Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Odyssee beginnt ... Umgeben von überfluteten Straßen, entwurzelten Bäumen und zerfallenen Häusern, wacht GS ohne Erinnerung in einem fremden Land auf. Bis auf den zwölfjährigen Ben scheinen alle Menschen verschwunden. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach Überlebenden und einem Weg zurück in die weit entfernte Heimat von GS. Während ihrer Reise erkennen sie, dass die Welt, wie sie sie kannten, nicht mehr existiert. Ruinen der Zivilisation, endlose Wasserflächen und apokalyptische Mondlandschaften begleiten sie.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
HAUKE SCHRILLS
R.I.F.T.
Riftland - SagaBand 1
ein dystopischer Roman
DisclaimerHandlungen und Figuren entspringen der Phantasie. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright & Impressum
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Detailliertes Quellenverzeichnis der Bilder und Zeichnungen unter www.haukeschrills.de
Überarbeitete 5. Auflage 2021® 2019 Hauke Schrills
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Autor:Hauke Schrills
Schloss Straße 45
41541 Dormagen Stadt Zons
Email: [email protected]
Umschlaggestaltung:
Volker Schrills
Lektorat:
Rohlmann & Engels
www.lektorat-rohlmann-engels.com
Korrektorat:
Inhalt
Ben
Die Fahrt
Kindergarten
Unterkunft
Entdeckungen
Das Boot
Arbeit
Technik
Flucht
Auf See
Norden
Sichtung
Stählerne Riesen
Strömung
Abgeschirmt
Entscheidung
Blockade
An Land
Auf der Straße
Carlos
Ablenkung
Verrat
Gesetz
Joe
Fragen und Antworten
Anklage
zweiter Tag
Searcy
Jacksonville
Sauerstoff
Tulsa Tech
Ablöse
neue Nachrichten
Aufstand
Verlängerung
Neue Ziele
Blimp
Der letzte Zug
nach dem Regen
Blau und Gelb
Drumright
Grenzen
Rückkehr
27. März
Ben
Kopfschmerzen. Stechen im Bein. Alles tut mir weh. Müdigkeit. Ich versuche, die Augen zu öffnen. Grelles Licht blendet mich. Was ist passiert? Ich liege am Straßenrand. Um mich herum Steine und Bretter.
Wo bin ich? Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an das grelle Licht. Ich will mich aufrichten, doch ein stechender Schmerz fährt mir ins Bein. Mein rechtes Hosenbein ist aufgerissen und mit Blut getränkt. Es ist nur eine kleine Wunde am Schienbein. Mein Knöchel schmerzt. Scheint nicht gebrochen zu sein. Zumindest kann ich ihn bewegen. Meine Kleidung fühlt sich klamm an. Verschmutzt.
Mühsam richte ich mich auf. Mein Kreuz schmerzt ebenfalls. Aber das kenne ich schon. Mit fünfundfünfzig ist Mann nicht mehr so gelenkig. Um mich herum herrscht Zerstörung. Ich bemerke Wasserflächen. Gab es eine Überschwemmung? Neben mir: zusammengefallene Häuser. Ich habe Glück, nicht erschlagen worden zu sein.
Wo bin ich? Ich will mich erinnern. Vergeblich. Mir fällt es nicht ein, habe ein Blackout. Ich konzentriere mich erneut. Doch es ist zwecklos. Die letzte Erinnerung ist ein heftiges Zerren. Darauf folgt Schwärze, Bewusstlosigkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bereits liege. Die schmutzige Kleidung wird durch Abklopfen nicht besser.
Ich drehe mich humpelnd um die eigene Achse. Keines der Häuser ist unversehrt. Zwei Fahrzeuge liegen verbeult auf der Seite. Und - sind das Kabel über den Häusern? Hochspannungsleitungen? Ich kann sie nur verschwommen erkennen. Irgendetwas stimmt mit meinen Augen nicht. Ich reibe mit den Fingern darüber. Eine Erinnerung blitzt in meinem Kopf auf. Ich bin Brillenträger. Schaue mich um – finde nichts, das wie eine Brille aussieht. Immerhin kann ich ohne sie einigermaßen sehen, nur Details verschwimmen. Schriften ebenfalls.
Benommen spüre ich die Wärme der Sonne, obwohl sie niedrig am Himmel steht. Fast wie im Urlaub im Süden. Urlaub? Wo komme ich her? Aus Deutschland? Wo bin ich jetzt? Auf keinen Fall in Deutschland. Da bin ich mir sicher. Die Pflanzen und Bäume sehen fremd aus.
Im Schatten eines zusammengefallenen Gebäudes bemerke ich eine Bewegung. Ich fokussiere meinen Blick. Auf einer Treppe neben einem dieser Häuser sitzt ein verängstigter Junge mit dunkler Hautfarbe. Seine Hose und sein T-Shirt sehen nicht besser aus als meine Kleidung. Ich schätze ihn auf 12 Jahre. Er blickt mich mit großen Augen an, weiß wohl nicht, was er von mir halten soll.
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, da meldet sich mein Fuß. Fast wäre ich gestolpert. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaue ich zu dem Jungen.
„Wie geht es dir? Bist du okay?“, rufe ich ihm zu. Sein Gesicht drückt Unverständnis aus.
„Uodajutokin?“, ruft er zurück.
Ich kann mit der Antwort nichts anfangen. Welche Sprache spricht er? Langsam wiederhole ich die Worte im Geiste. „Uodajutokin“ - es dämmert mir. „What are you talking“, das ist Englisch, genauer: amerikanisches Englisch. Ich bin in Amerika. Darum kann er mich nicht verstehen.
„Are you fine?“, frage ich auf Englisch.
Sein Gesicht hellt sich auf. „I‘m fine, and you?“
Humpelnd bewege ich mich auf ihn zu und winke ab. Er richtet sich schüchtern lächelnd auf. Anscheinend ist er unverletzt.
„Du bist verletzt“, stellt er fest.
„Nicht sehr, es geht.“ Mein Englisch ist nur mangelhaft. Für grundlegende Konversation reicht es. Meistens fehlen mir die Vokabeln. Verstehen geht wesentlich besser.
Er runzelt die Stirn. Meine Antwort war wohl nicht perfekt.
„Where are you from?“, will er wissen.
„Ich komme aus Deutschland.“ Pause.
„Wie heißt du?“, frage ich ihn.
„Ben. Und du?“
Ich erinnere mich an meinen Namen und daran, dass er für Amerikaner unaussprechlich ist.
„Nenn mich GS, mein Name ist zu kompliziert.“ Ich fand diese Abkürzungen in alten Filmen schon immer cool. AJ, JR. Warum nicht?
„Nur GS? Gut“, antwortet er.
Der Junge sieht mitgenommen aus. Sein kurzes, schwarzes Haar ist von hellem Staub bedeckt. Ebenso das Gesicht und die Augenbrauen. Das rote T-Shirt ist an der Schulter aufgerissen.
„Was ist mit deinen Eltern?“, frage ich ihn.
„Ich weiß nicht, weg.“
„Lebst du hier? Hast du hier gewohnt?“
Er nickt und zeigt auf das Haus, auf dessen Treppe er sitzt. Sie führt an der rechten Außenseite des Hauses ins Nichts. Von der oberen Etage stehen nur noch eine Giebelwand und ein Teil der Seitenwand. Man kann hineinschauen. Wenn sich dort einmal Möbel befunden haben, ist von ihnen nichts übrig geblieben. Der Schock sitzt Ben sichtlich in den Knochen.
„Weißt du, was passiert ist?“
Er schüttelt den Kopf.
„Gibt es hier – äh …“ Ich suche nach dem englischen Wort für Überlebende. „Andere Menschen. Lebende Menschen?“
„Etwas hat an mir gezogen, mich geschlagen. Dann bin ich neben der Treppe aufgewacht. Keine Ahnung, was los war.“
Nirgends sind Leichen zu sehen. Allerdings auch keine Überlebenden. Neben uns steht ein graugrünes Haus. Windschief, als wenn ein Riese es in die Hand genommen, es einmal kräftig geschüttelt und zu Boden geworfen hätte. Die gesamte Einrichtung quillt aus der Frontseite.
