Riskante Manöver - Birand Bingül - E-Book

Riskante Manöver E-Book

Birand Bingül

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Beschreibung

Der in Berlin lebende Mats Holm ist ein Genie der Krisen-PR. Gemeinsam mit seiner Partnerin Laura May boxt er Minister aus dem Kreuzfeuer der Medien, rettet Konzernen am Pranger den Aktienkurs oder bringt Promis im schwersten Shitstorm aus der Schusslinie. Für die perfekte PR braucht Holm nur eins: die Wahrheit. Doch die wollen die Auftraggeber nie verraten – und das aus gutem Grund.

Nun wird die Agentur von einem Giganten der Pharmaindustrie zu Hilfe gerufen. Mehrere Kinder sind nach Einnahme eines Medikaments des Unternehmens schwer erkrankt, ein Mädchen stirbt. Eine Pharmakritikerin wirft dem Konzern vor, unsaubere klinische Studien in Indien durchgeführt zu haben. Als ihr Informant tot aufgefunden wird und eine Mitarbeiterin des Konzerns spurlos verschwindet, spitzt sich die Situation zu. Holm gerät in ein Ränkespiel ungeahnten Ausmaßes.

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Zum Buch

Der in Berlin lebende Mats Holm ist ein Genie der Krisen-PR. Gemeinsam mit seiner Partnerin Laura May boxt er Minister aus dem Kreuzfeuer der Medien, rettet Konzernen am Pranger den Aktienkurs oder bringt Promis im schwersten Shitstorm aus der Schusslinie. Für die perfekte PR braucht Holm nur eins: die Wahrheit. Doch die wollen die Auftraggeber nie verraten – und das aus gutem Grund.

Nun wird die Agentur von Wenner Pharma zu Hilfe gerufen. Mehrere Kinder sind nach Einnahme eines Medikaments des Unternehmens schwer erkrankt, ein Mädchen stirbt. Eine Pharmakritikerin wirft dem Konzern vor, unsaubere klinische Studien durchgeführt zu haben. Als ihr Informant tot aufgefunden wird und eine Mitarbeiterin des Konzerns spurlos verschwindet, spitzt sich die Situation zu. Holm gerät in ein Ränkespiel ungeahnten Ausmaßes.

Zum Autor

BIRAND BINGÜL, Jahrgang 1974, ist Autor und Redakteur beim WDR in Köln. Er arbeitete dort u. a. als stellvertretender Unternehmenssprecher, Tagesschau-Korrespondent, Tagesthemen-Kommentator und Radiomoderator. »Riskante Manöver« ist Birand Bingüls erster Kriminalroman.

BIRAND BINGÜL

RISKANTE MANÖVER

EIN FALL FÜR PR-AGENT MATS HOLM

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Originalausgabe Mai 2018 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © plainpicture/Westend61/Michael Zwahlen; Shutterstock/Maxplay photographer Satz: Uhl + Massopust, Aalen MK · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-21835-5 V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

TAG EINS

15.59 Uhr

Leichenblass schlich Sophie, gestützt von ihrem Vater, in die Küche. Mein Gott, diese Augenränder, dachte Sylvie Liebig. Besorgt sah sie ihre Tochter an. Von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde, gruben sich diese Augenränder tiefer in das Gesicht ihrer sechsjährigen Tochter. Sie machten ihr Angst.

Erst Husten, dann Grippe, schließlich Bronchitis. Und die beruhigenden Worthülsen von Doktor Esslinger, Sophies Kinderarzt, konnten beim dritten Besuch in den vergangenen vier Tagen nicht mehr über seine Ratlosigkeit hinwegtäuschen. Sie waren bei einer Lungenentzündung angekommen. Hatten sie verschleppt. Sylvie Liebig machte sich Vorwürfe. Sie hätten früher eine zweite Meinung einholen sollen.

Strikte Bettruhe hatte Doktor Esslinger verordnet. Die Antibiotika schlügen bestimmt bald an. Es brauche leider etwas länger. »Gegen die Schmerzen wirkt Validolor exzellent, das können Sie bei Bedarf auch höher dosieren. Unsere Patienten sind begeistert davon.« Es habe praktisch keine Nebenwirkungen. Und sei extra für Kinder entwickelt worden. Dann hatte er sich zu Sophie gewandt: »Also, wird schon wieder. Such dir was Süßes aus der Dose aus, ja? Kopf hoch, mein tapferes Mädchen.«

Kopf hoch. Ihr Kopf, der immer mehr aus diesen Augenrändern bestand. Augenränder, die plötzlich ihre Hautfarbe verloren hatten, in ein stumpfes Hellbraun übergingen und schließlich bläulich schimmerten. Und heute fraß sich ein kaltes, lebloses Grau in Sophies hübsches Gesicht. Zwischen die lustigen Locken ihres Mädchens, dieses tollen, fröhlichen Kindes, das sich schon vor Frühlingsbeginn auf das erste Schuljahr freute, nach den Sommerferien auf Mallorca, in denen sie sich mit Freunden eine hübsche Finca teilen wollten. Das Mädchen, das ihr Mann Johannes und sie über alles liebten. Für das sie beide so gekämpft hatten damals. Vor dem sie ihre Streits und Geldsorgen verbargen, so gut es ging. Das Mädchen mit dem Gesicht, das mittlerweile weißer schien als ihr Nachthemd. Gespenst, blitzte ein Wort in Sylvie Liebig auf, doch sie vertrieb es sofort aus ihren Gedanken. »Oh, Schätzchen!« Die Worte entwichen ihr mehr, als dass sie sie sagte. Sie nahm eine Hand von Sophie und wollte sie drücken. Aufmunternd und zuversichtlich. Doch es gab nichts zu drücken. Keinen Widerstand, keine Kraft, kein Leben. Sie spürte nur einen kalten, unangenehmen Schweißfilm auf der Haut ihrer Tochter. Bleib ruhig, Sylvie, sagte sie zu sich. Sei keine von diesen hysterischen Kühen! Kinder werden halt auch mal richtig krank. Du hast nichts falsch gemacht! Atme! Entspann dich! Sie sah auf und schaute ihrem Mann Johannes in die Augen. Jo. Er zog nur hilflos die Brauen hoch und bugsierte Sophie auf einen Stuhl.

»Schau mal«, sagte er sanft, »vorneweg eine Hühnerbrühe zur Stärkung. Ich habe deine Lieblingssalami besorgt. Ein gesundes Brötchen. Und hier steht dein Ei, vier Minuten, handgestoppt.« Sein Lachen verhallte in ihrem kleinen Reihenhaus in Berlin-Tegel.

Sophie hustete. Verzog das Gesicht vor Schmerzen.

»Ich geb ihr ein Validolor«, sagte Jo Liebig zu seiner Frau. Sie sah ihm an, dass er es nicht ertrug, seine Tochter so leiden zu sehen.

»Noch eins?«, fragte sie trotzdem.

»Sollen wir doch nach Bedarf machen. Und ich vergesse auch nicht den Strich auf dem Zettel am Kühlschrank.«

Sylvie Liebig zuckte mit den Schultern, und Jo griff nach der blau-weißen Schachtel, drückte eine weiße Tablette heraus und reichte sie mit einem Glas Wasser seiner Tochter. »Nimm das, dann tut es nicht mehr so weh«, flüsterte Jo. Sophie trank. Atmete durch. Es schien so, als sammelte das Mädchen seine Kräfte, damit es überhaupt etwas hinunterbekam. Sie spürte, wie Jo ihr im Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter legte, und hörte, wie er den Wasserkocher anknipste. »Willst du auch einen Tee?«, fragte er sie. »Ja, warum nicht«, antwortete Sylvie Liebig und wandte sich ihm zu. Wie kamen sie nur aus der einen oder anderen Sackgasse, in der ihre Beziehung gelandet war, wieder heraus?

In dem Moment knallte und schepperte es, als schlüge jemand mit der Faust auf den Tisch. Erschrocken fuhr Sylvie Liebig herum. »Oh, mein Gott!«, schrie sie, als sie Sophie sah – und erstarrte. Ihr Mädchen lag mit dem Gesicht in der Suppenschüssel, die Haare in der Brühe. Ihr Mann sprang zum Tisch und riss Sophies Kopf aus der Suppe. »Sophie!«, schrie er. Sie reagierte nicht. Öffnete die Augen nicht, die ihr zugefallen waren. »Sophieee!«, brüllte er. Rüttelte an ihr. Schüttelte ihren Mädchenkörper, schmal und spannungslos.

»Sylvie, ruf einen Krankenwagen!«

Sie rührte sich nicht.

»Sylvie!«, schrie er, als säße sie am anderen Ende Berlins und nicht direkt vor ihm, »1-1-2! Schnell!!«

Sie reagierte nicht. Regte sich nicht. Saß nur da wie gelähmt.

Jo schnaubte wütend und legte Sophie auf den Küchenboden. »Ihre Beine sind kälter als die Fliesen«, rief er. Er rannte zu seinem Handy, das er immer auf die Kommode an der Haustür legte, wenn er aus der Schule kam.

