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Ihren 30. Geburtstag hatte sich Belladonna Blackthorne anders vorgestellt: Statt eine Party zu feiern, wird sie vor den Hexenzirkel zitiert. In sechs Prüfungen soll sie zeigen, ob sie ihrer Magie überhaupt noch würdig ist - andernfalls könnte sie ihre Kräfte für immer verlieren.
Denn Belle hat ihre Zauberkräfte ganz schön vernachlässigt. Sie hat mit ihrer Arbeit in dem kleinen, aber feinen Buchladen Lunar Books und dem täglichen Kampf gegen ihren toxischen Chef schon genug zu tun - zumal sie zugleich ihre Kräfte vor den Nicht-Hexen um sie herum verbergen muss.
Als sich merkwürdige Ereignisse häufen und jemand offenbar um jeden Preis verhindern will, dass sie Erfolg hat, braucht Belle jede Unterstützung, die sie kriegen kann: von den Frauen an ihrer Seite - und von einem (sehr attraktiven) Wächter, der geschworen hat, sie zu beschützen ...
»Ein Becher heiße Schokolade in Buchform« Libby Page
Übersetzt von Susanne Gerold und Tamara Reisinger
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lucy Jane Wood
Rewitched
Ihr bleiben dreißig Tage, um ihre Magie wiederzuerwecken
Cover
Titel
Inhalt
Widmung
Kapitel Eins Etwas Böses liegt in der Luft
Kapitel Zwei Das Zuhause einer Hexe
Kapitel Drei Die unerwartete Einladung
Kapitel Vier Vergessene Geschenke
Kapitel Fünf Bei der Weide
Kapitel Sechs Die erste Prüfung
Kapitel Sieben Die Gowden-Schwestern
Kapitel Acht Ein Aufeinandertreffen von Meinungen
Kapitel Neun Belles Manifestationen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Kapitel Zehn Nur Besucher
Kapitel Elf Wohlbehalten bei den Toten
Kapitel Zwölf Artorius Day
Kapitel Dreizehn Feuerkessel
Kapitel Vierzehn Der Wächter
Kapitel Fünfzehn Quill Lane
Kapitel Sechzehn Das Zuhause eines Hexers
Kapitel Siebzehn Zauber
Kapitel Achtzehn Extra Wärme
Kapitel Neunzehn Bonnie, komm zurück
Kapitel Zwanzig Verstrickt
Kapitel Einundzwanzig Stunde der Wahrheit
Kapitel Zweiundzwanzig Kampf oder Flucht
Kapitel Dreiundzwanzig Erdmagie
Kapitel Vierundzwanzig Chaos bahnt sich an
Kapitel Fünfundzwanzig Der Erinnerung vertrauen
Kapitel Sechsundzwanzig Das Leuchten des Schicksals
Kapitel Siebenundzwanzig Nachtschattengewächs
Kapitel Achtundzwanzig Hellsehen statt Schwarzsehen
Kapitel Neunundzwanzig Nur wir
Kapitel Dreißig Sternenlicht und Silber
Kapitel Einunddreißig Ungelöste Fragen
Kapitel Zweiunddreißig Die letzte Herausforderung
Kapitel Dreiunddreißig Magie
Danksagungen
Hat es dir gefallen?
Über Lucy Jane Wood
Über dieses Buch
Impressum
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle Mädchen, die mit dem Zauber von Hexen aufgewachsen sind und schon immer wussten, dass Magie in ihnen schlummert.
Eine Hexe wird es immer spüren, wenn sie sich in der Gegenwart einer anderen Person mit magischen Fähigkeiten befindet. Noch bevor sie einander vorgestellt werden und sich irgendeine Magie offenbart, nimmt sie deren Präsenz unbewusst wahr. Zuerst spürt sie es auf der Haut. Es beginnt mit einem Prickeln wie von Limonade oder elektrostatischer Aufladung, und auf ihren Armen bildet sich eine Gänsehaut, bis sie schließlich erschaudert. Sie wird auch eine Veränderung der Luft wahrnehmen, die plötzlich anders schmeckt – schärfer, süßer, beinahe kupfern. Dann kommt der ausgeprägte Geruch nach Erde und Asche und karamellisierten Äpfeln hinzu, und all das vermischt sich schließlich zu dem berauschenden Duft von etwas, das sich nur als Gefühl von wohlige Wärmer, von Zuhause beschreiben lässt. Insbesondere das Knistern und Kribbeln in ihren Ohren und an den Daumen wird ihre Intuition auslösen. Schon das leise Geräusch der Schritte einer Hexe würden sie aufhorchen lassen.
Leider hatte sich ein derart wertvolles Wissen darüber, wie diese Dinge funktionieren, für Belle bislang als überflüssig erwiesen, denn mit ihren neunundzwanzig Jahren, 363 Tagen und einer Handvoll Stunden war sie noch nie einer anderen Hexe begegnet. Abgesehen von ihrer Mutter, natürlich, und von ihrer Großmutter, die vor einigen Jahren durch den Schleier auf die andere Seite getreten war. Als Belle fünfzehn geworden war, hatten ihr die zwei Vorsitzenden des Hexenzirkels zwar einen kurzen, überraschenden und irgendwie unangenehmen Besuch abgestattet, um den langen Prozess der Entfaltung ihrer Magie in Gang zu setzen. Doch Belle erinnerte sich nicht mehr so richtig daran, da sie die ganze Sache ziemlich peinlich gefunden und sich den Großteil der Zeremonie hinter ihren Haaren versteckt hatte. Dabei hatte sie sich inständig gewünscht, dass endlich alles vorbei war. Seit ihre Magie erweckt worden war, hatte sie keinen Kontakt mehr zum Zirkel gehabt, sondern man hatte sie – wie es üblich war – sich selbst überlassen.
Da aber die friedlichen, weichherzigen Zaubersprüche ihrer Mutter Teil ihrer Kindheit gewesen waren, hatte sie immer dieses tief verwurzelte Gefühl gehabt, von Magie umgeben zu sein. Und weil die Magie immer da war, hatte es auch nie den einen großen Augenblick der Erkenntnis gegeben. Vielmehr spülte die Magie, die von ihrer Mutter Bonnie ausging, immer über sie hinweg, sobald sie in der Nähe war, weshalb Belle sie kaum noch wahrnahm.
Sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich vorzustellen, wie es wäre, einer anderen Hexe zu begegnen. Es gab nicht mehr viele ihrer Art, und offenbar wurden es mit jeder Generation weniger. Belle hatte nicht die Absicht, die anderen ausfindig zu machen und sich damit Probleme zu schaffen. Sie führte ein ruhiges Leben in einer Nichthexenwelt, und das war für sie mehr als in Ordnung.
»Belle, was habe ich dir zu den Treuekarten gesagt? Es kostet mich ein Vermögen, wenn du einfach so Punkte verteilst.«
Violet war eine mustergültige Geschäftsfrau. Ihre teuren Kostüme waren immer in einem zarten Blau- oder Violettton gehalten (eine jahrzehntelange Gewohnheit, die mit ihrem farbenprächtigen Namen einherging), und ihre silbergrauen Haare wurden zweimal in der Woche neu gelegt. Inzwischen ging sie langsam, aber zielstrebig an einem eleganten silbernen Stock, und sie hatte schon immer eine beeindruckende Sammlung von erlesenen Schals und Tüchern besessen. Belle war sich sogar fast sicher, dass Violet in all den Jahren, die sie nun schon bei Lunar Books arbeitete, noch nie zweimal dasselbe Tuch oder denselben Schal getragen hatte.
Obwohl Vi nach wie vor die Geschicke der Buchhandlung leitete, hatte sie die Zahl ihrer Besuche seit einiger Zeit reduziert und kam nur noch ein- oder zweimal in der Woche rein. Dann pflegte sie – auf der Suche nach Staub – mit einem Finger über die Regale zu streichen, allen in die Wange zu kneifen und zu prüfen, ob Belle auch nichts Unsinniges tat, wie jemandem zwei Treuepunkte statt nur einen zu geben.
»Vi«, rief Belle über die Schulter, während sie einen Stapel Neuerscheinungen in ihr vorübergehendes Zuhause brachte. »Es ist zwei Uhr am Donnerstagnachmittag und ziemlich voll. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst, dass ich zu viele Lesezeichen umsonst verteilen könnte.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schob einen besonders dicke Sammlung von Sagen ins oberste Regal. Dann bahnte sie sich höflich den Weg durch das Meer von Kunden zurück zu ihrer Chefin.
