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Babette Segon, die Heldin unseres ersten Bandes "Cidre, Boeuf und Tubéreuse", ist diesmal im Rheingau unterwegs, wo sie über die Weihnachtstage ihren Sohn Félix besucht, der inzwischen sein Studium abgebrochen hat und sich nun zum Koch ausbilden lässt. Von der Familie seiner Freundin Franziska Reimers wird Babette herzlich aufgenommen. Zu ihrer Erleichterung ticken die Reimers ähnlich wie die Familie Segon: Streitereien nicht aus dem Wege gehend, nach außen dennoch wie Pech und Schwefel zusammenhaltend, gastfreundlich, gutem Essen zugewandt. So fühlt sich Babette fernab ihres Liebsten Jean-Luc, der forschend in der Antarktis unterwegs ist und ihrer ebenfalls in aller Welt verstreuten Töchter, fast wie zu Hause, auch wenn sie hin und wieder wehmütig an die früheren Familienweihnachtsfeste in Marolles, ihrem normannischen Heimatdorf, zurückdenken muss. Aber da kommt die Ablenkung durch ihre Reisebekanntschaft, den feinsinnigen Herrn Gaub, gerade recht. Dieser macht Babette nicht nur mit deutschen Weihnachtsgepflogenheiten vertraut, sondern führt sie auch in die Oper. Nur allzu gern lässt sich Babette auf dessen Galanterien ein…. Für zusätzliche Aufregung sorgt die Leiche im Weinberg, über die die Tante von Franziska stolpert. Franziska und Félix geraten in Verdacht. Können Babette und die Familie Reimers den Fall klären?
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Seitenzahl: 559
Veröffentlichungsjahr: 2022
ANNE WINCKLER & BIRTE EGLOFF
***
Riesling, Handkäs, Gockelschiss
Ein kulinarischer Familienkrimi aus dem Rheingau
© 2022 Anne Winckler & Birte Egloff
Umschlagsfotos: © Birte Egloff
Druck und Distribution im Auftrag der Autorinnen
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-58335-1
Hardcover
978-3-347-58336-8
e-Book
978-3-347-58337-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autorinnen verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne deren Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorinnen, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Die handelnden Personen
Zwischenstation Appenweier
Ankunft in Ibelsbach
Wiedersehensfreude
Am Morgen nach der Ankunft
Auf dem Weihnachtsmarkt in Rüdesheim
Marianne und der Dorfklatsch
Stadtführung mit Herrn Gaub
Heiligabend
Weihnachtskaffee
Im Weinberg
Schwerer Gang
In der Gerichtsmedizin
In der Oper
KHK Schmitz übernimmt
Schweres Gelände
Eis in der Wintersonne
Verdächtigungen
Babette in der Handywelt
In der Bärenwirtschaft
Ende der Auszeit
In Wiesbaden
Félix in der Rechtsmedizin
Franziska und Gregor
Silvestervorbereitungen und eine Überraschung
Ermittlungsarbeiten
KHK von Schmitz bei Mark Kramm
Familienhilfe im Bären
Erik und Gregor
Silvester im Bären
Kloster Eberbach
Neujahrsabend bei Familie Reimers
Aufklärung
Kochen aus Leidenschaft – eine Art Vorwort
Rezepte der Familie Reimers und ihrer Freunde
Danksagungen und Anbiederungen
Glossar
Die handelnden Personen
Babette Segon: aus der Normandie stammend, nun zu Besuch im Rheingau, um ihren Sohn Félix zu sehen.
Jean-Luc Mermoud: Babettes Partner, unterwegs auf Forschungsreise in der Antarktis.
Félix Segon: Sohn von Babette, macht eine Ausbildung zum Koch im „Bären“ im Rheingau.
Franziska Reimers: Freundin von Félix, Tochter von Cathrine und Siegfried Reimers; war zuvor Au-Pair bei Babettes Tochter Brigitte in Paris; ist ebenfalls im „Bären“ als Auszubildende beschäftigt.
Cathrine und Siegfried Reimers: Winzer aus Ibelsbach; Gastgeber von Babette; Eltern von Franziska.
Marianne Reimers: Schwester von Siegfried Reimers und Erik Reimers.
Erik Reimers: Besitzer des „Bären“; Chef von Félix und Franziska; Bruder von Marianne und Siegfried.
Tristan Gaub: Zufallsbekanntschaft von Babette auf der Zugfahrt in den Rheingau; wird in die Familie Reimers aufgenommen.
Karl-Heinz Dippel (Kalli): Polizeiobermeister (POM) aus Rüdesheim; Freund der Familie Reimers.
Agathe Friedrichsen: neue Kollegin von Kalli aus dem Norden.
Jadwiga Wojciechowska: Gerichtsmedizinerin.
Wolfgang von Schmitz: Kriminalhauptkommissar (KHK) in Wiesbaden; verantwortlicher Ermittler zur Klärung des Mordfalls.
Eberhard Marbert: Winzer und Großgrundbesitzer.
Valeria Marbert: Weinkönigin; Tochter von Eberhard Marbert.
Mark Kramm: ehemaliger Liebhaber von Valeria Marbert.
Peter Brendler: Kommilitone von Valeria Marbert.
Gregor Vollmer: Beikoch im „Bären“.
Apollonia Dachner: Servicekraft im „Bären“.
Juliette Segon: Tochter von Babette; mit ihrer Freundin Pénélope zu Besuch auf La Réunion bei deren Familie.
Pierre und Jacques Gaillard: Brüder und Besitzer der „Winstub“; Cousins von Cathrine aus dem Elsass.
Brigitte Segon: älteste Tochter von Babette, lebt in Paris mit ihrem Mann Antoine Le Bain und den gemeinsamen Kindern Cécile und Marcel.
Zwischenstation Appenweier
Freitag, 18.12.2015
Die Kälte kroch Babette in die Schuhe, obwohl sie auf dem Bahnsteig auf und abging und immer wieder mit den Füßen aufstampfte. Sie sehnte sich nach ihren warmen Stiefeln, die zu Hause im Ziegenstall für das Melken an kälteren Tagen bereitstanden. In denen hatte sie noch nie gefroren. Sie schaute hinunter auf die modischen Stiefeletten mit ungewohntem Absatz, die sie gestern in Paris erworben hatte. Den Überredungskünsten ihrer Tochter Brigitte, auch noch eine neue Jacke zu kaufen, hatte sie zum Glück widerstanden. Babette zog die Kapuze der vertrauten Windjacke mit dem Teddyfell enger um den Kopf, um sich vor dem Wind auf dem zugigen Bahnsteig zu schützen. Eine halbe Stunde warteten sie nun schon auf den angekündigten Ersatzzug. Eigentlich hätte dieser unmittelbar einfahren sollen, nachdem ihr defekter Zug mit Hilfe einer Diesellok vom Gleis geschleppt worden war.
Babette sah sich ratlos um. Die anderen Reisenden standen in kleinen Grüppchen zusammen oder starrten allein mit leeren Gesichtern vor sich hin. Einige blickten in ihre Handys. Solch ein Ding hätte sie jetzt auch gern. Warum war sie nur so widerständig gewesen und hatte ihren Kindern gegenüber behauptet, ein Handy brauche sie nun wirklich nicht? Wer sie erreichen wollte, hatte das bisher spätestens abends auf dem Festnetzanschluss des Bauernhofes geschafft. Nun verspürte sie erstmals Sehnsucht nach einer mobilen Kommunikationsmöglichkeit, um Félix das Herumstehen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof zu ersparen. Ein halbes Jahr hatte Babette ihren Sohn seit seinem Weggang in den Rheingau nicht mehr gesehen. So lange waren sie noch nie voneinander getrennt gewesen und per Skype konnte man niemanden in den Arm nehmen. Félix hatte versprochen, sie in Frankfurt abzuholen, um ihr Stress beim Umsteigen zu ersparen. Immerhin war es ihre erste Reise, die sie aus Frankreich hinausführte. Nun aber war sie in diesem kleinen Ort gestrandet, wer wusste schon, wann und wie es hier weitergehen würde.
Der TGV hatte gerade den Bahnhof von Straßburg verlassen, als er merklich langsamer geworden und nach kurzem Ausrollen stehen geblieben war. Die Klimaanlage hatte sich abgeschaltet, die Beleuchtung war erloschen. Im Großraumwagen machte sich das trübe Winterlicht des späten Vormittags breit. Nach einem kurzen Moment der Ruhe sprang die Klimaanlage wieder an, das Licht flackerte auf. Babette konnte sich ein innerliches Grinsen nicht verkneifen. Wenn ihr PC nicht das tat, was er sollte, dann fuhr sie ihn auch erst mal herunter, um ihn neu zu starten. Manchmal half es, meistens jedoch nicht. Hier schien es jedenfalls nicht zu helfen, denn das Licht und die Klimaanlage fielen erneut aus. Nach einigem Knarzen im Lautsprecher meldete sich einer der Schaffner und teilte auf Deutsch und Französisch mit, dass man technische Probleme habe und hoffe, die Fahrt in wenigen Minuten fortsetzen zu können. Ein Stöhnen ging durch den Waggon, gefolgt von Geschnatter einiger Mitreisender, die offensichtlich Erfahrungen mit vergleichbaren Vorkommnissen diskutierten. Babette vertiefte sich in ihre Zeitschrift, die ihr Brigitte auf dem Bahnhof in Paris noch besorgt hatte.
Nach einer Weile setzte sich der Zug schließlich erneut in Bewegung und über den Lautsprecher kam die zweisprachige Mitteilung, dass man nun mit halber Energieleistung weiterfahren werde, in der Hoffnung, den Bahnhof in Appenweier erreichen zu können, wo ein Ersatzzug bereitgestellt werden würde. Klimaanlage und Licht blieben ausgeschaltet.