Leise, ganz leise fragte seine Frau: »Atmet sie, Jo? Atmet sie überhaupt noch?«

16.13 Uhr

Der silberne Mercedes 300 SL stand mit aufgeklappten Flügeltüren auf dem Hof zwischen Scheune und Garage, direkt vor Werner Mühlens Fachwerkhaus. Seit einer ganzen Weile schraubte Mats Holm mit seinem alten Freund und Ziehvater an dem Oldtimer aus den Fünfzigerjahren. Holm hatte sein hellgraues Jackett ebenso lässig über den Zaun geworfen wie sein helles Hemd und seine dunkle, italienische Krawatte. Sein weißes T-Shirt betonte sein Gesicht. Wuchtiges Kinn, volle Lippen, präsente Nase. Dunkelbraune Augen, die schwarzen glatten Haare trug er kurz. Seine sportliche Figur lehnte über dem Motorraum. »Lass mal an«, rief er seinem Freund zu.

Der Motor stotterte und ging aus.

»Ist eine harte Nuss!«, rief Werner. Er klang nicht genervt, sondern erfreut.

Was wärst du ohne eine Herausforderung, ohne Spaß, ohne das echte Leben, mein Freund, dachte Holm lächelnd. Ich bete, dass ich mit 70 genauso bin wie du.

Werner stieg aus dem Wagen, strich über seinen gemütlichen Bauchansatz und fuhr sich durch die grauen Haare.

»Knacken wir schon noch«, antwortete Holm. »Schön, dass wir überhaupt mal wieder Zeit für so etwas haben.« Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

»Ich war es nicht, der immer wieder die Verabredungen abgesagt hat«, erwiderte Werner.

»Man muss Prioritäten setzen, weißt du doch«, sagte Holm.

»Na, vielen Dank, dass ich auf deiner Prio-Liste ganz unten stehe.«

»Komm schon, Werner.«

»Noch unter deinen Affären, Holm!«

»Wer sagt, dass du überhaupt auf meiner Prioritätenliste stehst?«

»Schnösel«, sagte Werner, grinste jedoch dabei. Holm wusste, dass Werner seinen Humor und seine Schlagfertigkeit schon immer gemocht hatte. Ihn auch deshalb vor langer Zeit in seine PR-Agentur holte. Werner wischte sich die Hände ab, zog aus einem Holzeimer voll Eis zwei Bierflaschen und warf Holm eine zu.

»So nah an Berlin und doch so ruhig hier.« Holm blickte über Werners Hof und die Felder Richtung Sonnenuntergang. Sein Freund nickte und genoss den friedlichen Augenblick.

»Morgen früh machen wir das Schätzchen fertig und fahren eine Runde«, sagte Werner schließlich.

»Das kommt als Prio eins ganz oben auf meine Liste. Versprochen!« In dem Moment klingelte Holms Smartphone.

»Mal sehen, wie lange es dort bleibt«, murmelte Werner. Sein Zögling machte eine entschuldigende Geste.

»Holm. Guten Tag.«

»Hallo, Herr Holm! Öztürk mein Name. Ich bin Director Communications von Wenner Pharma. Schön, dass ich Sie direkt erwische.«

»Ich bin in einer wichtigen Besprechung«, antwortete Holm der Kommunikationschefin. Er prostete Werner still zu, während er schnell zusammensuchte, was ihm zu Wenner einfiel. Großkonzern, Medikamente, international aufgestellt, börsennotiert, forschend, Tausende Mitarbeiter allein in der Berliner Zentrale. Keine Skandale.

»Dann komme ich direkt zur Sache«, sagte die Frau mit einem kühlen Unterton. Da ist jemand aber angesäuert, bemerkte er. Das kannte er nur zu gut. Die PR- und Kommunikationsleute seiner Auftraggeber – ob Unternehmen, Ministerien oder Promis – hassten es, wenn die Bosse nach Holm riefen. Sie fühlten sich degradiert und übergangen. Einerseits konnte er das verstehen. Andererseits hatten die Bosse wohl einen Grund, ihn zu rufen. Nicht sein Problem, sondern sein Geschäft. Ein riskantes dazu.

»Unser CEO würde Sie sehr gerne kurzfristig in die Konzernzentrale einladen«, sagte Öztürk mit wenig Euphorie in der Stimme.

Kurzfristig hieß, dass es sich wohl kaum um einen Kennenlerntermin mit dem CEO handelte, dem Chief Executive Officer, sprich: dem obersten Boss. Haben sie also wieder so lange gewartet, schloss er, bis das Kind schon halb im Brunnen ist, und ich soll es mal eben wegzaubern.

»Wie kurzfristig?«, wollte er wissen.

»Ganz kurzfristig. Sofort, sozusagen.«

»Es gibt einen Anlass, nehme ich an?«, fragte Holm.

»Das erfahren Sie hier.«

»Wie heiß ist die Geschichte?«

»So heiß, dass die lebende Legende der Branche sich nicht gerade langweilen dürfte.« Da drückt sie bei mir die richtigen Knöpfe, gab er in Gedanken zu, das muss ich ihr lassen.

»Nun gut«, fuhr die Sprecherin von Wenner Pharma fort, »wir haben noch nicht zusammengearbeitet. Haben Sie Pharmaerfahrung?«

»Am Rande. Schon länger her«, antwortete Holm wahrheitsgemäß.

»Wir erwarten größte Diskretion. Darf ich fragen, was Ihre Konditionen sind?« Holm atmete tief durch und sah Werner an. Der verdrehte nur die Augen und zog seinen Finger über die Kehle. Holm zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Was soll ich machen, mein Lieber?

»Erstens: Ich brauche von Ihrer Seite die Wahrheit. Zu jedem Zeitpunkt.«

»Ich meinte mehr die finan …«

»Zweitens: Ich lüge nicht für Sie.«

Sie schwieg.

»Drittens: Das Honorar liegt im Ermessen von Doktor Hansen. Am Ende des Jobs.« Holm war der Name des Topmannes von Wenner eingefallen, dem CEO: Doktor Torben E. Hansen.

Sie räusperte sich – um Zeit zu gewinnen, vermutete Holm –, ehe sie sagte: »Dann stimmt also, was man sich über Sie so erzählt.«

»Diese drei Punkte sind mein voller Ernst.«

»Na, kokettieren Sie nicht zu sehr mit ihrem Ruf, Herr Holm. Wir erwarten Sie in einer Stunde.«

»Da müssen Sie schon einen Hubschrauber schicken«, sagte Holm und zwinkerte Werner zu.

»Welche Adresse?«, konterte sie trocken.

»Zu viel der Ehre«, antwortete Holm lachend. »Geben Sie mir anderthalb Stunden, und ich rieche nicht nach Motoröl.«

»Ich kann nicht sagen, dass ich mich freue, aber ich bin gespannt auf Sie«, meinte Öztürk, bevor sie auflegte.

Wow, was war das denn für ein Abgang! Da hat jemand aber Temperament. Und Druck.

Werner wollte etwas sagen, aber Holm hatte bereits die Nummer von seiner Partnerin, Laura May, gewählt und das Smartphone am Ohr.

»Du störst«, meldete sie sich nach dem dritten Klingeln. Sie war schwer außer Atem.

»Ist es das, wonach es sich anhört?«, fragte Holm und zog eine Augenbraue hoch.

»Outdoor … Functional … Circuit«, antwortete Laura stoßweise.

»So was Ähnliches mache ich gerade mit Werner«, sagte Holm.

»Grüß schön.«

»Du musst leider deine Freiluftgymnastik abbrechen. Wir haben ein Date.«

»Mit wem?«

»Wenner Pharma. Nimm ein Taxi. Scan den Laden auf der Fahrt. Du briefst mich dort. Vor deren Parkplatz. In einer Stunde.«

»Bin schon unterwegs«, sagte Laura und legte auf.

Holm strich über den eleganten Oldtimer. »Das Gute ist, dass du nicht wegläufst, mein Schätzchen.«

»Jaja, und ich alter Mann auch nicht.« Werner grinste, bis Holm ihn an sich drückte, dann zu seinem A8 ging, ein frisches weißes Hemd aus dem Kofferraum holte und sich auf den Weg zur Dusche machte.

16.34 Uhr

Als der Rettungswagen mit Sirenengeheul Richtung Krankenhaus schoss, konnte Sylvie Liebig nicht mehr an sich halten. Tränen strömten über ihre Wangen. Die Männer hatten Sophie, ihre Sophie, auf diese Pritsche gehievt, mit Suppennudeln in den feuchten Locken, und die Gurte mit einem Ruck und einem Ratsch festgezogen wie bei einem Möbeltransport. »Hey!«, wollte sie rufen. »Passen Sie doch auf! Sie ist erst sechs!« Aber sie bekam kein Wort heraus. Erst recht nicht mehr, als sie sah, wie Sophies Köpfchen in den Kurven hin und her geworfen wurde, wie eine Kugel, die an einem Faden hing. Dazu das eiskalte Neonlicht, der koffernde Funkverkehr und dieses unheilvolle Taaa-tüüü Taaa-tüüü, das monoton dröhnte, laut, unfassbar laut und direkt über ihr, in ihrem Kopf, zwischen allen Gedanken, die ohnehin ziellos rasten. Sie spürte Angst vor dem, was kam. Wie eine Hand an ihrem Hals, die langsam zudrückt, im Takt des Sirenengeheuls. Als Nächstes nahm sie wahr, dass sie betete. Oder besser gesagt: Gott bat, ihr Sophie nicht zu nehmen. Bitte nicht! Nicht so früh! Nicht so grausam früh.