Violet sah Belle etwas kleinlaut an, während sie ihr ein paar vereinzelte Hardcover reichte. »Du weißt doch, dass es mich nicht wirklich stört. Es hat mir sogar gefallen, dass du in jedes Buch eines gesteckt hast, als kleine Aufmerksamkeit. Aber Christopher sagt, wer die Pennys nicht ehrt, ist die Pounds …«
»Christopher sagt eine ganze Menge«, unterbrach Belle sie. Violets Brauen schossen nach oben, und Belle riss sich sofort wieder zusammen. »Was großartig ist, denn ich weiß seinen Input zu schätzen. Klar.« Sie räusperte sich. »Ich muss mich nur immer noch daran gewöhnen, dass er so vieles verändert, seit er hier ist.«
»Er meint, wir hätten diese Veränderungen schon vor langer Zeit angehen sollen«, sagte Violet nachdenklich.
»Sicher! Es ist nur so, dass seine Vorschläge … Na ja, sie passen nicht unbedingt zu dem Einkaufserlebnis, wegen dem die Leute bisher zu Lunar Books gekommen sind.«
»Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ihr beide unterschiedliche Ansichten über die Zukunft dieser Buchhandlung habt. Allerdings weißt du auch, dass ich meinen Sohn niemals mit ins Boot geholt hätte, wenn es nach mir gegangen wäre. Aber hast du mir eine andere Wahl gelassen?« Violet warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.
Belle seufzte. »Komm schon, Vi. Darüber haben wir schon unzählige Male gesprochen.«
»Wenn du nur aufhören würdest, so herzlos zu sein, und bereit wärst, einer alten, schwachen Frau ihren Wunsch zu erfüllen …« Violet schien sich in Gedanken zu verlieren, aber dann blätterte sie mit ihren manikürten roten Fingernägeln lächelnd in einem Kinderbuch, in dem es um ein Internat ging.
Belle musterte ihre Chefin mit zusammengekniffenen Augen. »An dir ist überhaupt nichts Schwaches. Du bist eine Bedrohung für die Gesellschaft.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Ich bin eine unschuldige, gebrechliche alte Lady, die sich nichts weiter wünscht, als ihre geliebte Buchhandlung der Person übergeben zu können, die den Laden am meisten zu schätzen weiß«, sagte Violet. »Du könntest hier schalten und walten, wie du willst, und ich könnte meine Nachmittage im Theater verbringen, statt dir mit sinkenden Verkaufszahlen in den Ohren zu liegen …«
»Wirst du jemals aufgeben?«, unterbrach Belle sie mit gespielter Verzweiflung. Insgeheim rührte es sie, wie viel Violet noch immer daran lag, ihr den Laden zu verkaufen. Immerhin hatte ihre Chefin schon vor Jahren begonnen, sich langsam aus dem Alltagsgeschäft der Buchhandlung, die ihr ganzer Stolz war, zurückzuziehen.
»Erst wenn wir die Papiere unterzeichnet haben. Was wir irgendwann tun werden«, antwortete Violet mit einem zuversichtlichen Nicken. Sie musterte den Tisch mit den Leseempfehlungen für den Herbst und schob eines der Bücher ein paar Millimeter zurück.
»Was wir nicht tun werden«, korrigierte Belle sie. »Ich habe es dir schon eine Million Mal gesagt: Ich kann diesen Laden unmöglich allein führen.« Sie ging an dem Eichentisch vorbei und rückte die Grußkarten sowie ein paar Blumensträuße zurecht, die den Kassenbereich säumten. Die Sträuße waren mit Miniaturkürbissen und dunklem Samtgras geschmückt, die den Beginn des Oktobers markierten. Belles dezenter Floresco-Bellus-Zauber hielt die Stiele zusammen und die Blumen bemerkenswert frisch.
»Oh, wie oft soll ich es noch sagen, Belle? Du wärst nicht allein.« Violet schnalzte geräuschvoll mit der Zunge. »Während der Woche sind Jim und Monica hier, und am Wochenende hättest du dieses neue Mädchen mit dem unsäglichen Nasenring.«
»Du weißt, was ich meine. Ich spreche davon, dass ich die Zügel in die Hand nehmen müsste, was generell nicht mein Ding ist. Ich lasse mich lieber … treiben?«
»Ich habe hier seit der Erfindung des Buchdrucks nichts Nützliches mehr gemacht. Schon seit Jahren stammen alle guten Ideen von dir.«
»Aber diese Buchhandlung ist immer noch dein Baby. Ich sorge nur dafür, dass Bücher reinkommen und rausgehen und die Kunden glücklich sind. Das ist alles.«
»Und was würde sonst noch anfallen? Wir beide wissen genau, dass du den Laden eigentlich allein leitest. Ich bin inzwischen zu alt für all das hier und habe Besseres zu tun, als irgendwelchen Leuten Thriller zu empfehlen.«
»An Thrillern ist nichts auszusetzen. Du bist ein Snob, Vi. Und du kennst mich. Ich würde den Laden hier vermutlich nach ein paar Monaten in den Sand setzen.«
»Rede nicht so schlecht über dich selbst, das ertrage ich nicht. Du bist eine außerordentlich fähige und kluge Frau, der ich vorbehaltlos vertraue. Du hast deine Magie hier länger gewirkt, als ich es mir eingestehen will« – hier verschluckte sich Belle erschrocken und musste husten, woraufhin Violet ihr auf den Rücken klopfte –, »hauptsächlich, weil es mich entsetzlich alt macht. Du hast einfach nur zu viel Angst, ein Risiko einzugehen«, fuhr die alte Dame fort. »Und du machst dir zu viele Sorgen darüber, was alles schiefgehen könnte.« Sie zeigte mit einem spitzen, glänzenden Fingernagel auf Belle.
»Du bist sehr gut darin, mir gleichzeitig Komplimente zu machen und mich zu beleidigen«, sagte Belle stirnrunzelnd und kehrte zu ihrem Platz hinter der Kasse zurück.
Violet lehnte sich gegen die Arbeitsfläche aus grünem Marmor und zog einen Taschenspiegel heraus, um eine einzelne Haarsträhne zurechtzurücken. »Das ist eine Kunst.« Sie machte mit den Lippen ein schmatzendes Geräusch. »Aber du weißt, wenn du dich weiter weigerst, mein großartiges Angebot anzunehmen, sehe ich mich gezwungen, Christopher die Leitung vollständig zu übertragen. Mit dieser Aufgabe möchte ich keine Außenstehenden betrauen. Und wenn ich meinen Ruhestand wirklich mit Luxuskreuzfahrten und Shoppen verbringen will, muss Lunar Books in fähigen Händen sein, sonst kann ich es nicht genießen. Und Christopher ist fähig.«
»Natürlich«, sagte Belle resigniert, während sie Luft holte, um ihren Stolz hinunterzuschlucken. »Er kann zwar ein Taschenbuch nicht von einem Topflappen unterscheiden, aber er versteht etwas von Gewinnen und Verlusten.«
Belle hoffte, dass die Musik, die sie heute Morgen ausgesucht hatte, reichte, um die nicht ganz so gedämpften Geräusche aus dem Büro zu übertönen, wo Christopher gerade mit einem Geschäftspartner telefonierte. Momentan brüllte er abwechselnd Kraftausdrücke und lachte schallend. Belle verzog peinlich berührt das Gesicht, als eine Kundin irritiert den Kopf in Richtung des Lärms drehte.
Gewinne und Verluste waren anscheinend das Einzige, von dem Christopher etwas verstand, was zu Entscheidungen führte, bei denen Belle das Herz jeden Tag ein bisschen mehr blutete. Seit Violet zwei Jahre zuvor beschlossen hatte, sich zurückziehen und ihrem unternehmerisch denkenden Sohn – wenn auch zunächst nur zögerlich – die Leitung zu übergeben, hatte dieser nach und nach alles rückgängig gemacht, was Belle in den beinahe zehn Jahren eingeführt hatte, die sie nun schon bei Lunar Books arbeitete. Der heiß geliebte Kaffeewagen mit süßem Gebäck war als Erstes dran gewesen, da Christopher erklärt hatte, Cappuccino würde »die Buchhandlung in einen Treffpunkt für Mütter« verwandeln. Belles jährliches Herbstbuch-Festival, das in Kooperation mit anderen Geschäften in der Nachbarschaft veranstaltet wurde, fand er so lächerlich, dass er sich sogar auf die Schenkel geklopft hatte.
Besonders besorgniserregend war, dass sie ihn vor ein paar Tagen hatte sagen hören, die Stellen der jüngeren Angestellten würden an einem seidenen Faden hängen. Das war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Danach hatte Belle mit Violet über all diese fragwürdigen Entscheidungen gesprochen. Aber Christopher hatte sich rasch eingemischt und darauf beharrt, dass Belle alles überdramatisierte. Er hatte ihre Argumente weggelacht und seine Mutter, wie immer, um den kleinen Finger gewickelt. Deshalb sagte Belle nichts davon, wie schlecht es inzwischen wirklich um den Laden stand, sondern trug dieses Wissen wie einen kalten Stein in der Tasche mit sich herum.
