Revolution im Herzen - Claudia Beinert - E-Book
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Revolution im Herzen E-Book

Claudia Beinert

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Beschreibung

Der historische Roman zum 200. Geburtstag von Karl Marx von den Autorinnen Claudia und Nadja Beinert und gleichzeitig eine große Liebesgeschichte. In Zeiten todbringender Armut und Ausbeutung muss sich Lenchen Demuth schon früh als Dienstmädchen verdingen. Im Haushalt der Familie Marx wird sie der jungen Ehefrau Jenny zur engen Freundin – und bald auch Vertraute des großen Philosophen Karl Marx. Fasziniert verfolgt sie seine Studien und erkennt bald, dass diese auch mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Doch dann verliebt sich Lenchen rettungslos in Karl Marx.. Als sie ein Kind erwartet, steht nicht nur ihre Freundschaft mit Jenny, sondern auch das Werk von Marx und Engels auf dem Spiel. Mit tiefer historischer Kenntnis verweben die Beinert-Schwestern Fakten und Fiktion zu einem einfühlsamen Roman um eine geheime große Liebe.

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Dr. Claudia Beinert / Nadja Beinert

Revolution im Herzen Die heimliche Liebe des Karl Marx

Historischer Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der historische Roman zum 200. Geburtstag von Karl Marx und gleichzeitig eine große Liebesgeschichte.

In Zeiten todbringender Armut und Ausbeutung muss sich Lenchen Demuth schon früh als Dienstmädchen verdingen. Im Haushalt der Familie Marx wird sie der jungen Ehefrau Jenny zur engen Freundin – und bald auch Vertraute des großen Philosophen Karl Marx. Fasziniert verfolgt sie seine Studien und erkennt bald, dass diese auch mit ihrem eigenen Leben zu tun haben.

Doch dann verliebt sich Lenchen rettungslos in Karl Marx. Als sie ein Kind erwartet, steht nicht nur ihre Freundschaft mit Jenny, sondern auch das Werk von Marx und Engels auf dem Spiel.

Mit tiefer historischer Kenntnis verweben die Beinert-Schwestern Fakten und Fiktion zu einem einfühlsamen Roman um eine geheime große Liebe.

Inhaltsübersicht

WidmungZitatPersonenverzeichnisTeil 1Zitterhand!Der SchachgeistDorothea aus UrweilerDüsterTeil 2Immer noch spürenSchwur wegen KarlVernunft und LeidenschaftKarls SchuldSchatten aus ParisTeil 3Delirium furiosumDieser Herr EngelsEin Gespenst geht um in EuropaSeine HändeTeil 4Komme, was wolle!Sterne über LondonNur ein bisschen HonigDa nannten sie mir KnotenpelzTeil 5Nackte HautZerrissenEin Kind der LiebeTeil 6Ein NiesenVergessenLebenszeichenSchmetterlingeEinsamkeitMein CharleySchuldigNachwortGlossarBibliografische HinweiseLeseprobe Heidi Rehn
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Für unsere Oma E.,

die auch zum Dienen in die Stadt ging

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Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als

das Geld! Es äschert ganze Städte ein.

Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,

ja, es verführt auch unverdorbne Herzen,

sich schändlichen Geschäften hinzugeben,

es weist den Sterblichen zur Schurkerei

den Weg, zu jeder gottvergessnen Tat!

 

Worte des Kreon, König von Theben, in »Antigone«,

geschrieben von Sophokles (antiker griechischer Tragödiendichter)

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Personenverzeichnis

(Übersicht über die wichtigsten Charaktere, historische Persönlichkeiten sind mit einem Sternchen versehen)

Helena »Lenchen« Demuth* aus Sankt Wendel

Zitterhand, Kämpferin und Liebende.

 

Michael Demuth*, Lenchens Vater, genannt »Pabbi«

Er lehrt sein Lenchen das Vorausdenken.

 

Maria Katharina Demuth* (geborene Kreutz), Lenchens Mutter

Die Armut hat sie sehr verändert.

 

Barbara*, Anna*, Katharina*, Peter*, Elisabeth* und Maria Demuth*, Lenchens Geschwister

Einzig Peter wird Lenchen überleben.

 

Karl Marx*, Philosoph, Gesellschafts- und Wirtschaftstheoretiker und Journalist

Eine seiner größten Niederlagen erleidet er durch Lenchen.

 

»Baronesse« Johanna Bertha Julie »Jenny« Marx*, geborene von Westphalen, Ehefrau von Karl Marx

Sehr bald wird es ihr an Kleidung und sogar an Nahrung mangeln.

 

Jennychen*, Laura*, Föxchen*, Musch*, Franziska* und Ellen Marx*

Die sechs der insgesamt sieben Kinder von Karl und Jenny Marx, die für Lenchen wie zu eigenen werden.

 

Friedrich Engels*, Gesellschafts- und Wirtschaftstheoretiker, Philosoph und Journalist

Der Unternehmersohn kommt nicht von Karl los, genauso wie Lenchen.

 

»Baron« Ludwig* und »Baronin« Caroline von Westphalen* (geborene Heubel), Eltern der Jenny von Westphalen

Wollen nur das Beste für ihre Tochter. Karl Marx als Ehemann gehört zunächst nicht dazu.

 

Edgar von Westphalen*, jüngster Bruder der Jenny von Westphalen und Klassenkamerad von Karl Marx

Er bringt Karl Marx mit in das Haus der von Westphalens, dort wird ihm Lenchen öfter begegnen.

 

Angela Steinbach*, Köchin im Hause der von Westphalens

Die unabhängige, ewige Jungfer.

 

Sophia Marx*, Schwester von Karl Marx

Glaubt, dass Dienstmädchen nichts von großen Gefühlen verstehen.

 

Dorothea aus Urweiler

Sie hat als Dienstmädchen ihr Glück in Trier gemacht – wenn man dem Geschwätz in Sankt Wendel glauben darf.

 

Naomi aus der Dean Street

Sie weiß, wie es ist, das Leben mit einem NEIN zu beginnen.

 

Gordon Price vom »Peterson’s Coffeehouse«

Der Schotte macht den besten Bienenstich in ganz London.

 

Doktor Rooper

Er könnte Lenchen mit Freddy weiterhelfen.

 

Wegbegleiter der Familie Marx, darunter die Herren Hess, Weerth, Freiligrath, Wolff, Weydemeyer, Schramm, Blanc, Liebknecht und Born

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Teil 1

London, 27. August 1850

Mein schwarzer König,

 

ich bin nie zärtlicher und sehnsüchtiger als von Dir berührt worden. Du ziehst brennende Furchen in meine Haut. So nah bei Dir fühle ich, alles überstehen zu können. Es ist wie im Traum: mit allen Sinnen gewollt, begehrt und geliebt zu werden. Durch Dich bin ich von Lenchen zur Helena geworden.

 

Vor Jahrhunderten glaubten die Menschen noch, dass die Erde eine Scheibe sei, bis einmal jemand über deren angeblichen Rand hinausfuhr und nicht herunterfiel. Alles ist möglich, wenn wir nur daran glauben. Alles ist möglich in unserer neuen Welt.

 

Du bist mir Licht geworden, obwohl unsere Geschichte damals auf dem Friedhof in Trier so düster begann. Ich nahm mir vor, Dich nie mehr wiederzusehen, so sehr hattest Du mich mit Deinem Blick in die Knie zwingen wollen!

 

Und dennoch nannte ich Dich in Gedanken vom ersten Tag an vertraut beim Vornamen, nicht »gnädiger junger Herr«, wie ich es jahrelang mit Edgar hielt.

 

Ob wir schon immer füreinander bestimmt waren?

 

Ich taumele vor Freude und möchte am liebsten keinen Moment mehr ohne Dich sein.

 

Helena, Deine Erlöserin

Zitterhand!

Sankt Wendel, im März 1829

SEITDEM ICH VON den bösen Geistern in unserem Haus wusste, konnte ich kaum noch schlafen. Meine ältere Schwester Katharina sagte, dass Geister die unreinen Seelen Verstorbener seien. Seelen, dieses Wort, das die Erwachsenen so oft verwenden. Ich stelle mir unreine Seelen wie schwarze Wolken vor, gefüllt mit viel Dreck und so stinkend wie unser Ochse und die Kuh draußen im Stall, wenn tagelang nicht ausgemistet wurde.

Katharina wusste außerdem von der Mittelwelt, diesem Ort zwischen Himmel und Hölle, wo das schreckliche Fegefeuer, vor dem ich so viel Angst hatte, loderte und die Seelen nach dem Tod hinkamen. Dort gäbe es eine Leiter in den Himmel zu Gott, behauptete sie, viel breiter als die Leiter, die an unserem Heuboden lehnte, damit auch alle Seelen Platz darauf fanden. Bevor die Seelen dem Himmelreich entgegensteigen durften, mussten sie sich reinigen, wie wir Kinder der Familie Demuth es an Sonntagen im Holzzuber im Hof taten. Dermaßen gereinigte Seelen sind Geister des Segens. Sie tragen weiße Kleidung oder erscheinen uns gleißend hell. Dreckige Seelen, die noch auf den ersten Sprossen der Leiter stehen, sind Geister der Hölle, die uns zur Sünde verführen. Sie tragen schwarze Kleidung. Letzte Nacht, Katharina hat es uns gleich nach dem Aufstehen erzählt, hatte ein schwarzer Geist ihre Wange berührt.