Kein Amen. Nur Sirenengeheul, Augenränder und Tränen.

Und der eine Satz des Sanitäters, den er in ihrer Küche nach ein paar geübten Handgriffen gesagt hatte: »Wir müssen so schnell wie möglich ins Krankenhaus!« Er hatte es so gesagt, dass sich jede Nachfrage erübrigte.

Warum? Dieses Wort krallte sich in ihr fest. Hatten sie zu lange gewartet? Oder die falschen Medikamente verschrieben bekommen? Sie hatte sich sogar auf dieses neue Wundermittel eingelassen, extra für Kinder entwickelt, wie Doktor Esslinger stets versicherte, obwohl sie der Pharmabranche ebenso misstraute wie der Schulmedizin. Wie hieß das Zeug noch mal? Validolor! Allerdings hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie es Sophie zunächst besser gegangen war. Vor den Augenrändern.

Plötzlich bremste der Fahrer abrupt. »Mach schon!«, hörte sie Jo vorne rufen, mit etwas in der Stimme, das sie nicht an ihm kannte. »Zur Seite, du Arschloch!« Der Fahrer sagte nichts, hupte, riss den Hebel für das Fernlicht vor und zurück. Sie blieben fast stehen.

Nein, nicht jetzt!

Wir müssen so schnell wie möglich ins Krankenhaus!

Sie konnte nicht sehen, was vor ihnen auf der Straße los war. Behinderte sie nur ein Auto? War Stau? Ein Unfall? Sie blieben ganz stehen, während die Sirene immer weiter heulte. Ausgeliefert! Wir sind total ausgeliefert. Sophie. Ich kann nichts machen. Weder den Weg frei noch mein Kind gesund. Halbe Stoßgebete zählten nicht. »Endlich, du Wichser!«, hörte sie Jo brüllen. Sie nahmen wieder Fahrt auf. »Schreiben Sie das Kennzeichen auf«, wies ihn der Fahrer an. »Nur für den Fall, dass …« Sylvie Liebig durchzuckte es. Schnell hörte sie weg und überließ sich dem Sirenengeheul. Doch der Satz hatte es längst in ihr Gehirn geschafft und heftete sich in ihre Erinnerung. Für immer.

Nur für den Fall, dass …

Reiß dich zusammen, Sylvie! Du musst etwas tun. Jetzt!

Sophies Kopf kugelte hin und her und hin und her. Und sie, ihre Mutter, saß am Fußende, festgeschnallt. Sie riss den Gurt los, auch wenn der Sanitäter, der ihr gegenüber saß, es ihr strikt verboten hatte, und stürzte zum Kopfende. Als der junge Mann pflichtbewusst nach ihrem Arm griff, schlug sie nach ihm, einfach so, ungewollt hart, ohne hinzusehen, und er ließ sie gewähren. Sie hielt Sophies Kopf fest, streichelte ihn, küsste ihr Mädchen auf die Stirn und flüsterte ihr zu: »Wir schaffen das! Ich bin da! Papa ist da!« Sie wiederholte es, und obwohl sie nur flüsterte, hörte sie die Sirenen nicht mehr und zupfte Suppennudeln aus den Haaren ihres Mädchens. Sophies Brust hob und senkte sich wie in Zeitlupe. Sylvie Liebig hielt ihren Kopf fest, ganz fest. Auf einmal zog der Rettungssanitäter sie brutal fort. Sie wehrte sich, bis die Worte »Wir sind da, Frau Liebig!« zu ihr durchdrangen und die Hintertüren aufgerissen wurden.

17.25 Uhr

Holm konnte es kaum glauben, als Laura aus dem Taxi stieg und auf seinen Wagen zukam. Sie war nicht nur vor ihm am Gelände von Wenner Pharma angekommen, obwohl sie eben noch bei ihrem Functional Outdoor Blabla durch das Unterholz geturnt sein musste und zudem die weitere Anfahrt hatte. Sie sah darüber hinaus perfekt aus. Laura May, 38, ganz Geschäftsfrau. Sie trug einen hellen taillierten Hosenanzug, dezenten Schmuck, leichtes Make-up, das ihre hellblauen Augen und hohen Wangenknochen betonte. Ihre braunen Haare lagen so einwandfrei, als hätte sie im Kofferraum einen Friseur versteckt. Für Notfälle wie diesen. Ich lass mir gleich von dir den Kofferraum zeigen, witzelte er für sich und lächelte ihr entgegen.

Dass sie ihn jetzt knapp und auf den Punkt briefen würde, dessen war er sich sicher. Sie hatte ihn noch nie enttäuscht. Sie wusste, welche Art von Informationen ihn für den Erstkontakt mit einem Kunden interessierte. Sie stieg in den Wagen und gab ihm zur Begrüßung einen zarten Wangenkuss.

»Gib es zu, Laura, du hast genau so zu Hause gesessen und auf meinen Anruf gewartet.«

Sie lächelte ihn an und zog ihr rechtes Hosenbein bis zum Knie hoch. Darunter kamen sportliche Dreiviertel-Leggings zum Vorschein.

Holm musste lachen.

»Du bist echt in Lichtgeschwindigkeit unterwegs, Laura.«

»Frauen sind einfach nur praktische Wesen, was Männer immer wieder verblüfft«, konterte sie. »Aber vielen Dank für das Kompliment. Interessierst du dich nebenbei auch für ein paar Fakten über unsere Pillenfreunde?«

»Schieß los!«, sagte Holm.

Fünf Minuten später stiegen sie aus dem Wagen und gingen zur Empfangsschleuse. Sie kannten diese erhöhten Sicherheitsvorkehrungen gegen ungebetene Gäste seit Jahren. Gelassen ließen sie die Personenkontrolle über sich ergehen. Leyla Öztürk verschwendete keine Zeit mit Smalltalk. Kurze Begrüßung, gesenkte Stimme, schnelle Augen. Wenig Zeit bei viel Druck, schloss Holm. Er beobachtete die zierliche Unternehmenssprecherin von Wenner Pharma genau. Während Öztürk sie wortlos zum Fahrstuhl und dann zum Konferenzraum der Geschäftsleitung führte, merkte Holm, wie sein Radar anging. Auch wenn er schon unzählige Male am Empfang abgeholt worden war, um wenig später in ein dunkles Geheimnis oder in eine dramatische Situation eingeweiht zu werden, spürte er, wie alles in ihm wachsam wurde, extrem konzentriert und kampfbereit. Er liebte diesen Zustand: Wenn der Profi in ihm hochfuhr. Eine Schlacht auf ihn wartete. Der Anfang eines Rauschs.

Der Grund, warum ich immer weitermache. Nicht Geld, nicht Ruhm.

Du bist ein Krisen-Junkie, Holm, sagte eine andere Stimme. Erst im Ausnahmezustand fühlst du dich richtig lebendig.

Ich kann nicht anders, antwortete er.

Öztürk blieb vor einer massiven Tür stehen. Sie sah beide kurz an, setzte ein Lächeln auf und betrat den Raum. Als er über die Schwelle schritt, wusste Holm ganz genau, dass er in den nächsten Minuten punkten musste, Ruf hin oder her. Er hatte schon viele Konferenzräume der mächtigsten Firmen und Menschen im Land gesehen. Dieser hier war mehr ein Saal, geschmackvolle Einrichtung, in der zweiten Reihe standen für die Referenten Bauhaus-Ledersessel, die über 6000 Euro das Stück kosteten. In der ersten Reihe hatten fünf Männer, die sich im Stehen leise unterhielten, ihre Unterlagen auf dem lang gezogenen Konferenztisch abgelegt. »Meine Herren, darf ich vorstellen: Mats Holm und Laura May von Holm KPR.« Holm nickte den Männern zu, die alle zwischen Ende vierzig und Anfang sechzig waren. Er erkannte gleich den CEO, Hansen, dessen Foto ihm Laura auf dem Parkplatz gezeigt hatte. Tatsächlich Chefsache. Holm machte einen Scan: Edle Anzüge, gedeckte Krawatten und Manschettenknöpfe. Pluspunkt, dachte Holm. Er traf gerade auf Spitzenmanager mit astronomischen Gehältern, auf Erfolgsmenschen und Alphatiere. Sie fühlten sich gerne überlegen, auch was Statussymbole aller Art anging, das war Holms Erfahrung. Deshalb trug er nie Manschettenknöpfe.

