 Uhr stand ich vor der großen Stahltür an der Rückseite eines alten, dreistöckigen Backsteinbaus im Norden Frankfurts. Ben hatte das leerstehende Fabrikgebäude vor gut zehn Jahren gekauft und sich darin ein Techniklabor eingerichtet. Mit einem stattlichen Erbe und dem üppigen Verdienst seiner Frau Sarah als Abteilungsleiterin einer Softwarefirma konnte er sich das locker leisten.
Ben ist ein Genie sondergleichen. Bereits mit zweiundzwanzig Jahren hatte er in Physik promoviert, mit einer Arbeit über Kernphysik. Nach der Verleihung des Doktortitels musste er zunächst für ein Jahr zur Bundeswehr. Anschließend arbeitete er einige Jahre für einen Rüstungskonzern, was gut zu seiner Affinität für Waffen passte. Besonders gut kennt er sich mit der Quanten- und Stringtheorie aus. Doch auch bei seinem Steckenpferd – der Hologramm-Technologie – kann ihm kaum jemand etwas vormachen.
Obwohl Ben ein überaus redseliger Zeitgenosse ist, spricht er nur selten über seine Jugendzeit. Bei seinem Nachnamen Rahimi könnte man meinen, er sei orientalischer Abstammung. Tatsächlich aber ist Ben Deutscher und hat bei der Hochzeit den Namen seiner Frau angenommen. Sarah stammt wie auch meine Freundin Amina aus Afghanistan. Kennengelernt hatte er sie während seiner Promotion. Erstaunlicherweise scheint sich Sarah kaum daran zu stören, dass ihr Mann bisweilen tagein tagaus in seinem Labor über irgendetwas Verrücktem und zumeist Unnützem brütet.
Ich hatte Ben vor vier Jahren kennengelernt. Damals war er mit einem komplizierten Beinbruch in das Krankenhaus eingeliefert worden, in dem ich als Krankenpfleger arbeitete. Obwohl Ben mein Vater hätte sein können, verstanden wir uns sofort ausgezeichnet. Wir haben denselben Humor, sind wissbegierig, spielen gerne Schach, sind extreme Marvel-Fans – und machen uns von Anfang an auf ironische Art über den jeweils anderen lustig. Seit unserem Kennenlernen treffe ich mich mit ihm regelmäßig zum Schachspielen oder um eine seiner Erfindungen zu bewundern. Auch Amina zeigt reges Interesse an Bens Aktivitäten. Unlängst testete er an mir ein handtellergroßes Gerät, das mir holographisch jedes beliebige Aussehen verleihen konnte. Er hatte sich sogar eine Art Holodeck gebaut, wie man es von Star Trek kennt – einen Raum, in den jede nur denkbare Umgebung verblüffend realistisch projiziert werden kann.
Ben ist überzeugt von der Existenz multipler Universen, sprich mehrerer parallel existierender Welten. Sollte er vorhin am Telefon tatsächlich davon gesprochen haben, dann könnte ich wohl jeden Augenblick Zeuge von etwas Bahnbrechendem werden.
Die Hintertür war nicht abgeschlossen, sodass ich direkt eintreten konnte. Meiner Meinung nach war die Installation eines automatischen Türöffners längst überfällig. Für die Montage einer versteckten Außenkamera hatte es schließlich gereicht. Alles andere sicherte er doch auch doppelt und dreifach ab.
Im Gebäude gelangte ich über eine Treppe ins Untergeschoss zu einer offenstehenden Tür, durch die das Lied »99 Luftballons« von Nena drang. Ben schwelgte musikalisch noch immer in den 80er Jahren – der Zeit der »Neuen Deutschen Welle« –, während ich lieber elektronische Musik hörte. Stirnrunzelnd betrat ich den gut dreißig Meter langen Gang und betätigte den Lichtschalter.
Nichts tat sich. Das war wieder einmal typisch für Ben. Die Konstruktion einer selbstreinigenden Toilette war ihm wichtiger als eine Lampe zu reparieren, die bereits seit über einem Monat kaputt war.
Rechts am hinteren Ende drang Licht durch eine Tür, was den Gang schwach erhellte. Vorsichtig tastete ich mich an Stapeln aus Kisten und Kartons entlang.
An der Tür am Ende des Ganges klebte ein Schild mit der Aufschrift »Indischer Ozean«. Ohne Wortspiele kam Ben ebenso wenig aus wie ohne sein Labor. Anfangs hatte ich das Wortspiel überhaupt nicht verstanden. Ich dachte vielmehr, der Indische Ozean würde sich auf das Meer an Wissen und Erfindungen in Bens Labor beziehen. Erst, als er mich darauf hinwies, dass der Fluss Ganges in den Indischen Ozean mündet, fiel der Groschen.