Wann immer ich seit dem Morgen daher einen Blick auf Katharinas Wange warf, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Meine Hände zitterten deshalb schon den ganzen Tag vor Angst, und mir war so schrecklich heiß, als befände ich mich bereits im Fegefeuer und nicht in der Stube unseres Hauses in Sankt Wendel. Wie sehr wünschte ich mir doch kaltes Wasser herbei. Wasser gegen meine Angst, gegen schwarze Geister und schwarze Wolken.

Ein Poltern holte mich in die Stube zurück, ich riss die Augen auf. Eine gelbe dicke Masse und Scherbenstücke bedeckten meine Schuhe. Sofort versteckte ich meine zitternden Hände hinter dem Rücken.

»Helena, was hast du gemacht? Das war unsere Kartoffelsuppe!«, rief Mutter erbost vom Tisch zu mir herüber. »Und die letzte irdene Schüssel! Erzähl bloß keinem, dass du bereits acht Jahre bist!« Meine Geschwister schauten mich mit großen Augen an. Sie saßen neben der Mutter eng um den Tisch mit dem Unschlittlicht herum, das wir jeden Tag bei Einbruch der Dämmerung anzündeten. Der Geruch dreckigen Rindertalgs war bis zu mir herüber zu riechen.

»Der Name ›Zitterhand‹ passt besser zu dir als Helena!«, schimpfte Barbara, meine älteste Schwester.

Ihre Worte machten mich sehr traurig. Zitterhand, so hänselten mich auch die Kinder anderer Tagelöhner und Ackerer aus Sankt Wendel, allen voran Hilga, die Tochter von Bäckermeister Klempe.

»Dein Ungeschick wird uns alle noch ins Grab bringen!«, sagte Mutter. Vor weniger als drei Wochen erst hatte sie Maria entbunden, seitdem waren ihre Augenlider rot. Mutter schlurfte zu mir herüber und schlug mir mit der flachen Hand auf die Wange.

»Aua!« Wir Kinder bekamen Mutters Zorn immer häufiger zu spüren. Uns alle hatte sie schon einmal geohrfeigt, wobei es mich wegen meiner Ungeschicktheit am häufigsten traf.

Ich wankte von der Heftigkeit des Schlags, während Mutter zurück zum Tisch schlurfte. In diesem Moment heulte Maria los. Mit ihrem blonden Haar und den abstehenden Ohren kam sie ganz nach Pabbi. Wir anderen fünf Kinder sähen dagegen wie Mutter aus, sagte unsere Nachbarin. Wir besäßen die gleich großen braunen Augen, Mutters hohe Stirn und ihr glattes Haar in der Farbe von Haselnüssen, die ich so gerne naschte.

Meine Hände hinter dem Rücken zitterten heftiger, als mein Herz schlug, so als schüttelte sie jemand Unsichtbares. Der Streichelgeist? Ich schaute zum Bild des heiligen Wendelin an der Wand über dem Esstisch, dem einzigen Schmuckstück in unserer Stube. Hilf mir, Heiliger, hilf mir, dass ich nicht immer zittere, und mache, dass der böse Geist verschwindet, bat ich still.

Ein rauer Lappen klatschte mir ins Gesicht. »Steh nicht so nutzlos herum!«, verlangte Barbara. Ich glaube, mich mochte sie von uns Geschwistern am wenigsten. Seit der vergangenen Missernte reichte Pabbis Lohn nicht mehr aus, um uns alle satt zu kriegen, weswegen er auch den Feldknecht hatte fortschicken müssen. Seitdem übernahmen Katharina, die Zweitälteste, und ich tagsüber die Arbeit des Knechts auf dem Acker mit dem Roggen und den Kartoffeln. Ganz früh am Morgen, bevor es auf den Acker ging, zeigte ich Elisabeth, wie man Wäsche wusch und das Haus rein hielt. Solange Pabbi uns noch satt bekommen hatte, hatte ich Mutter im Haushalt geholfen.

Ich ging in die Hocke und begann, die Scherben aufzusammeln und die Suppe aufzuwischen. Mutter holte Brot und das letzte Stückchen Butter aus dem Vorratsraum. Die Butter roch herrlich süß, als sie an mir vorbeigetragen wurde. Ich wollte jetzt so gerne mit den anderen essen, aber stattdessen reinigte ich auf Knien den Boden. Wenn niemand guckte, nahm ich mit den Fingerspitzen die Kartoffelsuppe vom Boden auf und leckte sie ab.

Als ich das nächste Mal aufschaute, war auf dem Tisch nicht einmal mehr ein Brotkanten übrig. Meine Familie war dazu übergegangen, die letzten Pflichten des Tages zu erledigen. Mutter fertigte im Schein des Unschlittlichts Bänder aus rohem Garn, die dann von Hausierern verkauft wurden. Die Bänder konnten als Kleiderschmuck oder zum Zusammenbinden der Haare verwendet werden. Am besten kamen sie an den Schuten zur Geltung, den großen, mit einer Krempe versehenen Damenhüten, wie sie von den Töchtern des Schultheißen getragen wurden.

Auch an diesem unglücklichen Abend setzte sich Barbara wieder zu Mutter und half ihr. Inzwischen sagten die Leute, meine älteste Schwester würde die besten Bänder in ganz Sankt Wendel fertigen. Sie arbeitete schneller und geschickter als Mutter, die immer öfter bei der Arbeit einschlief. Meine Schwester Katharina trieb das Spinnrad an. Peter, der nach Katharina geboren worden war, saß im Halbdunkel über seine Schreibtafel gebeugt und buchstabierte laut. Wann wohl Pabbi endlich nach Hause käme? Er kam oft als Letzter heim und verließ den Hof als Erster am Morgen. Als ich die Suppe fertig aufgewischt und den Lappen sauber gemacht hatte, ging ich in den Hof. Meine letzte Aufgabe des Tages war es, noch einmal nach unserem Ochsen und der Kuh zu schauen. Im Hof befanden sich die Scheune, der Abort und ein Gemüsebeet. Im Stall füllte ich den Wassertrog auf, warf frisches Stroh auf den Boden und hievte im Dunkel des Märzabends Eimer voller stinkender Scheiße zum Misthaufen beim Abort, direkt neben dem Kuhstall. Nur fort mit dem Dreck, der unreine Seelen anzog. Meine zitternden Hände beruhigten sich, je länger ich alleine war. Mutter würde es sicher gefallen, wenn ich vom Haus in die Scheune zöge, war ich überzeugt und verlor eine Träne deswegen.

Ich stellte den letzten geleerten Eimer beiseite, ließ mich an der Wand des Aborts, einem kleinen Haus mit schrägem Dach, hinabgleiten und nickte weg.

Erst der Geruch rauchigen Honigs ganz nahe vor meiner Nase weckte mich wieder. »Pabbi!« Pabbis wie so oft gerötetes Gesicht war ganz nah bei meinem. Endlich war er da.

»Mein Lenchen«, sagte er und nahm mich auf den Arm.

Pabbi war sehr stark. Ich glaube, sogar stärker als unser Ochse, der die schwere Egge tagelang über den Acker zog.

»Warum bist du so spät noch draußen?«, fragte er.

»Ich habe wieder eine …«, begann ich, stockte dann aber und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Wie schon zuvor beim Abendbrot den Geruch frischer Butter, sog ich nun Pabbis Atem ein. Er roch nach rauchigem Honig, was von seinem Kautabak kam. Schon öfter hatte Mutter versucht, Pabbi das Tabakkauen zu verbieten, weil er so hässlich und unkontrolliert, wie sie sagte, »braune Soße ausspie« und immer größere Stücke nahm. Oft gab sie erst dann auf, wenn er vortrug, dass ihn das lange wach hielt und seinen Hunger unterdrückte. Müde könne er schließlich kein Geld verdienen!

»Du bist ja ganz kalt«, bemerkte Pabbi, als er mir über die Wange strich und mich ins Haus trug. In der offenen Herdstelle loderte noch Glut, es musste kurz nach Mitternacht sein.

Pabbi setzte mich auf die Bank am Esstisch und legte Holz nach. Er war immer in Bewegung, selten sah ich ihn ruhen.

»Warte kurz, Lenchen«, bat er und verschwand noch einmal nach draußen.

Zwei halb fertige Bänder aus dunkelrotem Garn, die auf dem Tisch lagen, fingen meinen Blick ein, und ich stellte mir vor, wie sie wohl in meinem Haar aussehen würden. Da stand Pabbi auch schon wieder vor mir. In der einen Hand hielt er seine Tabakdose und einen Spucknapf, in der anderen ein seltsames Kissen, das gerade groß genug für die Puppe war, die ich mir so sehr zum nächsten Geburtstag wünschte. Eine mit gelbem Kleid.

»Ich glaube, du bist schon klug genug dafür.« Pabbi deutete auf das Kissen, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Ich und klug? Die Töchter von Bäcker Klempe schimpften mich strohdumm. Wer mit den Händen so zittere wie ich, sei zu nichts zu gebrauchen, am allerwenigsten zum Denken! Einmal, als mir beim Wasserholen der gefüllte Eimer vom Brunnenrand fiel, war sogar mein Bruder Peter in ihre Hänseleien mit eingefallen. Seitdem holte ich das Wasser aus der Blies. Schon damals wusste ich, ohne Tränen zu weinen. In mich hinein weinen nannte ich das.

»Wofür klug genug?«, wollte ich wissen und strampelte vorfreudig mit den Beinen unter der Bank.