Der Reisende ihr gegenüber schaute sie über seine Zeitung hinweg an.
„Na, sehr optimistisch klingt das ja nicht. Hoffen wir mal, dass es funktioniert.“
Er sprach flüssiges Französisch mit einem harten deutschen Akzent. Offensichtlich hatte er in ihr die Französin erkannt. Die vor ihr liegende „Marie Claire“ mochte ihm auf die Sprünge geholfen haben. Babette lächelte ihm höflich zu. Der Mann sah gepflegt aus, trug allerdings einen merkwürdig karierten Anzug. Grau mit einem blauen Überkaro – auf eine solche Extravaganz verfiel nur ein deutscher Mann. Die Füße steckten in knöchelhohen Stiefeln, die schon länger nicht mehr geputzt worden waren. Den Kragen des weißen Hemdes trug er offen. Seinen mit Schaffell gefütterten Mantel hatte er ins Gepäckfach gelegt. Außer einer Laptoptasche hatte er weiter kein Gepäck dabei. Er war in Straßburg zugestiegen und hatte mit einem kurzen Nicken gegrüßt. So selbstverständlich, wie er ihr gegenüber Platz genommen hatte, schien er diesen Platz reserviert zu haben. Mit Abfahrt des Zuges war er hinter einer deutschen Zeitung verschwunden. Babette hatte weiter in ihrer Zeitschrift geblättert, dabei aber hin und wieder ein Auge auf ihr Gegenüber geworfen. Für sich hatte sie festgehalten: Wahrscheinlich ihr Alter, Ende 50, schlank, glattrasiert, unaufdringlicher Duft nach einer Mischung aus Sandelholz und Moschus. Die Sonne oder vielleicht das Leben hatten Spuren in seinem gut gebräunten Gesicht hinterlassen. Die Stirn lag in Falten, auch wenn er anscheinend entspannt Zeitung las.
Nun fragte sie: „Ist Appenweier ein großer Bahnhof?“
„Oh, Sie sprechen Deutsch, Kompliment. Nein, Appenweier ist eigentlich nur ein kleiner Bahnhof für Nahverkehrszüge. Da sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht.“
Als der Mann Babettes verständnislosen Blick sah, ergänzte er: „Da ist gar nichts los. Bis auf die Samstage im Advent, wenn alle Menschen aus der Umgebung meinen, sie müssten nach Straßburg auf den Weihnachtsmarkt. Dann steigen sie hier in die Regionalbahn ins Elsass um.“
„Ah, oui, aber heute ist kein Samstag“, stellte Babette fest, „also sagen sich Hase und Fuchs gute Nacht?“ Beide lachten.
„Mein Name ist übrigens Gaub, ich fahre bis Mannheim. Und wo wollen Sie noch hin, Madame?“
Babette zögerte kurz, dann stellte auch sie sich vor: „Ich bin Babette Segon und komme aus Marolles in der Normandie. Ich fahre zu meinem Sohn in den Rheingau, er macht dort eine Lehre als Koch. Ich werde von ihm in Frankfurt am Bahnhof erwartet.“ Diese Standard-sätze hatte sie im Unterricht mit Walter, ihrem Deutschlehrer, eingeübt und sie war stolz, diese nun flüssig über die Lippen zu bringen.
Herr Gaub antwortete ihr in Französisch: „In der Normandie habe ich vor ein paar Jahren einmal Urlaub gemacht. Da hat es mir sehr gut gefallen. Besonders wohl gefühlt habe ich mich in Honfleur. Abends konnte man so nett bei einem Pastis am Hafen sitzen.“
„In Honfleur wohnt meine Tochter Juliette. Marolles ist nicht weit davon entfernt.“
Sie tauschten sich noch ein wenig über die Normandie aus, bis sie Appenweier erreichten.
Herr Gaub hatte Babettes Koffer aus der Gepäckablage und auch aus dem Zug gehoben und auf dem Bahnsteig abgestellt. Als sein Handy klingelte, hatte er ihr entschuldigend zugelächelt und sich von ihr abgewandt. Sie sah ihn in einiger Entfernung immer noch mit dem Handy am Ohr stehen. Das Gespräch beendete er kurz darauf und kam auf sie zu. Noch im Gehen entnahm er dem vorderen Fach seiner Laptoptasche einen kleinen flachen Gegenstand. Babette war erstaunt, dass Herr Gaub auf Reisen einen Flachmann mit sich zu führen schien.
„Sie sehen so aus, als könnten Sie etwas Wärmendes gebrauchen. Das ist ein Firmenwerbegeschenk von der gestrigen Weihnachtsfeier, wunderbarer alter elsässischer Pflaumenbrand, wenn auch in deutscher Verpackung.“
Herr Gaub schraubte den Verschluss auf, in dem sich zwei ineinander gesteckte Schnapsgläser aus Edelstahl verbargen und füllte eines davon. Er hielt Babette das Glas mit einem Lächeln hin. Babette roch Pflaume und einem Hauch von Zimt. Ohne zu zögern, griff sie zu. Nachdem Herr Gaub sich ebenfalls eingeschenkt hatte, prosteten sie sich mit einem „Santé“ zu und tranken.
Babette behielt den Alkohol einen Moment im Mund, bevor sie ihn schluckte, schloss die Augen und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.
„Formidable. Der Pflaumengeschmack lässt einen fast vergessen, dass man hochprozentigen Schnaps trinkt. Ein klein wenig schmeckt man das Eichenfass heraus, aber das darf sein.“ Babette hielt ihm das leere Gläschen hin. „Wäre es unverschämt, noch einen zweiten Schluck zu erbitten?“
Herr Gaub füllte nach einem verblüfften Zögern ihr und auch sein Glas ein weiteres Mal. Diesmal schnupperte Babette ausführlich am Glas, bevor sie trank. Dann reichte sie das Glas zurück.
„Merci beaucoup, das war ein Genuss und hat nicht nur meinen Zehenspitzen richtig gutgetan, auch mein Magen hat sich gefreut.“
Herr Gaub bot an: „Sie können gern noch einen weiteren Schluck haben. Das Fläschchen ist noch fast voll.“
Babette lachte: „Nein danke, das reicht, sonst fange ich gleich an zu singen.“
Sie nahm ihm mit einem „Darf ich mal sehen?“ den silbernen Flachmann aus der Hand und betrachtete ihn genauer. „Das ist ein sehr geschmackvolles Stück. Wir haben in unserem Hofladen nur schlichte Flasques mit unserem Calvados. Aber den Touristen, die die Flacons kaufen, kommt es eher auf den Inhalt als auf das Aussehen an.“
Diese Aussage ließ Herrn Gaub ins Deutsche verfallen: „Wie, Sie sind vom Fach? Sie verkaufen auch Flachmänner?“
Angesichts Babettes Verwirrung, stellte er die Frage nochmals auf Französisch.
„Na ja, eigentlich verkaufen wir eher den Inhalt dafür. Wir produzieren auf dem Hof in einer kleinen Brennerei Calvados, den wir im Hofladen verkaufen. Als Anreiz für die Touristen füllen wir einen Teil davon auch in schlichte Flachmänner, die wir vom Großhandel beziehen. Haben Sie etwas mit der Produktion von Flachmännern zu tun?“
Die Antwort von Herrn Gaub ging im Lärm eines einfahrenden Zuges unter. Der Lautsprecher verkündete, dass man zur Weiterfahrt nach Frankfurt am Main über Baden-Baden, Karlsruhe und Mannheim einsteigen solle. Herr Gaub verstaute den inzwischen verschlossenen Flachmann in seiner Tasche und nahm Babettes großen Koffer hoch. Der Zug kam mit einer der Türen zu einem 1.Klasse-Abteil direkt vor ihnen zum Stehen. Herr Gaub öffnete die Tür und wandte sich zu Babette um:
„Sie gestatten, ich steige zuerst ein und suche uns einen schönen Platz“.
Er wuchtete Babettes Koffer die Stufen hoch und stieg leichtfüßig hinterher. Das eröffnete Babette einen Blick auf blaugrau karierte Strümpfe, die in den schlecht geputzten Stiefeletten verschwanden. Herr Gaub eroberte direkt am Eingang des Waggons zwei Plätze für sie und verstaute Babettes Koffer im Zwischenraum hinter Babettes Sitz.
„Da müssen Sie ihn dann nur in Frankfurt herausziehen und nicht von oben herunterholen.“
Nachdem sie sich an ihrem Zweiertischchen eingerichtet hatten, nahm Babette eine kleine Metalldose aus ihrer großen Handtasche und öffnete den Deckel. Sie hielt Herrn Gaub die Dose hin.
„Mein Seelentröster bei Kälte und Heimweh: karamellisierte Walnüsse von unserem Baum zu Hause. Aber Vorsicht, nicht nur süß!“
Herr Gaub angelte sich eine der klebrigen Köstlichkeiten und steckte die Nuss nach einer kurzen Inspektion in den Mund. „Oh, da ist ja offensichtlich Chili mit hinein geraten“, nuschelte er.