»Irgendwie habe ich nur einmal kurz geblinzelt, und plötzlich befinde ich mich in einer modernen Welt, Belle«, sagte Violet. »Ich weiß, dass ich nicht mehr mit der Zeit gehen kann. Aber Christopher wird dafür sorgen, dass diese Buchhandlung es tut.«
»Aber bei Lunar Books geht es nicht darum, mit der Zeit zu gehen«, wandte Belle ein. »Die Buchhandlung soll in ihrer eigenen kleinen gemütlichen Bubble existieren, die von der realen Welt vollkommen getrennt ist.«
»Wenn es doch nur so wäre«, sagte Violet wehmütig. »Aber gut, wir sehen uns nächste Woche wieder. Ich melde mich wegen der August-Zahlen.« Sie beugte sich vor und drückte Belle einen Kuss auf die Wange. Dabei hinterließ sie wie immer einen kleinen magentafarbenen Lippenstiftfleck, ein leichtes Kitzeln ihrer Schnurrbarthärchen und den Duft ihres süßlichen Parfüms.
»Bis dann, Vi«, sagte Belle liebevoll und winkte ihr nach, als sie den Laden verließ und zu dem glänzenden schwarzen Auto schritt, das darauf wartete, sie nach Hause zu ihrem ebenfalls perfekten Stadthaus zu fahren. Violet war unglaublich wohlhabend, da sie einen Großteil ihres Lebens als Theaterstar auf der Bühne verbracht hatte, bis eine Verletzung der Stimmbänder dem ein Ende gemacht und sie in die heilenden Arme der Bücherwelt getrieben hatte.
Belle schob die Hände in die Taschen ihrer Jeansschürze, deren Vorderseite mit Lunar-Monden verziert war, während sie in Gedanken zu ihrem üblichen Problem zurückkehrte. Violets Angebot anzunehmen und ihr Lunar Books abzukaufen, war ein Traum, der sich seit jeher viel zu groß angefühlt hatte. Wann immer Violet darauf zu sprechen kam und sie daran erinnerte, was für eine großartige Chance sie sich durch die Lappen gehen ließ, spürte Belle, wie sie noch ein bisschen mehr davor zurückschreckte.
Es konnte einfach so vieles schiefgehen. Außerdem hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie das Ganze dann überhaupt ablaufen würde. Und obwohl Violet ihr ein überaus entgegenkommendes Angebot gemacht hatte, waren Belle ihre mageren Ersparnisse zu kostbar, um sie für etwas zu opfern, dessen Erfolg nicht garantiert war. Abgesehen davon würde sie einen Job riskieren, den sie liebte und für den sie so hart gearbeitet hatte, seit sie von der Samstagsaushilfe zur Verkaufsleiterin aufgestiegen war.
Dennoch dachte sie ständig darüber nach. Stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie es wirklich tun und sich selbst mit dem Mut belohnen würde, der früher einmal die Grundlage all ihrer Entscheidungen gewesen war. Bisher hatte sie jedoch nie genug davon aufbringen können, um die Zündschnur tatsächlich anzuzünden und herauszufinden, ob die folgende Explosion kontrolliert ablaufen oder sich zu einem Flächenbrand entwickeln würde.
Und so ging alles seinen gewohnten Gang. Das Steuer blieb in Händen, die nicht ihre waren, und sie blickte weiter aus dem Fenster, während auf der Straße das Leben vorbeischoss.
Eine Frau in einem lachsfarbenen Cardigan trat mit einem Stapel Bilderbücher auf einem Arm zur Kasse, während sie mit der rechten Hand eine Rolle Regenbogen-Geschenkpapier und ein Kleinkind festhielt.
»Das da ist toll. Das ist mein Lieblingsbuch«, sagte Belle zu dem kleinen Mädchen, während sie das oberste Buch auf dem Stapel in braunes Papier einwickelte. »Hast du das ausgesucht?«
Das kleine Mädchen nickte schüchtern, dann vergrub es das Gesicht im Kleid der Mutter.
»Das hast du gut gemacht«, lobte Belle.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe dabei, die richtigen Bücher zu finden. Damit sollte sie eine Weile beschäftigt sein.« Die Frau lächelte dankbar.
»Natürlich.« Belle tippte die Beträge ein. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht länger beraten konnte, aber hier ist heute ein bisschen viel los. Bei diesem Wetter wollen es sich alle mit einem Buch gemütlich machen.«
Wie auf Kommando zerriss ein heller Blitz den bewölkten Abendhimmel und zersplitterte das sanfte Licht, das im Laden immer für eine warme, einladende Atmosphäre sorgte, ganz egal, wie es draußen aussah. Sofort folgte ein lauter Donnerschlag, der so heftig war, dass er die Buntglasfenster im ersten Stock zum Klirren brachte.
Die Frau nahm ihre Einkäufe, verbarg die Bücher unter ihrem Mantel und zog dem Kind die Kapuze über den Kopf, bevor beide widerwillig in den Regen hinaustraten.
Abends war viel los. In der Buchhandlung, die wegen ihres Charmes und ihrer nur schwer zu erklärenden Besonderheit beliebt war, wechselten sich ruhige Zeiten auf chaotische Weise mit einer hektischen Betriebsamkeit ab. Selbst an ihren freien Tagen wurde Belle häufig von Jim angerufen, der sich vor Verzweiflung die noch vorhandenen Haare seines flauschigen weißen Haarkranzes raufte, während er versuchte, gleichzeitig die Regale zu bestücken und zu kassieren. Ihr winziges Team hatte seine liebe Mühe damit, Christophers Zeitpläne umzusetzen, zudem waren sie jeden Tag unterbesetzt und überengagiert.
Während Belle den nächsten Kunden bediente, warf sie einen Blick Richtung Kinderbuchabteilung. Wie immer war dort alles ziemlich durcheinander, obwohl Belle in der Nähe der Pappbilderbücher und des Spielzeugs einen netten kleinen Libri-Liberi-Ordino-Zauber eingerichtet hatte, sodass die Spielzeuge und Bücher sich von allein wieder an ihren alten Platz begaben, wenn niemand hinsah. Diese Magie konnte sie hier gefahrlos verteilen, ebenso die anderen Zauber, die sie aufgespannt hatte. Kinder hinterfragten nicht, wenn das ein oder andere Bilderbuch sich selbst aufräumte, und Erwachsene bemerkten so etwas ohnehin nie.
Der Ladenschluss rückte näher. Während Jim und Monica sich um die täglich anfallenden kleinere To-dos kümmerten, wurde Belle von einer langen Schlange von Kunden in Beschlag genommen, die – genauso wie der Regen draußen – kein Ende zu nehmen schien. Irgendwo am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie, dass die Messingglocke über der Vordertür zum millionsten Mal an diesem Tag klingelte. Kalte Luft strömte durch die geöffnete Tür herein, und Belle rieb sich die Unterarme, auf denen sich eine Gänsehaut bildete.
»Möchten Sie die besondere Leseempfehlung dieser Woche mitnehmen? Es ist ein wirklich …«
Belle stockte der Atem. Eine warme Welle durchströmte sie von Kopf bis Fuß, seltsam angenehm, aber doch so kraftvoll, dass sie fast ins Straucheln gekommen wäre. Sie hielt sich an der Theke fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt … Nun, sie hätte gesagt, dass es Magie war.
»Alles in Ordnung?« Der Kunde sah sie besorgt an.
Belle schluckte mühsam, dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung. »Oh, ja, mir geht es gut. Entschuldigung. Mir ist gerade nur ein bisschen schwindelig geworden. Was wohl bedeutet, dass es Zeit für einen weiteren Kaffee ist.« Sie lachte trocken und sammelte sich, ignorierte das machtvolle Gefühl, das einen Moment lang da gewesen und im nächsten schon wieder verschwunden war. Sie hatte einen langen Tag hinter sich.
Sie schob die abgerechneten Bücher in eine Tüte und schenkte dem Kunden ein flüchtiges und gestresstes Lächeln, das Violet nicht als charakteristisch für den Service von Lunar Books betrachtet hätte. Dann wandte sie sich dem nächsten Kunden zu.
Der Anblick des Mannes, der vor ihr stand, traf sie völlig unvorbereitet. Zunächst fiel ihr seine Größe auf. Er war so groß, dass er schon fast bedrohlich wirkte. Und dann sah er auch noch – das konnte sie nicht bestreiten – unglaublich gut aus. So gut, dass sie ihrer besten Freundin Ariadne von ihm erzählen würde, sobald sie nach Hause kam. Gleichzeitig fragte sie sich, wieso sie an diesem Morgen nicht etwas mit ihren Haaren gemacht hatte. Er trug eine dunkle Hose mit dunklem Gürtel, ein rostrotes Hemd über einem weißen T-Shirt und eine Brille mit einer runden Metallfassung. Als ihre Blicke sich begegneten, nahm er die Brille ab, steckte sie in die Innentasche eines langen schwarzen Ledermantels, der gut an seinen breiten Schultern saß, und neigte den Kopf. Eine Locke seiner schulterlangen dunklen Haaren fiel ihm in die Augen. Als er sie zurückschob, eine Hand auf die Theke legte und sich leicht zu ihr beugte, verfing sich das Licht in dem Bernstein, der seinen silbernen Daumenring schmückte.