Pabbi legte Kissen sowie Napf ab und presste seinen Zeigefinger kurz auf die Lippen. Während er seine Tabakdose öffnete, zündete ich das Unschlittlicht auf dem Tisch an.

»Wofür klug genug?«, bohrte ich ungeduldig nach. Aber Pabbi riss erst einmal ein Stück von seiner Tabakrolle ab, kaute darauf herum und schob es sich dann in die rechte Backe. Genießerisch hob er das Kinn und schloss die Augen, wie wir Kinder es taten, wenn es Haselnüsse zu essen gab.

Endlich öffnete Pabbi die Augen wieder, ich schaute von ihm zum Kissen. »Ich mach ja schon«, flüsterte er. Sein darauffolgendes Lächeln legte seine dunkel verfärbten Zähne frei. Niemand lächelte mich liebevoller an als Pabbi, niemand sonst hatte mich lieb.

Pabbi deutete auf das Kissen. Darauf waren abwechselnd schwarze und weiße Kästchen aufgestickt. Vierundsechzig insgesamt, gemeinsam zählten wir sie eins nach dem anderen ab. Nie zuvor hatte ich so weit gezählt. »Großmama hat es zu ihren Lebzeiten noch bestickt«, sagte Pabbi, ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von dem Kissen nehmen.

Jedes der vierundsechzig Felder wurde entweder von vier weiß oder vier schwarz gestickten Linien umrahmt. Vier waren so viel, wie wir Löcher im Dach hatten. Gemeinsam sprachen wir ein Gebet für Großmama im Himmel, an die ich mich nicht mehr erinnerte. Ich hoffte, dass ihre Seele nicht mehr so schmutzig war wie unser Ochse, sondern dass sie inzwischen eine weiße Wolke war.

Noch vor dem Amen lugte ich mit halb offenen Augen wieder zum Kissen. An einer der vier Kanten entdeckte ich eine Öffnung, in die Pabbi nun hineingriff und weiß bemalte Figuren herausholte. Es waren Figuren so lang wie mein kleinster Finger, die auf Zahnstochern steckten und denen die untere Körperhälfte fehlte. Eine nach der anderen legte Pabbi sie auf meiner Seite vor dem Kissen ab. »Ich habe sie selbst geschnitzt und bemalt.«

Ich betrachtete jede einzelne Figur fasziniert und fuhr mit dem Zeigefinger über die Schnitzspuren. Nie zuvor hatte ich etwas Schöneres gesehen. Pabbi breitete die gleichen Figuren, nur diesmal in schwarzer Farbe, vor seiner Seite des Kissens aus. Die größte davon nahm er auf.

Plötzlich hielt er inne, weil oben eine Tür knarzte, ich aber starrte nur auf die Figur in seiner Hand. »Wer ist sie?«, wollte ich ungeduldig wissen.

Als die Tür oben ein zweites Mal knarzte, atmete er erleichtert auf. »Das ist ein Er – der König und die wichtigste Figur«, begann Pabbi, leise zu erklären. »Nach ihm wurde das Spiel benannt. Es heißt Schach, nach dem persischen Wort ›Schah‹, was so viel wie Herrscher bedeutet.«

»Schach«, wiederholte ich beeindruckt, nahm den weißen König am Zahnstocher auf und drehte ihn zwischen Zeigefinger und Daumen. Pabbi war sehr klug, er sprach sogar Persisch.

»Schach zu spielen ist genauso, wie eine Schlacht zu schlagen, und wer den Gegner matt setzen kann, hat gewonnen.« Pabbi steckte seinen schwarzen König mit dem spitzen Stöckchen in eines der mittleren weißen Felder auf seiner Seite des Kissens. Die Grundlinie nannte er diese Kästchenreihe und forderte mich auf, es ihm gleichzutun. Mir kribbelte es in den Fingern, auch einen König in der Hand halten zu dürfen, es war ein freudiges Kribbeln, kein Angstgefühl. Ich wollte den weißen König auf das schwarze der zwei mittleren Kästchen meiner Grundlinie setzen, aber die Stöckchenspitze wollte nicht durch den Stoff gehen. Zwei Mal musste ich fester drücken, damit die Figur im Kissen Halt fand.

Pabbi nickte mir zu. »Gut gemacht, Lenchen.« Als Nächstes nahm er seine schwarze Königin auf, die wie der König eine Krone trug, und steckte sie neben seinen König. Der Zahnstocher hatte ein wenig Schieflage auf dem Kissen, wie vom Sturm umgeblasen. Ich beobachtete Pabbis Tun sehr genau und setzte meine Königin neben meinen König. Danach kamen die Türme, die aussahen wie der dreiteilige Turm unserer Wendelinus-Basilika, und da waren auch noch die Pferde mit wallender Mähne und die Läufer mit der edlen Kopfbedeckung. Von den Bauern gab es acht Stück. Acht waren genau so viel, wie ich Eimer Mist allabendlich aus der Scheune trug. Pabbi hatte den Bauern Kindergesichter geschnitzt. Einer sah wie mein Bruder Peter aus, fand ich. Die Bauern fühlten sich nicht wie totes Holz an. Im Gegenteil: Sie ließen meine Fingerspitzen kribbeln, als wäre Leben in ihnen, als berührten sie mich ihrerseits.

Bald standen alle Figuren auf ihren Plätzen. Ich war so gespannt, was als Nächstes käme. Pabbi spuckte braune Soße in den Napf und griff, um sich ein weiteres Stück Tabak zu holen, nach der Dose. »In einer einzigen Schachpartie gibt es mehr Möglichkeiten, die Figuren handeln zu lassen, als Sandkörner auf allen Äckern der Erde«, sagte er dabei.

Mir klappte die Kinnlade hinab. Allein die Körner auf dem Sandacker hinter dem neuen Friedhof draußen vor den Toren von Sankt Wendel waren so viele, dass vermutlich nicht einmal Peters Lehrer sie zählen konnte. Mit Pabbis Hilfe war ich heute Abend gerade einmal bis zur Zahl Vierundsechzig gekommen.

»Ein Schachspiel ist voller Ereignisse und überraschender Wendungen«, fuhr Pabbi fort. »Oft kann man durch viel Nachdenken einen Ausweg aus den schwierigsten Situationen finden.«

Ich hing weiter an Pabbis Lippen, auf denen noch Tabakschleim hing, und ich spürte sein Bein unter dem Tisch auf und ab wippen. »Es ist das Spiel der weisen Voraussicht, in dem es um den Sieg des Hellen«, er deutete auf die vor mir aufgereihten weißen Holzfiguren, »über das Dunkle geht.«

Das Helle gegen das Dunkle? Die guten gegen die bösen Geister? Die weißen gegen die schwarzen Wolken? Pabbi nahm seinen schwarzen König und beugte sich über das Kissen hinweg zu mir herüber, sodass sein Honigatem mein Gesicht streichelte. »Für jede Figur gibt es eine Regel, wie sie sich auf dem Schachbrett bewegen darf, um die Schlacht auszutragen.«

Ich sog jede von Pabbis Erklärungen auf. »Der König darf sich immer nur um ein Feld bewegen, die zwei Türme gehen nur entlang der Geraden. Die Königin wandert geradeaus in alle vier Richtungen und auch diagonal. Diagonal bedeutet, dass sie auf ihrem Weg immer die zwei gegenüberliegenden Ecken jedes Feldes entlanggeht, Lenchen.« Pabbi zog mit dem Finger auf dem Kissen solch eine Diagonale und fügte hinzu: »Diagonal darf sie aber nur auf den Feldern mit derselben Farbe des Feldes, auf das sie zu Beginn des Spiels gestellt wurde, gehen. Die Königin ist die Figur mit der größten Kampfkraft.«

Das überraschte mich. In Sankt Wendel hätten die Männer das Sagen, die reichen Männer, sagte Mutter immer.

»Die zwei Läufer mit der edlen Kopfbedeckung bewegen sich nur diagonal«, fuhr Pabbi fort. »Die Pferde springen in gerader Reihe von ihrem Standpunkt aus in alle vier Richtungen jeweils zwei Felder und von dort aus noch ein weiteres Feld nach links oder rechts.«

Bei den Figuren mit den Kindergesichtern angelangt, die die gesamte Reihe vor dem König einnahmen, sagte Pabbi schließlich: »Der Bauer kann nach Spielbeginn nur ein Feld vorwärtsgehen, deswegen ist er für viele die schwächste Figur mit dem geringsten Wert auf dem Schlachtfeld.« Er lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück.

»Dem geringsten Wert?«, fragte ich. »Du meinst, genau wie wir Bauern, auf die so viele Menschen in Sankt Wendel schimpfen?«

Er nickte. »Aber das bedeutet nicht, dass der Bauer deswegen die geringste Bedeutung im Schachspiel hat«, sagte Pabbi und hob belehrend den Finger. Als Nächstes zog er seinen linken schwarzen Bauern aus dem Kissen. »Das Leben eines Schachbauern ist kurz, und weil er nur vorwärtsgehen kann, müssen seine Züge besonders gut überlegt werden.« Pabbi deutete erst einen, dann zwei Schritte auf den gestickten Kästchen an.

»Züge?«, fragte ich.