Rechts von uns liegt quer über der Straße ein entwurzelter Baum. Ein Rauschen lenkt mich ab. Vor uns ist der Asphalt weggerutscht. Wasser aus einem gebrochenen, unterirdischen Rohr spült die Erde immer weiter aus. Die Landschaft dahinter ist überschwemmt. Entlang der Straße jenseits der Bruchkante steht das Wasser fast einen Meter in den Häusern. Auf der rechten Seite führt eine weitere Straße nach – Süden – Westen – Osten? Ich habe die Orientierung verloren. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist noch früh. Die Sonne steht über meiner rechten Schulter, wenn ich in die Richtung der Straße schaue. Demnach ist dort Norden.
Die Straße ist unbeschädigt. In einer großen Pfütze liegt ein umgefallener Strommast mit gerissenen Kabeln. Weitere folgen der Straße, neigen sich aber weniger dem Boden entgegen. Elektrizität wird durch diese Leitungen nicht mehr fließen. Im weiteren Verlauf sehe ich links einige Palmen, rechts Gras und niedriges Gestrüpp. Es geht leicht bergauf. Dahinter ist nichts zu erkennen. Gerade so, als würde die Welt dort enden.
„Weißt du, wohin diese Straße führt?“, frage ich Ben.
Er zuckt mit den Schultern. „Zum Highway.“ Er schaut in die Richtung.
„Normalerweise stehen da Häuser. Aber die sind weg“, sagt er mit zittriger Stimme. „Alles ist weg.“
Ich blicke zu ihm und verstehe nicht, was er damit meint.
„Alles weg“, wiederholt er und fängt an zu weinen. Er ist verzweifelt. Ich möchte ihn trösten, doch er weicht zurück und richtet sich auf. „It’s okay.“ Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und verwischt den Staub.
„Hast du eine Idee, wohin wir gehen können?“
Er schüttelt den Kopf. „Dorthin?“ Er zeigt in Richtung des umgestürzten Baumes.
Ich drehe mich um. Was jetzt? Zuerst sollten wir Schutz suchen. Längere Zeit zu bleiben und zu warten ergibt allerdings keinen Sinn. Mir fällt immer noch nicht ein, wie ich hierhin gekommen bin. Und wo ich genau bin.
„Warte hier!“, sage ich zu Ben und suche nach etwas, worauf ich mich abstützen kann. Eine Dachlatte liegt in der Nähe. Ich hebe sie hoch, lege sie auf die Treppe, stütze mich ab und breche sie mit dem gesunden Fuß durch. Das muss als Krücke reichen. Ben schaut schweigend zu.
„Warte hier!“, wiederhole ich.
Er nickt. Wo soll er auch hin? Hier ist nichts und niemand. In sicherem Abstand zur Bruchkante gehe ich auf die andere Straßenseite. Die Häuser auf der vom Wasser überschwemmten Seite haben zumindest noch Wände und ein Dach. Ich begebe mich in Richtung des umgestürzten Baumes. Hier sieht es aus wie nach einem Hurrikan.
Als ich näher komme, erkenne ich, dass dort ein Auto unter der Baumkrone begraben liegt. Ich gehe darauf zu. Es ist ein schwarzer Chevrolet Pick-up. Das Dach ist über der hinteren Rückbank eingedrückt und das Glas der Seitenfenster zerbrochen. Die Windschutzscheibe ist unversehrt. Die Fahrertür steht auf, aber dort komme ich nicht heran. Ein sperriger Ast liegt im Weg. Ich biege auf der Beifahrerseite einige Äste des Baumes zur Seite und kann in den Innenraum sehen. Bis auf die Glassplitter, Blätter und Äste, die überall verteilt liegen, scheint alles in Ordnung zu sein. Ohne Brille kann ich keine Details erkennen. Der Schlüssel fehlt offensichtlich. Die Ladefläche ist leer. Ich blicke nach hinten. Durch das Dickicht der Blätter kann ich von der Umgebung jenseits des Baumes kaum etwas sehen.
Ich gehe zu dem Haus zurück, wo Ben auf mich wartet.
„Wir brauchen Schatten und eine Unterkunft“, sage ich.
Er nickt. Die umstehenden Häuser sind nicht zu gebrauchen. Zu gefährlich. Die Gebäude im Wasser ebenfalls nicht.
„Hast du eine Idee, wo wir über Nacht bleiben können?“, frage ich Ben. Er versteht mein gebrochenes Englisch und zeigt wortlos in Richtung des umgestürzten Baumes.
„Hinter dem Baum“, ist seine Antwort.
„Kommst du mit?“, fordere ich ihn auf.
Er steht auf und kommt zu mir. Gemeinsam gehen wir um den umgestürzten Baum herum. Ich benutze dabei meine provisorische Krücke. Wir waten durch das seichte Wasser. Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Himmel.
Bei der Hitze werden die Schuhe wieder schnell trocknen, denke ich mir. Die Straße führt uns nur wenige Meter weiter. Dahinter reicht ein Meer bis zum Horizont.
Ben bleibt wie angewurzelt stehen und starrt auf das Wasser. Er fängt an zu zittern und stammelt etwas, während er auf das Meer zeigt. Ich verstehe ihn nicht, also knie ich mich vor ihm nieder.
„Wir sind hier sicher“, beruhige ich ihn und zeige auf ein Haus in der Nähe. Es ist weniger beschädigt und aus Stein gemauert. Die Fenster und das Dach fehlen. Wir treten näher heran. Innen ist der ganze Boden hoch mit Sand bedeckt.
„Das wird gehen“, sage ich zu dem Jungen.
Er wirkt noch immer recht apathisch, folgt mir aber. Wir betreten das Haus und sehen uns um. Ich erkenne keine Risse in den Wänden – wie auch, ohne Brille.
Von der Decke sind nur die Querbalken übrig. Wir gehen wieder vor die Tür.
„Sieht stabil aus. Was meinst du?“
Er nickt.
„Hier können wir äh … bleiben.“ Ich wollte „vorübergehend“ sagen, aber mir fiel das englische Wort nicht ein.
Er antwortet nur mit „okay“.
Ben ist zwar immer noch sehr wortkarg, hat sich aber ein wenig beruhigt. Er ist vermutlich erleichtert, weil jemand für ihn die Initiative ergreift.
Ich setze mich auf einen Stein, der vor dem Eingang aus dem Sand herausragt, und überlege, was wir alles benötigen. Am wichtigsten sind Wasser, Lebensmittel, Decken, Feuer und Werkzeug. Ich schaue von mir zu Ben. Kleidung wäre nicht schlecht. Wir sehen beide ziemlich heruntergekommen aus. Ein Bad könnten wir auch gebrauchen. Aber das wäre schon Luxus. Ich begutachte mein Bein. Die Wunde ist verkrustet, das Fußgelenk geschwollen, dennoch kann ich den Fuß mittlerweile besser belasten.
„Als Erstes müssen wir Wasser besorgen“, sage ich. „Am besten in Flaschen. Vielleicht ist drüben in den Häusern etwas zu finden.“ Ich zeige in Richtung des Baumes.
Er schaut mich nur an.
„Kannst du überall nachschauen?“
„Wo?“, fragt er zurück.
„Vielleicht findest du etwas in den Küchen. Aber sei bitte vorsichtig bei den zusammengefallenen Häusern.“
„Sicher“, sagt er.
„Lebensmittel wären auch gut. Ich suche nach Werkzeug und anderen brauchbaren Gegenständen.“
Ich richte mich auf und gehe zu dem umgestürzten Baum zurück. Das Ende der Baumkrone liegt im Wasser. Dort befindet sich der Eingang zum Ersten der gefluteten Häuser. Sie sind in der typischen amerikanischen Leichtbauweise errichtet worden. Mit nassen Schuhen gehe ich weiter. Das Wasser reicht mir bis zu den Knien. Neben dem Gebäude sind die Reste einer Garage zu erkennen. Langsam wate ich durch den Eingang, die Tür existiert nicht mehr. Links führt eine Treppe nach oben, rechts ist eine Garderobe. Überall schwimmt Müll, Holz und Plastik. Ich gehe einige Schritte weiter und gelange in einen großen Raum. Das Wohnzimmer? An der gegenüberliegenden Wand fehlen drei raumhohe Fenster. Ich blicke direkt in das, was einmal der Garten war. Der Pool ist für mich nur schemenhaft zu sehen.