Belle konnte den Blickkontakt nicht aufrechterhalten, und ihr Gesicht glühte.
»Ich frage mich, ob Sie mir vielleicht weiterhelfen können.« Er sprach mit einer tiefen honigsüßen Stimme, die an gebrannten Karamell erinnerte und einen leichten Londoner Akzent hatte. »Ich suche nach etwas Besonderem. Etwas, das ein bisschen ungewöhnlich ist.«
Belles Wangen wurden so heiß, dass ihre Ohren kribbelten und sie ein Knistern hörte. Eine seltsame, scharfe Empfindung wanderte in ihre Fingerspitzen, als sie die Hände erst auf die Theke legte und sie dann in die Taschen schob. Schließlich griff sie nach einem Füller, wobei sie ein paar Tintenflecke auf der Theke verteilte.
»Sorry.« Sie wischte die Tinte hastig mit dem Ärmel weg. »Das klingt interessant. Wie ungewöhnlich soll es denn sein? Handelt es sich um ein Geschenk?«
Die Mundwinkel des Mannes wanderten kaum wahrnehmbar nach oben. »Ja, es ist ein Geschenk.«
Belle fing sich langsam wieder, sie war ausgesprochen verlegen wegen ihrer Verlegenheit.
»Großartig. Das klingt großartig. Sie könnten sich mal unsere Sonderausgaben ansehen. Es sind einige signierte Exemplare darunter, die sich gut als Geschenk eignen. Wir haben aber auch ein paar großartige Unterhaltungsromane auf dem Tisch mit den aktuellen Leseempfehlungen, also, wenn Sie eher etwas suchen, das erst kürzlich …«
»Malleus Maleficarum.«
Belle wurde bleich, die brennende Röte in ihrem Gesicht wich binnen eines Augenblicks geisterhafter Blässe. Sie musste sich verhört haben. »Entschuldigung, es war ein langer Tag. Ich glaube, ich verliere noch den Verstand. Was gut ist.« Sie lachte höflich und schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. »Was haben Sie gesagt?«
»Malleus Maleficarum«, sagte er, ehe er nachdenklich hinzufügte: »Ich will damit natürlich nicht sagen, dass ich der Botschaft zustimme. Dass Magie bösartig oder falsch ist. Aber Hexen aufzuspüren, ist ein interessantes Konzept, finden Sie nicht? Ich hätte gern ein Exemplar für meine Sammlung.«
Belles Blick flackerte. Malleus Maleficarum, der berühmte historische Text über die Ursprünge der Hexerei. Das berüchtigte Handbuch für Hexenjäger, in dem erklärt wurde, woran man eine Hexe erkannte.
Ein Zufall. Es musste ein Zufall sein. Aber dann spürte sie es. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Ihre Intuition übernahm. Sie zwang sich, wieder Blickkontakt mit dem Kunden aufzunehmen, und es geschah unmittelbar. Auf ihrer Haut knisterte reine Energie. Der Geschmack nach Kupfer schwemmte ihre Zunge. Als der Mann sich mit den Unterarmen auf die Theke stützte und die Finger verschränkte, wehte ihr ein Geruch nach holzigem Lagerfeuerrauch und würziger Süße entgegen. Belle bemerkte, wie seine Kiefermuskeln sich kurz anspannten und ein winzig kleines wissendes Lächeln aufblitzte. Die Erkenntnis war wie ein Schlag in den Magen.
Ein Hexer.
Jim stellte einen riesigen Karton mit Hardcovern sehr hart und entsprechend laut hinter der Kasse auf den Boden, und Belle wurde in die Realität zurückgerissen.
»Lass dich nicht stören«, meinte Jim und schlenderte bereits wieder zurück in die Ecke mit den Kochbüchern, wobei er unerträglich schrill vor sich hin pfiff.
»Interessante Wahl.« Belle lachte unsicher, schob sich die Haare zurück hinter die Ohren und feuerte dann unerklärlicherweise Fingerpistolen auf den Mann ab. Ganz offensichtlich kontrollierte die Panik nun all ihre Gliedmaßen. »Ich fürchte, den Titel führen wir hier nicht. Schade. Tut mir leid. Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.«
»Das ist tatsächlich schade«, meinte der Mann.
Erst jetzt bemerkte sie, dass er die Zunge gegen die Innenseite seiner Wange drückte, während sich auf der anderen Seite ein tiefes Grübchen bildete. Er hatte die Augenbrauen wissend nach oben gezogen, als würde er darauf warten, dass bei ihr der Groschen fiel.
Er winkte sie näher zu sich heran, dann senkte er – nur wenige Zoll von ihrem Gesicht entfernt – die Stimme, bis sie kaum mehr als ein Wispern war. »Ich habe es in der Bibliothek von Hecate House versucht, aber anscheinend sind dort alle Ausgaben ausgeliehen. Man hat mir gesagt, ich soll es bei einer gewissen Belladonna Blackthorn versuchen. Dass sie mir nur zu gern helfen und mir ihr Exemplar leihen würde.«
Niemand nannte sie jemals Belladonna. Sie hasste ihren vollständigen Hexennamen inbrünstig, hatte es seit jeher getan. So sehr, dass nicht einmal ihre Mutter ihn noch verwendete – außer wenn Bonnie die wesentlichen Lebensentscheidungen ihrer Tochter in der einen oder anderen Hinsicht entschieden missbilligte.
Die Welt drehte sich wie in Zeitlupe, dennoch gelang es Belle irgendwie, eine Art professionelles Lächeln aufzusetzen. Ihr erster und einziger Gedanke war, dass sie diesen Mann aus den Augen der Öffentlichkeit schaffen musste. Sie hatte Jahre damit verbracht, genau so ein Szenario zu vermeiden. Den Moment, in dem ihre Magie in der nicht magischen Welt enthüllt werden würde – vor allem, nachdem sie alles getan hatte, um sie geheim zu halten.
Monica sah in Belles Richtung und erkundigte sich mit hochgezogener Augenbraue, ob alles okay war, da die Schlange hinter dem Mann immer länger wurde.
»Ja, natürlich.« Die Fingerpistolen waren wieder da. »Ach, ich bin auch vergesslich, dort hinten steht es doch, im Lager … hier entlang. Wenn Sie mir bitte folgen würden …« Sie warf dem Mann einen auffordernden Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und schickte ein stilles Stoßgebet zu allen Kräften, die das hier mitleidig beobachten mochten. Um jeden Preis musste sie verbergen, worum es bei diesem Gespräch wirklich ging.
Nachdem Belle Monica bedeutet hatte, ihren Platz an der Kasse einzunehmen, eilte sie zum rückwärtigen Teil des Ladens, auf die schlecht beleuchtete Kammer zu, in der sich die Kisten und Pappfiguren für die Fensterdeko hoch auftürmten. Hektisch schob sie einen großen Pappdrachen zur Seite und gab dem Mann ungeduldig ein Zeichen, dass er ihr folgen und sich von der Kundschaft fernhalten solle. Hauptsächlich von der Handvoll Kundinnen, die sich verstohlen in seiner Nähe aufhielten und jede seiner Bewegungen beobachteten, als wäre er ein leckeres Stück Kuchen. Der Mann folgte ihr gehorsam, aber mit einem unverkennbar verschmitzten Grinsen, während er lässig die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
Belle zog an der Lichtschnur und verpasste einer schweren Kiste einen kräftigen Tritt, um sie aus dem Weg zu räumen. Nachdem sie einen besorgten Blick zurück in den Verkaufsraum geworfen und sich überzeugt hatte, dass Christopher nirgends zu sehen war, zog sie die Tür hinter sich zu. Zum Glück war sie zu sehr mit ihrer Angst beschäftigt, als dass es ihr noch groß peinlich gewesen wäre, so nah vor einem vollkommen Fremden zu stehen.
»Gemütlich.« In seinen dunklen Augen blitzte es auf.
»Wer sind Sie? Und was soll das alles?«, fragte Belle mit aufgebrachter und zugleich gedämpfter Stimme. Sie hatte bereits Vermutungen angestellt. Sein Auftauchen konnte nur eines bedeuten: schlechte Nachrichten. »Geht es um meine Mutter?«
»Was? Nein, natürlich nicht. Nichts dergleichen«, erwiderte er sofort.
Belle spürte, wie ihr eine gewaltige Last von den Schultern fiel.