Das Labor jedenfalls war im Gegensatz zum Rest des Gebäudes die reinste Offenbarung. Hier hatte mein Freund wirklich an nichts gespart. In der linken Hälfte thronte ein Glaszylinder auf einem kniehohen, marmornen Podest. Er reichte bis an die vier Meter hohe Decke und war so groß, dass problemlos ein Bett hineingepasst hätte. Drei Stufen führten zu einer Glastür empor. Im Innern des Zylinders befand sich am Boden und an der Decke jeweils ein Metallring von der Dicke und dem doppelten Durchmesser eines großen Traktorreifens. Bisher hatte Ben stets behauptet, dass er mit dieser Vorrichtung die Existenz von Paralleluniversen beweisen wolle, ohne je detaillierter darauf einzugehen.
Mein Freund saß rechts hinter einem elegant geschwungenen Computertisch und starrte auf sechs paarweise übereinander angeordnete Monitore, offenbar ganz und gar in ein Thema vertieft.
In der hinteren rechten Ecke stand ein Experimentiertisch, darauf und darunter diverse antike sowie moderne Apparate, deren Zweck sich mir nur teilweise erschloss. Außerdem stand auf dem Tisch ein Käfig mit einem Hamster.
Ich räusperte mich. »Bin ich hier richtig bei einem durchgeknallten Physiker mit Bruce-Willis-Frisur und einer Schachmatt-Phobie?«
Ben schaute auf. Sofort waren seine Denkerfalten verschwunden. Er sprang auf, machte einen Satz auf mich zu und umarmte mich herzlich.
»Schön, dass du gekommen bist, Neven!«
»Gern. Aber dein Musikgeschmack ist auch nicht besser geworden.«
Ben schob sich von mir weg, grinste mich aus warmherzigen, blauen Augen heraus an und sagte: »Musik aus!« Der gerade angelaufene Titel »Der Kommissar« von Falco verstummte.
»Wehe, wenn du mich nicht gleich zum Staunen bringst«, warnte ich ihn.
Er deutete auf einen Stuhl in der Ecke. »Na dann nimm mal schnell Platz, ehe es dich vor Staunen umhaut.«
Während ich mich setzte, reichte er mir eine Flasche Bier. »Hier!«
Ich nahm dankend an. Normalerweise passt Alkohol nicht zu einer Forschungseinrichtung, aber Ben war da eher unkonventionell.
»Willst du ’ne Pizza?«, fragte er.
»Nein danke, ich hab schon gegessen. Es sei denn, du hast eine Vier Jahreszeiten.«
»Oh, damit kann ich leider nicht dienen. Ich könnte dir allenfalls eine Kahl-Zone anbieten.« Dabei strich er sich mit der Hand über die Glatze.
Ich musste lachen. »Hm«, nickte ich anerkennend. »Der war ausnahmsweise mal gar nicht so schlecht.«
Theatralisch legte Ben den Zeigefinger an die Lippen und legte die Stirn in Falten. »Warum hab ich nur das Gefühl, dass ich das nicht zum ersten Mal höre?«
Mein Blick fiel auf sein schwarzes T-Shirt. Es zeigte eine Karikatur mit einem Betrunkenen, dem ein Kellner Bier serviert. Darüber stand in großen roten Buchstaben »COLA-BIER« und darunter in Hellblau »mir bloß nicht!«
»Hey, das Shirt ist aber cool. Wo hast du das denn her?«
»Na, ich hab dir doch mal meine beiden Wortspielrätselbücher gezeigt. Vor etlichen Jahren war ich bei einer Lesung der beiden Autoren. Eigenartige Typen waren das, sag ich nur. Naja, jedenfalls hab ich dort auch das Shirt gekauft.«
»Gibt es noch welche davon zu kaufen? Das wäre vielleicht was für Amina.«
»Keine Ahnung. Kannst ja mal nach Knob’l auch! googeln.«
»Ja, danke, werd ich machen.«
Ben setzte sich, und wir stießen an.
»Also dann: Auf dein Projekt!«
»Ja. Und auf euer Zweijähriges.«
Wir nahmen beide einen kräftigen Schluck.
»Gut. Dann leg mal los!«
Ich spürte, wie mein Herz vor Aufregung schneller klopfte. »Ich nehme mal an, es dreht sich um deine Parallelwelt-Theorie.«
Ben nickte, stellte seine Flasche ab und holte tief Luft. »So ist es. Wie du ja weißt, bin ich Verfechter der Mehrwelten-Theorie. Denn nur damit lassen sich meiner bescheidenen Meinung nach Phänomene der Quantenphysik wie die der Verschränkung von Teilchen plausibel erklären. Und gleich zeige ich dir, dass ich mit meiner Theorie richtig liege.«
Dabei gestikulierte er wild mit seinen Händen, wie er es immer tat, wenn er mir eine seiner Erfindungen präsentierte. Scheinbar wahllos stieß er mit den Fingern Löcher in die Luft und kratzte sich mal an der kantigen Nase und mal an der Glatze. Außerdem zuckte er beim Sprechen immerfort mit den Brauen.