Ich wende mich nach links. Dort führt eine Diele weiter - in ein Schlafzimmer? Spielzeuge stehen auf den Regalen. Nein. Das ist das Kinderzimmer. Ich scheue zurück, habe Angst vor dem, was ich dort finden werde. Ich wende mich ab und gehe in das gegenüberliegende Zimmer. Es ist das der Eltern. Ich drehe mich im Kreis und sehe eine weitere Tür. Mühsam zerre ich sie auf. Dahinter liegt das Bad. Bis auf das eingedrungene Wasser sieht hier alles normal aus. Ich öffne den Spiegelschrank an der Wand und finde Medikamente, Pflaster, Deodorants, verschiedene Cremes, Seife und Zahnpasta. Ich kann die Schrift auf den Packungen nicht lesen. Eine Brille wäre jetzt nicht schlecht. Eine große Plastikwanne liegt kopfüber im Wasser. Ich drehe sie um und lasse sie schwimmen. Dann fülle ich sie mit allem Brauchbaren. Anschließend verlasse ich den Raum. Im Schlafzimmer schaue ich mich noch einmal um. Im Kleiderschrank sind nur Frauenkleider. Nichts für uns. Ich versuche, eine Decke aus dem Wasser zu ziehen, lasse jedoch davon ab, da die Gefahr besteht, die eingesammelten Sachen in der Wanne zu verlieren.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer überlege ich, was wir noch für unser Nachtlager benötigen. Die nassen Fundstücke müssen wir später trocken bekommen.
Ich mache einen Abstecher in die Küche. Die Hängeschränke sind teilweise von der Wand gefallen und liegen verstreut auf den darunterstehenden Schränken. Ich suche weiter. Verschiedene Dosen und Verpackungen mit Lebensmitteln. Ich kann nicht alles mitnehmen und beschließe, später zurückzukehren. Den großen Kühlschrank versuche ich erst gar nicht zu öffnen. Wenn er etwas Essbares enthält, würde das meiste durch das einfließende Wasser unbrauchbar werden. Ich durchsuche die anderen Schränke und finde Messer, Gabeln, Löffel, Öffner und stecke einiges davon ein. Ein großes Survival-Messer könnte hilfreich sein. Langsam bewege ich mich auf den Ausgang zu und verlasse das Haus. Im Wasser ist die schwimmende Schüssel leichter.
Auf dem Trockenen macht sich mein Fuß erneut bemerkbar. Ich bringe die Beute in unsere Unterkunft. Ben ist noch nicht zurück. Ich will nach ihm schauen und stehe wieder vor dem umgestürzten Baum. Ich suche nach einer Möglichkeit, nicht wieder nasse Füße zu bekommen. Vergeblich. Der Baum wird zu einem Punkt auf meiner imaginären To-do-Liste.
Ich finde verschiedene Gegenstände, Gallonen, Flaschen vor den einzelnen Häusern. Ben war offenbar erfolgreich bei seiner Suche. Da sehe ich, wie er mit einer Decke im Arm aus einem der baufälligen Ruinen klettert.
„Stopp!“, rufe ich entsetzt und laufe ihm wild gestikulierend entgegen. Erstaunt sieht er auf.
„Bist du verrückt, allein in diese Häuser zu gehen?“, blaffe ich ihn heftiger an als beabsichtigt und bereue es sogleich.
„Aber -“, stammelt er.
„Du hättest begraben werden können!“, unterbreche ich ihn. Er blickt schuldbewusst auf den Boden.
„Das ist gefährlich. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“ Ich schaue mir seine Ausbeute genauer an. „Wow. Toll, großartig!“
Er lächelt verlegen.
„Du bist der Beste!“, muntere ich ihn auf und lege ihm eine Hand auf die Schulter. Sein schüchternes Lächeln entblößt seine weißen Zähne. Bei diesem unschuldigen Anblick muss ich ebenfalls lächeln.
„Das muss jetzt alles rüber“, bemerke ich nachdenklich. „Zuerst das, was nicht nass werden darf“.
Hier ist schließlich niemand, der uns etwas wegnimmt, denke ich bei mir. Wir packen einige Sachen auf die große Decke und ziehen sie durch einen breiten Spalt unter dem Baum hindurch. Anschließend verstauen wir die Sachen im Haus. Nach der vierten Runde haben wir es geschafft.
Die ganze Arbeit wäre aber sinnlos, wenn wir die Sachen nicht trocken lagern können. Das Dach fehlt und es kann jederzeit hereinregnen. Die Balken sind zu hoch, um etwas darüberzulegen. Zuerst suche ich den höchsten Punkt im Raum. Der Sand ist in einer Ecke höher aufgeweht und lässt sich mit Hilfe von Brettern leicht zu einer glatten Fläche ausgleichen. Ich denke, wenn Wasser eindringt, wird es zuerst die flacheren Bereiche füllen. Ben schaut mir zu. Ich finde nicht die richtigen Worte, um ihm zu erklären, was ich vorhabe. Mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden, schaue ich mich im Nachbarraum um. Zwei herausgerissene Türblätter und einige Deckenpaneele sind für mein Vorhaben ausreichend. Ich zeige auf die Paneele und Ben hilft mir, sie in den anderen Raum zu tragen.
Die beiden Türblätter lehne ich schräg an eine Wand. Ich schaufele Sand dagegen, damit sie nicht wegrutschen. Mit einer Lage von überlappenden Brettern , die ich über die Türblätter lege, versuche ich, die Lücken zu überdecken und eine Überdachung zu bauen. Ein bisschen wackelig, aber ich bin durchaus zufrieden.
„Hier können wir alles trocken lagern. Falls es regnet“, kommentiere ich unsere Arbeit.
Gemeinsam fangen wir an, die Gegenstände darunter zu stapeln. Die Decke legen wir davor auf den Boden. Sie soll uns als Unterlage dienen.
Langsam bekomme ich Durst. Ben hat wahrscheinlich ebenfalls noch nichts getrunken.
„Bist du durstig?“, frage ich ihn und zeige auf die von ihm eroberten Flaschen. Das meiste sind Säfte oder Limonaden. Aber auch Wasserflaschen sind dabei.
„Such dir etwas aus, du musst trinken“, fordere ich ihn auf und öffne eine Wasserflasche. Zusammen legen wir uns auf die Decke. Ich starre durch die Balken in den Himmel.
Ben lehnt an der Wand und beobachtet mich. Was mag jetzt in seinem Kopf vorgehen? Niemand, den er kennt, ist hier. Keine Familie, keine Freunde. Was ist mit ihnen geschehen? Was ist überhaupt passiert?
Ist vielleicht schon Hilfe unterwegs? Ich habe noch gar nicht über unsere Situation nachgedacht. In Bruchstücken kommt die Erinnerung zurück. Offenbar habe ich Urlaub gemacht – in Florida. Ich war mit einem Auto unterwegs – allein. An das Unglück oder dessen Ursache kann ich mich nicht erinnern. War es ein Hurrikan, eine Flutwelle oder Ähnliches? Was machen wir jetzt? Sollen wir auf Hilfe warten? Ich blicke zu Ben.
„Wie geht es dir?“
„Alles okay“, antwortet er.
„Ich habe dich noch nicht gefragt, ob du verletzt bist oder Schmerzen hast“, sage ich mit entschuldigender Miene.
„Nein, nein. Ich bin okay.“
„Wie alt bist du?“ Ich beginne eine Unterhaltung, damit wir uns besser kennenlernen.
„Zwölf.“ Er räuspert sich. „Noch elf, aber nächsten Monat werde ich zwölf.“
„Wann?“, frage ich nach.
„Am 18. April, warum?“, fragt er zurück.
„Ich wollte es nur wissen.“ Ich hoffe, dass mein Englisch den richtigen Ton trifft. „Du gehst zur Schule?“, frage ich weiter.
„Junior High 6th Grade.“
„Was sind deine Lieblingsfächer?“
„Physik und Sport.“ Er wird schon lockerer.
„Physik hat mich auch immer interessiert.“
Eine kleine Pause entsteht und ich bemerke wieder, wie er mich beobachtet.
„Welche Sportart magst du am liebsten?“, frage ich weiter.
„Baseball“, kommt seine Antwort sofort, „und Football.“
Baseball kenne ich nur aus dem Fernsehen, American Football habe ich schon öfter gesehen. Ich denke nach. War ich live bei einem Spiel oder habe ich das auch im Fernsehen verfolgt?