»Beim Schach bezeichnet man die Bewegung der Figuren, unabhängig davon, wie viele Schritte sie machen, als einen Zug. Du und ich, wir ziehen abwechselnd. So geht das Spiel.«

Abwechselnd also, wie beim Ballspielen, dachte ich mir, erst wirft der eine, dann der andere. Ich hätte so gerne auch wieder einmal die Zeit gehabt, Ball zu spielen oder mit dem Hund der Nachbarn herumzutollen.

»Lenchen, die Bauern sind die Seele dieses Spiels«, sagte Pabbi, und es klang wie ein Geheimnis. Seine blauen Augen leuchteten bei diesen Worten hell auf. »Die Stellung der acht Bauern zusammen kann die der anderen Figuren stark beeinflussen.«

In meiner Fantasie sah ich die Bauern von Sankt Wendel nebeneinander auf unserem Acker stehen, mit Heugabeln und Sensen in der Hand, und ich fragte mich, wie sie einen König beeinflussen könnten. Eigentlich doch nur, indem sie ihn mit ihren Heugabeln aufspießten. Eine Weile war nur das Knacken der brennenden Holzscheite in der Herdstelle zu hören, nicht einmal mehr Pabbis Bein unter dem Tisch bewegte sich.

Wir übten die Züge jeder Figur, bis ich Brennholz nachlegen musste. Als ich an den Tisch zurückkam, war Pabbi – den Kopf auf seinen verschränkten Armen – eingeschlafen.

Ich rüttelte ihn an der Schulter. »Spielen wir?«

»Weiß beginnt die Partie«, murmelte er und hob den Kopf.

Sofort nahm ich auf der Bank Platz, die weißen Figuren vor mir. Ich war bereit, aber nun weinte Maria oben. Eine Tür knarzte, und Schritte schlurften über den Boden.

»Ich mache einen Zug mit dem mittleren Bauern«, sagte ich voller Stolz darüber, das neu gelernte Wort »Zug« gleich zu verwenden. Ich hatte nur noch Augen für das Spiel und führte meine Hand über den Bauern mit Peters Gesicht. »Oder vielleicht doch lieber mit dem daneben?«

Mit einem Mal stand Mutter mit der jammernden Maria auf dem Arm am Tisch. »Sie beruhigt sich nicht, und trinken will sie auch nicht!« Sie hielt Pabbi mein jüngstes Geschwister hin.

Ich starrte noch immer gebannt auf meinen Bauern.

»Aber …«, setzte Pabbi gerade an, doch unter Mutters starrer Miene verstummte er und nahm Maria entgegen.

Mutter wandte sich nun mir zu. »Hast wohl noch nicht genug Pflichten, dass du nächtelang aufbleiben kannst, Helena? Und teures Brennholz verschwendet ihr auch noch!« Sie griff nach dem Kissen.

Ich sprang auf. »Nicht das Steckschach!« Bittend faltete ich meine Hände, aber sie schüttelte das Kissen wie einen Lappen. Die Figuren fielen zu Boden. Im fahlen Schein des Unschlittlichts sah ich die Königin vor der Wand neben dem Herd liegen, zwei Bauern kullerten zur Haustür, Peter war darunter. Schlussendlich warf Mutter das Kissen zurück auf den Tisch. Pabbi sagte nichts dazu, aus den Augenwinkeln heraus sah ich ihn nur heftiger kauen und Maria fest an sich pressen.

Wortlos schlappte Mutter die Stiege zu den Schlafkammern wieder hinauf. Als sie weg war, begann ich, die Figuren vom Boden aufzusammeln.

Maria weinte lauter, woraufhin Pabbi sich aus dem Stuhl stemmte. »Wir spielen ein anderes Mal weiter.«

»Aber meine Bauern, ich wollte gerade …« Ich schluchzte.

»Ich muss mich um Maria kümmern, Lenchen«, sagte Pabbi.

»Spielen wir dann morgen weiter?«, fragte ich hoffnungsvoll und zählte die Figuren in meinen Händen nach. Drei Mal alle Finger an meinen Händen und zwei Daumen mussten es sein. Zum Glück hatte ich alle wiedergefunden, der Zahnstocher der weißen Königin allerdings war angebrochen. Ich reichte Pabbi das gefüllte Kissen, er legte es beiseite.

»Wir müssen schauen, wann es passt, Lenchen.« Pabbi spuckte noch einmal braune Soße aus, dann streichelte er Maria über den Kopf. Meine jüngste Schwester beruhigte sich, und als sie auf Pabbis Arm keinen Mucks mehr von sich gab, gingen wir die Stiege zu den Schlafkammern hinauf.

»Na, schlüpf schon rein«, sagte Pabbi, als er vor meinem Bett angelangt war. Er schüttelte den vorderen Teil der Decke auf, während er Maria weiterhin auf dem Arm hielt.

Ich schlief zusammen mit meinen Geschwistern Elisabeth und Peter in einem Bett, wir lagen mit den Beinen und dem Kopf abwechselnd zueinander. Ich vorne am Rand mit Peters Füßen neben meinen Ohren. Peter, gerade warst du noch ein Bauer beim Schach!, dachte ich lächelnd.

Nachdem ich bis zur Brust zugedeckt war, kniete Pabbi sich vor die Bettkante und lächelte sein liebevolles Lächeln mit den dunkel verfärbten Zähnen. Dann drückte er mir seine warmen Lippen auf die Stirn, und noch einmal sog ich seinen rauchigen Honigatem ein. Kurz darauf verließ er mit der schlafenden Maria die Kammer.

Als es im Haus mucksmäuschenstill war, betete ich zum heiligen Wendelin, dass ich bald meine erste Partie eröffnen dürfte und dafür, dass der Heilige den Streichelgeist von mir fernhielt. Nach dem Gebet konnte ich nur noch an das Spiel mit den vielen schwarzen und weiß gerahmten Kästchen denken. Nur mit Pabbi wollte ich das Spiel spielen, ganz ungestört und friedlich.

In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Ich meinte, das von der Berührung der Figuren herrührende Kribbeln in meinen Fingerspitzen noch immer zu spüren. Bis zum Aufstehen wiederholte ich in Gedanken die Namen und Regeln für alle Schachfiguren, weil ich sie nie wieder vergessen wollte.

* * *

Der Schachgeist

AM NÄCHSTEN MORGEN stand ich müde auf, zeigte Elisabeth, wie man die Dielen im Dachgeschoss am besten sauber bekam, und machte mich dann auf den Acker. Bei der Arbeit auf dem Kartoffel- und dem Roggenfeld murmelte ich die Spielregeln des Schachs immer wieder vor mich hin. »Der König darf sich immer nur um ein Feld bewegen, die zwei Türme gehen nur entlang der Geraden.«

Am sechsten Abend nach unserer Schachnacht trafen Pabbi und ich uns endlich wieder zum Spielen. Die Abende zuvor war er so spät heimgekommen, dass ich, während ich auf ihn gewartet hatte, am Tisch eingeschlafen war.

Dieses Mal verschwendete ich kein Brennholz, sondern saß mit zwei Schichten Kleidung am Tisch. Um die Füße, die in den Holzschuhen steckten, hatte ich mir zwei dicke Putzlappen gebunden, damit sie nicht kalt wurden. Pabbi war unruhig, vermutlich ebenso aufgeregt wie ich. »Weiß beginnt die Partie!«

In meinem ersten Spiel wollte ich vor allem Spielfiguren gewinnen.

Einige Nächte später eröffnete er mir, dass man Schach auch strategisch spielen kann. Strategisch! Ein Wort, das ich nie zuvor gehört hatte. Je öfter ich es vor mich hin sprach, umso verheißungsvoller klang es.

»Strategisch bedeutet, dass man sich einen Plan macht, wie man den Gegner schachmatt setzt. Man denkt dabei immer mehrere Züge voraus.«

»Einen Plan machen? Ist das wie eine Liste schreiben, mit allen Zügen, die ich nacheinander machen möchte?« In der Schule benutzte Peter zum Schreiben einen Griffel und seine Tafel.

»Nur dass du die Züge nicht aufschreibst, sondern wie ein Bild im Kopf hast«, erklärte Pabbi. »Stelle dir in Gedanken vor, wie ich wahrscheinlich auf deinen Zug reagieren werde und wie du wiederum am besten darauf reagieren könntest.« Das Malen im Kopf war gar nicht so einfach. Anfangs dauerte es bei mir so lange, dass Pabbi darüber einnickte.

Nach vier weiteren Wochen Übung gewann ich das erste Mal gegen ihn, und er lächelte trotzdem. Zu gewinnen schmeckte süßer als gezuckerte Haselnüsse. »Es fühlt sich sogar schöner an als die Vorstellung, bald eine Puppe zum Geburtstag geschenkt zu bekommen«, gestand ich.

Nach diesem Geständnis warnte er mich sofort vor dem Schachgeist, der die Menschen befallen könne. Am häufigsten würde das bei Spielern geschehen, die oft gewannen, durch ihre Siege eitel wurden und sich immer noch mehr Ruhm erhofften. Ich stellte mir den Schachgeist mit spitzen Zähnen, Hörnern und glühenden Augen vor. In meiner Fantasie trug er einen schwarz-weiß karierten Mantel und schritt auf riesigen Zahnstocherbeinen umher.