»Mehr noch«, sagte er nach kurzer Pause. »Mir ist es bereits gelungen, Dinge in eine andere Welt zu schicken. Und zwar damit.« Mit großer Geste deutete er auf den Glaszylinder.
Ich nahm einen weiteren, kräftigen Schluck und spürte Zweifel in mir aufsteigen. »Dann ist der Zylinder also in Wirklichkeit ein Teleporter? Aber du warst selbst noch nicht dort?«
»Nein, aber das hab ich noch vor.«
»Wenn du selbst nicht dort warst, wie willst du dann wissen, ob die Dinge, die du wegschickst, auch wirklich in einer Parallelwelt landen?«
Ben kratzte sich am Hinterkopf, als müsse er sich seine Antwort erst zurechtlegen. Mir war klar, dass er sie längst parat hatte.
»Nun, meine Berechnungen und Untersuchungen an den Versuchsobjekten lassen keinen anderen Schluss zu. Zumindest sind die Dinge, die ich weggeschickt habe, so anhänglich wie ein Hund. Sie sind allesamt wiedergekommen.«
»Ah ja?«
Ben langte zwischen den Monitoren nach einer erbsengroßen, schwarzen Kugel. »Das hier ist ein Weltensender. Über ihn habe ich Kontakt zur Parallelwelt, wenn ich etwas dorthin schicke. Alles, was sich um den Sender herum befindet, wird nach einer konfigurierbaren Zeit mitsamt dem Sender wieder in unsere Welt zurückbefördert.«
»Nur damit ich es richtig verstehe«, hakte ich nach: »Schickst du beispielsweise eine Pizza für fünf Minuten in die andere Welt, taucht sie genau fünf Minuten später hier wieder auf, richtig?«
»Nein. Die Pizza lungert zwar fünf Minuten auf der anderen Seite herum, ist aber augenblicklich wieder hier – vorausgesetzt natürlich, niemand hat sie in der Zwischenzeit gegessen. Die Maschine reißt gewissermaßen ein Loch ins Raum-Zeit-Kontinuum.«
»Ein Wurmloch quasi.«
»Ja. Während das Portal auf unserer Seite nur für den Bruchteil einer Sekunde offen ist, bleibt das Portal auf der anderen Seite so lange offen, wie ich es auf dem Sender programmiert habe.« Ben hielt mir das erbsengroße schwarze Ding unter die Nase. »Alles, was sich nach Ablauf der Zeit in der Nähe des Senders befindet, landet wieder hier, und zwar augenblicklich. Allerdings kommt es bei der Rückkehr zu einer räumlichen Verschiebung. Die bisherigen Versuchsobjekte sind allesamt in einem der Nachbarräume wieder erschienen. Den Grund für diese Verschiebung habe ich bisher noch nicht herausfinden können. Es könnte sein, dass es an Rundungsfehlern in meinen Berechnungen liegt.«
»Interessant«, nickte ich in gespannter Erwartung auf eine Vorführung. »Und wie findest du die Versuchsobjekte jedes Mal wieder? Hast du einen Suchhund?«
»So ist es. Und zwar der Computer. Mit ihm kann ich den zurückgekehrten Sender orten.«
Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. »Das hätte ich mir eigentlich denken können.«
»Doch der Sender ist auch eine Uhr«, ergänzte Ben. »Auf diese Weise erfahre ich, wie lange das Versuchsobjekt nach der dortigen Zeitrechnung im Paralleluniversum war.«
Zügig trank ich meine Flasche leer und drückte sie Ben in die Hand. »Gut, dann lass uns jetzt mal eine Flaschenpost verschicken!«
Mit einem Grinsen versenkte Ben den Sender in der Flasche und witzelte: »Und welche Flasche wollen wir nun zuerst verschicken?«
»Zuerst mal die da. Du kommst später dran.«
»Alles klar. Dann stell die Flasche bitte genau in die Mitte des Teleportationsringes.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Glaszylinders.
Im Gehen kam mir ein Gedanke. Ich blieb stehen, wandte mich noch einmal Ben zu und sagte scherzhaft: »Sag mal: Sofern es in der anderen Welt intelligentes Leben gibt, wissen wir ja nicht, ob die friedlich sind. Warum schicken wir nicht eine volle Flasche? So als Begrüßungsgeschenk. Außerdem wüssten wir, wenn die Flasche leer ist, sofort, dass es dort Leben gibt.«
»Bist du des Wahnsinns? Das gute, teure Bier? Nee, lass mal.«
»Na gut. War ja nur so ein Gedanke.«
Ich brachte die leere Flasche in den Teleportationsraum und zog währenddessen die Kaugummischachtel aus meiner Jackentasche. Auf dem Rückweg packte ich einen Kaugummi aus und schob ihn mir mit fahrigen Fingern in den Mund.