„Was ist?“, fragt Ben.
Ich habe zu lange nachgedacht.
„Ich kann mich nicht an alles aus meiner Vergangenheit erinnern“, antworte ich ihm ehrlich. „Das kommt nur Stück für Stück zurück.“
Nachdenklich blickt er mich an.
„Das wird schon wieder“, winke ich ab.
Er lächelt. Oh Gott, mein Englisch. Bestimmt habe ich etwas Komisches gesagt. Ich lächele unsicher zurück.
„Okay, wir müssen einen Plan machen“, lenke ich ab. Er nickt wieder.
„Wir haben Getränke für ein paar Tage, aber ob und wie man was von den anderen Sachen essen kann, weiß ich nicht.“
Ben geht zu unserem Vorrat und holt eine Packung mit Cornflakes heraus, reißt sie auf, greift sich eine Handvoll und steckt sie sich in den Mund. Anschließend bietet er mir ebenfalls etwas an. Ich greife zu und probiere es.
„Oh, sehr süß“, bewerte ich die Cornflakes, „aber gut“, füge ich schnell hinzu.
Er lächelt und greift erneut zu.
„Haben wir ein Feuerzeug oder Streichhölzer?“, erkundige ich mich. „Können wir irgendwie Feuer machen? Es wäre gut, wenn wir draußen einen Feuerplatz hätten.“
Er schüttelt den Kopf und meint: „Dann müssen wir noch einmal in den Häusern nachsehen. Auf Feuerzeuge habe ich nicht geachtet.“
„Das machen wir aber zusammen.“
„Jetzt?“, fragt er nach.
Ich nicke. „Lass uns gehen.“
Ich stehe auf und trete vorsichtig auf. Die Schmerzen im Fuß haben schon nachgelassen und ich kann ihn wieder belasten.
„Tut es noch sehr weh?“ Er zeigt fragend auf mein Bein.
„Kaum noch“, antworte ich, nehme aber trotzdem den Krückstock und gehe langsam nach draußen.
Es ist schon Nachmittag und die Sonne brennt vom Himmel. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr bis zum Abend.
„Weißt du, ob es hier oft regnet?“
„Zurzeit eher selten.“
Wir gehen wieder in Richtung des Baumes.
„Den müssen wir irgendwann beseitigen. Es ist lästig, immer um ihn herum zu laufen.“
„Wie? Er ist viel zu groß“, antwortet Ben skeptisch.
„Du magst doch Physik. Uns wird schon etwas einfallen.“
Auf der anderen Seite des Baumes stehen wir wieder mit nassen Schuhen vor den Trümmern. Ich blicke auf die Stelle, an der ich aufgewacht bin.
„Wie bin ich hier hingekommen?“, überlege ich laut. Ich schaue Ben an. Er zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht mit einem der Autos.“ Er zeigt auf die beiden Fahrzeuge. Bei dem einen handelt es sich um einen weißen Toyota SUV. Zumindest das, was von ihm übriggeblieben ist. Er muss sich mehrfach überschlagen haben. Aus dem Loch in der Straße ragt das Heck einer Limousine. Wieder erscheinen Bilder in meinem Kopf. Das ist mein Mietwagen.
„Ich kenne das Auto“, sage ich zu Ben und zeige auf den Wagen. Wir gehen gemeinsam hinüber. „Vorsichtig an der Kante!“
„Ich weiß. Ich bin nicht verrückt!“, erwidert er schroff.
„Sorry“, entschuldige ich mich. Der Wagen liegt mit der Front auf dem Grund der Spalte. Das Wasser schwappt in den Fußraum vor dem Fahrersitz. Ich drücke gegen das Heck, um zu sehen, ob er noch weiter abrutschen könnte. Aber er ist stabil.
„Warte hier!“, sage ich zu Ben und will von hinten auf den Rücksitz gelangen. Scheiben hat der Wagen keine mehr. Die Fahrertür ist herausgerissen. Der Airbag wurde ausgelöst und hängt schlapp über dem Lenkrad. Hinter dem Beifahrersitz klemmt ein schwarzer Koffer. Mein Handgepäck. Ich zerre ihn heraus und lege ihn nach hinten auf die Ablage. Darunter kommt ein graues Jackett zum Vorschein. Ich lege es neben den Koffer und klettere weiter nach vorn auf die Mittelkonsole. Irgendetwas liegt dort im Wasser, ohne Brille kann ich es aber nicht erkennen. Immer mehr Erinnerungen gelangen an die Oberfläche. In dem Jackett befindet sich das Brillenetui. Ich klettere zurück, greife in die Innentasche und hole das Etui heraus. Der Inhalt ist unversehrt.
Meine Sonnenbrille. Endlich kann ich wieder deutlicher sehen. Die Gläser sind zwar sehr dunkel, aber besser als ohne.
Ben schaut mir von außen mit verschränkten Armen zu. Ich recke einen Daumen nach oben und setze die Brille auf. Er lacht und gibt mir ebenfalls ein Okay.
Ich schaue wieder vor dem Fahrersitz nach und erkenne jetzt, dass dort mein Smartphone im Wasser liegt. Ob das noch funktioniert? Zur Sicherheit steckt es in einem stoßfesten und hoffentlich wasserdichten Gehäuse. Kopfüber hole ich es aus dem Wasser. Ich versuche mich an dem Handschuhfach, aber es lässt sich nicht öffnen. Vorsichtig klettere ich mit meinem Gepäck aus dem Wagen.
Ben lächelt mich an und meint, ich sähe cool aus. Ich grinse.
„Normalerweise trage ich eine Brille. Jetzt kann ich wieder besser sehen.“
Ben zeigt auf den Koffer. „Was ist das?“
„Ich habe den Wagen gemietet, das ist mein Handgepäck.“
Er schaut mich fragend an. „Handgepäck?“
„Ja, im Flugzeug …“ Ich halte inne und schaue auf den Wagen.
„Wo ist das andere Gepäck?“, überlege ich laut und lege die Sachen neben Ben. „Da muss noch ein Koffer sein.“ Ich will die hintere Klappe öffnen. Aber so verbeult, wie der Wagen ist, geht das nicht.
„Dafür brauchen wir Werkzeug“, sage ich zu Ben.
„Funktioniert dein Smartphone?“ Er zeigt auf das Gerät.
„Keine Ahnung. Vielleicht“, antworte ich und drücke auf die Taste. Nichts. „Entweder ist die Batterie leer oder es ist kaputt.“ Ich stecke es in die Seitentasche des Koffers.
„Hast du ein Feuerzeug da drin?“
Ich schüttle den Kopf. „Ich rauche nicht.“
Trotzdem öffne ich das Handgepäck vorsichtig. Die Sachen darin sind zwar nass, doch die Ausbeute ist nicht schlecht. Ich finde ein Hemd, ein T-Shirt, eine Powerbank als Zusatz-Akku, Kopfhörer, diverse Kabel, Adapter für Stromstecker, ein Etui mit einer Uhr, Schlüssel, Amenity-Kit aus dem Flugzeug und eine Ersatzbrille. Ich nehme sie heraus und tausche sie gegen die Sonnenbrille. Ben schaut mir gespannt zu. Für ihn ziehe ich das nasse T-Shirt hervor. Ein Souvenir aus LA – Venice Beach. Ich halt es Ben vor die Brust und sage:
„Probiere es. Ein bisschen groß, aber besser als das, was du anhast.“ Erstaunt nimmt er es entgegen.
„Danke.“ Hastig zieht er sein schmutziges, zerrissenes T-Shirt aus und schlüpft in das neue. Stolz präsentiert er es und schaut an sich herunter. „Und?“, fragt er.
„Du siehst gut aus. Wenn du noch ein wenig wächst, sitzt es perfekt.“ Er grinst. Bei der Hitze ist es ihm offenbar egal, dass es nass ist. Ich erkläre ihm die anderen Gegenstände. Von dem Parfüm spritze ich ihm ein wenig auf seine Hand.
„Bäh.“ Er rümpft angewidert die Nase.
Ich muss lachen und stecke es weg. Den Koffer lassen wir geöffnet liegen, damit die Sachen trocknen. Den Akku will ich noch nicht testen, da ich nicht weiß, ob Wasser in den Anschlüssen ist.
„Wir sollten weitersuchen“, sage ich und deute auf die Häuser.