»Ich wurde vom Zirkel geschickt«, sagte er und sah ernst auf sie herunter. Es fühlte sich eigenartig an, sich klein zu fühlen, da sie selbst ziemlich groß war.
»Das habe ich Ihrer übertrieben dramatischen Vorstellung bereits entnehmen können«, fauchte sie, während es in ihrem Innern immer noch brodelte.
»Dabei hatte ich es gar nicht darauf angelegt, übertrieben dramatisch zu sein. Eher mysteriös, vielleicht faszinierend.« Er schien die Sache amüsant zu finden, denn er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an ein Regal, in dem Karten lagerten.
»Aber Selcouth hat bisher noch nie jemanden zu mir geschickt. Oder in meinen fünfzehn Jahren als Hexe überhaupt irgendwie Kontakt zu mir aufgenommen. Habe ich etwas falsch gemacht? Stecke ich in Schwierigkeiten?«
»In Schwierigkeiten? Sagen Sie es mir.« Er grinste, offensichtlich hatte er viel zu viel Spaß daran, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
Belle gab sich unbeeindruckt. Dann riskierte sie einen Blick durch den Türspalt, um zu sehen, ob ihr Chef im Laden herumlief.
»Falls Sie es nicht bemerkt haben sollten, ich habe zu tun«, sagte sie. Ihre Stimme klang allmählich gereizt. »Und wenn mein Chef mich hier drin mit einem Kunden findet, kann ich mich auch gleich von meinem Leben verabschieden. Ich habe keine Zeit für … was auch immer das für Angelegenheiten sind, in die Sie sich da einmischen.«
Sein Lächeln verblasste, und er verdrehte die Augen, weil sie sich nicht auf den Schlagabtausch einließ. »Also mit Ihnen macht es keinen Spaß. Und ich mische mich nirgends ein. Wieso denken Sie das?«, fragte er. »Kommen wir zum Punkt: Sie haben unseren Brief ignoriert.« Seine Stimme wurde eine Spur ruhiger, ein bisschen ernster. »Das können Sie nicht tun …«
»Ein Brief?«, unterbrach ihn Belle.
Die Augenbrauen des Mannes schossen nach oben. »Genau. Der Geburtstagsbrief! Wenn die seltene Gelegenheit eintritt, dass der Zirkel sich dazu herablässt, Sie während Ihrer Magieentfaltung zu kontaktieren, müssen Sie sich dem stellen. Sie können nicht vor magischen Problemen davonlaufen, nicht einmal, wenn …«
»Tut mir leid.« Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und streifte dabei in dem kleinen Raum seinen Mantel. »Falls es aufgrund der Tatsache, dass ich gerade fast ausflippe, noch nicht klar sein sollte: Ich habe absolut keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Von dem Brief«, wiederholte er ungeduldig. »Wirklich, Sie sollten etwas dankbarer sein. Bei Nichtreaktion auf unseren Brief gibt es zwei Optionen: Entweder hierherzukommen und mit Ihnen zu sprechen oder eine Ladung Höllenfeuer auf Sie herabregnen zu lassen, um so Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ihrer Akte ist zu entnehmen, dass Sie mit einem Nichthexenmenschen zusammenleben, daher hätte Höllenfeuer Sie vermutlich verraten. Erst ignorieren Sie mich, und jetzt das.«
»Ich habe überhaupt nichts ignoriert«, entgegnete sie verzweifelt. Langsam fand sie sein Verhalten extrem frustrierend, vor allem in Kombination mit dem Mangel an Antworten. »Wovon reden Sie?«
Seine Miene veränderte sich, als er zweifelnd eine Augenbraue hob. »Sie haben ihn nicht erhalten?«
Belle blinzelte.
»Schwarzer Umschlag? Vergoldete Ränder? Sensibler Aufdringlichkeitszauber? Die Fähigkeit, sich in den Vordergrund zu schieben, wenn er ignoriert wird …?«, ratterte er die Eigenschaften herunter.
»Da klingelt nichts bei mir. Vielleicht funktioniert Ihr Zauber einfach nicht.«
»Was?«
»Ich sage nur«, wiederholte sie schulterzuckend, »dass sich bei mir gar nichts in den Vordergrund geschoben hat.«
Er blinzelte ungläubig. »Es ist ein traditioneller Vorace-Attentio-Zauber, speziell für Zirkel-Korrespondenz. Wird seit dem Mittelalter benutzt. Natürlich funktioniert er.«
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muss, aber Ihr Zauber muss kaputt sein. Ich habe nichts gesehen.«
Der Mann rieb sich das kantige Kinn. Er war jetzt genauso verärgert wie sie. »Oh, richtig, es kann nur der Fehler eines uralten und nahezu narrensicheren Zaubers sein, der vom geschätzten Hexenzirkel des Vereinigten Königreiches ausgesprochen wurde. Es steht einfach vollkommen außer Frage, dass eine Hexe, die so ordentlich und organisiert ist wie Sie, eine wichtige magische Korrespondenz verlegt haben könnte. Sieht aus, als hätten Sie hier alles bestens unter Kontrolle. Sie haben den Laden wirklich fest im Griff.« Er deutete skeptisch auf die Bücher, die sich auf sämtlichen Regalen in der kleinen, chaotischen Kammer stapelten. Zusammen mit überall verstreut herumliegenden Quittungen, Literaturmagazinen, Handelsnewslettern, Lesezeichen und Einkaufstüten.
»Wissen Sie«, erwiderte Belle und stützte die Hände in die Hüften, »Sie sind ziemlich unhöflich für jemanden, der angeblich den ›geschätzten Hexenzirkel des Vereinigten Königreiches‹ bei einem seiner seltenen, geschätzten Besuche repräsentiert. Und zwar bei einem uneingeladenen Besuch, wie ich hinzufügen möchte.«
»Selcouth wartet nicht auf eine Einladung.«
»Ich gebe mir wirklich alle Mühe, hier keinen Nervenzusammenbruch zu haben. Sie sollten ein bisschen verständnisvoller sein.«
Sie starrten einander an. Keiner war bereit, zuerst nachzugeben.
»Tut mir leid«, lenkte der Mann schließlich mit zusammengebissenen Zähnen ein.
Belle entspannte sich daraufhin ebenfalls ein bisschen. »Also dieser Brief – wenn es wirklich einen gibt. Was steht da drin?«
»So funktioniert das nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie müssen ihn selbst lesen. Dann können Sie nicht so tun, als wüssten Sie von nichts. Im Laufe der Jahre haben zu viele Hexen und Hexer so getan, als hätten sie von der Anhörung nichts gewusst. Ich bin mir sicher, dass Sie das verstehen«, meinte er förmlich, während er den silbernen Ring an seinem Daumen drehte und sie dabei weiter unablässig anblickte.
»Was für eine Anhörung?«
Seine Augen weiteten sich einen kurzen Moment, aber dann setzte er wieder seine unbekümmerte Miene auf. »Tun Sie so, als hätte ich das nicht gesagt.«
Belle holte tief Luft, um wenigstens ein kleines bisschen die Fassung zu bewahren, verschränkte die Arme und ahmte seine Pose nach. »Lassen Sie mich sehen, ob ich alles richtig verstanden habe. Sie platzen einfach so in mein Leben, tauchen an meiner Arbeitsstelle auf, wo ich mich unter Menschen befinde, die mit Hexerei nichts zu tun haben. Sie riskieren es, mich und meine gesamte Existenz auffliegen zu lassen, und sagen mir, dass ich unbedingt einen sehr wichtigen Brief lesen muss. Ich sage Ihnen, dass ich keinen solchen Brief erhalten habe, aber anstatt mir einen neuen Brief zu geben oder mir einfach mitzuteilen, was darin gestanden hat, fordern Sie mich nur zum wiederholten Mal dazu auf, den Brief zu lesen.«
Hätte Belle es nicht besser gewusst, sie hätte schwören können, dass sich eine leichte Röte über seine Wangenknochen zog. Seine distanzierte Miene fiel wieder ein winziges bisschen in sich zusammen, und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine frustrierte Furche.
»So, wie Sie es ausdrücken, klingt das alles viel absurder, als es sich auf dem Weg von Hecate House hierher angefühlt hat.«
»Oh, ganz und gar nicht, es war mir ein Vergnügen. Ihr Besuch verdient Anerkennung. Mysterium, Faszination, Mangel an erwähnten Höllenqualen und so weiter. Doch so bezaubernd dieses Treffen auch gewesen sein mag, können Sie jetzt bitte wieder gehen? Bevor noch jemand merkt, dass ich mich aus irgendeinem vollkommen unsinnigen Grund mit einem Kunden im Lager streite?«
Seine Mundwinkel zuckten minimal, als würde er versuchen, ein richtiges Lächeln zu unterdrücken. Belle bemerkte die feinen Fältchen an seinen dunklen Augen.