Ben saß bereits am Computertisch, ließ seine Finger über die Tastatur fliegen und sagte: »Ich hab den Sender mal auf dreiunddreißig Sekunden eingestellt.«
Auf den Bildschirmen erschienen Dialogfenster und verschwanden gleich wieder – so schnell, dass ich kaum folgen konnte. Nach etwa einer Minute Fingergymnastik hielt Ben inne und sah mich erwartungsvoll an. »Und? Bist du bereit?«
»Nein, bin ich nicht. Also leg schon los!«
Ich zitterte vor Aufregung. Mit hektischen Kaubewegungen versuchte ich, den kolbengleichen Schlägen meines Herzens entgegenzuwirken. Ben drückte betont fest die Enter-Taste. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf den Glaszylinder.
Ein gleichmäßiges Summen ertönte. Die beiden Ringe setzten sich allmählich in Bewegung. Sie rotierten in entgegengesetzten Richtungen. Im Zentrum der beiden Ringe entstand jeweils ein Lichtpunkt, der sich schnell ausdehnte und zu einer Art Wirbel wurde, dessen Lichtarme binnen eines Atemzuges die Ringe erreichte. Magie erfüllte den Raum. Die Lichtwirbel glichen kleinen rotierenden Spiralgalaxien mit mehreren Spiralarmen und tausenden winzigen, weißen Punkten, den Sternen, die ebenfalls in Kreisbahnen um die Mittelpunkte schwirrten. Die obere Minigalaxie erstrahlte in Saphirblau, die untere in Neongrün. Die Lichtscheiben drehten sich immer schneller und lauter.
Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass das Licht der saphirblauen Spirale an der Decke von außen auf den Mittelpunkt der Scheibe zu strömte, während das neongrüne Licht am Boden spiralartig auf den Außenring zu rotierte. Doch gleich im nächsten Moment beschlich mich der Eindruck, es wäre genau andersherum, bis sich kurz darauf die Fließrichtungen abermals umzukehren schienen.
Ob nun optische Täuschung oder nicht: Mir war, als wechselten die beiden Farbflüsse permanent ihre Richtung – einer spiralartig nach innen, der andere nach außen. Die Minigalaxien rotierten inzwischen so schnell und laut, dass man meinen könnte, es seien die leuchtenden Rotorblätter zweier startender Hubschrauber.
Das faszinierende Schauspiel dauerte gefühlt eine Minute. Doch der Höhepunkt war noch nicht erreicht. Denn plötzlich wanden sich die Lichtschlangen beider Galaxien rasend schnell aufeinander zu und vermischten sich auf halber Höhe. Binnen zweier Sekunden war eine Lichtsäule entstanden, in der blaue und grüne Farbstreifen, durchsetzt von unzähligen weißen Sternenpunkten, in entgegengesetzten Richtungen aneinander vorbeijagten.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis es mit einem Schlag vorbei war.
Stille. Keine Spur mehr von der Flasche.
Wie vom Donner gerührt stand ich da, außerstande, etwas zu sagen.
»Und? Was sagst du nun?«, fragte Ben Sekunden später und brachte mich damit in die Realität zurück.
»Hast du auch Schnaps da?«, erwiderte ich baff.
»Kannst du gerne haben.«
Ein Blinken lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen der Monitore, auf dem der Grundriss des Gebäudeuntergeschosses zu sehen war. In dem als Nebenraum erkennbaren Sektor blinkte ein roter Punkt.
»Ist das die Flasche?«, murmelte ich am Kaugummi vorbei und deutete auf den Schirm.
»Ja! Lass uns nachschauen!«
Ich spuckte den Kaugummi in den Mülleimer und folgte Ben in den Nebenraum, fand die Flasche auf dem Boden in einer Ecke und analysierte sie fasziniert, doch noch immer mit einer Spur Skepsis.
»Verrätst du mir den Zaubertrick?«, fragte ich, weiterhin auf die Flasche starrend und ohne meinen leichten Argwohn in der Stimme zu verhehlen.
»Ach, der Trick ist einfach. Man muss nur ein Loch in die Raumzeit zu einer anderen Welt reißen und die Flasche mit dem Sender hindurchschicken – das war‘s.«
»Ach, so einfach?«, erwiderte ich in gespielter Überraschung. »Dann lass uns das gleich nochmal machen!«
»Ich hatte auch nichts anderes vor.«
»Aber diesmal erhöhen wir die Schwierigkeit. Wir schicken nämlich eine Kamera mit, die alles aufzeichnet.«
Ben grinste mich besserwisserisch an. »Ich merke schon, du traust dem Ganzen immer noch nicht.«