Babette nickte: „Création von Félix, wird auch gern zum Calvados genommen. Wie war das denn nun: Sie handeln also mit Flachmännern, oder?“
Herr Gaub lachte: „Ja, aber eigentlich nicht ich, das ist alles ein bisschen komplizierter. Es handelt sich bei dabei um eine Tochterfirma eines großen Familienbetriebs, der Zigaretten und Zubehör für Raucher vertreibt. Den hat mein Urgroßvater Anfang des letzten Jahrhunderts gegründet. Mein Großvater hat sich, nachdem er wegen seines angeblich zu lockeren Lebenswandels Krach mit seinem Vater bekommen hatte, mit dieser Flachmannproduktion abgesetzt. Aber irgendwie haben sich die beiden dann doch wieder so weit angenähert, dass der Vertrieb der Flachmänner über die ursprüngliche Firma erfolgt und mein Großvater und später mein Vater nur noch für den Entwurf und die Produktion von Flachmännern zuständig waren.“
„Und die haben Sie nun von Ihrem Vater übernommen?“
Herr Gaub seufzte: „Zum großen Bedauern meiner Eltern habe ich überhaupt kein Interesse an diesen Flachmännern gehabt. Schon als kleiner Junge habe ich davon geträumt, Häuser zu bauen. Ich habe mich gegen meine Eltern durchgesetzt, Architektur studiert und dann auch als Architekt gearbeitet. Derzeit betreue ich den Umbau eines Familienhotels in Straßburg. Als mein Vater vor einigen Jahren starb, hat meine Mutter notgedrungen die Geschäftsführung übernommen, was sie auch eine Weile ganz gut gemeistert hat, aber inzwischen ist es doch zu viel für sie geworden. Ich habe es jetzt übernommen, da es außer mir keine weiteren Familienangehörigen gibt, die dazu bereit sind. Meine Tochter hat, so wie ich damals, kein Interesse an dem Geschäft. Nun hänge ich also ungewollt doch mit drin in dem Familienunternehmen.“
Herr Gaub schwieg und schaute aus dem Fenster in die vorbeifliegende winterliche Landschaft. Babette störte ihn nicht in seinen wo auch immer sich befindenden Gedanken.
Erst als er ihr den Kopf wieder zuwandte, sagte sie: „Ja, das ist so eine Sache, wenn Eltern einen Betrieb an ihre Kinder weitergeben wollen, diese aber andere Pläne haben. Das kenne ich.“
„Sie meinen Ihren Sohn, der jetzt lieber im Rheingau Koch werden will, als auf dem Hof in der Normandie zu bleiben?“
„Wir waren eigentlich sicher, dass er nach seinem BWL-Studium die Landwirtschaft mit der Cidre- und Calvados-Produktion übernehmen würde. Seine beiden älteren Schwestern haben von vornherein klargemacht, dass sie nicht auf dem Hof bleiben werden. Juliette wollte von klein auf Meeresbiologin werden. Und Brigitte war die geborene Lehrerin. So wäre es an Félix gewesen, den Hof zu übernehmen. Er hat auch nie widersprochen, wenn wir Pläne in die Richtung gemacht haben. Aber seine Liebe zum Kochen und die Liebe zu Franziska aus dem Rheingau waren stärker.“
„Das war für Sie und Ihren Mann sicher auch nicht einfach zu verkraften, schließlich möchte man das, was man sich erarbeitet hat, doch auch an die Kinder weitergeben. Das habe ich inzwischen dank des immerwährenden Nörgelns meiner Mutter über mich als beruflich abtrünnigen Sohn gut verstanden.“
Babette wurde zunächst einer Antwort enthoben, da sich der Zug Karlsruhe näherte und Unruhe um sie herum entstand. Viele der Reisenden verließen offensichtlich den Zug, um hier umzusteigen und stauten sich mitsamt dem Gepäck im Gang zwischen den Abteilen.
Nachdem auch die Zugestiegenen Plätze gefunden hatten, erklärte Babette: “Mein Mann ist leider vor mehr als 25 Jahren unter bis jetzt ungeklärten Umständen verschwunden. Aber er hätte es sicher auch gern gesehen, wenn sein nachgeborener Sohn den Hof weitergeführt hätte.“
Jetzt war es Babette, die blicklos aus dem Fenster starrte. Herr Gaub hatte sich bis auf ein erschrockenes „Oh“ nicht weiter geäußert.
Babette lächelte ihm zu: „Ich weiß, das klingt dramatisch und das war es damals auch, aber es ist ein viertel Jahrhundert darüber hinweggegangen, und ich habe gelernt, dass es irgendwie immer weitergeht. Wie ist das denn nun mit diesen Flachmännern? Die gefallen mir außergewöhnlich gut. Könnten Sie sich vorstellen, mir welche zu liefern? Es kommt natürlich auch ein bisschen auf den Preis an.“
Herr Gaub holte aus der Innenseite seines Jacketts eine Visitenkarte, die er Babette überreichte.
„Ich würde vorschlagen, das besprechen wir entweder bei einem Treffen in unserem Firmensitz in Mannheim oder, je nachdem, wie lange Sie sich im Rheingau aufhalten, auch gern dort. Ich jedenfalls kann mir Calvados aus der Normandie gut in Flachmännern aus dem Hause Gaub vorstellen. Preislich werden wir uns bestimmt einigen. Das hier ist meine private Telefonnummer, Sie müssen sich also nicht erst über irgendwelche Sekretärinnen zu mir durchfragen. Das macht die Sache sicher einfacher.“
Babette steckte die Karte in ihre Handtasche. „Ich habe leider keine Visitenkarte und auch kein Handy. Ich könnte Ihnen allenfalls die Anschrift und Telefonnummer unseres Hofes in Marolles geben, aber das nutzt nicht viel, denn ich bin jetzt einige Zeit bei Félix im Rheingau.“
„Wenn Sie kein Handy haben, dann konnten Sie Ihren Sohn auch nicht von unserer Verspätung unterrichten, wollen Sie es jetzt noch von meinem Handy aus versuchen? Dann macht er sich weniger Sorgen. Die Informationen, die die Deutsche Bahn so von sich gibt, helfen meist nicht wirklich weiter.“
Babette zögerte kurz, dann entnahm sie ihrer Handtasche ein kleines Notizbuch und schlug die Seite mit Félix‘ Handynummer auf.
„Also gut, vielleicht ist es wirklich besser, ich versuche ihm Bescheid zu sagen, dass ich zumindest schon mal bis – wie hieß der letzte Halt? – gekommen bin.“
„Das war Karlsruhe, in 20 Minuten sind wir in Mannheim und dann dauert es noch etwa eine halbe Stunde, bis Sie in Frankfurt sind.“
Herr Gaub hatte sein Smartphone aus der Jackettasche genommen. “Wollen Sie mir die Nummer sagen? Dann wähle ich schon mal für Sie.“
Nach der Eingabe der von Babette genannten Ziffern reichte Herr Gaub das Telefon weiter. Babette hörte zunächst ein Freizeichen und dann auf Französisch die Ansage, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. Das war bei Félix allerdings nicht ungewöhnlich. Im Gegensatz zu den meisten aus seiner Generation, trug er das Handy oft ausgeschaltet mit sich herum.
Babette reichte das Telefon an Herrn Gaub zurück. „Er meldet sich nicht, aber das kenne ich von ihm.“
Herr Gaub schaute dennoch skeptisch. „Sind Sie sicher, dass er Sie abholt?“
„Ja, Félix ist fast immer zuverlässig, und in Frankfurt wird es doch hoffentlich eine Ansage geben, dass dies der Ersatz für den ausgefallenen Zug ist?“
„Soll ich Sie nicht vielleicht bis Frankfurt begleiten, um sicher zu gehen, dass Sie gut in den Rheingau weiterkommen?“
„Nein, das ist sehr freundlich, aber nicht nötig, im Zweifel steige ich allein um. Ich muss in einen Regionalzug nach Neuwied und in Ibelsbach aussteigen. Dort kennt jeder das Weingut der Familie Reimers, hat Félix gesagt. Ich bin zwar das erste Mal außerhalb Frankreichs unterwegs, aber ich bin erwachsen und habe drei Monate Deutsch gelernt. Das wird ja wohl reichen, um in den Rheingau zu kommen!“
Herr Gaub legte eine Hand beschwichtigend auf Babettes Unterarm. „Verzeihen Sie. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich Ihnen irgendetwas nicht zutrauen. Wer drei Kinder allein groß zieht und dazu einen Hof mit Cidre- und Calvados-Produktion führt, der schafft noch ganz andere Dinge, da bin ich mir sicher.“
Babette erzählte ihm jetzt lieber nicht, dass sie durchaus Hilfe bei diesen Unternehmungen gebraucht hatte. Einmal durch die vor neun Monaten verstorbene Schwiegermutter Hélène, die maßgeblich an der Erziehung und Betreuung der Kinder beteiligt gewesen war, zum anderen durch die Freunde Paul und Marie, die von ihr die Ziegenmilch für die Produktion des Ziegenkäses abgenommen und sie auch beim Apfelanbau und der Verwertung der Früchte unterstützt hatten. Auch der Dorfgendarm Alphonse hatte ihr immer gern zur Seite gestanden.
„Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen und dann können wir uns vielleicht in Frankfurt treffen. Ich würde mir die Stadt gerne anschauen und das könnten wir doch mit einem geschäftlichen Termin verbinden. Sie wissen sicher ein Restaurant, in dem wir uns treffen können. Oder vielleicht kann Félix uns eines empfehlen und kommt unter Umständen auch mit.“
Herr Gaub grinste: „Die Hoffnung also doch noch nicht aufgegeben, dass der Sohn sich für den mütterlichen Betrieb interessiert? Wenn Sie mögen, bringen Sie ihn gern mit. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann übernehme ich die Rolle des Touristenführers in Frankfurt für Sie. Es ist nicht weit von Mannheim, und ich habe früher einige Jahre in Frankfurt gewohnt. Mit meiner Mutter habe ich dort noch ein Opernabonnement. Es zieht mich also immer wieder dorthin. Es würde mir wirklich Spaß machen, Ihnen meine Lieblingsseiten dieser Stadt zu zeigen.“
Über den Lautsprecher wurde die baldige Ankunft in Mannheim angekündigt. Herr Gaub nahm seine Laptoptasche und den Mantel aus der Gepäckablage.