Wir finden weitere Utensilien, Plastikfolien, Tragetaschen, jedoch nichts, um Feuer zu machen. Wir verstauen alles in den Taschen und tragen sie zum Baum hinüber. Nachdenklich schaue ich auf den Pick-up.
„Vielleicht ist in dem Wagen etwas Brauchbares. Kannst du durch das Fenster klettern?“, frage ich und zeige dabei auf die Beifahrertür.
Ich biege die Äste wieder beiseite und hebe Ben vorsichtig hoch, damit er durch das Fenster einsteigen kann. Er klappt die einzelnen Rückbänke hoch. In den Fächern finden wir eine große Plastikplane, offenbar die Abdeckung für die Ladefläche, und Werkzeug: Hammer, Schraubenzieher, Maulschlüssel, zwei Zangen. Er reicht mir alles durchs Fenster und klettert auf den Fahrersitz. Er ist halt ein Junge. Ich lache in mich hinein und verstaue das Werkzeug in einer Tasche. Plötzlich startet der Motor. Erschrocken fahre ich hoch und stoße mir den Kopf an einem Ast. Ich schaue Ben an, der strahlend einen schwarzen Gegenstand in der Hand hält. Ich muss wohl ein dummes Gesicht machen, denn er fängt laut an zu lachen. Das erste Mal, seit wir uns kennen. Es tut gut, den Kleinen so zu sehen und muss ebenfalls lachen.
„Was ist das?“, frage ich ihn.
„Remote-key“, antwortet er wissend.
Ich hätte nicht gedacht, dass der Motor noch funktioniert, nachdem hier kein Stein mehr auf dem anderen steht.
„Großartig. Kannst du den Motor wieder abstellen?“
Er nickt und drückt erneut auf den Knopf und der Motor geht aus.
„Das Auto können wir gebrauchen. Komm heraus, wir müssen mal nachsehen, wie wir den Wagen frei bekommen.“
Sofort klettert er aus dem Fenster und ich hebe ihn auf den Boden.
Dabei sind mir die Äste wieder im Weg und ich fluche.
„Alles okay“, sage ich, um seiner Frage zuvorzukommen.
Wir sehen uns die Lage genauer an. Der Baum, ich glaube, es ist ein riesiger Ahorn, besteht aus vielen einzelnen Stämmen, die wirr durcheinandergewachsen sind. Ein Stamm liegt auf der hinteren Kante des Wagendaches und hat es eingedrückt. Er misst circa 25 cm im Durchmesser. Vor der Motorhaube liegt ein großer Ast, der vom Stamm abgebrochen ist.
Ich zerre vergeblich daran. Er ist an der Bruchstelle noch mit dem Stamm verbunden. Mit dem Hammer kann ich nichts ausrichten und missbrauche den Schraubenzieher als Meißel. Gemeinsam mit Ben versuche ich, den Ast von der Spitze her wegzuziehen. Wir schaffen es zur Hälfte und geben auf.
„Wir müssen zuerst den äh …“ Was heißt Baumstamm? „Das da anheben, damit der Wagen freikommt.“ Ich zeige auf den Stamm.
„Trunk – tree trunk“, verbessert mich Ben. „Vielen Dank“, erwidere ich übertrieben.
„Gern geschehen“, antwortet er lächelnd.
Ich schaue nach oben. Die Sonne steht bereits sehr tief.
„Das schaffen wir heute nicht mehr. Ich habe Hunger, Durst und muss mir etwas ausdenken.“
Er reibt sich den Bauch, um mir zu zeigen, dass es ihm ähnlich geht.
„Wir können die restlichen Sachen auf die Rückbank packen“, sage ich und zeige auf die Taschen, die wir zusammengetragen haben.
Nachdem die Arbeit erledigt ist, gehen wir zurück in unsere Unterkunft. Schon wieder nasse Schuhe.
Ben zeigt mir, was wir essen können, und ich beschließe: „Ab sofort bist du der Koch.“
Er zieht die Stirn kraus und deutet auf sich. „Oh no, ich kann nicht kochen.“
„Aber du kennst die Lebensmittel. Ich nicht.“
Er wiegt den Kopf hin und her.
„Du möchtest bestimmt nicht meine Experimente essen.“
Er lächelt wieder. „Überzeugt“, gibt er zurück.
Nach unserem Abendmahl aus süßen Cornflakes bereite ich hinter dem Haus eine Toilette vor und zeige sie Ben. Den Abend verbringen wir schweigend vor dem Haus. Ich schaue auf das Meer, stehe auf und gehe zum Ufer. Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Wasseroberfläche ist unnatürlich glatt. Bäume und Reste von Häusern ragen heraus.
„Hier war vorher kein Wasser.“ Ben steht hinter mir und starrt auf das Ufer.
„Sondern?“, frage ich zurück.
„Die Straße führt in die Stadt.“
„Stadt?“, hake ich perplex nach.
„Clermont“, antwortet Ben.
Davon ist absolut nichts zu sehen.
Ben schaut auf das Wasser, als fürchte er, etwas Ungeheuerliches könne daraus auftauchen. Ich knie mich hin und strecke die Hand hinein. Es ist kalt. Zu kalt. So flach, wie das Wasser hier ist, sollte es wärmer sein. Ich lecke einen nassen Finger ab und schmecke Salz.
„Das ist Salzwasser. Vom Meer oder Ozean“, stelle ich fest.
Jetzt erst fällt mir auf, dass es keine Wellen gibt. Schwimmende Äste, Bretter und andere Trümmer bewegen sich ungewohnt schnell in einiger Entfernung vorbei. Wie ein Fluss. Die Strömung muss extrem stark sein. Woher kommt sie? Und wohin fließt der Müll? Ich kehre zu Ben zurück.
„Hier gehen wir besser nicht schwimmen. Zu gefährlich.“
Wir setzen uns vor das Haus, nachdem ich eine Flasche Wasser und Limonade für uns herausgeholt habe. Schweigend sitzen wir hier, während hinter uns die Sonne immer tiefer sinkt.
„Wir gehen besser ins Haus, solange wir noch etwas sehen können.“
Ich bedeute Ben, sich auf die Decke zu legen. Anschließend decke ich ihn mit der anderen Hälfte zu.
„Und du?“, fragt er.
„Ich habe die Jacke“, sage ich und lehne mich gegen die Wand. Mein Jackett ist inzwischen trocken und muss für die Nacht reichen.
„Bleibst du bei mir?“, fragt Ben plötzlich.
Er hat offenbar Angst, allein gelassen zu werden. Verständlich. Mir geht es ähnlich. Ich bin froh über seine Gesellschaft.
„Sicher“, antworte ich und weiß gleichzeitig, dass das nicht reicht, um ihn zu beruhigen. Wir wissen nichts voneinander und ich möchte sein Vertrauen gewinnen.
„Schau mal“, sage ich, „ich kann das hier nicht ohne dich schaffen, du kennst dich hier aus. Und du brauchst mich ebenfalls.“ Er nickt.
Ich strecke ihm meine Hand entgegen. „Partner?“
„Partner!“, erwidert er und schlägt ein.
„Ruh dich jetzt aus und versuche zu schlafen.“
Er dreht sich auf die Seite und schlägt die Decke über sich. Obwohl er mit dem Rücken zu mir liegt, merke ich, dass er noch eine ganze Weile wach bleibt. Erst später wird sein Atem gleichmäßig. Ich lege mich in den aufgeschütteten Sand.
Das war ein anstrengender Tag.
28. März
Die Fahrt
Ich wache mehrmals in der Nacht auf. Als der Morgen dämmert, gehe ich nach draußen und blicke erschreckt in den Himmel. Das ganze Firmament leuchtet rot. Wesentlich intensiver als ein Sonnenuntergang und erstreckt sich in alle Himmelsrichtungen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Als wäre ich auf einem anderen Planeten. Unheimlich.
„Was ist das?“, höre ich Ben hinter mir fragen.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist Staub in der Luft, der die Farbe reflektiert.“
Ich kann es mir nicht anders erklären. Es sieht unwirklich und beängstigend aus. Wenn tatsächlich so viele Partikel in der Luft sind, bedeutet das nichts Gutes. Vielleicht ein Vulkanausbruch? Es würde auch einen Tsunami erklären, der alles überflutet. Aber nicht den erhöhten Meeresspiegel.
„Wie hast du geschlafen?“, frage ich Ben.