»Herr Holm, ich darf Sie bekannt machen: Herbert Schneider von der Eitsch Aar«, Leyla Öztürk sprach es amerikanisch aus, Human Resources, kurz HR, auf gut Deutsch war Schneider der Personalchef. Holm würde sich nie an diese albernen Anglizismen gewöhnen. Der scheint für die Arbeit zu leben, hatte Laura zu ihm gesagt, ein Mann ohne Eigenschaften, kein Wort über sein Privatleben, nirgendwo. Unten in der Hackordnung, urteilte Holm, da Schneider ihm als Erster vorgestellt wurde. Holm nahm Laura leicht an der Schulter und ließ sie zuerst Schneider begrüßen. Er sah genau hin: Schneiders Händedruck war sichtlich fest, selbst bei einer Frau. Männerwelt, alte Schule. Holm dosierte seinen Händedruck so, dass Schneider sich einen Tick kräftiger und männlicher fühlen konnte.

»Magnus Källström, Marketing, und Ron Steadham, Innovation.« Laura war Steadhams Karriere aufgefallen. Steil, aber sprunghaft, er wechselte Branchen und Arbeitgeber häufiger als andere ihre Unterhosen. Basketballer, Alba-Berlin-Fan. Einer ohne Angst. Einer, der voll auf Risiko ging. Wenn Holm in dieser Hinsicht einen Verbündeten brauchte – und das würde früher oder später der Fall sein –, dann war Steadham sein Mann. Zeit für eine Duftmarke. »Lief gestern nicht so bei Alba«, sagte Holm, als sie Hände schüttelten. Das zauberte ein Lächeln auf Steadhams Gesicht. »Taylor hat im letzten Viertel die Lichter ausgeschossen«, meinte er und zuckte mit den Schultern. Danke für die Vorlage, meine liebe Laura.

»Doktor Heiner von Granditz, Dschiii Sii.« Der General Counsel, GC, hatte üblicherweise die Rechtsabteilung unter sich und war oberster Berater der Firmenspitze. Ein Justiziar mit zahlreichen Sonderbefugnissen. Holm registrierte von Granditz’ skeptischen Blick. Zusammengekniffene Augen. Striche statt Lippen. Der Einzige mit Dreiteiler. Und Taschenuhr. Keine Frage: Die graue Eminenz. Selbstgefällig. Nicht leicht zu überzeugen. Mit Vorsicht zu genießen. »Frau Öztürk sagt, man nennt Sie in der Branche den Master of Desaster. Ist das Hohn oder Ehre?« Reaktionstest. Die anderen lachten leise. Holm lächelte Laura entspannt an und antwortete: »Auf jeden Fall bin ich hier. Und einen englischen Titel habe ich auch zu bieten.« Er sagte es leicht, nicht allzu forsch, doch während alle anderen schmunzelten, sah er das winzige Zucken in von Granditz’ Augenwinkeln.

Eigentor. Mist.

»Last but not least natürlich unser CEO und Chef der Pharmasparte, Doktor Torben E. Hansen.«

»Danke, Herr Holm, dass Sie so kurzfristig zur Verfügung stehen.«

»Gerne, wir waren in der Stadt«, erwiderte Holm und blickte Hansen in die stahlblauen Augen. Ein Überflieger. Schon immer gewesen. Abi mit sechzehn. Oxford. Erste Firma mit zweiundzwanzig. Und so weiter. Mit achtundvierzig war er der Jüngste in dieser Runde. Verheiratet, zwei Kinder, 16-Stunden-Tage, makelloser Ruf. So hatte Laura es ihm im Wagen berichtet. Hansen lud sie beide mit einer geübten Geste dazu ein, Platz zu nehmen.

»Herr Holm«, übernahm von Granditz die Gesprächsführung, bevor alle überhaupt saßen, »es geht um eine sehr heikle Angelegenheit. Je weniger davon wissen, desto wohler fühlen wir uns. Könnte Ihre Assistentin, verstehen Sie mich nicht falsch, vielleicht draußen warten?«

Holm nahm den Justiziar einen Augenblick lang ins Visier.

»Nein, Herr Doktor von Granditz, das kann sie nicht. Frau May ist nicht meine Assistentin, sondern meine Partnerin.« Natürlich weißt du das längst, schimpfte Holm innerlich, das sehe ich dir an.

»Uns gibt es also nur im Doppelpack!«, sagte Laura selbstbewusst.

Alle schwiegen.

Na dann, dachte Holm, war das ja ein kurzer Spaß.

Er wartete eine, zwei Sekunden, bevor er sich auf den Edelholztisch stützte, um gleich wieder aufzustehen. In dem Moment räusperte sich CEO Hansen, was genügte, um alle Blicke auf sich zu ziehen. »Ich teile die Sorgen von Herrn Doktor von Granditz«, begann er, »doch ich darf annehmen, dass Sie mit Frau May so eng zusammenarbeiten, dass sie es früher oder später sowieso erfahren wird.« Mehrere in der Runde nickten. Von Granditz biss sich auf die Lippen.

Holm setzte sich langsam und fragte: »Gut. Wie können wir Ihnen helfen?« Er genoss es, das wir zu betonen.

»Frau Öztürk, berichten Sie bitte die Key Facts«, spielte Hansen den Ball an seine Kommunikationschefin. Sie nickte und ratterte die Fakten herunter: »Es gibt eine Reihe von erkrankten Kindern. Zwei Dutzend, soweit wir wissen. Tendenz steigend. Die Krankheitsverläufe sind schwer. Und vor allem: Sie lassen sich nicht richtig zuordnen.«

»Was heißt das?«, fragte Holm.

»Die Ärzte finden keinen Zusammenhang zwischen Verlauf und Ursache. Und vermuten medikamentöse Nebenwirkungen.«

»Lässt sich das Problem räumlich eingrenzen?«, fragte Laura.

»Nein«, antwortete die Sprecherin schmallippig. Nach einer kurzen Pause gab Schneider, der Personalchef, sich einen Ruck und verriet: »Wie wir über informelle Kanäle bei der zuständigen Behörde erfahren haben, scheinen die Fälle einen gemeinsamen Nenner zu haben. Auf Basis von ärztlichen Erstbefragungen.«

»Die wir nicht für besonders zuverlässig halten«, merkte von Granditz an.

»Weil?«, hakte Laura nach.

»Die Ärzte oft übermüdet sind«, übernahm Öztürk wieder. »Die Eltern sind aufgeregt. Sie können sich mit den Namen der Medikamente vertun – oder welche vergessen. Es gibt keinen einheitlichen Fragenkatalog. Und so weiter.«

»Und trotzdem«, bemerkte Holm, »ist der gemeinsame Nenner eines Ihrer Medikamente, nehme ich an?«

»Exakt!«, sagte Hansen ohne Umschweife. »Sie schalten schnell, Herr Holm. Wir wissen nicht, was da dran ist. Wir können es nicht überprüfen. Wir müssen damit rechnen, dass der Name unseres Medikaments ziemlich schnell bei der Presse landet.«

»Und das ist absurd«, fand Steadham kopfschüttelnd. »Die meisten Medikamente, die Kinder verabreicht bekommen, sind gar nicht für sie zugelassen. Man nimmt die Medikamente für Erwachsene und senkt die Dosis. Das nennt sich Off-Label-Use. Die Politik will daran schon lange etwas ändern. Der medizinische Fortschritt soll den Kindern mehr zugutekommen. Wie edel! Und wir gehen mit Validolor gezielt in diesen Markt, entwickeln ein bahnbrechendes Schmerzmittel speziell für Kinder, mit einer langfristigen Strategie, während die anderen sich aufs ganz große Geld bei den onkologischen und kardiologischen Zielgruppen stürzen. Die Rückmeldungen der Ärzte und Patienten zu Validolor sind überwältigend. Die Verkaufszahlen top. Experten nennen es das beste Schmerzmittel für Kinder zwischen drei und zwölf Jahren – als Dankeschön dafür bekommen wir schlechte Presse, und alles steht in Frage.«

Källström, der Marketingchef, sagte: »Wir haben die Konkurrenz im Verdacht. Wir haben denen in den ersten zehn Monaten über dreißig Prozent Marktanteil in dem Segment abgejagt. Unsere mutige Strategie kostet die zu viel Geld. Da dreht jemand am Rädchen und will Validolor mit Schmutz bewerfen.«

»In unserer Branche wird mit besonders harten Bandagen gekämpft, Herr Holm«, erklärte Hansen.

»Kann man es falsch nehmen? Überdosieren?«, fragte Laura.

»Bisher ist kein solcher Fall bekannt«, antwortete Hansen.

»Und jetzt auf einmal so viele?«, schaltete sich von Granditz wieder ein. »Unsinn! Das Mittel ist juristisch unanfechtbar. Der Beipackzettel nimmt fast kein Ende, so detailliert steht da alles drin.«

Hansen nickte, ehe er sich Holm zuwandte. »Dürfen wir erfahren, wie Sie die Lage einschätzen?«

Da brauche ich nicht lange zu überlegen, dachte Holm. Er sah Hansen in die Augen und sagte: »Alarmstufe Rot!«

17.44 Uhr

Das Schlimmste war die Ungewissheit. Was war los? Was hatte Sophie? Würde sie wieder gesund werden? Sylvie Liebig wusste schon jetzt nicht mehr, wie sie diese ewigen Minuten im Wartestand totschlagen sollte. Immerhin kümmerte sich Caro um Sophie.