„Ich habe mich sehr über Ihre charmante Reisebegleitung gefreut. Sie sind eine bemerkenswerte Frau und ich würde unsere Gespräche gern fortsetzen. Nicht nur auf geschäftlicher Ebene.“ Er zog seinen Mantel an.
Babette war ebenfalls aufgestanden und reichte ihm die Hand. “Monsieur Gaub, es war auch mir eine Freude. Wir werden unsere Gespräche sehr gern fortsetzen. Ich melde mich.“
Herr Gaub hauchte einen Handkuss auf ihren Handrücken und verabschiedete sich mit einem deutschen „Auf Wiedersehen.“ Dann war er Richtung Ausgang verschwunden.
Der Zug hatte sich geleert. In Mannheim war kaum jemand zugestiegen und der Platz ihr gegenüber, auf dem gerade noch Herr Gaub gesessen hatte, blieb leer. Draußen dämmerte es. Babette packte die Dose mit den Nüssen in ihre Tasche zurück, dabei fiel ihr Blick noch einmal auf die Visitenkarte von Herrn Gaub. Geschwungene blaue Schrift auf weißem Grund. Der Name und die Berufsbezeichnung vom Umriss eines Hauses gerahmt. Ein paar lose Steine waren auf der ganzen Karte verteilt. Babette steckte die Karte in die kleine Seitentasche, die eigentlich fürs Handy vorgesehen war. Dort würde sie sie eher wiederfinden als am Boden der geräumigen Tasche. Endlich konnte sie die Stiefeletten ausziehen und die Füße hochlegen. Sie wehrte sich vergeblich gegen die aufkommende Müdigkeit.
Die Lautsprecherstimme riss sie aus ihrem Dämmerzustand hoch und kündigte die Ankunft in Frankfurt an. Babette quälte sich in ihre neuen Schuhe und zog die Jacke an. Sie fuhren über einen Fluss, in dem sich die Lichter der Häuser spiegelten. Das war der Main, hatte sie im Deutschunterricht bei Walter gelernt. Mit umgehängter Tasche zog sie ihren Koffer zwischen den Sitzen hervor und machte sich auf den Weg zur Tür. Vor ihr standen bereits andere Reisende, die stumm nach draußen starrten. Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich an. Einer der Schaffner stand in der geöffneten Tür und hob ihren Koffer auf den Bahnsteig. Ihr Waggon war noch außerhalb der Bahnhofshalle zum Stehen gekommen, es nieselte. Babette schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch und schaute sich um. Von Félix war keine Spur zu entdecken. Er konnte nicht wissen, in welchem Wagen sie saß, also würde er vernünftigerweise am Anfang des Gleises warten. Frankfurt war ein Sackbahnhof, auch das hatte Babette gelernt. Sie machte sich auf den Weg.
Ankunft in Ibelsbach
Freitag, 18.12.2015
Der Schaffner kam durch den Waggon auf Babette zu. Sie meinte aus seinen Äußerungen heraus zu hören, dass die nächste Station Ibelsbach sein würde. So wirklich nach deutscher Sprache klang das, was da aus dem Mund des Mannes herauspolterte, nicht. Walters Deutsch, bei dem Babette in Honfleur einige Monate Privatunterricht genommen hatte, nachdem der Plan entstanden war, Félix und die Familie Reimers an Weihnachten zu besuchen, hatte sich anders angehört.
Babette zog ihre Jacke an und hängte sich die Tasche um. Der Schaffner bemächtigte sich ihres Koffers und stellte sich mit ihr zusammen an die Tür. Nachdem der Zug ausgerollt war, drückte er den grün aufleuchtenden Knopf und betrat als erster den Bahnsteig. Er wuchtete Babettes Koffer hinaus und reichte ihr sodann die Hand. Mit einem Nicken verabschiedete er sich von Babette, schwenkte seine Taschenlampe Richtung Triebwagen und schwang sich wieder aufs Trittbrett. Mit seinem Schlüssel löste er den Schließmechanismus der Türen aus, winkte Babette aufmunternd zu und verschwand im Wageninneren.
Babette blickte sich um. Die mit ihr ausgestiegenen Fahrgäste waren inzwischen in der Dunkelheit verschwunden. Das Bahnhofsgebäude sah unbelebt aus. Die Zeiger der Bahnhofsuhr standen auf 19.15 Uhr. Auf dem Bahnhofsvorplatz war eine Bushaltestelle zu erkennen, an der eine Gruppe Jugendlicher mit Bierflaschen in der Hand herumlungerte. Davor stand ein Polizist, der mit fuchtelnden Armbewegungen auf ein Mädchen einredete. Sein Polizeiwagen parkte mit ausgeschaltetem Motor in der Haltebucht.
Babette holte den Zettel mit der Anschrift der Familie Reimers aus ihrer Jacke und setzte sich in Richtung Bushaltestelle in Bewegung. Das Geratter der Räder ihres Koffers veranlasste sowohl die Jugendlichen als auch den Polizisten, sich zu Babette umzudrehen. Der Polizist kam auf sie zu und fragte in schnellen Deutsch:
„Was machen Sie denn hier? Wo wollen Sie um diese Uhrzeit noch hin? Ein Hotel gibt es hier im Ort aber nicht, jedenfalls keins, das um die Jahreszeit auf hat. Kann ich Ihnen helfen?“
Babette hielt ihm den Zettel entgegen.
„Ach, Sie wollen zum Weingut der Reimers?“
Darauf antwortete Babette nur mit einem Nicken und einem erleichterten „Oui.“ Sie fühlte sich, so kurz vor dem Ziel der aufregenden Reise, nun doch erschöpft.
Der Polizist musterte sie: „Sind sie etwa die Mutter von Félix, dem Freund von unserer Franziska? Die Reimers erwarten Sie eigentlich erst morgen, da haben wir heute früh noch drüber geredet, als ich bei Cathrine mal wieder von deren Hauswein geholt habe.“
Babette schaute ein wenig verständnislos, sie hatte immerhin so viel herausgehört, dass der Polizist sie zu kennen meinte. Bevor sie sich ihren nächsten deutschen Satz überlegen konnte, griff der Mensch nach ihrem Koffer und nach ihrem Arm.
„Kommen Sie, ich fahre Sie schnell hin.“
Das wurde so langsam und deutlich gesprochen, dass Babette den Inhalt des Satzes mühelos verstehen konnte. Kurz war sie versucht, dieses Angebot abzulehnen. Sie konnte doch nicht einfach zu irgendeinem Mann ins Auto steigen. Dann machte sie sich aber klar, dass dies hier nicht irgendein Mann war, sondern einer in Polizeiuniform. Sie musste an Alphonse, den heimischen Dorfpolizisten in Marolles denken. Der hätte auch eine verirrte und einsame Touristin aufgesammelt und an ihren Bestimmungsort gebracht. Dies schien offensichtlich der Alphonse von Ibelsbach zu sein.
Erleichtert kam ihr deshalb ein „Merci, Monsieur“ von den Lippen. Der Mann vor ihr schlug die Hacken zusammen, salutierte und streckte ihr die Hand entgegen:
„Gestatten, mein Name ist Karl-Heinz Dippel.“
„Babette Segon, die Mutter von Félix“.
Der Polizist öffnete ihr die Tür auf der Beifahrerseite des Streifenwagens und ließ sie einsteigen. Nachdem er ihren Koffer im Kofferraum verstaut hatte, wandte er sich noch einmal zu dem einzigen Mädchen in der Gruppe Jugendlicher. Diese hatten das Gespräch zwischen Babette und Karl-Heinz Dippel gespannt verfolgt.
„Charlie, ich möchte, dass du jetzt sofort nach Haus gehst. Deine Mutter wartet schon seit zwei Stunden mit dem Abendessen auf dich. Du bist noch viel zu jung, um hier im Dunkeln an der Bushaltestelle mit …“
„Na was denn, mit wem soll sie hier nicht rumlungern, sprich es ruhig aus, wir wissen doch alle, was du von uns hältst“, ereiferte sich einer der Jungs mit langen blonden Haaren.
„Lass gut sein Kevin, mir ist es hier eh zu kalt, ich geh erst mal heim. Wir sehen uns später noch im Vereinsheim.“ Und zu Karl-Heinz Dippel gewandt. „Ich lunger hier nicht rum, ich bin grad aus der Schule gekommen und auf dem Heimweg, mit 14 Jahren brauch ich keinen Babysitter mehr.“
Als der Polizist sich neben Babette auf den Fahrersitz setzte, schaute diese ihn fragend an. Karl-Heinz Dippel drehte sich zu ihr:
„Das ist Charlotte, meine Nichte. Sie wächst ohne Vater auf und meine jüngere Schwester macht sich große Sorgen um sie, dass sie in schlechte Kreise gerät.“ Er bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen.
„Aha, kein Papa, das habe ich verstanden, aber was ist 'schlechte Kreise'?“
Karl-Heinz Dippel seufzte: „Alkohol, Drogen, falsche Männer. Ich bring Sie jetzt erst mal zu den Reimers. Hatten Sie eine gute Fahrt?“
Babette versuchte, ihm ihre Reiseerlebnisse zu schildern, merkte aber schnell, dass das Aneinanderreihen mehrerer deutscher Sätze nicht so einfach war, wenn man sie erst aus den französischen Gedanken übersetzen musste. Sie war müde und da war das mit der Konzentration so eine Sache.