„Ganz gut.“
„Wir sollten sehen, ob wir den Wagen freibekommen. Ich würde gerne von hier weg. Mit einem Auto ist das am einfachsten.“
Ich habe vor, in der zusammengefallenen Garage neben dem Haus nach weiterem Werkzeug zu suchen. Ben zögert erst, aber folgt mir dann. Gemeinsam räumen wir die Trümmer in der Garage beiseite. Da sie im Wasser liegen, geht es leichter. Ben ist nicht bei der Sache und blickt sich immer wieder um.
„Was ist?“, frage ich ihn.
„Alligatoren. Du weißt, dass es hier welche gibt?“ Erschreckt schaue ich mich um.
„Lass uns beeilen“, antworte ich beunruhigt.
Hastig durchsuchen wir die Garage. Ben findet einen Werkzeugkasten.
Darin liegen eine kleine Axt und ein Stabfeuerzeug.
„Wir gehen besser zurück“, fordere ich ihn auf. Nach Bens Bemerkung fühle ich mich im Wasser nicht mehr sicher.
Auf dem Rückweg zeige ich auf das Feuerzeug.
„Das hätten wir gestern gebrauchen können“.
„Funktioniert es?“, fragt Ben.
„Vielleicht wenn es trocken ist. So auf jeden Fall nicht.“
Am Wagen angekommen, schaue ich besorgt zurück, kann aber keine Gefahr erkennen. Dann wende ich mich Ben zu und erkläre, was ich vorhabe. Zuerst werden wir die kleineren Äste entfernen. Da hilft uns die Axt. Anschließend müssen wir den Baumstamm anheben. Das geht nur mit einem Hebel. Wir heben den Stamm mit langen Balken über ein Lager stückchenweise an. Dann schieben wir verschieden dicke Bretter nacheinander unter den Stamm.
Das ist leichter gesagt als getan. Wir benötigen den ganzen Vormittag und sind am Ende völlig erschöpft. Inzwischen hat die Färbung am Himmel nachgelassen und die Sonne scheint unbarmherzig auf uns herab. Mützen schützen uns vor einem Sonnenbrand. Ben schuftet mit seinen fast zwölf Jahren wie ein Erwachsener. Endlich können wir es wagen.
„Ich fahre den Wagen vorsichtig heraus und du gibst mir ein Zeichen, wenn etwas nicht passt“, sage ich.
„Okay.“
Ben stellt sich ein paar Meter weiter vor den Wagen, während ich umständlich hineinklettere und mich auf den Fahrersitz begebe. Ich betätige den Starter und der Motor springt ohne Probleme an. Meine Hand greift automatisch zur Mittelkonsole, aber die Automatikschaltung ist am Lenkrad angebracht. Ich trete auf die Bremse und stelle den Ganghebel auf D. Langsam gehe ich von der Bremse. Der Wagen bewegt sich tatsächlich nach vorne. Ben gibt mir beide Daumen hoch und winkt mich zu sich. Ich fahre vorsichtig unter der Baumkrone hervor. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es hindurch, als hinter mir unsere Konstruktion zusammenbricht. Ben springt freudig in die Luft und kommt zu mir gelaufen.
„Gut gemacht“, lobt er mich.
„Das haben wir gemeinsam geschafft“, entgegne ich.
Ich öffne die Motorhaube und steige aus. Bevor wir losfahren, sollten wir wissen, ob alles funktioniert. Wir prüfen gemeinsam Licht, Öl, Wasser. Der Tank ist zu drei Vierteln gefüllt. Ich bin überrascht über den Zustand des Wagens.
Jetzt wo er frei ist, machen wir ihn reisetauglich. Die Türen sind verzogen und lassen sich nur schwer bewegen. Die Fahrertür binde ich mit einem Strick am Türholm fest, damit sie nicht immer wieder aufgeht. Bis zum Abend haben wir all unseren Proviant sowie die Gegenstände und Werkzeuge auf der Ladefläche des Pick-ups verstaut. Mit der gefundenen Plane decken wir die Sachen ab. Somit ist alles vor Regen geschützt. Zum Schluss wandert mein Blick noch einmal in Richtung des Mietwagens.
Ich nehme die kleine Axt und gehe zum Kofferraum. Nach einer Viertelstunde gebe ich den Versuch auf, an den Inhalt gelangen zu wollen.
„Entschuldige, ich musste es probieren“, sage ich zu Ben, der mir skeptisch zusieht.
Wir wollen den Ort verlassen, doch welcher Weg ist der richtige? Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die trockene Straße mit den umgefallenen Strommasten oder die überflutete an der Garage vorbei.
„Ich würde diesen Weg vorschlagen, der ist wenigstens trocken“, sage ich. „Wir sollten dafür aber die - äh - Hindernisse aus dem Weg räumen.“
Ich bemerke sein Lächeln.
„Du kannst mich ruhig verbessern, wenn ich etwas Falsches sage.“
„Mach ich“, erwidert er.
Gemeinsam räumen wir den Weg von dem vorhandenen Schutt frei. So können wir in weitem Abstand die abgebrochene Straßenkante passieren. Wir steigen in den Wagen und ich starte den Motor. Dann fahren wir vorsichtig über die freigeräumte Fläche an der Kante und den Strommasten vorbei. Zweihundert Meter weiter biegt die Straße nach links ab. Ein riesiger Berg aus Sand, Schutt, Trümmern und Bäumen türmt sich vor uns auf und versperrt den Weg. Auf der rechten Seite steigt der Boden an und wir können nicht darüber hinwegsehen.
Ich mache den Motor aus und bedeute Ben, mit mir auf die Anhöhe zu gehen. Schweigend erreichen wir die Kuppe.
„Das glaube ich jetzt nicht“, sage ich entsetzt.
„Wasser“, ist alles, was Ben sagt.
Vor uns und hinter dem Schuttberg erstreckt sich wieder das Meer bis zum Horizont. Ich bemerke dieselbe starke Strömung, anhand der Gegenstände, die im Wasser an uns vorbeiziehen. Jenseits der Barrikade ist ebenfalls kein Weiterkommen.
„Na dann bleibt uns nur der andere Weg“, sage ich.
„Aber dort gibt es auch nur Wasser.“
Ich sehe die Angst in seinen Augen und beuge mich zu ihm hinunter.
„Wir schaffen das. Das Wasser ist dort nicht sehr hoch. Die Oberfläche ist ganz glatt. Unser Wagen kann das. Es ist der einzige Weg. Du wirst sehen, es wird alles gut.“
Sicher bin ich mir nicht, aber was sollen wir sonst machen. Er senkt den Kopf und nickt.
„Komm“, sage ich und gehe zum Wagen. Ben folgt mir. Wir wenden und kehren zum Startpunkt zurück, wo ich den Motor abschalte. Ben schaut mich fragend an.
„Es ist schon relativ spät und ich weiß nicht, wie weit das Wasser reicht. Ich würde lieber morgen früh starten, als in der Nacht irgendwo im Wasser stehenzubleiben.“
„Einverstanden. Schlafen wir wieder im Haus?“
„Ich denke, es ist besser, im Wagen zu bleiben.“ Ich muss an die Alligatoren denken und fühle mich im Wagen sicherer.
Mir fällt das Feuerzeug ein und ich frage Ben danach. Er steigt aus, kramt in den Taschen auf der Ladefläche herum und kehrt nach kurzer Zeit zurück.
„Und?“, frage ich.
Er hält das Feuerzeug hoch und probiert es mehrfach aus. Jedoch ohne Erfolg. Kein Funke – kein Feuer.
„Mist“, sage ich auf Deutsch.
„Was?“, will Ben wissen.
„Damn, sorry“, gebe ich auf Englisch zurück. Er grinst.
„Deine Sprache“, meint er, „hört sich komisch an.“ Ich lächele schief.
„Wir müssen also auch diese Nacht ohne Feuer auskommen.“ Dabei fällt mir ein, dass wir trockenes Holz für ein späteres Feuer gebrauchen können. Hinter der Wasserfläche finden wir vielleicht keines mehr. Ich erkläre Ben meine Überlegungen und wir stapeln kleinere Bretter, Pappe und Papier auf der Ladefläche.
„Jetzt sind wir vorbereitet“, sagt Ben zu mir.