»Aber ich habe so viel Spaß. Und ich habe hart daran gearbeitet, die richtige Stimmung zu erzeugen.«
In diesem Moment dämmerte es ihr. »Augenblick … dieser Sturm war ebenfalls Ihr Werk?«
Er schob die Hände in die Taschen, als wäre er leicht verlegen. »Könnte sein. Gefällt er Ihnen nicht?«
»Ich habe meinen Schirm vergessen und muss nach meiner Schicht zu Fuß nach Hause gehen, deshalb also nein.« Sie griff nach der Türklinke. Sie wollte diesen engen Raum nur noch so schnell wie möglich verlassen und dem irritierend arroganten Kerl entkommen. »Wenn das dann alles wäre?«
Er seufzte. »Nicht dass ich mich bei diesem Besuch bisher nicht unglaublich willkommen gefühlt hätte, aber wenn ich darüber nachdenke …« Er schnipste mit der rechten Hand. Den Bruchteil einer Sekunde später hielt er einen schwarzen, mit goldenen Funken übersäten Umschlag zwischen den Fingern. »Damit ich nicht noch einmal hierherkommen muss.« Er reichte ihr den Brief. »Lesen Sie ihn. Ignorieren Sie ihn dieses Mal nicht.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich gar nichts ignoriert habe.« Belle zupfte ihm den Brief aus der Hand. »Danke«, fügte sie kurz angebunden hinzu. Sie drehte das Schreiben in der Hand herum. »Gibt es sonst noch was?«
»Ja, allerdings. Können Sie mir eine Strandlektüre empfehlen? Etwas Leichtes, das Spaß macht und eine gewisse Würze hat?«, fragte er. Sein breites Grinsen verriet, wie sehr er es genoss, ihr die Zeit zu stehlen.
Belle funkelte ihn wütend an. Zögernd schob sie den Brief in die Tasche ihrer Jeansschürze. Sie würde ihn später lesen, wenn keine Schlange von fünf Personen sofort ihre Aufmerksamkeit verlangte. Wie schlimm konnte der Brief schon sein? Wenn es dringend wäre, würden sie anrufen.
Riefen Hexenzirkel an?
Sie deutete mit einem Finger auf den Mann. »Gehen Sie bloß nicht am Büro vorbei. Wenn Christopher sieht, dass ein Kunde aus dem Lager kommt, werde ich mir das bis in alle Ewigkeit anhören müssen. Folgen Sie mir. Aber nicht jetzt, sondern in einer Minute.«
Ihre Anweisungen schienen ihn ziemlich zu amüsieren, und er salutierte.
Ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, riss Belle die Tür der Kammer auf, strich ihre Schürze glatt und eilte zurück an die Kasse. Der Mann wartete tatsächlich einen Moment, bevor er den Raum ebenfalls verließ, dabei aber – wie Belle aus den Augenwinkeln bemerkte – den Kopf einzog, um ihn sich nicht am Türrahmen zu stoßen.
Als sich kurz darauf die Schlange vor der Kasse wieder aufgelöst hatte, ging Belle mit dem Arm voller Bücher in den hinteren Bereich des Ladens. Schockiert blieb sie stehen. Da stand er und lungerte in den Schatten zwischen den Regalen mit Klassikern und Gegenwartsliteratur herum. Er sah verstohlen zu ihr, aber als ihre Blicke sich trafen, konzentrierte er sich rasch wieder auf das Buch in seinen Händen. Als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden.
Belle ließ die Bücher sinken. »Sie sind immer noch da?«
»Darf ein Mann nicht einmal mehr ein bisschen herumstöbern? Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, und Sie wollen mir nicht einmal zugestehen, dass ich die Angebote nutze?«
»Um Himmels willen, stöbern Sie so viel herum, wie Sie wollen. Tatsächlich …« Sie bedeutete ihm, kurz zu warten, während sie in einer Ecke verschwand. Als sie zurückkehrte, musterte er sie neugierig. »Eine persönliche Empfehlung. Dieses Buch sollten Sie unbedingt als Nächstes lesen«, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln und stieß ihm ihren Lesevorschlag gegen die Brust. Dabei bemerkte sie, dass er einen Mundwinkel hochgezogenen hatte. Offenbar war er zufrieden mit sich, weil er gewonnen hatte.
125 magische Tricks für junge Zauberer. Inklusive Bonusmaterial, mit dem du deine Freunde verblüffen kannst!
»Es könnte sogar drinstehen, wie Sie Ihren kleinen Briefzauber verbessern können.«
Ihre Blicke trafen sich. In seinem lag eine seltsame Mischung aus Wut und schwacher Erheiterung, in ihrem vollkommene Empörung. Belle sah diesmal nicht weg. Sie war fest entschlossen, nicht nachzugeben.
»Bitte kommen Sie nicht wieder hierher«, sagte sie. »Oder warnen Sie mich das nächstes Mal vor, damit ich rechtzeitig das Land verlassen kann.«
»Entschuldigen Sie, arbeiten Sie hier?«
Belle setzte sofort wieder eine aufrichtig freundliche Miene auf und wandte sich an die ältere Dame mit Brille, die sich mit einem Stapel farbenfroher Liebesromane näherte.
»Natürlich. Haben Sie alles? Dann wollen wir die Bücher mal in einen Korb packen.«
Während Belle die Frau zur Kasse führte und dabei die Namen der Autorinnen herunterrasselte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Lediglich eine Kette aus schwach goldenen Funken blieb zwischen den Regalen zurück, zusammen mit dem knisternden Geruch nach offenem Feuer, der ihre Sinne erneut entfachte.
In dem Chaos, das seinem unerwarteten Auftauchen gefolgt war, hatte Belle ganz vergessen, ihn nach seinem Namen zu fragen. Wahrscheinlich war er genauso lächerlich wie der Mann selbst. Gandalf? Zum Glück würde er Lunar Books wohl nicht regelmäßig aufsuchen.
In der irdischen Welt kann Magie schwer zu erkennen sein, aber sie wartet immer irgendwo geduldig: leise schniefend, zusammengerollt wie ein schlafendes Tier und bereit, von jenen gefunden zu werden, die hartnäckig genug nach ihr suchen. Flat 31 war so ein verzauberter Ort. Die kleine, dunkle Küche, in der die Schranktüren schief hingen und daher nicht richtig schlossen, während das Kochfeld hinten rechts einen eigenen Willen zu haben schien und schon seit Monaten hätte repariert werden müssen, war trotzdem von jeder Menge Magie erfüllt. Sie durchdrang jeden Inch, angefangen von den gebrauchten Teebeuteln auf der Abtropffläche bis hin zur Rührschüssel in der Ecke. Selbst die Butterdose war mit Magie aufgeladen, weil das hier das Zuhause einer Hexe war. Wenn auch einer bescheidenen.
»… sprechen wir doch darüber, dass in eurer Beziehung dieser magische Funke verloren gegangen ist, ja? Dieser wunderbare, zauberhafte Funke zwischen euch beiden, den man nur mit echter Magie beschreiben kann. Für viele Paare ist …«
Das Radio schaltete einen Sender weiter.
»Tor! Wieder sein magischer linker Fuß – in dem Jungen steckt echte Magie …«
»Das muss ein Witz sein.«
»Guten Morgen, Jane. Ja, die Londoner werden bestimmt enttäuscht sein, wenn sie hören, dass das für die Jahreszeit unverhältnismäßig warme Wetter offiziell wieder vorbei ist. Dieser trockene, sonnige und ganz und gar schöne Spätsommer …«
»Oh, was …«
Der Knopf drückte sich ganz von allein nach unten, was aber nur jene bemerkten, die zufällig hinsahen, bis er schließlich bei einem Sender hängen blieb. Musik dudelte leise zu dem blubbernden Platschen des Schwamms, der sich an den Tellern des vergangenen Abends abarbeitete. Anschließend ließen sie sich von selbst auf dem Abtropfständer nieder.
Auf der Arbeitsplatte teilte sich ein Haufen Post auf mehrere Stapel auf. Auf einem waren nur braune Umschläge mit Rechnungen, auf einem anderen Hochglanzflyer von Pizzerien und Fensterputz-Angeboten. Doch der wichtigste Stapel befand sich auf der anderen Seite des Zimmers – ein Regenbogen aus bunten Briefumschlägen, die sich schon seit einigen Tagen auf dem Couchtisch ansammelten. Als gerade ein an Belle Blackthorn adressierter orangefarbener Umschlag ganz obenauf landete – bereit für ihren Geburtstag am nächsten Tag –, begann der Wasserkessel sanft zu blubbern.
»Ich schwöre, dass ich das gerade erst bezahlt habe«, murmelte Belle, nachdem sie eine nicht gerade verlockende Wasserrechnung aufgerissen hatte, und warf sie sofort auf die Mikrowelle, um sich später um sie zu kümmern. Nur die allerschärfsten Augen hätten die knappe Bewegung mit dem Finger bemerkt, mit dem sie einen Teebeutel von seinem Behälter zum Becher schweben ließ.