Karl-Heinz Dippel lachte in ihre radebrechenden Versuche hinein. „Das klingt alles sehr anstrengend und nach dem üblichen Erleben bei Reisen mit der Deutschen Bahn.“
Er setzte den Blinker und bog nach links in eine offenstehende Hofeinfahrt ab.
Ein Bewegungsmelder warf Licht auf ein weiß angestrichenes, mit Wein bewachsenes, massives Gebäude, das den Hof an drei Seiten umrahmte. An zwei Seiten zeigten die regelmäßig im Mauerwerk eingelassenen Fenster, dass es sich wohl um das Wohngebäude handelte. Die dritte Seite, die über die zwei Stockwerke der anderen Seiten ein Stück hinausragte, schien ein Lager oder eine Scheune zu sein. Während Babette noch mit der Betrachtung des Hauses beschäftigt war, war Karl-Heinz Dippel ausgestiegen und hatte seinen Streifenwagen umrundet. Er öffnete Babette galant die Tür.
„Da wären wir. In der Küche ist Licht. Um diese Zeit sind die Reimers meistens beim Abendessen.“
In diesem Moment öffnete sich die Haustür, ein schwarzer Hund versuchte sich auf den Polizisten zu stürzen, wurde aber von einer Frau in Babettes Alter am Halsband zurückgehalten.
„Hab ich doch richtig gehört, dass es dein Auto ist, Kalli. Was machst du um die Zeit hier, hast du den Wein etwa schon wieder ausgetrunken?“
Mit dem freien Arm drückte die Frau den Polizisten an sich. Der Hund nutzte die Gelegenheit, sich ihrem Griff zu entwinden und sprang auf Babette zu. Diese packte ihn am Halsband und hinderte ihn so, an ihr hochzuspringen.
„Tu pourrais être un frère d‘ Hippolyte, mon bijou.“ Sie kniete sich vor ihm hin und kraulte ihn unter dem Kinn.
„Syrah, bei Fuß!“, tönte es von der Besitzerin des Hundes. „Das glaube ich jetzt nicht, wenn mich nicht alles täuscht, dann sind Sie die Mutter von Félix, Babette Segon! Wo hast du sie her, Kalli? Wir erwarten sie erst morgen.“
Babette hatte sich erhoben und ging auf die Hausherrin zu. „Oui je suis la mère de Félix, bonsoir, Madame Reimers.“
Die Frauen umarmten sich ein wenig unbeholfen.
Cathrine Reimers wechselte ins Französische: „Herzlich willkommen auf dem Reimershof, liebe Babette, ich bin Cathrine, die Mutter von Franziska. Wollen wir es unseren Kindern gleichtun und uns duzen?“
Mit einem Seufzer antwortete Babette: „Aber gern, woher kannst du so gut Französisch?“
„Ich stamme aus dem Elsass, genauer gesagt aus Kaysersberg. Irgendwann hat mich die Liebe hierher verschlagen. Aber seine Muttersprache verlernt man nicht, das ist genauso wie mit dem Fahrradfahren.“ Beide Frauen lachten.
„Warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass du einen Tag früher kommst, dann hätten wir dich in Frankfurt am Bahnhof abgeholt?“
Babettes Gesicht war ein großes Fragezeichen. „Wieso früher? Es war immer schon heute ausgemacht. Ich habe mit Félix doch letzte Woche noch telefoniert, er wollte mich abholen. Wo steckt er überhaupt?“
„Er ist im 'Bären', dort hat der Lions-Club Rheingau heute seine Weihnachtsfeier, da gibt es in der Küche viel zu tun. Franziska macht den Service, das dauert, bis die zwei nach Hause kommen. Jetzt komm aber schnell rein, es ist so ungemütlich hier draußen.“
Während des Gesprächs der beiden Frauen, hatte Karl-Heinz Dippel Babettes Koffer aus dem Wagen geholt und im Hausflur abgestellt.
„Oh danke, Kalli, offensichtlich warst du mal wieder zur rechten Zeit am rechten Fleck. Magst du eine Kleinigkeit mit uns essen, wir sitzen gerade am Abendbrottisch?“
„Danke, Cathrine, würde ich gern, aber ich bin im Dienst. Muss gleich mal wieder auf der Polizeistation in Rüdesheim vorbeischauen. Ich war eher zufällig am Bahnhof, als der Zug aus Frankfurt ankam, und da habe ich Félix‘ Mutter aufgelesen. Irgendwie ja wieder typisch Félix, dass er die Ankunft seiner Mutter verpasst.“ Der tadelnde Unterton in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Lass gut sein, Kalli. Es hat sich doch alles bestens gefügt. Danke dir für deine Unterstützung.“
Cathrine hatte Babette untergehakt und zog sie nun mit in den Hausflur. Diese winkte dem Polizisten mit einem „Merci Monsieur, à bientôt“ zu.
Cathrine schloss die Tür. Sie standen in einem geräumigen Hausflur, in dem sich Syrah inzwischen auf seinem Hundekissen unter der Garderobe niedergelassen hatte. Cathrine nahm einen Bügel von der Wand und forderte Babette auf:
„Gib mir mal deinen Mantel. Den Koffer lassen wir hier stehen, jetzt komm erst mal mit in die gute Stube. Du hast nach der langen Reise sicher Durst und Hunger.“ Sie öffnete eine Tür neben der Haustür. „Vielleicht möchtest du dich aber auch eben noch frisch machen. Hier ist die Toilette. Ich gehe schon mal in die Küche.“ Sie zeigte auf eine angelehnte offene Tür am Ende des Flurs. „Komm doch einfach nach, wenn du fertig bist.“
Babette betrat die kleine Toilette und nahm einen leichten Lavendelduft war. Sie schnupperte an der Seife und genoss es, sich das fließende Wasser über die Hände laufen zu lassen. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Die lange Reise hatte Spuren hinterlassen. Müde Augen blickten ihr entgegen. Eigentlich hätte sie sich gern gleich in ihr Zimmer zurückgezogen und noch ein wenig über den Tag nachgedacht. Der Abschied in Paris von Brigitte, die Begegnung mit Herrn Gaub in Appenweier, der Dorfpolizist Kalli, der sie so sehr an Alphonse, den Gendarmen in Marolles erinnerte. Aber jetzt galt es, noch ein wenig Konversation mit Cathrine und ihrem Mann, dem Vater von Franziska, zu machen. Und gegen gutes Essen hatte sie eigentlich auch nichts einzuwenden. Allerdings roch es hier nicht nach Essen, wie es auf dem Hof in Marolles um diese Zeit der Fall gewesen wäre. Sie straffte die Schultern und machte sich auf den bezeichneten Weg in die Küche.
Als sie eintrat, erhob sich ein Mann im karierten Hemd vom Tisch.
„Hallo Babette, ich bin Siegfried, der Vater von Franziska und der Mann von Cathrine. Herzlich willkommen bei uns auf dem Hof. Ich freue mich, dass du da bist. Ich spreche leider nicht gut Französisch, aber wir werden uns mit den Händen und den Füßen und mit Hilfe von Cathrine schon verständigen können.“
Er trat auf sie zu, packte sie bei den Schultern und hauchte drei Wangenküsse rechts und links in die Luft.
Babette lachte „Das mit den Händen und den Füßen habe ich inzwischen verstanden, damit malen wir in der Luft, wenn es nicht anders geht.“
Cathrine reichte ihnen beiden ein gut gefülltes Sektglas. „Das ist zwar kein Champagner, aber unser bester Jahrgangssekt des letzten Jahres.“ Sie prosteten sich zu.
„Babette, nimm Platz, es gibt bei uns am Abend in der Regel nur kaltes Essen. Ich hoffe, es ist dir recht. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute schon kommst, dann hätte ich wenigstens eine Suppe gekocht. So haben wir nur Brot, Wurst und Käse und ein bisschen Aufstrich, wie immer abends.“
Babette blickte auf die appetitlich angerichteten Platten mit verschiedenen Wurst- und Käsesorten. Außerdem lagen auf einem Teller aufgeschnittene Tomaten und Gewürzgurken. In einer kleinen Schüssel gab es noch eine undefinierbare Paste. Cathrine war ihrem Blick gefolgt.
„Das ist eine Forellencreme, die ich selbst mache. Das Rezept dazu stammt von deinem Sohn. Die musst du unbedingt ausprobieren.“
Babette setzte sich und nahm aus dem von Siegfried herüber gereichten Brotkorb eine Scheibe Pumpernickel.
„Das Brot kenne ich, das haben mal deutsche Touristen bei uns auf den Hof gebracht. Danach war meine Schwiegermutter Hélène süchtig, und Félix hat es ihr immer aus dem Internet bestellt. Ich mag es auch sehr gern.“
Cathrine reichte ihr die Schüssel mit der Forellencreme. „Probier die mal auf dem Pumpernickel, wie dafür gemacht. Dein Sohn hat ein Händchen für so was.“
„Ja, manchmal hat das, was er macht, tatsächlich Hand und Fuß“, fügte Siegfried auf Deutsch hinzu. Alle drei lachten.
Cathrine stellte fest: „Ich glaube, das klappt ganz gut, wenn Babette Französisch redet und Siegfried Deutsch, verstehen tut ihr jedenfalls schon eine ganze Menge.“
Babette hatte inzwischen die Forellencreme auf den Pumpernickel gestrichen und sich einen Bissen in den Mund gesteckt.