Sylvie Liebig war ein Stein vom Herzen gefallen, als sie auf der Intensivstation als Erstes Caro in die Arme gelaufen war. Sie kannten sich vom Sehen, aus dem Kindergarten, die Kinder waren beide in der Pinguingruppe. »Hallo, Sylvie! Warum seid ihr denn hier?«

»Hallo Caro, ich wusste gar nicht, dass du in diesem Krankenhaus arbeitest!«

Ungläubig las sie das Namensschild: Dr. Eichen.

»Ja doch, auf einer halben Stelle im Moment.«

»Sophie ist eben zusammengeklappt«, sagte Jo. »Und seit Wochen krank.«

»Ich sehe zu, dass ich sie betreue. Okay?«

»Großartig!«, antwortete Sylvie, die einfach nur froh war, dass Sophie nicht in der Anonymität der großen Klinik unterging.

In der Zwischenzeit hatte Doktor Carolin Eichen verschiedene Tests und Untersuchungen durchführen lassen sowie die Liebigs ausführlich zur Vorgeschichte befragt: Wie es angefangen hatte, wie oft sie bei welchem Arzt gewesen waren. Welche Untersuchungen der durchgeführt und welche Diagnosen er gestellt hatte. Ob sie jüngst verreist waren. Welche Medikamente sie seit wann in welcher Reihenfolge und Dosis gaben. Bei dem Namen Validolor schien Caro für einen Augenblick noch aufmerksamer zu werden, als sie ohnehin schon vor ihnen saß. Fast eine halbe Stunde dauerte das Fragespiel. Und die Ärztin schrieb sich alles ganz penibel auf. Das Ganze verunsicherte nicht nur Sylvie, sondern merklich auch Jo. Am Ende hatte Doktor Carolin Eichen eine Hand auf Sylvies Schulter gelegt. »Ich weiß, dass das ein schrecklicher Abend für euch sein muss. Aber Sophie ist stabil. Und hier auf der Intensiv können wir sie bestens beobachten.« Sylvie war ihr einfach nur um den Hals gefallen und hatte sie fest gedrückt.

Sie zehrte von diesem Moment während der Warterei. Dieses Nichtstun – und Nichtstunkönnen – ist die reinste Folter für uns, dachte sie.

Sie zogen sich einen Automaten-Kaffee, den man bestenfalls gewöhnungsbedürftig nennen konnte. »Etwas Koffeinnachschub könnte ich auch gebrauchen«, sagte Caro lachend, als sie die beiden in der Wartezone antraf.

»Darf ich euch noch ein paar Fragen stellen?«

»Wenn es hilft«, sagte Jo. Es klang genervter, als es gemeint war, da war Sylvie sich sicher. Die Ärztin wusste damit umzugehen.

»Es geht noch einmal um dieses Validolor.«

»Was ist damit?«, fragte Sylvie aufmerksam. »Stimmt was mit dem Zeug nicht?«

»Im Moment sammle ich nur Informationen. Um Sophie zu helfen. Damit sie gesund wird. Okay?«

Sylvie nickte.

»Seid ihr euch sicher, dass ihr nie eine zu hohe Dosis gegeben habt?«

»Na ja, heute haben wir ihr mehr gegeben, weil unser Kinderarzt gesagt hat, wir sollen es nach Bedarf einsetzen. Ansonsten haben wir uns genau daran gehalten, weil ich – nimm das nicht persönlich – diesem ganzen Pharma-Schulmedizin-Ding nicht so richtig traue.«

»Das heißt, ihr habt euch die Verabreichung der Medikamente geteilt?«

»Ja, warum?«

»Kann es sein, dass ihr aus Versehen Sophie beide Validolor gegeben habt, weil ihr mit der Reihenfolge durcheinandergekommen seid oder so?«

»Auf keinen Fall. Wir haben sogar Buch geführt, auf einem Zettel am Kühlschrank.«

»Man kann ja mal vergessen, es einzutragen«, insistierte die Ärztin.

»Haben wir nicht«, antwortete Jo.

»Caro, bitte. Was ist denn los?«

Sophies Ärztin sah sie an, blickte dann über die Schulter und rückte näher zu ihnen.

»Ich darf euch das eigentlich gar nicht sagen. Aber wir haben noch ein Kind in der Klinik. Und wir finden nicht heraus, was es hat.«

»Oh, mein Gott!«, wisperte Sylvie. Jo nahm sie in den Arm.

»Deswegen die vielen Fragen. Wir haben versucht, eine Gemeinsamkeit herauszufinden.«

»Und keinen Erfolg gehabt?«, riet Jo ins Blaue.

Die Ärztin stockte. Rückte dann noch näher und sagte: »Das können wir noch nicht sagen. Es kann tausend Gründe geben. Allerdings …«

»Was denn, Caro? Ich bitte dich!«

»Allerdings haben wir bisher einen gemeinsamen Nenner gefunden.«

»Das Validolor«, flüsterte Jo.

Die Ärztin nickte.

»Bei zwei Kindern hat das doch wahrscheinlich wenig Aussagekraft«, meinte Jo, »es könnte sonst was sein. Eine Infektionskrankheit. Irgendwas aus den Tropen, das die Kinder über drei Ecken erwischt hat. Nicht wahr?«

Caro Eichen zögerte. Sie betrachtete ihre Hände, als würde sie jede Falte, jedes Äderchen dort zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. »Ich glaube, ich mache jetzt einen Fehler. Aber ich kann euch nicht anlügen. Ich sehe die ganze Zeit Sophie mit meiner Emma im Kindergarten spielen … Also, nach unseren Befragungen mussten wir annehmen, dass am ehesten das Validolor der Auslöser der Komplikationen sein könnte, weil beide es genommen haben und wir keinen anderen Anhaltspunkt gefunden haben. In solchen Fällen müssen wir, da legt auch mein Chef Wert darauf, unverzüglich die zuständige Behörde informieren. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Kurz BfArM. Die sitzen in Bonn, und ich habe denen die Vorkommnisse online gemeldet.«

»Ja, und?«

»Ich kenne jemanden, der da arbeitet, bin mit dem um die Häuser gezogen im Studium. Den habe ich angerufen, weil mir das alles so merkwürdig vorkam. Haltet euch fest: Die haben in den vergangenen 24 Stunden über zwei Dutzend Meldungen bekommen. Bundesweit. Fast alle haben die Verabreichung von Validolor gemeldet, manche allerdings noch nicht. Einige Kliniken machen jetzt Nachbefragungen. Auch zur Kombination von Medikamenten.«

»Wo sind wir da nur reingeraten?«, fragte Sylvie.

»Noch haben wir nichts Belastbares«, antwortete die Ärztin und verabschiedete sich.

Eine Weile saßen sie schweigend auf den Plastikstühlen, ehe Jo zu Sylvie sagte »Hauptsache, Sophie ist stabil.«

»Ich wollte ihr dieses verdammte Zeug nicht geben. Erinnerst du dich?« In ihrer Stimme schwang jetzt Wut mit. Viel Wut. Wut auf ihn.

»Der Esslinger hat gesagt, das wäre das beste Schmerzmittel für Kinder, das es gibt. Du warst doch dabei!«

»Und du konntest ihm nicht schnell genug beipflichten. Ich kam nicht mal mehr dazu, nach einer Alternative zu fragen. Geschweige denn nach homöopathischen Mitteln.«

»Und daran bin ich jetzt schuld?«

»Du hast dich mit ihm zusammengetan statt mit mir. Das ist bezeichnend für den Zustand unserer Beziehung.«

»Du willst jetzt nicht ernsthaft hier und anhand von Validolor den Zustand unserer Beziehung diskutieren?« Bei den letzten Worten, das merkte Sylvie, riss Jo sich sehr zusammen, um nicht laut zu werden. Er presste sie hervor, stand auf und ging zurück zu Sophie.

17.55 Uhr

»Alarmstufe rot?«, rief von Granditz. Führen durch Lautstärke, registrierte Holm gelassen. Diese Männermethode starb einfach nicht aus. Die Diskussion lief auf Hochtouren. »Die Schmierfinken haben nichts. Die Behörden haben ebenso nichts. Und tun uns im Zweifel auch nichts.«

»Ich meinte nur: Die PR-Krise rast auf Wenner zu«, ließ Holm den Wenner-Juristen an sich abtropfen.

Von Granditz sah jeden in der Runde an, um dann wieder souverän und abgeklärt fortzufahren; wenn dieser Ausbruch mal nicht kalkuliert gewesen war.