In der Hoffnung, der Schachgeist ließe sich von Mutters Bannspruch gegen Klopfgeister verscheuchen, sagte ich diesen regelmäßig vor dem Zubettgehen auf: »Luft, Wasser, Feuer, Erde und alle Geister, hört! Ich, Lenchen, verbiete euch im Namen Gottes mein Bett, mein Haus und meinen Stall. Ich verbiete euch meinen Leib, mein Blut und meine Seele. Ich verbiete euch jedes Nagellöchlein an der Wand, bis der liebe Tag kommt, an dem die heilige Maria Mutter Gottes ihren zweiten Sohn gebärt. Amen.«

Pabbi rupfte bei unseren Spielen zunehmend ungeduldiger an seiner Tabakrolle. Soweit ich es mitbekam, konnte er kein Geld mehr bei Bäcker Klempe dazuverdienen, und auch als Tragehilfe bei den Marschalls in der Tabakmanufaktur gab es keine Aufgabe mehr für ihn. Pabbi sah immer trauriger aus, selbst an den Abenden, an denen er beim Schach gewann.

Während die Mädchen der Stadt, die zum Kreis um die Bäckerstochter Hilga gehörten, über ihre Zukunft als Ehefrauen sprachen – Hilga selbst war gerade einmal zehn Jahre, aber einige ihrer Freundinnen waren bereits älter –, dachte ich nur an eines: an die nächste Schachpartie. Bei unseren nächtlichen Spielen gab es nur Pabbi, mich und die zweiunddreißig Figuren auf Zahnstochern, eine davon mit einem geklebten Stöckchen. Meine weißen hatten inzwischen Namen. Königin Luise, König Leopold, Bauer Andres, Bauer Matthias, die Pferde hießen Schneeflocke und Nebelstreif. Meine jüngere Schwester und ich waren auch unter den Figuren: Zwei der Bauern hatte ich Elisabeth und Helena genannt. Mit wachsender Begeisterung beobachtete ich, wie es Pabbi immer wieder gelang, meinen König zu umstellen.

Während des Spiels, in dem Pabbi mir aufzeigte, dass die meisten Schachfiguren im Zentrum des Kissens eine größere Wirkung entfalten können als an dessen Rand, griff er sich plötzlich an die Schläfen. Er murmelte etwas von Kopfschmerzen, erbrach sich und sackte zu Boden.

Ich sprang auf, beugte mich über ihn und rüttelte seinen Körper, aber er zuckte nur. Ich schrie nach Mutter, riss das Bild des heiligen Wendelin von der Wand und zeigte es Pabbi. »Bitte, Heiliger«, flehte ich, »höre auf, meinem Pabbi so weh zu tun.«

Pabbis Körper zuckte und zitterte weiterhin. Ob der Schachgeist in ihn gefahren war? »Luft, Wasser, Feuer, Erde und alle Schachgeister«, begann ich den Bannspruch, »ich, Lenchen, verbiete euch im Namen Gottes mein Bett, mein Haus und meinen Stall. Ich verbiete euch Pabbis Leib …«

Mutter kam die Stiege hinunter, gefolgt von Barbara und meinen anderen Geschwistern. Einzig Maria war noch oben. Unter hängenden Lidern fiel Mutters Blick zuerst auf das Kissen auf dem Tisch, dann auf Pabbi am Boden. Sein Gesicht war jetzt bleich und gar nicht mehr rot wie sonst fast immer.

»Michael?« Mutter ging vor Pabbi in die Knie und ruckelte an seinem Arm. Barbara befahl sie, mir das Heiligenbild aus der Hand zu nehmen und es wieder an die Wand zu hängen.

Weil Pabbi nicht antwortete, schlug Mutter ihm leicht auf die Wange. Braune Soße klebte in seinen schlaffen Mundwinkeln, seine Augen standen offen. »Michael, verdammt!«

»Pabbi ist nicht verdammt«, schluchzte ich, »denn er hat nach einem Sieg nie von Ruhm gesprochen.«

Mutter trommelte mit den Fäusten auf Pabbis Brust. »Und wer soll uns jetzt ernähren, Michael?«

Ich kniete mich nun ebenfalls neben Pabbi nieder. »Es wird alles wieder gut werden«, flüsterte ich ihm zu, aber Mutter stieß mich weg. »Peter und Katharina, lauft zum Pfarrhaus!«, befahl sie.

Warum schickte sie die beiden nach dem Pfarrer? Wir brauchten doch jemanden, der heilen konnte. »Aber …«, setzte ich an, doch Mutter schnitt mir das Wort ab: »Wisch sein Erbrochenes auf. So dreckig soll der Pfarrer unsere Stube nicht sehen!«

»Mach schon, wisch es weg, Helena!« Barbara kam von der Wand zu mir, wo sie gerade den heiligen Wendelin aufgehängt hatte. »Dass du immer widersprechen musst. Selbst jetzt noch, in seiner letzten …«

»Seine letzte …?« Wie betäubt holte ich einen Lappen.

»Wie soll ich alleine nur sechs Kinder durchbringen?«, jammerte Mutter.

Als ich mit dem Aufwischen fertig war, betrat auch schon der Pfarrer, gefolgt von Peter und Katharina, unsere Stube. Er war ein riesiger Mann, und seinen mahnenden Blick kannte ich von den Sonntagen in der Kirche. Er beugte sich über Pabbi, hielt ihm die Hand vor den Mund und legte sein Ohr an Pabbis Brust. Pabbis Blick war starr, starrer, als wenn er auf eine der Schachfiguren geschaut und seinen nächsten Zug überlegt hatte.

»Wie ist es passiert?«, wollte der Pfarrer wissen.

Alle blickten mich daraufhin an. Ich ließ den Lappen fallen und brachte nur kleinlaut hervor: »Wir, wir … haben Steckschach gespielt. Da hat sich Pabbi plötzlich … an, an den Kopf gefasst und ist zu Boden gefallen.« Die bösen Bilder erschienen mir erneut vor Augen. Ich schluchzte.

»Steckschach!« Mutter schüttelte ungläubig den Kopf.

»Der Allmächtige hat Michael Demuth zu sich in die Ewigkeit gerufen«, verkündete der Pfarrer.

»Zu sich gerufen?«, fragte ich.

»Er ist tot!«, knurrte Peter. »Er kommt nie mehr. Er ist jetzt bei Gott.«

Ich wollte Pabbi nicht zu Gott gehen lassen, sondern ihn hier bei mir haben. Stumm weinte ich in mich hinein. Elisabeth, die im Gegensatz zu den anderen die Treppenstufen nicht ganz heruntergegangen war und immer noch auf der Stiege stand, hatte den Ärmel ihres Nachthemdes nass gekaut.

»Wir müssen ihm die Augen schließen!«, sagte der Pfarrer, aber Mutter schien ihn nicht zu hören, sie murmelte nur: »Steckschach …«, und schüttelte verständnislos den Kopf.

An Mutters statt schloss ich Pabbi die Augen, damit sein starrer Blick nicht noch andere mit in den Tod zog. So hatte es Pabbi bei Anna, meiner verstorbenen Schwester, gehalten.

Pabbi bekam die Sterbesakramente nachträglich gereicht, zu diesem Zeitpunkt hatten Peter und Katharina bereits die Nachbarn verständigt.

Starr verfolgte ich, wie Pabbis lebloser Körper nach oben in die elterliche Schlafkammer getragen wurde.

Am nächsten Morgen wurde er dort von den älteren Nachbarn gewaschen und in ein Sterbehemd gekleidet, die Erwachsenen sagten, so sei es Brauch. Barbara befestigte einen schwarzen Flor an der Haustür, damit alle, die an unserem Haus vorbeikamen, mit uns trauern konnten. Nachdem ich aus meiner Erschütterung wieder zu mir gekommen war, versteckte ich das Schachspiel sowie Pabbis Tabakdose in der Futterkiste in der Scheune, dort, wo die Leiter zum Heuboden stand.

Bis zur Einsargung blieb Pabbi in seinem Sterbehemd noch im oberen Stockwerk liegen, seine Seele war noch irgendwo in unserem Haus, das spürte ich, er wollte noch nicht auf die Leiter der Zwischenwelt. Die Nachbarinnen hielten die Totenwache. In den Nächten beobachtete ich durch den Türspalt, wann sie wegnickten. Sobald es so weit war, schlüpfte ich in die Kammer und hielt Pabbi die kalte Hand. Ein rußendes Unschlittlicht mit breitem Docht brannte neben ihm, die Flamme wurde vom Wind hin und her gescheucht, als flögen Geister um seinen Leib herum.

Nach Pabbis Tod wagte ich nicht, das Schachkissen wieder anzurühren. Dennoch zog es mich mehrmals zur Futterkiste in die Scheune. Beim ersten Mal riss ich nur ein kleines Stück von Pabbis Tabakrolle ab und legte es mir auf die Zunge. Es brannte im Rachen. Bitter, rau und scharf zugleich. Ich hätte den Tabak am liebsten ausgespuckt, zwang mich aber dazu, ihn im Mund zu behalten. Mit Schwindel im Kopf tat ich es Pabbi gleich: Ich hob das Kinn und versuchte, den Tabak zu genießen. Trotz des ekeligen Geschmacks erzeugte er bald darauf warme Gefühle in mir, und ich konnte sogar etwas entspannen. Wie ich die braune Soße im Mund hin und her wiegte, ging es mir besser, und ich fühlte mich Pabbi ganz nah.