„Mmmh, très bon. Das tut jetzt richtig gut. Ich habe vor lauter Aufregung den ganzen Tag nichts essen können.“
Sie erzählte Siegfried und Cathrine Reimers von ihrer abenteuerlichen Reise mit Zugwechsel in Appenweier.
„Respekt und dann bist du in Frankfurt auch noch mal allein umgestiegen und hast es bis hieraus geschafft? Hier, probier mal das auf dem Walnussbrot.“ Siegfried reichte ihr eine weitere Schüssel.
„Ich verrat nicht, was drin ist, vielleicht schmeckst du es heraus.“
Babette nahm die Schüssel entgegen und fragte Cathrine auf Französisch. „Wie heißt das?“
Cathrine lachte. „Wir nennen es 'Schneegestöber’, übersetzen würde ich es mit „bourrasque de neige.“
Babette schüttelte ungläubig den Kopf und schnupperte. „Es riecht nach Käse und Paprika.“ Sie wählte aus dem angereichten Brotkorb eine Scheibe Walnuss-Brot und bestrich es dünn mit der Paste.
Siegfried monierte: „Streich ruhig ordentlich was drauf. Das schmeckt erst richtig gut, wenn man den Mund damit voll hat.“
Babette tat wie geheißen und war sich nach den ersten Bissen sicher: „Das ist Camembert, und Zwiebeln sind auch drin. Aber, was macht das Ganze so cremig?“
„Das ist Frischkäse“, erklärte Siegfried. „Gibt es das bei euch eigentlich auch?“
Babette zuckte mit den Schultern.
Cathrine half aus: „Du kennst es als fromageblanc. Es ist wie Bressot oder Boursin, nur eben ohne Kräuter und Knoblauch – einfach natur.“
„Und dann gibt man noch ein wenig weiche Butter dazu“, ergänzte Siegfried „und würzt am Ende ordentlich mit Kümmel, Paprika, Pfeffer und Salz.“
Babette nickte zufrieden, „Schmeckt sehr lecker, machst du es etwa selbst, Siegfried?“
Der nickte stolz. “Ein bisschen was krieg auch ich in der Küche zustande.“
„Das hat auch lang genug gedauert“, ergänzte Cathrine mit einem leisen Lächeln und legte eine Hand auf Siegfrieds Arm.
Babette probierte auch noch etwas von dem geräucherten Schinken, den ihr Siegfried als weltberühmten Mainzer Schinken angepriesen hatte. Der war bis zum Ersten Weltkrieg tatsächlich als Spezialität aus Rheinhessen nach Paris in die dortigen Markthallen exportiert worden. Babette erinnerte der Geschmack an den ihr wohlvertrauten Bayonner Schinken. Siegfried wollte sie noch ausführlicher an seinen heimatkundlichen Kenntnissen über Rheinhessen, Mainz und dem früher dort hergestellten Schinken teilhaben lassen. Cathrine bremste aber ihren Mann, der sich anschickte, noch eine zweite Flasche des hauseigenen Rieslings zu öffnen.
„Ich glaube, wir sollten für heute Abend Schluss machen. Babette hat einen aufregenden Reisetag hinter sich und ist sicher froh, ein wenig zur Ruhe kommen zu können.“
Babette nahm diese Aussicht auf ein Bett gern an und wünschte Siegfried eine gute Nacht. Sie folgte Cathrine ins Treppenhaus und strich dem Hund Syrah im Vorübergehen noch mal über den Kopf.
Wiedersehensfreude
Freitag, 18.12.2015, abends
Obwohl Babette während des Abendessens mit der Familie Reimers beinahe die Augen zugefallen waren, so müde war sie nach diesem Tag, fühlte sie sich nun, da sie im Bett lag, plötzlich wieder hellwach. Sie ließ den Abend Revue passieren.
Das Abendessen, das sie hier ‚Brotabend‘ oder so ähnlich nannten, war lecker gewesen, aber für Babette, die zum ersten Mal in Deutschland weilte und mit den hiesigen Gepflogenheiten nicht vertraut war, etwas gewöhnungsbedürftig. Das Wort ‚Brotabend‘ passte ihrer Ansicht nach aber gut, gab es doch tatsächlich kein warmes Essen. Sie lächelte in Gedanken an das, was sie Schneegestöber nannten. Sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, den guten Camembert so weiterzuverarbeiten, musste aber zugeben, dass es sehr gut geschmeckt hatte. Dazu den hauseigenen Riesling – eine Kombination, die sehr harmonierte und auch ohne die Anstrengungen des Tages für die nötige Bettschwere sorgte.
Cathrine Reimers hatte eines der Zimmer unter dem Dach des weitläufigen Hauses für Babette hergerichtet. Es lag gegenüber den Räumen, die Félix und Franziska bewohnten, wie ihr Cathrine berichtet hatte. Das Badezimmer würde sie sich mit den beiden teilen müssen, aber das war kein Problem für Babette. Das Zimmer war nicht sehr groß, aber gemütlich und liebevoll eingerichtet. Neben einem Doppel-Bett gab es einen kleinen, hübsch verzierten Bauernschrank und eine dazu passende Kommode aus hellem Holz. Die Vorhänge der kleinen Dachgaube zierten Weinreben mit Trauben – passend zur Gegend. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Tannenzweigen, die mit einigen kleinen Weihnachtskugeln und Engeln geschmückt waren und einen weihnachtlichen Duft verbreiteten. Den Boden zierte ein Kuhfell und an den Wänden hingen stimmungsvolle Bilder aus den Weinbergen. In der Ecke gab es noch einen gemütlich aussehenden Sessel und eine schicke Stehlampe. Babette hatte sich gleich wohlgefühlt und sich bei Cathrine für deren Gastfreundschaft bedankt. Diese hatte Babette sogar den Koffer nach oben getragen, war dann in einem der anderen Zimmer verschwunden und kurze Zeit später mit nach Lavendel duftenden Handtüchern zurückgekommen.
„Falls du noch etwas brauchst, sag einfach Bescheid. Fühl dich ganz wie zu Hause.“
„Merci, Cathrine, das ist sehr nett, ich glaube, für den Moment ist alles in Ordnung, ich bin sehr müde.“
„Ja, das glaube ich. Es war dann doch eine sehr lange Reise.“
Babette nickte: „In der Tat, das war es.“
„Dann wünsche ich dir eine gute und erholsame Nacht! Schlaf gut und träume etwas Schönes!“
„Bonne nuit und vielen Dank nochmals.“
Cathrine hatte die Tür geschlossen, und Babette hatte sich laut gähnend aufs Bett fallen lassen.
„Mon Dieu, was für ein Tag!“
Da sie Gefahr lief, auf der Stelle und so wie sie war, einzuschlafen, hatte sie sich nach einer Weile gezwungen wieder aufzustehen und war regelrecht aus dem Bett hochgefahren. Sie hatte zumindest ihren Koffer aufmachen und die Sachen für die Nacht suchen wollen. Und gerade so hatte sie das geschafft. Ihre Wasch-Utensilien waren nun im Badezimmer verstaut, das sie in Erstaunen versetzt hatte. Es war modern gestaltet und sah noch ziemlich neu aus. Sehr elegant in Weiß gehalten, erinnerte es Babette an eine Wellness-Landschaft. Die große, freistehende Badewanne hatte offenbar einen Whirlpool, die Dusche nicht nur einen Regenschauer, sondern außerdem Massagedüsen. Babette freute sich schon darauf, diese am Morgen ausprobieren zu können. Jetzt war sie dafür einfach zu müde. Im Raum verbreitete sich ein angenehmer, dezenter Duft, der von den Kerzen herrührte, die auf einem kleinen Sims standen. Es gab auch einige Grünpflanzen, die dem Ganzen eine Art Dschungel-Atmosphäre verliehen. ‚Das wäre noch eine Idee für unsere Ferienwohnungen‘, dachte Babette und nahm sich vor, das gleich zu notieren.
Schließlich hatte sie sich für die Nacht fertig gemacht. Nachdem sie dann noch herausgefunden hatte, wie man die Bettdecke benutzte – sie war, wie sie nach einer Weile begriff, zusammengelegt und der Trick war, dass man sie ausbreiten und darunter statt dazwischen schlüpfen musste –, lag sie nun endlich im Bett und war viel zu aufgekratzt, um einzuschlafen.
Sie dachte an Jean-Luc. Was er wohl gerade machte? Ob er auch nicht schlafen konnte und an sie dachte? Sie hoffte es sehr. Wie viel Uhr war es in der Antarktis? Sie wusste es nicht, verspürte aber keine Lust, den Zettel aus ihrer Handtasche zu kramen, auf dem sie sich die Zeitunterschiede notiert hatte. Sie wusste sowieso nicht genau, wo er gerade steckte. Wie schön wäre es, wenn Jean-Luc jetzt neben ihr, hier im Rheingau liegen würde. Auch das Badezimmer bot einige Ideen für eine gemeinsame Nutzung. Babette grinste in sich hinein und stieß dann einen Seufzer aus. Sie vermisste den Mann so sehr! Natürlich war ihr bewusst, dass Jean-Lucs Projekte wichtig waren und niemals wäre sie auf die Idee gekommen, ihn davon abzuhalten. Dass sie beide ihr je eigenes Leben hatten, bevor sie sich kennen und lieben gelernt hatten, war unbestritten. Ebenso, dass sie beide ihre Eigenständigkeit behalten und trotzdem zusammen sein wollten. Etwas davon für den jeweils anderen aufzugeben, käme weder für Babette noch für Jean-Luc in Frage, auch wenn sie natürlich beide gewisse Gewohnheiten ändern wollten und dies wohl auch bereits getan hatten. Das war zwischen ihnen schon geklärt. Trotzdem musste Babette zugeben, dass eine gewisse, kleine Enttäuschung an ihr nagte, da er so lange weg sein würde. War sie deswegen gegenüber diesem Herrn Gaub aus dem Zug so zugewandt gewesen? Seltsam, dachte Babette, der ist nun so gar nicht mein Typ. Aber nett war er schon. Und als möglicher Geschäftspartner allemal interessant.