»Dass Sie als Spezialist für Krisen-PR auch eine Krise wittern, sei Ihnen unbenommen, Herr Holm. Bei Ihrem Geschäftsmodell ist das sicher unabdingbar. Ich hielte es nur für ratsam, das Augenmerk auf die Fakten zu richten.«

Der geht dich aber richtig an, stellte Holm fest. Bist du einfach nicht sein Typ – oder störst du ihn dabei, in seinem eigenen Saft zu schmoren?

»Und Validolor«, übernahm Steadham, »haben wir in der Entwicklung aufgekauft. Dann die klinischen Studien, Tests, die Zulassungsverfahren bei den Behörden. Alles nach Lehrbuch.«

»Sie sind sich also ganz sicher, dass Sie sich nichts vorzuwerfen haben? Ein dummer Zufall, der ihr Validolor ins Gerede bringt?«

Er sah aus dem Augenwinkel Laura an, die unmerklich eine Augenbraue hochzog. Pass auf, was du sagst, sollte das bedeuten. Holm hob beschwichtigend die Hände.

»Meine Herren, Frau Öztürk. Sie dürfen mich jetzt nicht falsch verstehen. Aber: Wann hatten Sie Ihre letzte große PR-Krise?«

»Lange her«, murmelte Schneider.

»Wir sind ein gut geführtes Unternehmen hier«, erklärte von Granditz voller Überzeugung.

»Wollen Sie sagen«, ging CEO Hansen dazwischen, »dass wir ohne Ihre Erfahrung, Herr Holm, auf dem Weg in die Katastrophe sind?«

Setz dein verständnisvolles Gesicht auf, befahl Holm sich. »Mir geht es nicht um einen Auftrag mehr oder weniger, Doktor Hansen. Und bis hierhin, Frau Öztürk, hat Ihr Bereich in der Tat gut gearbeitet.«

»Aber?«, hakte Hansen nach.

»Wenn Sie am Anfang einer PR-Krise die Weichen falsch stellen, fährt der Zug in die falsche Richtung.«

»Frau Öztürk hat als Ihre Kollegin eine klare Position genannt: sachlich dementieren und abwarten. Welche Linie empfehlen Sie uns?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, antwortete Holm.

»Na toll«, warf von Granditz ein. Holm entging nicht, dass Öztürk selbstzufrieden lächelte.

»Das kann ich Ihnen derzeit nicht sagen«, sprach er unbeirrt weiter, »weil Sie noch in der Wagenburgphase stecken«.

Laura atmete tief ein. Er wusste, dass sie seine gelegentlich konfrontative Art waghalsig fand. Er nannte diesen Moment den Belastungstest. Er zeigte dem Kunden seine Schwächen auf. Ein Moment, auf den Bosse sehr empfindlich reagierten. Da es jedoch früher oder später ohnehin darauf hinauslief, nutzte Holm lieber den Vorteil, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen.

Bämm! Das saß. Jetzt schweigen sie alle, wie immer, dachte Holm. Und gleich gehen sie auf dich los.

Steadham wollte etwas sagen, ließ dann aber Hansen den Vortritt.

»Was meinen Sie mit Wagenburg?«

»Sie sehen das Problem nur aus Ihrer Sicht. Und sachlich.«

»Uns ist schon klar, dass kranke Kinder eine ziemliche Angriffsfläche bieten«, sagte Öztürk spitz.

»Genau«, sagte Holm und stand auf. »Kinder sind ein fieser Gegner in der PR. Da haben Sie von Anfang an verloren.« Er ging zu einem Flipchart und notierte in Großbuchstaben KINDER. »Sobald die Nachricht raus ist, werden die Eltern verunsichert. Bombardieren Ihre Hotline mit Fragen.« Er notierte auch ELTERN. »Und jetzt bitte ich Sie, die Sachebene für einen Moment zu verlassen. Ich weiß, dass Zahlen und Fakten Ihr gewohntes Terrain sind. Aber denken Sie alle für einen Moment in Bildern und Emotionen: Weinende Eltern, ratlose Ärzte. Dann springt der Funke über zu den Verbrauchern. Die bösen Pharmakonzerne. Big Pharma. Sie haben bei der breiten Masse wenig Freunde, auch wenn die alle Ihre Produkte schlucken wie die Weltmeister. Gemein, aber Tatsache. Das heißt: Die Leute sind bereit, eine negative Schlagzeile zu glauben.« Er schrieb ÄRZTE, VERBRAUCHER UND NEGATIV-IMAGE auf.

»Dann die kritische Öffentlichkeit: Auch wenn es kein Wenner-Watch gibt, soweit uns bekannt ist, werden sich Pharmakritiker auf das Thema stürzen.« KRITIKER. Holm spürte Schneiders bohrenden Blick. Dem schmeckt unser Erscheinen aber auch nicht, dachte Holm. Vielleicht hatte er den Personaler im ersten Moment unterschätzt. Ihm fiel ein, dass Laura im Auto berichtet hatte, dass Schneider und von Granditz seit über zwanzig Jahren für Wenner arbeiteten. Sich hochgedient hatten. Hochgekämpft haben mussten. Hochgeboxt. Bilden die beiden eine stille Achse in dieser Runde?, fragte er sich.

»Und natürlich die Medien«, fuhr Holm fort. »Maximale Zuspitzung. Ich sehe eine Schlagzeile, Seite eins in der BILD-Zeitung: Wenner Pharma – Nebenwirkung Tod.«

»Das ist eine unzulässige Behauptung!«

»Da schicke ich unsere Anwälte hin.«

»Warum überhaupt Tod?«, fragte Hansen irritiert.

Holm lächelte ihn an. »Wegen dem hier«, sagte er und tippte sich an die Stirn. »Kopfkino. Fantasie. Das Thema ist breit, vielschichtig, emotional. Es lässt sich kaum eindämmen.«

»Die können doch nicht einfach schreiben, was sie sich zusammenspinnen«, rief Steadham empört.

»Das stimmt«, antwortete Holm. »Es sei denn, sie machen ein Fragezeichen dahinter. Wenner Pharma: Nebenwirkung Tod? Schon können Sie Ihre Anwälte im Stall lassen. Nicht wahr, Herr von Granditz?«

»Ob mit oder ohne Fragezeichen«, fügte Laura hinzu, »bei den Leuten kommt dieselbe Botschaft an«.

»Und das wiederum heißt«, machte Holm weiter, »dass Sie mit reinem Faktendenken auf die Verliererstraße einbiegen. Es wird um Ihren Ruf gehen. Ihre Aktionäre werden bei den ersten Schlagzeilen nervös. Die Politik wird sich regen.« Er schrieb MEDIEN, AKTIONÄRE und POLITIK auf die Flipchart.

»Wir sind mit unseren Stakeholdern vertraut«, sagte Hansen ruhig, aber bestimmt. »Was wollen Sie uns sagen?«

Holm nahm sich einen Augenblick Zeit. Denn in wenigen Sekunden würde sich entscheiden, ob er die Wenner-Spitze überzeugen konnte oder nicht. Missionierung, hatte Laura diese Phase ironisch getauft. Das passte ganz gut, fand er.

»Es geht nur um Wahrnehmung und Emotion. Wahrnehmung! Und Emotion! Damit arbeiten wir. Ich muss von Ihnen die Wahrheit wissen, aber nur, um nicht zu lügen. Lügen ist tödlich in PR-Krisen. Mich interessieren erst einmal allein die Fakten, die unsere Linie, unsere Wahrnehmung und unsere Emotion stützen. Insofern müssen Sie dringend entscheiden, für wie groß Sie Ihr Problem halten. Dann wissen Sie, ob ich der Richtige für Sie bin oder nicht. Und wenn Sie meiner Analyse folgen, empfehle ich Ihnen eine wesentlich offenere und offensivere Strategie. Sie sind menschlich. Bedauern die Situation der Kinder. Und Sie handeln. Sie tragen zur Aufklärung bei, was möglich ist. Sind selbstkritisch. Diese Richtung.«

Holm schrieb WENNER in die Mitte der anderen Begriffe und zeichnete dicke Pfeile, die alle bedrohlich auf den Konzernnamen zeigten. Er ging langsam zurück und setzte sich auf seinen Platz.

»Ich bin klar für Dementi«, sagte von Granditz unbeeindruckt. »Je weniger wir herausgeben, desto weniger Angriffsfläche bieten wir.«

»Ich glaube auch, dass uns Offenheit nicht viel nutzen wird«, sagte Källström. »Genau aus dem Grund, den Sie genannt haben, Herr Holm: Wir können machen, was wir wollen, wir werden nie so beliebt sein wie Günther Jauch.«

Mit Öztürk machte das bereits drei Gegenstimmen.

Sag nichts. Du hast deinen Fall dargelegt. Und egal, ob mit oder ohne dich, Wenner Pharma muss sich verdammt beeilen, um auf den Orkan vorbereitet zu sein.

Er spielte mit der Sanduhr in seiner Hosentasche, die er immer bei sich trug.

»Zeit ist in der Krisen-PR die härteste Währung.« So hatte es Werner gesagt, als er Holm an seinem 60. Geburtstag die Agentur anvertraut hatte. Zehn Jahre war das her.