Seitdem er tot war, ruhten alle Arbeiten auf dem Hof. Wir trugen schwarze Leinenkleider und Schleier, die vom Kopf bis über die Schultern hinabreichten. Das ganze Haus schien so kalt zu sein wie der Raum, in dem Pabbi auf seinen Sarg wartete. Nicht einmal Mutter klagte mehr. Nur zwei Mal hatte ich sie seit Pabbis Tod sprechen gehört. Das erste Mal war bei einem Streit zwischen ihr und Onkel Klaus, Pabbis Bruder, gewesen. Es war darum gegangen, wer den Sarg, den Totengräber und den Leichenschmaus bezahlen würde. Onkel Klaus wollte ihr nichts dazugeben, und es dauerte einige Tage, bis sie übereinkamen. Das war das zweite Mal, dass ich ihre Stimme gehört hatte. Ich bat Mutter, Schmetterlinge in Pabbis Grabstein meißeln zu lassen, weil er Tiere und Pflanzen so sehr gemocht hatte. Genau wie ich war er gerne bei der großen Eiche an der Blies gewesen und hatte an Frühlingstagen Forsythienstaub und den bis hierher wehenden Duft der braunen Tabakblätter, die regelmäßig von den Trocknungsräumen der Manufaktur zur Verarbeitung getragen wurden, eingesogen.

Erst am sechsten Tag nach seinem Ableben bekam Pabbi einen Sarg. Früh verstorbene Kinder, wie Anna, und Jungfrauen kamen in weiße Särge, Erwachsene in schwarze. Pabbis Sarg war nicht schwarz, sondern aus Holzbrettern und ohne Farbe. Zwischen die gefalteten Hände drückte der Pfarrer ihm ein Kruzifix. Das Begräbnis fand am Nachmittag statt. Nur allein lebende Menschen und Kinder wurden abends begraben. Elisabeth und ich gingen Erinnerungsblätter im Ort verteilen, kleine Zettel, auf denen etwas über den Verstorbenen geschrieben stand. Unser Erntekarren mit dem Sarg zuckelte zum neuen Friedhof außerhalb der Stadt. Peter führte den Ochsen vorne am Karren, ihm voran schritt der Pfarrer. Der Trauerzug folgte hintenan. Mutter wurde von Barbara gestützt. Katharina und Elisabeth gingen hinter den beiden, ich sollte die kleine Maria ruhig halten. Sie litt an Fieberschüben. Die Männer aus der Obergasse trugen schwere dunkle Mäntel und allesamt Hüte mit Trauerflor. Immer wieder wurde Pabbis Name gerufen: Michael Demuth. Vom Turm der Wendelinus-Basilika läuteten die Glocken Sturm.

Pabbi wurde einen Sarg tief in die Erde gelassen. Weder Schmetterlinge noch einen Grabstein bekam er, nur ein einfaches Holzkreuz. Zu früh war er gegangen, hob der Pfarrer hervor, im einundvierzigsten Lebensjahr. Nachdem er das abschließende Gebet gesprochen hatte, traten erst Mutter und meine Geschwister ans Grab, um Erde auf den Sarg zu werfen. Als Letzte aus der Familie war ich dran. Pabbi durfte mich nicht vergessen. Mich, sein Lenchen! So grausam, wie die Traurigkeit in mir brannte, stellte ich mir das Fegefeuer vor.

Die fiebernde Maria gab ich Katharina. Mit der Schaufel nahm ich Erde vom Haufen neben dem Grab auf. Pabbis Bild, wie er sich die Hände gegen die Schläfen presste, erschien mir wieder vor Augen. Pabbis Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht schmerzverzerrt. Ich erschauerte vor seinem Grab. Das Zittern begann in meinen Händen, zog meine Arme hinauf und weiter über den Oberkörper bis in die Beine hinab. Ich spürte neues Feuer in mir aufsteigen und hätte mich am liebsten mit kaltem Wasser übergossen.

Hinter meinem Rücken setzte Getuschel ein, aber mir war, als stünden die anderen Trauernden hundert Fuß von mir entfernt.

Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog. Der einzige Mensch, der mich lieb hatte, war gegangen.

* * *

Dorothea aus Urweiler

NACH PABBIS TOD mussten wir ein Jahr lang Trauerkleidung tragen und sämtliche Feste und Vergnügungen auslassen. Jeder Frohsinn war aus meinem Leben verschwunden. Wenn ich sein Fehlen gar nicht mehr aushielt, kaute ich heimlich Tabak in der Scheune. Der Familie ging es immer schlechter. An Geburtstagen war früher für uns Kinder immer eine Kerze angezündet worden, nicht jedoch in diesem Jahr. Kerzen waren teuer. Die Puppe mit dem gelben Kleid, die ich mir so sehr gewünscht hatte, bekam ich auch nicht. Alles war so traurig, und oft gingen wir mit knurrendem Magen ins Bett.

Mutter schaute nur noch böse drein. Nicht einmal die Komplimente der Hausierer für ihre und Barbaras Bänder heiterten sie auf. Die Nachbarn sagten, dass es weit und breit keinen heiratswilligen Mann gäbe, der sich freiwillig sechs hungrige Mäuler ins Haus holen würde. Ich wollte sowieso keinen neuen Pabbi, und außerdem hatten wir keine Mäuler. Tiere wie Tasso, der Nachbarshund, hatten ein Maul. Doch auch er konnte mich nicht aufmuntern, früher hatte ich gelacht, wenn er mir die Pfote auf die Schulter gelegt hatte oder wie wild im Kreis seinem eigenen Schwanz hinterhergejagt war.

Ich übernahm einen Teil von Pabbis Aufgaben bei den Kartoffeln und beim Roggen. Schließlich musste aber sogar Peter aus der Schule genommen werden, damit auch er auf dem Acker arbeiten konnte. Er führte den Ochsen. Ich ging neben der Egge her und musste die schwere hölzerne Gerätschaft mit den Eisenzinken heben und reinigen. Außerdem brachte ich die Saat auf dem Feld aus und zog Unkraut heraus. Daheim saß Katharina stundenlang am Spinnrad. Barbara half Mutter weiterhin bei der Herstellung von Bändern. Mutter übergab mir die kleine Maria immer öfter.

Abends, wenn ich erschöpft nach Hause kam, schliefen die anderen meist schon. Im Dunkeln setzte ich mich dann an den Tisch und schaute immer wieder zur Tür, so wie früher, wenn ich auf Pabbis Heimkehr gewartet hatte. Erst wenn ich die Augen nicht mehr offen halten konnte, stieg ich die Stiege zur Schlafkammer hinauf und legte mich ins Bett. Ruhelos lauschte ich dem Wind hinter den Lehmwänden und verkroch mich vor den Klopfgeistern unter dem Stück Decke, das Peter mir zugestand.

Als im Herbst die Ernte anstand, hängte ich mir den Wetzstein um und schnitt das Korn mit der Sense, auch an Sonntagen. Zur Kartoffelernte musste sogar Barbara mit aufs Feld, anstatt Mutter beim Herstellen der Bänder zu helfen. Wir ernteten noch weniger Kartoffeln als im Vorjahr. Einen guten Teil vom Roggen hatten wir durch Stürme verloren. Auch der heilige Wendelin wusste keinen Rat mehr, wie es weitergehen sollte, und den ersten Winter ohne Pabbi überstanden wir nur, weil Elisabeth mit ihren sechs Jahren durch Sankt Wendel zog und Eier erbettelte, indem sie mit heller Stimme Lieder vortrug. Ich versuchte, meinen Hunger mit viel Wassertrinken zu stillen.

 

An Pabbis erstem Todestag, das war am siebzehnten Mai im Jahr 1830, schalt Barbara mich heftig, weil ich mich weigerte, mein schwarzes Trauerkleid abzulegen. »Sei nicht immer so starrköpfig! Aus dir wird nie was werden.« Ich dachte, wenn ich das Kleid auszöge, würde Pabbi aus meiner Erinnerung verschwinden. Deswegen trug ich es weiterhin zur sonntäglichen Messe und mit einer Schürze darüber auch bei den Feldarbeiten.

Nach der Messe zu Pabbis erstem Todestag sammelten sich die Messebesucher wie üblich auf dem Vorplatz um die Wendelinus-Basilika herum. Sie unterhielten sich, und die Kirchgänger, die es sich leisten konnten, aßen noch in der Gaststube der Stadt. Nicht nur die Erwachsenen, auch die jüngeren Leute und die Kinder kamen nun in kleinen Gruppen zusammen. Wie gewohnt war es Hilga, die sich mit ihrer reinweißen Haube in der Maisonne vor dem hellblauen Himmel hervortat. Diesmal berichtete sie davon, wie es einer Dorothea aus dem Nachbarort Urweiler ergangen sei. Dorothea war die Tochter eines Tischlers, die zum Dienen nach Trier gegangen war. So, wie Hilga es schilderte, musste Trier eine sehr große Stadt sein. Ob man dort Persisch sprach?

Ich stand mit Maria auf dem Arm abseits wie sonst auch. Meine jüngste Schwester fieberte, und obwohl sie schwach war und ihre Stirn glühte, hatte Mutter darauf bestanden, dass sie mit zur Messe kam. Geld für einen Doktor, der Maria mit Arznei half, war keines da. Meine jüngste Schwester war zu diesem Zeitpunkt ein gutes Jahr alt. Mit dem strohblonden Haar und den abstehenden Ohren erinnerte sie mich an Pabbi. Ich hatte die Kleine sehr lieb gewonnen und bat den lieben Gott darum, sie endlich von ihren Fieberschüben zu befreien.