„Es ist noch hell. Wenn du möchtest, kannst du draußen bleiben.“
Ich höre mich vermutlich wie sein Vater an. An seinem Blick merke ich, dass ich die falschen Worte gewählt habe. Wortlos dreht er sich um und trottet davon.
Diese Nacht hängen wir schweigend unseren Gedanken nach. Die Erinnerungen sind endlich zurück. Ich muss an meine Familie denken. Wie mag es ihnen gehen? Bestimmt haben sie zuhause von unserer Katastrophe gehört. Hoffentlich sind sie nicht ebenfalls betroffen. Ich mag gar nicht darüber nachdenken und beobachte Ben. Der Tag war anstrengend für ihn. Immerhin schläft er schnell ein. Der Junge tut mir leid. Wir haben bisher kein Wort über seine Familie verloren. Vermutlich verdrängt Ben, was mit ihnen geschehen ist. Was macht das mit ihm? Ich mag nicht weiter darüber nachdenken und lehne mich zurück und schließe die Augen. Die Vergangenheit kommt mir vor wie ein anderes Leben. Unwirklich und weit weg.
29. März
Kindergarten
Der Himmel hat wieder diese rötliche Färbung wie gestern. Ben ist schon draußen und mit irgendetwas beschäftigt.
„Guten Morgen“, begrüßt er mich und legt ein Buch auf die Rückbank. Dort befinden sich einige andere Sachen: ein Modellflugzeug, ein Football, weitere Bücher und eine Schachtel.
„Aus deinem Haus?“, frage ich ihn. Er nickt. „Aber jetzt bin ich fertig.“
„Steig ein“, fordere ich ihn auf.
Quietschend schließt er die sperrige Beifahrertür. Ich hatte gestern noch mein Smartphone herausgeholt. Jetzt hängt es am USB-Anschluss des Armaturenbretts. Ich hoffe, dass es sich darüber während der Fahrt auflädt.
„Fertig?“, frage ich Ben.
„Fertig“, antwortet er und hält mir eine Tüte hin.
Schon wieder Cornflakes. Unser Frühstück.
Der Motor springt an. Ich nehme das Telefon in die Hand und schalte es ein. Gespannt blicke ich auf das Display, bis das Logo erscheint.
„Super“, sage ich erleichtert.
„Was ist passiert?“, fragt Ben.
„Das Handy funktioniert.“
„Können wir telefonieren?“
„Einen Moment.“ Es dauert einige Sekunden, bis es hochgefahren ist. Doch wir werden enttäuscht.
„Kein Netz“, gebe ich zurück.
Keine Anrufe, kein Internet. Was funktioniert überhaupt noch? Der Kompass, die Uhr. Das Gerät hat viele weitere Sensoren, aber das hat Zeit. Ich schaue nach dem GPS. Funktioniert, aber es zeigt keine Satelliten an, also nutzlos. Ich bin versucht, weiter auf dem Telefon nachzusehen – Bilder, Daten –, lege es aber zurück und hebe mir das für später auf. Ich bin noch nicht bereit dafür. Emotionen bringen mich jetzt nicht weiter.
„Wir können es benutzen. Es muss nur laden.“
„Gut“, sagt er.
„Wir werden jetzt diesen Weg nehmen.“ Ich zeige auf die überschwemmte Straße. „Bin gespannt, wo wir ankommen.“
„Okay.“ Ben schaut auf die Wasserfläche. „Los geht‘s.“
Typisch amerikanisch. Alles Optimisten.
Langsam fahren wir an der Garage vorbei auf die Straße. Das Wasser ist nicht tief. Jedoch müssen wir darauf achten, in Bewegung zu bleiben. Sonst besteht die Gefahr, dass wir uns festfahren. Gleichzeitig habe ich Angst, Löcher oder Hindernisse zu übersehen, die sich unterhalb der Wasseroberfläche befinden. Ich gebe Ben zu verstehen, dass er ebenfalls darauf achten soll.
Wir umfahren den im Wasser liegenden Müll. Manche Äste an den Bäumen hängen so tief, dass wir nicht darunter herfahren können. Die Straße steigt minimal an, wodurch der Straßenbelag jetzt besser zu erkennen ist. Rechts und links wird die Straße in regelmäßigen Abständen von Bäumen begleitet. Wenige zerstörte Häuser liegen weiter zurück. Verunsichert von der Zerstörung setzen wir unseren Weg fort.
Vor uns biegt die Straße nach links ab. Die Bäume werden dichter und größer und wir können nicht mehr hindurchblicken. Gegenstände, Teile von Fassaden und Dächern, umgestürzte Bäume liegen verstreut auf dem Boden. Immer wieder umfahren wir liegengebliebene Autos. Hier muss eine gewaltige Menge Wasser durchgekommen sein.
Wir fahren mit Schrittgeschwindigkeit. Die Angst, steckenzubleiben, steht mir sicher ins Gesicht geschrieben. Keiner von uns spricht ein Wort. Es ist beklemmend.
Durch den flachen Winkel spiegelt sich der Himmel auf der Wasseroberfläche, so dass ich den Grund nicht erkennen kann. Aber Ben macht mich in regelmäßigen Abständen auf Hindernisse oder Unebenheiten aufmerksam. Seine Fähigkeit, diese Dinge rechtzeitig zu erblicken, versetzt mich in Erstaunen.
In den Ästen hängen überall die Rückstände der Zivilisation. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass wir noch keine Tiere gesehen oder gehört haben. Kein Zwitschern, kein Zetern. Der Motor ist das einzige Geräusch in dieser absurden Welt.
Wo sind die ganzen Menschen hin? Wenn es keine Überlebenden gibt, müssten wir doch mindestens einige Leichen finden. Warum sind wir beide allein?
Ich konzentriere mich wieder auf unsere Fahrt. Hier verlaufen die Straßen absolut geradlinig. Es ist schwer zu sagen, wie viele Kilometer oder Meilen wir schon hinter uns gebracht haben.
Da macht Ben mich auf eine Einfahrt auf der rechten Seite aufmerksam.
„Elementary School“, sagt er.
Ich denke, das ist eine Art Grundschule. Es ist das erste Gebäude, an dem wir vorbeikommen, das relativ unbeschadet aussieht. Die Einfahrt steigt leicht an und erhebt sich aus der Wasserfläche.
„Sollen wir …?“ Ich deute auf das Haus. Ben zieht unsicher die Schultern hoch.
„Kennst du die Schule?“
Er nickt stumm, ohne den Blick von dem Gebäude zu wenden. Es ist ein einstöckiges Haus mit grauer Fassade und weißen Fensterrahmen. Das Dach ist mit grünen Dachpfannen gedeckt. Ich habe kein gutes Gefühl, weiß aber nicht warum.
„Wir müssen es versuchen. Vielleicht finden wir eine Erklärung oder einen Hinweis auf das, was passiert ist.“
Ben widerspricht nicht. Langsam biege ich in die Einfahrt, die zu beiden Seiten von dicken, dunkeln Holzbalken begrenzt wird.
Am Eingang angekommen bleiben wir erst einmal im Wagen sitzen und beobachten die Umgebung. Ich nehme die Axt von der Rückbank.
Ben schaut auf die Axt und anschließend zu mir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und mache eine entschuldigende Geste. Obwohl die Axt nichts nützt, fühle ich mich mit ihr in meiner Hand sicherer.
„Möchtest du im Auto bleiben?“, frage ich, löse den Strick an der Tür und steige aus.
Ben schüttelt den Kopf und steigt ebenfalls aus. Seite an Seite nähern wir uns dem Eingang. Eine Hälfte der Flügeltür wurde aus den Angeln gehoben, die andere steht weit offen. Wir treten ein. Vor uns lese ich auf einem Schild „Main reception“. Daran vorbei führt ein kurzer Gang weiter geradeaus. Nach links und rechts erstreckt sich ein Gang durch das ganze Gebäude. Die Spuren auf dem Fußboden zeigen, dass hier ebenfalls Wasser durchgeflossen ist. Rückstände von Schlamm und Treibgut verteilen sich auf der Fläche. Von diesem Gang geht es in die Klassenräume. Was könnte uns weiterhelfen?
„Gibt es hier eine Küche?“, frage ich Ben.
Er nickt und deutet auf den Gang vor uns. Er ist wieder wortkarg und macht keine Anstalten, in diese Richtung zu gehen. Erinnerungen können lähmen.