»Wenn man bedenkt, dass ein Mitglied unseres Trios zum Waschen die eigene Spucke und Zunge benutzt, verbrauchen wir ziemlich viel Wasser.« Belle sprach mit der Katze, die immer wieder schnurrend um ihre Knöchel strich. »Schon gut, Jinx, schon gut. Du kleiner Vielfraß.«
Ein vorbeiflirrenden Funke Magie, der wie die durchscheinenden Flügel einer Motte schwerelos in der Luft tanzte, lenkte die Katze von ihrer Suche nach Nahrung ab. Sie schlug hektisch mit einer Pfote nach ihm.
»Ich sollte wirklich mal wieder staubsaugen. Das Zeug kommt überall hin.«
Abgesehen von einer Handvoll verlässlicher Haushaltszauber, die sie gerne einsetzte, war Belle gut darin, ihre einzigartigen Fähigkeiten zum größten Teil für sich zu behalten. Dabei schämte sie sich nicht einmal dafür, eine Hexe zu sein. Sie hatte ihre Kräfte nun fast auf den Tag genau seit fünfzehn Jahren, und entsprechend war ihr Zuhause voller magischer Spuren, die die Wahrheit verrieten. Sie waren besonders, aber gleichzeitig unauffällig genug, um keine unwillkommenen Fragen zu provozieren, die wiederum komplizierte Antworten erforderten. Überall in der Wohnung verteilt hatte sie Kristalle zum Aufladen an die sonnigsten Plätzchen gestellt (wobei es nicht viele solcher Plätzchen gab, weil eine nach Süden zeigende Terrasse die doppelte Miete bedeutet hätte). In ihrem Bücherregal standen ein paar Almanache und Runenführer von ihrer Mutter unauffällig zwischen ihren Lieblingskinder- und fleckigen Kochbüchern. Da waren Flaschen mit Mondwasser voller positiver Energien. Gefärbte Kerzen für alle möglichen Situationen. Magazine für Traum- und Schattenarbeit. Alles kleine Hinweise auf eine unscheinbare Hexe, wie ein hier und da eingewebtes Flüstern, aber das Geheimnis bewahrte sich beinahe von selbst. Niemand bemerkte die Magie, die in jedem Winkel ihres Lebens präsent war wie Tautropfen in einem Spinnennetz, denn niemand suchte danach.
Magie war für Belle eine tröstliche Konstante, die ihr immer ein heimeliges Gefühl gab, wenn sie einen Zauber sprach. Aber da sie während der Woche lange arbeitete und zudem in einer kleinen Maisonettewohnung über einem Café lebte, in die von morgens bis abends der schwache Duft von Espresso und ständig der Lärm des Londoner Verkehrs drang, hatte sie gar nicht so viele Möglichkeiten, ihre Magie zu weben.
Belles Kräfte ruhten nicht vollständig, sie waren nur ein bisschen eingerostet. Eine kleine und irgendwie chaotischen Buchhandlung zu führen, erforderte zudem nicht gerade kreative Zauber oder mystische Menagerien, die bei Bedarf beschworen werden konnten. Sicher, Belle erstellte die wöchentlichen Horoskope für den Lunar-Newsletter, nachdem das Team darauf aufmerksam geworden war, dass sie ein Händchen für überraschend zutreffende Vorhersagen hatte. Aber selbst das erforderte nur einen kurzen Blick in eine kleine Kristallkugel, die sie geschickt als Briefbeschwerer getarnt hatte. Sie griff auch nicht gerade in die natürliche Ordnung ein oder erzeugte zu viel göttliches Chaos, wenn sie auf wundersame Weise den kaputten Fotokopierer reparierte oder Kunden mit einem kurzen Lectio-Adaperio-Zauber den perfekt zu ihnen passenden historischen Roman heraussuchte.
Wahrscheinlich lösten sich die meisten Funken tatsächlich genau dann flimmernd von Belles Zeigefinger, wenn das Steuerjahr sich dem Ende näherte. Es war eine komplizierte und zeitraubende Magie, die Buchhaltung mit Pecunia Tributum in Ordnung zu bringen. Andererseits bewahrte es sie davor, sich durch die chaotischen Unterlagen von Lunar Books kämpfen zu müssen, die sie einfach nicht im Griff hatte, also war es die Mühe auf jeden Fall wert. Und auch billiger als zusätzliches Personal für die Buchhaltung.
Belle kraulte Jinx hinter den neugierig gespitzten Ohren und erhielt dafür ein leises Miauen.
Selbst als in Belle mit fünfzehn Jahren zum ersten Mal die Magie erwacht war, hatten sie nichts Großartiges damit anstellen können, da sie in einer verschlafenen Stadt im Norden aufgewachsen und dort auf eine reine Mädchenschule gegangen war. Ein neuer Haarschnitt hier, ein verschwundener Pickel dort, einige besonders große Geburtstagskuchen, deren Glasur die Farbe wechselte. Ein unterschätztes Highlight war es wohl gewesen, als sie mit ihrer Magie ein Tonbandgerät hatte implodieren lassen und so den Shuttle-Run-Test in Sport unmöglich gemacht hatte.
Damals war die Magie allerdings auch schwer zu kontrollieren gewesen und hatte sich schmerzhaft falsch angefühlt. Belle war von jeher ein Pol der Ruhe und Besonnenheit, und allein die Vorstellung, Aufsehen zu erregen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war ihr unangenehm. Und wenn man das Rampenlicht meiden wollte, war es keine gute Idee, mit seiner Magie aufzufallen – erst recht nicht unter Mädchen im Teenageralter, die ein derart seltsames Verhalten sofort bemerkten. Die ganze Hexensache war Belle zutiefst peinlich gewesen, vor allem weil die Magie regelmäßig einfach aus ihr herausgebrochen war, bevor sie gelernt hatte, sie zu kontrollieren und sogar zu begrüßen.
Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Magie noch richtig erblühen und erstrahlen würde, seither immer weiter gesunken. Früher hatte Belle ihre Kräfte absichtlich unterdrückt, weil sie sich dafür geschämt hatte, anders zu sein. Jetzt – einen Tag vor ihrem dreißigsten Geburtstag – verschwamm ihre Magie eher mit den Schatten, wo sie kaum noch wahrgenommen wurde, in Vergessenheit geriet und mit der Zeit verwahrloste.
Belle warf sich auf das grüne Sofa, das mit mehreren Decken und einer kleinen Festung aus Kissen dekoriert war und das sie sich mit zwei anderen Mitbewohnern teilte: einem Menschen (angeblich) und einer Schildpattkatze. Letztere sprang ihr mit einem Maunzen auf die Brust und ließ sich zufrieden auf einer Schulter nieder.
Belle war nicht zu träge oder zu langweilig oder zu wenig abenteuerlustig für Magie. So wie sie es sah, hatte sie bereits jede Menge Abenteuer und Reisen hinter sich und viel von dem getan, was ein Mädchen in den Zwanzigern nach landläufiger Meinung getan haben sollte. Aber dann hatten sich zwei Wege vor ihr aufgetan – einer führte nach vorn, einer zurück –, und Belle hatte erkannt, dass vieles einfacher wurde, wenn sie den nicht magischen Gezeiten folgte, ohne ihnen allzu viel Widerstand entgegenzusetzen. Während sie sich also bemühte, erfolgreich durchs Leben zu gehen, unterdrückte sie ihre Magie, so gut es ging: Sie erfüllte die Vorgaben, machte alle glücklich und erregte kein Aufsehen.
Und realistisch betrachtet – was machte man überhaupt mit magischen Kräften?
Während Belle auf dem Rücken lag, ihre Katze wie einen warmen, nur ganz leicht erstickenden Bart unter dem Kinn, zeigte sie mit dem linken Zeigefinger in Richtung des Wasserkessels, der daraufhin seinen Inhalt in einen kitschigen, hexenkesselförmigen Becher goss. Geistesabwesend machte sie drei Kreise im Uhrzeigersinn, und ein Teelöffel spiegelte ihre Bewegung. Ihre Wünsche mit kleinen Gesten anzureichern, war eine der alten Angewohnheiten, die Belle von ihrer Mutter übernommen hatte. Im Uhrzeigersinn rühren, um positive Wünsche zu übermitteln, und gegen den Uhrzeiger, um Negativität zu bannen.
Der Becher kam sanft aus der Küche herangeschwebt. Als er sich gerade mit aufsteigendem Dampf näherte, flog die Schlafzimmertür auf der anderen Seite des Wohnzimmers auf. Belle setzte sich abrupt auf, was die Katze mit einem Maunzen quittierte, ergriff den Becher und zuckte zusammen, als ein paar Tropfen brühend heißer Tee über den Rand schwappten.