»Ganz sicher ist das keine Mär!«, verkündete Hilga und reckte das Kinn. »Die Herrschaft nahm Dorothea liebevoll auf, als sei sie die von ihr so lang ersehnte Tochter.« Hilga besaß feine Züge und war so schön wie die vornehmen Damen, deren Platz in der Kirche sich in der allerersten Reihe befand und die sogar sitzen durften. Ihr Haar hatte die Farbe von hellem Weizenmehl. Mir fiel auf, wie Peter sie aus der Gruppe der Jungen heraus anstarrte. Immer mehr Mädchen scharten sich um sie, darunter auch meine Schwester Barbara. Ich näherte mich ihnen langsam.

»Als Dienstmädchen bekam Dorothea Weißwäsche und gestärkte und gebläute Schürzen«, berichtete die Bäckerstochter weiter.

Die sie umstehenden Mädchen kreischten vor Bewunderung. Sie selbst trugen Schürzen, die allesamt weder gestärkt noch gebläut waren. Eva und Ribba, die Gebertöchter, hatten nicht einmal Schuhe an den Füßen.

»Als Dienstmädchen trinkt Dorothea in ihren Pausen so viel Kaffee und Tee, wie sie will.« Hilgas grüne Augen leuchteten vor Begeisterung auf. »Zum letzten Weihnachtsfest hat ihre Herrschaft ihr sogar etwas geschenkt: die noch gute, abgetragene Kleidung der Nichte des Hauses, ein Seidenkleid mit Spitzenkragen war auch dabei.«

Spitze? Maria auf meinem Arm begann zu wimmern, ich drückte sie fester an mich und strich ihr beruhigend über die Stirn.

»Das alles will ich auch!«, rief Hilgas jüngere Schwester. Weitere Mädchen nickten ebenfalls. Berta, der Schweinehirtin vom Bosenbach, fielen fast die Augen heraus.

»Sie kriegt Essen, Unterkunft und noch zwanzig Taler Lohn. Einen ganzen Tag pro Woche hat sie nur für sich. Sie nennen das ›freie Kost und Logis‹.«

Unvermittelt bewegte ich mich weiter auf die Gruppe zu. Maria drückte ich weiterhin fest an mich und legte ihr mein Schultertuch um den fiebernden, ausgemergelten Leib.

»Die Herrschaften in Trier haben Speisekammern so groß wie Scheunen, und sie schlafen in Prunkgemächern.«

»Wie im Paradies«, staunte Barbara.

»Stellt euch nur Dorotheas Bett vor!« Hilga pausierte, bis auch das letzte der umstehenden Mädchen sie anstarrte. Ich stand noch drei Schritte von ihr und der Gruppe entfernt. »Dorothea schläft in einer Kammer ganz für sich allein, unter einem hoch aufgetürmten Federbett mit mehreren Kopfkissen und Bettwäsche aus feinem Leinen.«

Es klang unglaublich. »All das nur dafür, dass sie sauber macht?«, rutschte es mir heraus, und ich bereute meine Worte auch schon.

Wie von einer Geisterhand angewiesen, traten meine Schwester Barbara, die Schweinehirtin und ein anderes Mädchen, das ich nicht kannte, beiseite.

Hilga warf mir durch die Schneise einen verächtlichen Blick zu und fragte: »Hat Zitterhand gerade was gesagt?« Ihre Stimme klang jetzt gar nicht mehr schwärmerisch. »Was interessieren dich die Dienstmädchen in der Stadt? Du würdest doch jedes Geschirr schneller zerdeppern, als die Herrschaft es nachkaufen kann!«

Ich schaute zu Barbara, doch die senkte den Blick.

»Du bringst nur Unglück!«, blaffte Hilga. »Schleich dich, wenn das bei dir überhaupt ohne Stolpern geht!«

Ich spürte, wie sich Marias kleine Finger in meine Schulter krallten. »Ich wollte nur …«, begann ich, mehr bekam ich nicht heraus.

Hilga spottete: »Vom Geldverdienen verstehst du nichts. Kannst ja nicht mal eins und eins zusammenzählen!«

Ich konnte tatsächlich nicht rechnen, weil ich nicht zur Schule ging wie Peter, sosehr ich mir das heimlich auch wünschte.

Barbara kam zu mir, und ich hoffte, sie würde mir beistehen wie Pabbi früher. Aber meine Schwester nahm mir nur Maria ab und ging ein Stück den Hügel hinauf zur Obergasse.

Durch einen Tränenschleier hindurch schaute ich ihr nach und verfolgte, wie meine anderen Geschwister und Mutter an ihre Seite traten. Einzig Maria schaute noch zu mir und reckte ihre Ärmchen in meine Richtung.

»Bist du auch noch schwerhörig?«, motzte Hilga weiter. »Schleich dich! Mit einer wie dir wollen wir nicht gesehen werden!«

Ich stürzte in entgegengesetzter Richtung zu meiner Familie davon. Vorbei an der Wendelinus-Basilika und am Rathaus, hin zum unteren Tor, dann aus der Stadt hinaus und an die Blies. Schneller war ich nie zuvor gelaufen, beim Atmen brannte und stach es in mir. Du bringst nur Unglück! An der Eiche angekommen, kniete ich vor ihr nieder. Es dauerte eine Weile, bis das Atmen mir nicht mehr wehtat und ich wieder klar denken konnte.

Ich wollte, dass meine Familie mich lieb hatte. So viele Tage kämpfte ich nun schon um ein nettes Wort oder wenigstens ein Lächeln, aber wenn Mutter oder meine älteren Geschwister mich überhaupt anschauten, dann immer nur ausdruckslos oder missmutig.

Mit einem Mal kamen mir Hilgas Worte über Dorothea aus Urweiler wieder in den Sinn, die in Trier zwanzig Taler im Jahr verdiente. Wenn ich nur einen Teil davon meiner Familie geben könnte, würde es ihr bald bessergehen. Wenn ich in der Stadt Geld verdiente, könnte ich Pabbi außerdem einen Grabstein kaufen. Einen größeren und noch schöneren als den meiner toten Schwester Anna. Schließlich war Pabbi größer als Anna gewesen. Einen aus dunklem Stein mit hellen, eingemeißelten Buchstaben und Schmetterlingen darauf.

Es wurde stürmischer, das Getreide, das bereits hoch auf den Feldern stand, rauschte. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und fragte mich, wer dann auf dem Acker wohl meine Arbeit übernehmen würde, wenn ich in Trier wäre. Mit meinem heimgesandten Geld könnte Mutter jedoch einen Knecht einstellen, so wie früher. Aber dafür musste ich Sankt Wendel erst einmal verlassen. Die kleine Stadt war mein Zuhause, innerhalb ihrer Mauern schmiegte sich Haus an Haus, Gehöft an Gehöft, und es duftete nach Tabakblättern und Forsythien. Ich war nie woanders gewesen. Pabbi hatte Sankt Wendel immer ein Dorf genannt. Pabbi! Auch wollte ich nicht weg von ihm, und wer überhaupt würde eine Zitterhand wie mich zum Dienen einstellen? In diesem Moment begann ich, in meinem Kopf ein Bild zu malen. Ein Bild mit einem hoch aufgetürmten Federbett und weißer Bettwäsche aus Leinen, genauso wie Hilga es beschrieben hatte. Vielleicht würden meine Zitterhände in einer so großen Stadt und unter so vielen Leuten aber auch gar nicht auffallen? Wenn ich eine Anstellung als Dienstmädchen fände und Geld verdiente, wäre meine Familie am Ende wieder glücklich.

Es dämmerte. Ich musste mich beeilen, noch in die Stadt zurückzukommen, bevor die Tore geschlossen wurden. Ich rannte die Blies ein Stück in den Süden und dann am Bosenbach entlang, vorbei an der Stelle, wo ich morgens immer Wasser holte, dort, wo weniger Unrat aus den Gossen der Stadt im Fluss schwamm.

Mit weichen Knien erreichte ich das obere Tor, das noch offen stand. Ein paar Haarsträhnen, die sich aus dem Flechtzopf gelöst hatten, fielen mir ins Gesicht. Bis der Himmel schwarz war, versteckte ich mich in der Obergasse hinter der Magdalenenkapelle. Ich wollte, sobald meine Familie schlief, meine Sachen holen und danach von allen unbemerkt den Hof verlassen, zu sehr fürchtete ich, dass Mutter ansonsten verlangen würde, dass ich bliebe und morgen früh wieder auf dem Acker arbeitete. Es fühlte sich schrecklich an, so geheimnisvoll zu tun. Erst als Stille über der Stadt lag, ging ich nach Hause. Das Hoftor war verschlossen. Mir blieb zum Reinkommen nur ein Stück vom Lattenzaun, der unseren Hof von der Straße und dem Nachbarhof trennte. Eine der Latten – kaum mehr als einen Fuß breit – war schon eine Weile lose. So schmal, wie ich war, war es einfach, sie beiseitezuschieben und mich durch den Spalt hindurchzuzwängen. Geduckt lief ich unter den Fenstern des Hauses vorbei und zum Karottenbeet vor der Scheune. Entgegen meiner Erwartung brannte noch Licht im Haus, und ich hörte Marias Weinen. Sollte ich unsere Jüngste mitnehmen? Ein warmes Federbett täte ihrem Fieber bestimmt gut. Tasso von nebenan bellte, er roch mich auf eine Preußische Meile Entfernung.

Mit einem Mal wurde die Haustür geöffnet, ich konnte gerade noch hinter das Aborthäuschen springen. Ich lugte um die Ecke und sah Mutter mit der weinenden Maria auf dem Arm.