„Psst, sei leise, sie schläft bestimmt schon.“ Vor der Tür hörte Babette plötzlich Stimmen und ein leises Kichern. Das war doch Félix! Babettes Müdigkeit war mit einem Mal wie weggeblasen. Mit Schwung warf sie die seltsame Bettdecke von sich, stürzte zur Tür und riss diese auf.
„Félix, mon fils!“
„Maman, du meine Güte, hast du mich erschreckt.“ Félix war ein Stück zurückgewichen, als die Tür so unvermittelt aufgeflogen war, trat dann aber wieder an seine Mutter heran, um sie ungestüm zu umarmen und zu küssen. Er hatte sie in den vergangenen Monaten doch sehr vermisst – auch wenn er sich das selbst nicht so direkt eingestehen wollte! Babette drückte ihren Sohn fest an sich.
„Ich freue mich so, dich zu sehen, mon trésor. Wie geht es dir? Wo kommst du so spät jetzt her? Ich habe am Bahnhof in Frankfurt auf dich gewartet, und vorher hat mir ein freundlicher Mann geholfen und mir alles erklärt. Wo warst du denn? Wieso hast du dich nicht gemeldet?“ Babettes Fragen prasselten auf den armen Félix ein, der gar nicht recht wusste, wie ihm geschah. Sie drückte ihn noch enger an sich, so als wollte sie ihn gar nicht mehr loslassen.
„Maman, mon Dieu, bitte, immer langsam.“ Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung. „Erstmal freue ich mich auch, dass du da bist. Und dann“, er zog die junge Frau, die neben ihm stand und die familiale Zusammenführung amüsiert betrachtete, näher an sich heran, „darf ich dir erstmal meine Freundin Franziska vorstellen. Du weißt doch, sie war Au-Pair bei Brigitte und Antoine in Paris und hat Cécile und Marcel gehütet. Ihren Eltern gehört das Weingut, die Reimers hast du ja schon kennengelernt.“
„Enchantée, Madame“, sagte Franziska und küsste Babette auf die Wangen. „Ich hoffe, wir haben Sie gerade nicht geweckt. Meine Mutter hat mir per Whatsapp schon mitgeteilt, dass Sie da sind.“
Franziska sprach ein klares Französisch mit einem nur leichten deutschen Akzent.
„Endlich lerne ich Sie auch mal kennen, leider hatte es während meiner Zeit in Paris bei Ihrer Tochter ja keine Gelegenheit dazu gegeben.“ Franziska sagte das so leichthin, als sei aber auch nichts seltsam an dem Umstand, dass sie ein Jahr in der Familie von Brigitte gelebt hatte und niemals während dieser Zeit mit Babette zusammengetroffen war.
„Ja, …äh, ich meine nein, ähm, … ach, also, äh, nein, ihr habt mich nicht geweckt, obwohl ich hundemüde bin. Ich konnte aber nicht einschlafen. Der Tag war so abenteuerlich. Und ja, ich freue mich auch, Sie kennen zu lernen. Warum das nicht bereits früher passiert ist, … keine Ahnung.“ Babette zuckte mit den Schultern.
„Ich sage nur: Brigitte“, feixte Félix, „du kennst sie doch und ihre etwas antiquierte Vorstellung davon, dass das Personal die Familienangelegenheiten nichts angehen sollte.“ Félix äffte seine Schwester nach, indem er die letzten Worte betont zickig aussprach. „Hat aber nichts genützt, Franziska und ich haben uns trotzdem gefunden.“ Er warf Franziska eine Kusshand zu. „Auf ihren Gesichtsausdruck, wenn sie das spitzkriegt, bin ich schon jetzt gespannt.“
„Félix, bitte, sei nicht so ätzend“, Franziska griff nach seinem Arm, „so hat Brigitte das bestimmt nicht gemeint. Nein, ich denke, es hat sich einfach keine Gelegenheit ergeben.“
Auch Babette runzelte die Stirn und sah Félix tadelnd an, der mit den Augen rollte. Es stimmte: es hatte keine Gelegenheit dazu gegeben, was vielleicht auch daran lag, dass Babette immer so viel zu tun hatte und nur selten den Weg nach Paris fand. Oder war es eher auf ihren Schwiegersohn Antoine Le Bain zurückzuführen, einen erfolgreichen Anwalt, der sich zwar ihr gegenüber stets korrekt verhielt, mit dem sie aber nie so recht warm geworden war? Lag es an ihm, dass sie so selten zu Besuch bei ihrer Tochter war? Bevor Babette ins Grübeln geriet, wandte sie sich Franziska zu, um fast schon entschuldigend zu sagen:
„Bitte, hören Sie nicht auf Félix. Die beiden waren schon immer ein bisschen wie Hund und Katze. Immer am Streiten. Aber das hat vielleicht mit dem Altersunterschied zu tun.“ Und sicher auch ein bisschen mit der etwas komplizierten Beziehung zu meiner Tochter – fügte sie in Gedanken hinzu. „Wie dem auch sei, immerhin lernen wir uns jetzt hier kennen. Ich freue mich sehr und ich sage schon einmal vielen Dank für die nette Aufnahme in Ihrer Familie.“
Franziska lächelte und nickte kurz. „Ich bin sicher, es wird Ihnen bei uns gefallen, wir Reimers sind in der ganzen Gegend berühmt für unsere Gastfreundschaft und der Rheingau ist einfach wundervoll. Falls irgendwas ist oder Sie irgendetwas brauchen, scheuen Sie sich nicht, es zu sagen. Aber jetzt“, sie gähnte, „muss ich mich leider dringend Richtung Bett verabschieden, ich bin fix und fertig. Also, Gute Nacht!“ Sie nickte Babette mit einem strahlenden Lächeln zu, küsste Félix schnell auf den Mund und verschwand in ihrem Zimmer.
„Sie ist ein nettes Mädchen, Félix.“
„Nicht wahr? Ihr könntet euch duzen, das macht man hier so.“
„Ah bon? So schnell?“
Félix nickte eifrig. „Ja, die Deutschen sind da echt locker.“
„Jedenfalls freue ich mich, sie noch näher kennen zu lernen. Brigitte hat sie ja wirklich ein bisschen vor uns versteckt.“
Bevor Félix weitere Kommentare zu seiner Schwester und zu deren seltsamen Gebaren abgeben konnte, wechselte Babette schnell das Thema:
„Aber jetzt sag: Geht es dir gut? Du siehst müde aus.“ Sie betrachtete ihn besorgt und strich ihm zärtlich über die Wange.
„Aber Maman.“ Félix entzog sich vorsichtig ihrer Hand. „Es ist alles in Ordnung, mir geht es gut, ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bin jetzt richtig k.o. Du musst dir keine Gedanken machen. Mir geht es wirklich gut. Ich hatte dir doch geschrieben, dass ich in der Bärenwirtschaft hier im Nachbarort eine Lehre als Koch mache. Das Restaurant gehört zu den besten der Gegend, und ich lerne jeden Tag so unglaublich viel Neues! Es ist eine Offenbarung!“ Félix‘ Augen begannen zu leuchten. „Du glaubst nicht, was wir für abgefahren leckere Sachen machen. Die Leute lieben es! Und die Zutaten hier aus der Region – einfach genial. Ich mache jetzt auch meinen Jagdschein, so dass ich demnächst selbst Wildschweine und Rehe schießen kann.“
Babette staunte: Das hätte sie ihrem Jüngsten nun nicht unbedingt zugetraut. Okay, körperliche Arbeit war ihm nicht fremd, und auf dem heimatlichen Hof in der Normandie hatte er schon immer mit angepackt, auch bei unangenehmen Dingen. Aber Tiere töten? Das war neu.
„Die Arbeit ist superanstrengend, aber genauso, wie ich es mir immer gewünscht habe. Wirklich, Maman, ich bin so froh, dass ich den Schritt gewagt habe. Ich hätte es nicht besser treffen können. Und weißt du was? Das Tollste ist, dass Franziska auch in der Bärenwirtschaft arbeitet, sodass wir uns auch tagsüber sehen können. Sie macht die Ausbildung zur Restaurant- und Hotelfachfrau, später will sie noch Sommelière werden. Sie kennt sich super gut mit Weinen aus.“ Félix machte eine Pause und meinte dann leise: „Ich bin glücklich, Maman.“
„Das ist schön, mein Schatz“. Babette freute sich, dass es Félix offenbar gut ging. Seine Entscheidung, das BWL-Studium abzubrechen, schien dann so falsch doch nicht gewesen zu sein, auch wenn Babette es nach wie vor lieber gesehen hätte, er hätte das Ganze ordentlich beendet. Ein Abschluss ist immer besser als kein Abschluss – das war ihre Devise. Wer weiß, was alles noch kommt. Und dann hat man wenigstens eine gute Basis. Sie machte sich immer noch Sorgen – aber vielleicht gehörte das einfach dazu, wenn man Kinder hat. Egal wie alt, wie selbstständig, erfolgreich oder zufrieden ihre drei waren – Babette würde nie aufhören, sich Gedanken um sie zu machen.