Ich atme einmal tief durch und setze mich in Bewegung. „Komm!“, sage ich zu Ben.
Auf der rechten Seite geht es zu verschiedenen administrativen Räumen. So interpretiere ich die Beschilderung jedenfalls. Auf der linken Seite befinden sich die Toiletten für Jungen und Mädchen. Ich gehe hinein. Die Wasserhähne funktionieren. Ich probiere das Wasser mit den Fingern, es scheint brauchbar, obwohl man es nicht trinken sollte.
„Wir können die leeren Flaschen mit Wasser füllen“, sage ich zu Ben, „und es wäre auch nicht schlecht, wenn wir uns waschen.“ Wir setzen unseren Weg fort. Am Ende des Ganges führt jeweils einer nach links und nach rechts. Auch hier geht es zu weiteren Klassenräumen. Ich lese die verschiedenen Schilder: Music suite, Stage, Staff restroom, Dining & Multipurpose und Kitchen. Endlich.
Ich zeige auf das letzte Schild und Ben nickt. Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber ich umfasse die Axt mit festem Griff. Wir kommen an eine Glastür, die zur Küche und zur Bühne führt. Sie ist tatsächlich unbeschädigt. Ich blicke durch die Tür in den dahinterliegenden Gang.
Erschrocken taumele ich zurück und halte Ben mit einer Hand schützend auf Abstand.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich muss kreidebleich sein und aussehen, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Ben weicht ängstlich vor mir zurück.
„Warte“, sage ich, als ich mich wieder gefasst habe. „Bleib hier stehen!“ Ich blicke erneut in den Gang. Hinter der Tür liegt jemand. Eine Frau. Sie muss schon länger hier liegen. Ihre Haare kleben wirr auf dem Gesicht. Die Haut ist verfärbt und die Kleidung vom Schlamm verschmutzt.
Ich höre einen erstickten Schrei hinter mir und fahre herum. Ben hat die Augen weit aufgerissen. Ich nehme ihn in die Arme, um ihn zu beruhigen. Seine Schultern beben. Wir verharren eine Weile in dieser Position, bis ich mich von ihm löse und vor ihm in die Hocke gehe.
„Wir mussten irgendwann so etwas sehen.“
Ich wünschte, ich könnte es ihm schonender beibringen und hoffe, er versteht, was ich meine. Die Frau hat vor ihrem Tod anscheinend die Glastür blockiert. In dem kurzen Gang hinter ihr weisen Schilder links zu einer Bühne und rechts zur Küche. Diese Tür ist mit einem Schrank versperrt. Was wollte sie hier? Warum hat sie sich nicht in einen der Räume zurückgezogen oder hat das Weite gesucht? Ist sie die Einzige? Sind die anderen alle geflüchtet?
Die Tür ist versperrt. Ich nehme die Axt und zerschlage das Glas, um die Tür von innen zu öffnen.
„Komm“, sage ich wieder zu Ben.
„Müssen wir dort hinein?“
Er macht keine Anstalten, mir zu folgen.
„Ich kann allein gehen. Bleib dort stehen. Ich versuche, in die Küche zu gelangen.“
Der Schrank versperrt mir den Weg und ich schiebe ihn mühsam beiseite. Die dahinterliegende Tür wurde offensichtlich mit Decken abgedichtet. Warum? Ich nehme die dünnen Decken und bringe sie zu Ben.
„Die können wir gut gebrauchen“, bemerkte ich und gehe zurück. Die Küchentür lässt sich nun leicht öffnen.
Ich brauche einige Sekunden, um das Bild zu begreifen, das sich mir bietet. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit Kindern.
In einer Ecke des Raumes sitzen sieben Kinder. Vielleicht sechs bis acht Jahre alt. Zwei Jungen und fünf Mädchen. Mit großen Augen schauen sie mich an und klammern sich aneinander. Auf dem Boden liegen verschiedene aufgerissene Packungen von Lebensmitteln. Getränkeflaschen und Tetra Paks stehen auf dem Tisch. Bis auf den Kühlschrank haben sie alle Schranktüren geöffnet. Die Kinder starren mich an. Es stinkt fürchterlich. Das Erste, was mir jetzt einfällt, ist: „Don’t panic.“
„Ben!“, rufe ich laut. „Komm her! Schnell!“
Ich drehe mich, um nach ihm zu schauen, aber er steht schon hinter mir und kann offenbar nicht glauben, was er sieht. Die Kinder fangen an zu weinen.
„Kannst du das übernehmen?“, sage ich zu Ben, „Das kann ich nicht. Nicht mit meinem schlechten Englisch.“
„Was soll ich denn sagen?“
„Du musst sie beruhigen und ihnen versichern, dass ihnen nichts geschieht. Anschließend müssen wir sie hier herausbringen.“
Ben geht auf die Kinder zu und redet beruhigend auf sie ein. Der Junge ist bemerkenswert. Ich frage mich, wie er das alles bewältigt. Aber er macht es einfach.
Er hilft einem nach dem anderen auf und will sie zur Tür führen, da fahre ich herum und rufe: „Stopp!“
Erschrocken bleiben alle stehen.
„Ich muss erst aufräumen“, sage ich zu Ben.
Die Frau im Gang hätte ich beinahe vergessen. Wir dürfen die Kinder nicht daran vorbeiführen.
„Wartet kurz hier.“
Ich eile in den Gang und lege die Axt auf den Boden. An der gegenüberliegenden Wand führt eine Tür zu der Bühne.
Mühsam zerre ich die Leiche hinter diese Tür. Mir wird dabei übel und ich muss einige Male schlucken.
„Tief einatmen“, sage ich zu mir. „Das ist nur der Sauerstoffmangel.“
Ich gehe zurück und fordere alle auf, die Küche zu verlassen.
„Bring sie zu den Waschräumen. Sie müssen sich erst einmal sauber machen. Halte sie auf jeden Fall von hier fern. Ich schau mich um und komme zu dir, wenn ich fertig bin.“
Er nickt und führt die Kinder in die Waschräume.
Ich durchsuche die Schränke in der Küche und finde weitere Lebensmittel und Getränke, zwei Kartons mit Milch in kleinen Tetra Paks und Besteck. Im Personalraum sind Sanitärartikel für die Waschräume, eine Schaufel, ein Besen. Ich durchsuche weitere Räume, bin immer auf das Schlimmste gefasst, finde aber keine weiteren Überlebenden – oder Leichen. Dafür Jacken, Hosen, Shirts, alles für die Kleinen. Vielleicht ist auch etwas für Ben dabei. Ich sammele es zusammen und trage es nacheinander zum Waschraum. Inzwischen hat sich Ben um die Kinder gekümmert und sie mit den gefundenen Sachen mehr oder weniger passend eingekleidet. Sie warten bereits am Haupteingang. Was machen wir jetzt mit ihnen? Wir können sie nicht hier zurücklassen.
„Wissen sie, was passiert ist?“, frage ich Ben.
„Sie können sich ebenfalls nicht erinnern. Ich habe ihnen gesagt, dass sie keine Angst zu haben brauchen.“ Er macht eine Pause.
„Und was noch?“, hake ich nach.
Er schaut auf seine Füße und meint: „Und dass du komisch sprichst, aber sonst in Ordnung bist.“
„Soso. Ich spreche also komisch!“ Der Versuch, dabei ein ernstes Gesicht zu machen, misslingt kläglich und wir müssen beide lachen. Die Kinder schauen uns an und wissen offenbar nicht, was sie von uns halten sollen.
„Du hast uns schon vorgestellt?“
„Jepp, Ben und Mister GS.“
„In Ordnung.“
Zu den Kindern gewandt sage ich: „Wir müssen euch jetzt in Sicherheit bringen. Hier ist niemand mehr.“
Sie schauen mich mit großen Augen an.
„Miss Katherine ist noch hier!“, sagt einer der Jungen.
„Wer ist Miss Katherine?“, frage ich zurück.
„Unsere Lehrerin.“
Ob das die Tote ist? Dann hat sie die Tür zur Küche versperrt. Sie hat diese Kinder gerettet und dabei ihr Leben gelassen.
„Nein, tut mir leid. Sie ist auch schon gegangen“, sage ich zu ihm.
„Erklärst du ihnen, dass sie mit uns kommen müssen?“, fordere ich Ben auf. „Sie können nicht hierbleiben.“