Hansen schaute noch auf Holms Skizze und überlegte. Dann wandte er sich der Runde zu. »Ich möchte am Ende unserer Beratungen einen Mittelweg vorschlagen: Frau Öztürk bereitet das Dementi und alles Weitere vor. Und ich würde mich sehr freuen, Herr Holm, wenn Frau May und Sie sich in den nächsten Tagen trotzdem für uns bereit hielten. Gegen Honorar, versteht sich.«

Holm schaute kurz Laura an, als wolle er den großzügigen Kompromissvorschlag mit ihr rückkoppeln. Doch er brauchte keine Sekunde über das Angebot nachzudenken. Ohne Hansen aus den Augen zu verlieren, stand Holm auf und streckte dem CEO souverän lächelnd die Hand entgegen.

»Ich danke für Ihre Einladung und Ihr Angebot. Aber wir konnten offensichtlich weder eine überzeugende Schnellanalyse vorlegen noch Ihr Vertrauen gewinnen. Ohne das geht es leider nicht. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und Ihnen auch, Frau Öztürk.«

18.11 Uhr

Heiner von Granditz zupfte seine Manschettenknöpfe zurecht. Dieser Holm würde also allen Ernstes den Auftrag eines Pharmakonzerns wie Wenner sausen lassen? Um so eine Referenz zu bekommen, würden andere betteln. Schleimen. Bezahlen.

War das konsequent von Holm? Oder selbstverliebt? Von Granditz brauchte nicht zweimal zu überlegen.

Er rümpfte kurz die Nase.

So einen konnten sie bei Wenner gerade gar nicht gebrauchen. Deshalb hatte er Hansens Plan, Holm zu engagieren, torpediert.

Holm streckte Hansen immer noch die Hand entgegen. Der griff schließlich zu: »Bei Ihnen weiß man auf jeden Fall sehr schnell, woran man ist.«

Genau, an einem eitlen Fatzken!

Hansen schüttelte Holms Hand immer weiter, hielt sie ganz fest, das sah von Granditz, ehe sein CEO sich auf einmal in seinen Stuhl fallen ließ und Holm so zwang, sich auch wieder hinzusetzen.

Was soll das, Hansen? Der große Meister hat doch schon beim ersten Gegenwind die Flinte ins Korn geworfen.

»Herr Holm, Frau May, Sie beide sind aus dem richtigen Holz geschnitzt. Wir möchten eine Anzahlung machen. Auf das Vertrauenskonto.« Hansen nickte Schneider zu.

Von Granditz hätte schreien können. Ließ sich aber natürlich nichts anmerken. Hansen zog es einfach durch. Was für eine Arroganz.

Schneider, der Personalchef, räusperte sich kurz, ehe er sprach.

»Herr Källström hat eben schon erwähnt, dass wir die Konkurrenz in Verdacht haben, Validolor zu attackieren. Das nicht ohne Grund. Seit 48 Stunden ist eine Mitarbeiterin von uns verschwunden. Sandra Schönbaum. Abteilungssekretärin bei unserem Forschungsleiter mit Zugang zu sensiblen Dokumenten. Beruflich hat sie bei uns immer nur Bestnoten bekommen, privat ist sie allerdings etwas, sagen wir: unstet. Wir nehmen an, dass sie geheime Papiere an die Konkurrenz verkauft hat und nun untergetaucht ist.«

Von Granditz beobachtete, wie Holms Augen sich weiteten. Natürlich sprang er darauf an. Und natürlich war es ein Fehler, Externe in diesem Stadium in diese Interna von Wenner einzuweihen.

»Haben Sie denn schmutzige Wäsche«, fragte Holm geradeheraus, »die Ihre Konkurrenz so sehr interessieren könnte?«

»Wissen Sie«, antwortete Steadham, »bei uns wird viel Papier produziert. Gerade bei der Entwicklung von einem Medikament wie Validolor finden Sie immer einen kritischen Zwischenstand, Streit unter Experten oder ein paar missverständliche Sätze.«

»Dürfte Rimson & Pryce nicht allzu schwerfallen«, fuhr Hansen fort, »Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen oder Versatzstücke und halb gare Informationen so lange zusammenzurühren, bis wir ganz schlecht aussehen.«

Holm sagte: »Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Allein schon von Berufs wegen.« Die Runde lachte kurz über Holms selbstironische Bemerkung.

»Trotzdem ist Geheimnisverrat und Abtauchen ein schwerer Vorwurf gegen Frau Schönbaum«, merkte May an.

Aber wir können ja noch nachlegen, dachte von Granditz.

Hansen nickte Öztürk zu, die direkt aufstand und die schwere Tür des Konferenzzimmers aufzog.

Der Justiziar beobachtete Holm genau. Der angebliche PR-Gott scannte neugierig den Mann, der mit fließenden Bewegungen den Raum betrat. Groß gewachsen war, schlank, im glatt rasierten Gesicht beinahe hager. Ausdauersport machte, wie von Granditz wusste.

»Doktor Bernd Otto«, stellte Öztürk ihn vor. »Head of Research. Unser Forschungsleiter. Der Chef von Frau Schönbaum. Und das sind Frau May und Herr Holm von Holm KPR.«

In der Hand hielt Otto eine schmale Mappe.

Die Mappe, die meine Jungs befüllt haben.

»Bitte berichten Sie, Doktor Otto«, sagte Hansen.

»Frau Schönbaum hat sich in letzter Zeit etwas … auffällig verhalten.«

»Inwiefern?«, fragte Laura dazwischen.

»Unaufmerksamkeiten. Ungenauigkeiten. Leistungsabfall. Natürlich konnte das immer noch mit dem Tod ihrer Mutter zu tun haben, der ihr nachhing. Außerdem wollte sie ein Darlehen von uns, was wir abgelehnt haben.«

»Sie hatte also Geldsorgen. Und weiter?«, wollte Holm wissen.

»Da persönliche Ansprache erfolglos blieb, habe ich im Rahmen meiner Fürsorgepflicht einen Spezialisten konsultiert.«

»Sie haben sie ausspioniert?« Da konnte Frau May ihre Empörung aber schwer verbergen, stellte von Granditz fest. Mitarbeiterüberwachung sah er nicht als sein Lieblingsinstrument an. Aber wenn es sein musste, kam es zum Einsatz.

»Nur das Nötigste«, antwortete Otto Laura May. »Frau Schönbaum arbeitet an einer sehr sensiblen Stelle, verstehen Sie. Wenn es da ein Leck gibt, müssen wir das wissen. Da hängen Tausende Arbeitsplätze dran.«

»Sie müssen sich nicht rechtfertigen«, sagte Holm beschwichtigend. »Was hat der Spezialist herausgefunden?«

»Vor allen Dingen konnte die Detektei feststellen, dass sie Kontakt zu Bob Reina hat. Hatte. Reina ist dummerweise der stellvertretende Vertriebschef für Europa von Rimson & Pryce Pharmaceuticals. Standorte Brüssel und Berlin.«

Da zog der Master of Desaster die Augenbrauen hoch. Jaha, werter Herr Holm, vielleicht geht gerade ein amerikanischer Pharmariese gegen uns in Stellung.

»Wollen die Wenner plattmachen? Feindliche Übernahme? Oder was?«, fragte Laura May in die Runde.

»Nur über meine Leiche«, sagte von Granditz. »Die wollen sich die Marktanteile wieder holen, die wir ihnen mit Validolor abgejagt haben. Da zahlen sie einer Frau Schönbaum sicher gerne etwas aus der Portokasse. Und machen uns klar, wer der Herr im Ring ist.«

Otto zog einen großen Abzug aus der Mappe und reichte ihn Holm.

»Hier ein Beweisfoto, das unser Mann von den beiden schießen konnte.«

May schob sich an Holm heran. Gemeinsam schauten sie sich das Bild an.

Genau so habe ich auch davor gesessen, erinnerte sich von Granditz. Schönbaums hellwacher Blick. Ein paar Pfunde zu viel hatte sie vielleicht, insgesamt fand er sie anziehend. Ihr Kostüm stand ihr, kam aber sicherlich nicht aus einer Edelboutique. Ansonsten wirkte sie nett, ganz normal, eine Frau von nebenan. Schönbaum neigte den Kopf zur Seite und hörte ihrem Gegenüber zu. Weißes Hemd. Grauer Anzug. Sein Teint war gebräunt, seine Haare leicht gegelt. Reina hatte freundliche Züge. Von Granditz kannte ihn. Ein Profi, keine Frage. Tough cookie. Vor solchen Leuten hatte er Respekt.

»Wie haben ausgerechnet die beiden zueinandergefunden?«

Otto senkte den Kopf.