Sie lächelte ihren Jüngsten an und strich ihm zärtlich über den Kopf. „Mon chouchou. Das ist wirklich toll. Du musst mir alles ganz genau erzählen.“
„Wie lange kannst du bleiben?“
„Am dritten Januar geht es zurück, in aller Frühe. Die Fahrt ist wirklich lange und das viele Umsteigen, olàlà. Ich kann dir sagen: auf der Hinfahrt hatte ich zum Glück…“
„Und der Hof?“, unterbrach Félix erneut ihren Redefluss.
„Och, der ist bei Paul und Marie in den besten Händen. Sie kümmern sich um die Ziegen und schauen, ob sonst alles in Ordnung ist. Der Laden ist geschlossen, und im Winter sind die Ferienwohnungen ja eh nicht belegt.“ Eine Weile sagten sie nichts.
„Und wie geht es mit dem Hof, seit…seit grand-mère nicht mehr da ist?“, fragte er leise. „Wie geht es dir?“
Babette zögerte. Ja, wie ging es ihr damit? Sie vermisste Hélène, ihre Schwiegermutter, die ihr im Laufe der Jahre eine wertvolle Stütze und Freundin geworden war. Die anfänglichen Rangeleien und Eifersüchteleien nach der Heirat mit Joseph hatten Babette ganz schön in Rage gebracht – sie kicherte innerlich, weil sie sich beide damals in nichts nachstanden, was kleine Spitzen und Gemeinheiten anging…der arme Joseph. Er fand das bestimmt ganz schön anstrengend. Aber schließlich hatte man sich arrangiert. Und nach seinem Verschwinden trösteten sich die beiden Frauen gegenseitig. Schließlich musste das Leben auf dem Hof mit der vielen Arbeit und den Kindern ja irgendwie weitergehen. Ja, wie ging es ihr?
„Lieb, dass du fragst, Félix.“ Babette strich ihm nochmal über den Kopf. „Ich komme zurecht. Hélène fehlt natürlich an allen Ecken und Enden, obwohl sie sich in ihren letzten Monaten ja schon zurückgezogen hatte und gar nicht mehr viel mit dem Alltagsgeschäft zu tun haben wollte.“ Sie sah Félix an. „Wer sich als wirklich wahre Freunde erwiesen haben, sind Paul und Marie. Sie sind immer da und mir wirklich eine große Hilfe.“
„Das ist schön, Maman, ich vermisse Mamie auch sehr.“
Eine Weile schwiegen beide, dann seufzte Babette, „Mon trésor, lass uns morgen weiterreden, ich muss jetzt wirklich ins Bett.“
„Klar, Maman, ich bin auch müde.“ Félix unterdrückte ein Gähnen. „Schlaf gut und träume etwas Schönes.“
Er umarmte Babette und drückte sie fest, bevor er in seinem Zimmer verschwand. Babette ihrerseits trat in ihr Zimmer, schlüpfte unter die Decke – den Dreh hatte sie nun heraus –, legte sich auf die linke Seite und schlief, noch bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatte, über Dies und Das nachzugrübeln, binnen Sekunden tief und fest ein.
Am Morgen nach der Ankunft
Samstag, 19.12.2015
Noch wehrte sich Babette gegen das endgültige Wachwerden und drehte sich mit geschlossenen Augen auf die andere Seite. Vor der Tür meinte sie leise Stimmen zu hören. Sie schloss ihre Bettdecke in die Arme. Diese deutsche Sitte, statt einer Decke in einem Laken dieses knuffige Teil als Zudecke zu benutzen, gefiel ihr. Man konnte damit tatsächlich ein wenig kuscheln und sich den Zipfel auch noch wie ein Kopfkissen unter die Wange schieben. Babette atmete den Duft von Jean-Lucs Rasierwasser ein. Der kleine Stoff-Pinguin, den er ihr bei seiner Abreise, ordentlich eingesprüht mit seinem Aftershave, als stummen Tröster überreicht hatte, teilte das Bett mit ihr. Babette seufzte. Wie viel schöner wäre die Reise, wenn der lebendige Jean-Luc jetzt neben ihr liegen würde und nicht dieser untaugliche Stellvertreter. Nun blinzelte sie doch einmal unter halbgeschlossenen Lidern hervor. Es war dämmrig im Zimmer, nur der Fensterrahmen zeichnete sich als heller Streifen ab.
Im Flur klappte eine Tür, leichte Schritte auf der Treppe verklangen nach unten. Das war wohl eher nicht Félix, denn dieser hatte es noch nie geschafft, ohne Gepolter eine Treppe herunterzukommen. Babette tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ein Blick auf ihren kleinen Reisewecker ließ sie staunen. Es war acht Uhr. Da hatte sie aber entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit lange geschlafen. Mit Schwung setzte sie ihre Füße auf den Boden und angelte nach ihren Hausschuhen. Als sie die Vorhänge beiseite zog, blickte sie auf Weinberge, die hinter dem Haus sanft anstiegen. Am Horizont färbte sich der Himmel leicht rosa. Babette gähnte herzhaft und nahm den Bademantel vom Haken an der Tür. Sie freute sich auf die Dusche in diesem erstaunlich modernen Badezimmer.
Die Tür zum Bad war allerdings verschlossen. Von drinnen erklang die Stimme ihres Sohnes auf Französisch:
„Moment, Maman, ich bin gleich fertig.“
„Keine Eile“, beruhigte ihn Babette und ging zurück in ihr Zimmer. Sie begann, ihren Koffer weiter auszuräumen. Eigentlich wollte sie ja gar nicht so lange bleiben, aber da sie im Reisen ein wenig ungeübt war und auch nicht wusste, welches Wetter sie im Rheingau im Dezember erwarten würde, hatte sie einiges an Kleidung eingepackt. Für die dunkelviolette Seidenbluse würde sie sich bei Cathrine ein Bügeleisen ausleihen müssen, die hatte reichlich Knitterfalten abbekommen. Babette lächelte versonnen. Das war schon immer ihre Lieblingsbluse gewesen, aber sie hatte sie auch zur Erinnerung an den Abend eingepackt, als sie Jean-Luc das erste Mal ihrer Familie vorgestellt hatte. Es war der 24. Jahrestag des Verschwindens ihres Ehemanns Joseph gewesen. Wie immer hatte sich die Familie, also die drei Kinder Brigitte, Juliette, Félix und Josephs Mutter Hélène zu einem Gedenkessen versammelt. Babette erinnerte sich an die verblüfften und verwirrten Gesichter, als Jean-Luc mit roten Rosen in die abendliche Runde hineingeplatzt war. Inzwischen gehörte er wie selbstverständlich zur Familie, und alle Kinder hatten ihn als Partner der Mutter akzeptiert. Ihre Schwiegermutter Hélène hatte ihn, sehr zu Babettes Erstaunen und Freude, von Anfang an gemocht.
Babette nahm sich vor, die Bluse am 24. Dezember abends anzuziehen, dann war Jean-Luc auch ein wenig mit dabei, wenn Félix und sie mit der Familie Reimers Weihnachten feiern würden.
Die Badezimmertür öffnete sich und ihr Sohn kam über den Flur in ihr Zimmer. Er hatte ein Badetuch um die Hüften geschlungen und versuchte, sich mit einem anderen Tuch die Haare auf dem Kopf trocken zu rubbeln.
„Bonjour, Maman, hast du gut geschlafen? Das Bad ist jetzt frei. Hetz dich nicht! Soll ich dir schon mal eine Tasse Kaffee raufbringen? Siegfried macht zum Frühstück nachher sein legendäres Rührei mit Trüffelbutter und Bacon.“
Babette gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. „Café au lait wäre super. Ja, ich habe gut geschlafen, jetzt brauche ich unbedingt eine Dusche, irgendwie habe ich noch den ganzen Reisestaub an mir. Sag mal, können wir nach dem Frühstück zusammen versuchen, Jean-Luc über Skype zu erreichen?“
„Das können wir gern tun, aber du weißt schon, dass die im Moment vier Stunden hinter uns her sind und selbst wenn wir uns mit dem Frühstück Zeit lassen, ist es bei ihm eher noch früher Morgen. Meinst du, Jean-Luc ist dann wach?“
„Ich glaub schon, wir probieren es einfach mal, bitte. Ich vergesse immer wieder, wie das mit dem Zeitunterschied ist. Die sind ja auch irgendwie in verschiedenen Zeitzonen unterwegs.“
Félix grinste: „Keinen Zeitplan, aber große Sehnsucht, oder wie?“
Seine Mutter schaute träumerisch an ihm vorbei und antwortete mit einem schlichten „Ja.“
Mit einem lässigen „Dann sollten wir uns vielleicht doch ein wenig beeilen“ verschwand Félix im Zimmer neben dem Bad.
Als Babette nach einer ausführlichen Dusche in ihr Zimmer zurückkam, stand eine große Tasse mit Café au lait neben der Vase mit den Tannenzweigen. Auf einem Tellerchen entdeckte Babette ein paar sehr appetitlich anzusehende kleine Gebäckstückchen. Es sah nach selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen aus. Sie nahm einen Schluck Kaffee und wählte dazu einen mit einer Mandel dekorierten Schokoladenkeks. Köstlich, sie musste nach dem Rezept fragen. Das wäre auch etwas für ihre Schwiegermutter Hélène gewesen, die für ihr Leben gern gebacken hatte. Ein bisschen wehmütig dachte Babette an die im letzten Frühjahr verstorbene 84-Jährige zurück. Es würde das erste Weihnachtsfest ohne sie sein. Im Grunde war sie froh, dass es nicht in Marolles stattfand, wo in jeder Ecke Erinnerungen hockten an die vielen Weihnachten, die sie dort mit ihr und den Kindern gefeiert hatten.