»Gut, ich gehe. Ich gehe. Sprich nicht mit mir, ich bin eh schon zu spät dran.«
Ariadne kam in einem dicken Steppmantel aus ihrem Schlafzimmer gestürzt. Um ihren Hals hing ein riesiger Schal, der auch als Daunendecke hätte durchgehen können. Von der Matratze bis zur Wohnungstür zu gelangen, war bei ihr immer eine Sache von Minuten.
»Und ich meine es ernst. Wage es bloß nicht, das letzte Croissant zu essen. Auf dem steht mein Name, und der Gedanke daran ist der Strohhalm, an den ich mich in meinen Horrormeetings klammern werde.«
Belles Herz klopfte heftig vom Adrenalinschock. Glücklicherweise wirbelte Ari weiter vom Schlüsselhaken zum Schuhregal, ohne Belles Panikanfall überhaupt zu bemerken.
»Dieses Croissant ist im Augenblick das einzig Gute in meinem erbärmlichen, grässlichen Leben.«
»Du machst dich lächerlich«, rief Belle.
»Ich werde dich im Schlaf ermorden.«
»In Ordnung. Ich halte mich von dem Croissant fern. Hab’s kapiert.«
Aris ständiges Herumtrödeln war ein weiterer Grund, weshalb Belles Magie so lange unbemerkt geblieben war. Ariadnes hastig geflochtene Haare waren noch nass und hinterließen feuchte Flecken auf dem Mantel, während sie nach dem Kaffeebecher griff, der an der Seite auf sie wartete. Belle hatte ihn als Teil ihrer gut aufeinander abgestimmten alltäglichen Routine bereits für sie gefüllt.
»Das hoffe ich. Hab heute Nachmittag noch Meetings, aber zum Abendessen bin ich zurück. Hab dich lieb, hab dich lieb, tschühüüss …« Aris Stimme verlor sich im Hausflur, als sie die Tür geräuschvoll hinter sich zuzog.
Belle atmete hörbar aus und sank wieder auf das Kissen zurück. Eines Tages würde ihr Puls lernen, mit der Panik umzugehen, die sich immer dann einstellte, wenn sie ihre Magie abrupt verbergen musste.
Sie pustete auf den restlichen Inhalt in ihrem Becher, den sie nicht über den Teppich und ihren Schlafanzug verschüttet hatte. Dann lehnte sie den Stapel Geburtstagskarten an eine Vase.
Sie sah auf die Uhr und verzog das Gesicht. Wahrscheinlich sollte sie sich ebenfalls beeilen.
In ihrer morgendlichen Eile entging Belle ein unauffälliger mattschwarzer Briefumschlag, der von dem durch die offene Tür hereinströmenden Luftzug erfasst und vom Tisch geweht wurde. Er musste beim Abschließen der Buchhandlung am Abend zuvor aus ihrer Schürze gerutscht und in das Taschenbuch ganz unten in ihrer Handtasche geglitten sein. Als sie in ihrer Wohnung angekommen war, hatte sich der Umschlag geschickt auf der gefalteten Bettdecke niedergelassen, wo er erst einmal unbemerkt geblieben war, weil eine Katze den ganzen Abend lang ihren pelzigen Bauch direkt auf ihm geparkt hatte. An diesem Morgen hatte er wirklich sein Bestes gegeben, um Belle in ihrer Manteltasche zurück zu ihrem Arbeitsplatz zu folgen. Allerdings war er ein kleines bisschen zu langsam gewesen, aus ihrem Sichtfeld verschwunden und unter das Sofa gesegelt. Auf ihm prangte eine silberne Sternenillustration, in die drei Worte eingearbeitet waren.
Tonitru, Fulgur, Pluvia.
Donner, Blitz, Regen.
Später an diesem Tag massierte Belle sich die Stirn, um das schwächelnde Gehirn im Innern ihres Schädels zu stimulieren. Der Drei-Uhr-Nebel setzte ein, und die Pixel auf dem Bildschirm ihres Computers verschwammen vor ihren Augen, als sie im Lager Exemplare einer Hochglanz-Prominentenautobiografie katalogisierte. Sie hatte das starke Bedürfnis zu prokrastinieren. Sätze krachten ineinander und lösten sich vom Bildschirm. Koffein würde vielleicht helfen. Oder Schokolade.
Belle rollte mit dem Stuhl zurück und drehte sich so, dass sie zum Ladenbereich blickte. Sie hoffte, irgendjemanden aus der Belegschaft zu finden, der oder die sich freiwillig anbot, ihr einen Snack zu besorgen.
Ein gewaltiges Herbstgebinde schob sich in ihr Blickfeld. Ein Heer aus leuchtenden Rot-, Orange- und Goldtönen, das auf sie zukam. Dahinter konnte sie die kleine Statur und die kastanienbraunen Haare von Monica ausmachen, die sichtlich zu kämpfen hatte. Belle hielt ihre Kollegin für die coolste Person, der sie jemals begegnet war. Sie war von Kopf bis Fuß von farbenfrohen Tattoos bedeckt, und auf ihrer Kleidung und ihren Fingern fand sich ein regelrechter Regenbogen aus Farbklecksen – Spuren ihres Kunststudiums. Sie war fast so etwas wie ein Fabelwesen für die jüngeren Kunden von Lunar Books, die immer mit Stickern eingedeckt waren, wenn sie die Buchhandlug verließen. Sticker, die aus dem schier endlosen Vorrat in Monicas Schürze stammten.
»Wo soll das hin, Belle?«, fragte Monica. Sie hielt das Gebinde eine Armeslänge von sich. »Es riecht ein bisschen seltsam.«
»Wahrscheinlich muss es etwas ausgelüftet werden«, antwortete Belle unsicher. »Es soll an die Eingangstür. In der großen Kiste müsste auch ein Haken dafür sein. Aber pass auf, dass da keine Maus drin …«
»Belle Blackthorn. Wo ist meine liebste Wonder Woman?«
Monicas Gesicht verdüsterte sich, als sie durch die Lücke im Blattwerk den Mann erspähte, zu dem die dröhnende Stimme gehörte. Plötzlich schien sie das dringende Bedürfnis zu haben, sich so rasch wie möglich der Dekoration zu widmen. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern, bevor sie verschwand.
Belle warf ihr einen finsteren Blick nach, der – wie sie hoffte – wirkungsvoll die Botschaft »rücksichtslose Verräterin« übermittelte. Dann setzte sie eine professionelle Miene auf und erhob sich.
»Was kann ich für dich tun, Christopher?«
Ihr Chef machte sich nicht einmal die Mühe, zu ihr zu kommen oder wenigstens von dem Pager in seiner Hand aufzusehen, sondern rief einfach quer durch die Buchhandlung. Wie immer bemerkte er auch nicht, dass sich etliche Köpfe genervt zu ihm umgedreht hatten, weil er seine Lautstärke nicht dem friedlichen Gesumme der Buchhandlung anpasste. Seine geschäftige Anwesenheit fühlte sich hier immer irgendwie falsch und unnatürlich an. Misstönend wie ein Ruck, der einen aus dem Traum riss.
Belle hastete durch den Laden auf ihn zu, damit er leiser sprechen würde, aber in ihrer Eile stieß sie einen Stapel Magazine um. Sie entschuldigte sich mit einem leichten Lächeln bei den Kunden.
»Kannst du heute an meiner Stelle diesen Termin bei der Bank wahrzunehmen, Darlin’? Ich wurde heute Morgen im Fitnessstudio aufgehalten und hatte daher keine Zeit mehr, die Dokumente zu lesen, die Mum ausgegraben hat. Was sowieso Verschwendung meiner Zeit ist, um ehrlich zu sein. Sie war heute noch nicht da, oder? Schön wär’s, wenn wir alle Teilzeit arbeiten könnten«, sagte er und lachte schallend.
Belles Magen sackte nach unten.
»Du kannst einspringen, ja? Es ist die große Bank, und man ist dort nicht gut aufgelegt«, fuhr er laut fort.
»Na ja, nein. Ich meine, ja. Aber ich bin gerade mitten in einer Bestandsaufnahme, und heute Abend haben wir diese Signierstunde, daher gibt es noch eine ganze Menge zu …«
»Hervorragend. Danke, Süße. Man erwartet dich. Ich komme später wieder.«
Kaum hatte Christopher die Antwort erhalten, von der er gewusst hatte, dass er sie erhalten würde, wandte er sich in Richtung seines persönlichen Büros. Nachdem er bei Lunar Books angefangen hatte, war es ihm irgendwie gelungen, sich den ursprünglichen Belegschaftsraum unter den Nagel zu reißen und ausschließlich selbst zu nutzen. Während ihres Gesprächs hatte er nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Pager genommen.
Belles Augenbrauen waren inzwischen fast bis zum Haaransatz gewandert. »Du gehst weg? Hast du irgendwelche Notizen? Worum geht es überhaupt?«