»Los, Kind«, forderte sie meine jüngste Schwester auf, »wenn du dich schon übergeben willst, dann hier draußen! Ich bin es so leid.«

Die Art und Weise, wie sie zu Maria sprach, tat mir weh. Für einen Moment glaubte ich gar, keine Luft mehr zu bekommen. Mit ausgestreckten Armen hielt Mutter Maria von ihrem Körper weg. Maria fieberte noch immer, das sah ich am Schweiß auf ihrem Gesicht, der im Mondlicht glitzerte, und nun hustete sie auch noch heftig.

Im fahlen Schein der Mondsichel, die am Himmel stand, erkannte ich auch, dass Maria sich an das Tuch klammerte, das ich ihr nach dem Kirchgang um die Schultern gelegt hatte. Reste von Erbrochenem klebten daran. Sie erbrach sich erneut. Ich wollte zu ihr stürzen, sie in die Arme nehmen und in noch dickere Leinen packen, doch etwas hielt mich zurück. Ein Gedanke. Wenn ich zwanzig Taler verdienen und Geld heimsenden könnte, würden davon neben einem Knecht vielleicht sogar noch ein Doktor und Arznei bezahlt werden können.

Erst als Maria den letzten Tropfen Flüssigkeit ausgespien hatte, ging Mutter mit ihr zurück ins Haus. In den letzten Monaten hatte ich mich viel um Maria gekümmert. Tagsüber war sie mit mir auf dem Feld gewesen, abends neben mir eingeschlafen. Ich würde sie schrecklich vermissen. Auf Wiedersehen, kleine Schwester, verabschiedete ich mich in Gedanken von ihr.

Nachdem Mutter die Haustür hinter sich geschlossen hatte, schlich ich mich in die Scheune. Dort, in der Futterkiste, befanden sich meine einzigen Besitztümer: das Steckschach und Pabbis Tabakdose. Wie ich das Schachkissen so in meiner Rechten hielt, begannen meine Finger zu zittern. Ich wollte es wieder zurücklegen, um bei seinem Anblick nicht länger an Pabbis Sterbetag denken zu müssen, aber meine Hände entschieden anders: Sie legten es neben die Tabakdose in zwei von Marias Windeln, die zum Trocknen draußen vor der Scheune gehangen hatten.

Als ich die Windeln zu einem Bündel zusammengeknotet hatte, verabschiedete ich mich noch vom Ochsen und seiner Kuh, wobei ich unser Haus immer im Blick behielt, damit mein Plan nicht doch noch verhindert wurde.

Vorbei am Karottenbeet und erneut durch den kaputten Lattenzaun hindurch verließ ich den Hof der Familie Demuth. Ich hatte die Vermutung, dass das Haus von einem bösen Geist heimgesucht worden war.

Es war in neuneinhalb Jahren die allererste Nacht in meinem Leben, die ich nicht in meinem Bett neben Peter und Elisabeth verbrachte. Meine erste Nacht ohne Decke. Ich fror bereits jetzt. Außerdem hatte ich Angst vor dem schwarzen Nachthimmel, vor den vielen schwarzen Wolken und davor, dass es gewitterte.

Bis zum Morgengrauen, wenn das untere der Stadttore wieder geöffnet würde, harrte ich zitternd hinter der Magdalenenkapelle aus, dann verließ ich Sankt Wendel mit meinem Bündel in der Hand. Ich besaß keinen einzigen Kreuzer und nur die Kleidung, die ich am Leib trug: ein zerschlissenes schwarzes Wollkleid und meine Holzschuhe.

* * *

Düster

ERST EINEN HALBEN Tagesmarsch von Sankt Wendel entfernt, wo mich die Leute auf den Feldern bestimmt nicht kannten, wagte ich es, den Weg nach Trier zu erfragen. Sie wiesen in die Richtung, aus der ich gekommen war. Also lief ich den ganzen Weg nach Sankt Wendel wieder zurück und erreichte am Abend des ersten Tages wieder die große Eiche an der Blies. Den Rücken an den Stamm gelehnt und mit den Gedanken bei der großen Stadt Trier, schlief ich ein.

Bei Sonnenaufgang setzte ich meinen Weg in die entgegengesetzte Richtung fort. Ein dicker Bauer mit einem Rechen in der Hand erklärte mir, dass Trier im Nordwesten läge und ich dorthin gelangen würde, wenn ich stets so ginge, dass ich morgens die Sonne auf der rechten Wange, mittags auf der Stirn und abends beim Untergehen auf der linken Wange spürte. Meinen ärgsten Hunger und Durst stillte ich mit Walderdbeeren und Wasser aus den Bächen. Ich stieg Hügel hinauf und wieder hinab, oft umgab mich Wald. Das war gut, denn so sah ich beim Gehen die vielen dunklen Wolken nicht, die mir folgten. Einmal ritten Uniformierte an mir vorbei, ich hatte mich gerade noch rechtzeitig hinter einer umgestürzten Buche verstecken können. Ein weiteres Stück des Weges nahm mich eine Bauersfrau auf ihrem Karren mit. Sie riet mir, mich einer Gruppe anzuschließen, weil es sehr gefährlich sei, als so junges Mädchen alleine unterwegs zu sein. Gesindel treibe sich in den Wäldern herum, sie erzählte mir sogar von Räubern. Das war am dritten Tag meiner Reise, nach zwei Nächten ohne Decke und ohne Bett.

Danach wagte ich mich nur noch wenige Schritte in den Wald hinein, immer behielt ich dabei den Weg im Blick. Beständig schaute ich mich um und zuckte bei jedem Knacken im Unterholz zusammen. Lenchen, geh weiter, du musst nach Trier, sagte ich mir bibbernd bei Regen und Sturm.

Am fünften Tag kam ich vor lauter Hunger kaum noch voran.

Am siebten Tag erreichte ich über einen Felsenweg bei Dämmerung endlich eine Siedlung, die Menschen sprachen seltsam dort. Ob das Persisch war? Die Nacht durfte ich auf einem Weinhof in der Scheune verbringen. Sie sagten, ich stinke, und sofort wusch ich mich am Trog vor dem Stall. Gestank und Dreck zogen unreine Seelen an. Im warmen Stroh knotete ich neben ein paar Schweinen das Bündel aus Windeln auseinander und erblickte das Schachkissen. Ich betrachtete es lange, schließlich war ich gar so verwegen, meine Hände darüberzuhalten. Je näher ich den schwarz und weiß gestickten Kästchen kam, desto mehr kribbelten meine Fingerspitzen. Ich stellte mir vor, wie die Zahnstocherfiguren in meiner Handfläche lagen und sich gegenseitig berührten. Die Königin Luise, der Läufer Herr Reginald … die vielen Bauernkinder. Am liebsten hätte ich jetzt mit ihnen gespielt, legte das Kissen aus Vorsicht aber doch wieder beiseite. Zu groß war meine Angst, dadurch die Bilder von Pabbis Tod heraufzubeschwören. Stattdessen fingerte ich die Tabakdose auf und nahm ein größeres Stück als gewöhnlich. Ich kaute es heftiger und hob das Kinn an, um es wie Pabbi zu genießen. Es erinnerte mich an die schönen Zeiten. Mittlerweile mochte ich sogar das Brennen im Hals. Der Tabak entfaltete seine Wirkung, und durch die leichte Benommenheit fühlte ich mich wie auf weichen Kissen. Ich schob die Soße im Mund hin und her, mir wurde wärmer, und bald schlief ich ein.

Hustend erwachte ich am nächsten Morgen und würgte einige Tabakkrümel aus der Kehle. Mit knurrendem Magen verließ ich den Hof. Wie sich herausstellte, war ich zu weit in Richtung Westen gelaufen, nach Trier waren es immer noch drei Tagesmärsche. Mir kam es so vor, als würde die Stadt am Ende der Welt liegen. Ein Stück weiter den Fluss entlang riss ich mir an einem widerspenstigen Ast ein Loch ins Kleid.

Nach vier weiteren Tagen erreichte ich an einem Sonntagvormittag endlich mein Ziel. Zuletzt waren einige Frachtkarren an mir vorbeigefahren, und ich war ihnen einfach nachgelaufen. Sie waren beständig gekommen, hatten mir den Weg gewiesen. Je näher ich dem weithin sichtbaren Stadttor kam, desto mehr Menschen waren um mich herum. Unter ihnen fiel mir ein alter, humpelnder Mann besonders auf und ein Mädchen mit dreckigem Gesicht, das mir entgegengelaufen kam und völlig außer Atem war. Es schien nur wenig älter als ich zu sein, sah noch ärmer aus als wir Demuth-Kinder und trug nichts bei sich.

Erschöpft lief ich auf das schwarze Stadttor zu, aber nach der Hälfte des Weges stoppte ich. Ein außergewöhnlicher Friedhof war rechts neben mir aufgetaucht. Darin standen traurige Frauenfiguren aus Stein, so groß, dass ich ihre Gesichter von der Straße aus erkennen konnte. Schöne, traurige Gesichter waren es, ihre Züge so fein geschnitten wie die von Hilga Klempe. Ich ging um eine edle Kutsche herum und betrat den Friedhof. Diese ungewöhnlichen Grabsteine musste ich mir einfach aus der Nähe anschauen. Vielleicht gefiele mir einer ja so sehr, dass ich ihn für Pabbis Grab nachmachen lassen würde.