»Ich habe Frau Schönbaum vor zwei Monaten als Incentive zu einem Kongress in Miami mitgenommen. Da schwirrte Reina auch herum.«

»Also«, sagte Holm, »Schönbaum ist verzweifelt. Die Schulden machen sie fertig. Da lernt sie Reina kennen. Ihren einfühlsamen Retter. Er hat Verständnis für sie. Und Geld. Kauft sie, hilft ihr unterzutauchen, und zwei Tage später gerät Validolor unter Druck.« Holm zog die Stirn in Falten. »Zufall sieht anders aus.«

»Vielleicht sind die beiden trotz allem nur ein Paar?« Laura sah von Granditz an.

»Ich neige nur nicht dazu, das zu glauben«, antwortete er. Schneider und Steadham stimmten zu.

»Haben Sie Frau Schönbaum bei der Polizei als vermisst gemeldet?«, fragte Laura.

»Bedaure«, antwortete Schneider, »als Arbeitgeber sind wir da sehr zurückhaltend und behutsam. Und wenn ich die jüngsten Entwicklungen sehe, bin ich auch froh drum. Sonst wären wir jetzt schon in den Schlagzeilen.«

»Dauert denn Ihre Fürsorgepflicht an?«, wollte Holm wissen.

»Sie ist wie vom Erdboden verschluckt«, übernahm von Granditz die Antwort, »wahrscheinlich über alle Berge.«

»Das heißt, Ihr Detektiv ist in einer Sackgasse gelandet«, bohrte Holm nach.

Ja, du Schlaumeier, genau das heißt es.

Von Granditz antwortete: »Aber machen Sie sich keine Sorgen: Wir haben ein fähiges Team zur Hand.«

Otto räusperte sich: »Wenn ich noch eines ergänzen darf: Falls Frau Schönbaum uns hintergangen haben sollte, dann vielleicht auch, weil sie irgendwie unter Druck gesetzt wurde. Das möchte ich zu ihrer Ehrenrettung sagen.«

»Wie nett von Ihnen«, kommentierte von Granditz.

»Ich hoffe«, übernahm Hansen das Wort mit diesem präsidialen Ton, der von Granditz zunehmend nervte, »Sie verstehen jetzt besser, dass wir uns in einer komplexen Situation befinden. Würde diese ein Standby Ihrerseits rechtfertigen?«

Holm lächelte in die Runde.

»Bei dem Vertrauensvorschuss bleibt uns kaum etwas anderes übrig. Wir nehmen uns drei Tage nichts vor. Einverstanden?«

»Deal«, sagte Hansen, und die beiden Männer schüttelten sich erneut die Hände. Dieses Mal ließ der CEO Holm auch los.

»Die Mappe ist für uns, nehme ich an?«, fragte Holm den Forschungsleiter bestimmt. Otto zögerte, doch als Hansen ihm zunickte, übergab er sie. Von Granditz wollte etwas sagen, Holm war schneller.

»Streng vertraulich. Ist klar.«

Na immerhin. Standby ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Haben wir Hansen an der Front schon mal ausgebremst. Wenn ich nur sicher sein könnte, dass Öztürk liefert, würde ich mir weniger Sorgen um Wenner machen.

18.23 Uhr

Holm verabschiedete sich ebenso wie Laura von jedem persönlich. Leyla Öztürk machte Anstalten, sie zurück zum Empfang zu begleiten. Er sagte nur knapp: »Wir finden alleine hinaus, danke. Und Sie haben jetzt einen Sack voll Arbeit.«

»Danke für Ihr Verständnis«, erwiderte Öztürk und lief in die andere Richtung. Im Gehen wandte Holm sich an Laura. Er zeigte auf seinen Besucherausweis, den er in einer harten Plastikhülle an einem Wenner-Pharma-Schlüsselband um den Hals trug. »Die behalten wir.«

Danach schwiegen sie im Fahrstuhl und auf dem Weg aus dem Hauptgebäude. Eine alte Angewohnheit von ihnen. Man konnte seine Gedanken ordnen. Sich nicht verplappern. Nicht belauscht werden.

Als sie im Auto saßen, meinte Laura: »Die arme Öztürk wird sich die Finger verbrennen.«

»Mindestens«, antwortete Holm und zuckte mit den Schultern. »Also, legen wir los. Die Krise ist im Anmarsch.«

Während Laura die Mappe zu Sandra Schönbaum aufklappte, tippte Holm auf Werners Kontakt.

»Wie lief es?«, fragte sein Mentor ohne Vorrede. Holm erzählte es ihm in knappen Sätzen – und schloss mit einer Bitte: »Ich bräuchte mal eine Tiefenbohrung zu Wenner.«

Holm hörte Werner am anderen Ende erfreut schnauben.

»Habe schon meine Fühler ausgestreckt.«

»Und ich wüsste gern, welche Querverbindungen es zu Rimson & Pryce gibt. Umkämpfte Märkte, Rivalitäten, Portfolio.«

»Der Fall wird ja immer besser«, erwiderte Werner. Seine Neugierde war nicht zu überhören. Holm beließ es dabei.

Was ist Werner für ein Pfundskerl, sagte sich Holm. Was für ein Glück ich habe, so einem Menschen begegnet zu sein, ausgerechnet in dieser Branche. Ihn meinen Freund nennen zu dürfen. Der wird immer ein Profi bleiben. Selbst wenn er eines Tages hundert Jahre auf dem Buckel hat.

»Danke! Kannst du mich noch heute schlauer machen?«

»Alles andere wäre eine Enttäuschung«, antwortete Werner und beendete das Gespräch.

Laura stieß Holm an, ohne von der Mappe aufzusehen.

»Was hältst du von einem Ausflug?«

»Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«

Er ließ den Motor an und gab im Navi eine Adresse ein, die Laura ihm diktierte. Die Adresse von Sandra Schönbaum.

Als sie Schönbaums Straße erreichten, eine viel befahrene Durchgangsstraße, verfielen sie in gespanntes Schweigen. Die Laternen strahlten auf einen Asphalt, der mehrmals zusammengeflickt statt neu gemacht worden war. Links und rechts standen kleine Gebäude, mal Reihenhäuser, mal Doppelhaushälften, aus den fünfziger Jahren, mit langgezogenen Vorgärten. Ein Bäcker. Eine Wäscherei. Alte Hecken und einfache Zäune behinderten die Sicht auf die Häuser, die zurückgesetzt lagen.

»Aufnahmen von Sicherheitskameras können wir wohl vergessen«, sagte Holm.

»Sieht so aus«, murmelte Laura, die versuchte, die Hausnummern zu entziffern.

»Siebzehn, neunzehn – dann ist das die einundzwanzig, und daneben ist Schönbaums Häuschen.«

Es war ein Reiheneckhaus, das letzte, bevor Mauerwerk und ein mächtiger Zaun die Wohnstraße für beendet erklärten. Direkt an Schönbaums Haus, an ihre Zufahrt, grenzte der weitläufige Parkplatz eines neu eröffneten Baumarkts.

»Da sollte doch ein Plätzchen frei sein«, meinte Holm und bog ab. Ihm war es lieber, den Wagen nicht direkt vor das Haus zu stellen. Der A8 fiel zu sehr auf.

Sie liefen die paar Schritte zurück. Holm zündete sich im Gehen eine Zigarette an. Von der Parkplatzseite sah man es ganz deutlich: Gebüsch und Grün konnten die trübe Aussicht kaum kaschieren. Sobald Schönbaum aus ihrem Haus auf ihre Zufahrt trat, musste sie auf die Wand sehen, den Zaun, den Parkplatz dahinter. Noch der kleinste Raum in Großstädten wurde genutzt. Zugebaut, fand Holm, traf es besser.

»Ganz gemütlich eigentlich«, meinte Laura, »wenn der Baumarkt ihr nicht so dicht auf den Pelz gerückt wäre.«

Holm nickte. Sicherlich musste das Dach gemacht werden oder die Fassade erneuert, ansonsten hatte Laura Recht.

Sie erreichten die lang gezogene Zufahrt. Ganz hinten, direkt vor dem Hauseingang, stand ein Kleinwagen mit Berliner Kennzeichen. Laura zögerte keine Sekunde und betrat das Grundstück. Da kommt die alte Polizistin in ihr durch, dachte Holm lächelnd und folgte ihr.

Sie sahen durch die Seitenscheiben.

Auf dem Beifahrersitz lagen ein Halstuch, ein Lippenstift und Kaugummis.

»Hat sie alles stehen und liegen lassen?«, fragte Laura, »musste sie plötzlich weg? Warum?«

»Vielleicht hat sie eine Warnung von den Amis gekriegt«, mutmaßte Holm.

»Oder Panik«, spekulierte Laura.

»Womöglich soll es auch so aussehen.«

»Sehr raffiniert wirkte sie auf dem Foto nicht gerade.«

»Aber dieser Reina schon.«

»Hmm«, machte Laura und ging zur Haustür. Prüfte das Schloss fachmännisch.

»Keine Gewalteinwirkung.«

Holm guckte durch das Küchenfenster. Alles recht ordentlich. Nur ein Teller und ein Glas standen auf der Spüle. Vom letzten Abendessen, nahm Holm an.

»Entschuldigung, was machen Sie da?« Sie hatten nicht bemerkt, dass ihnen eine ältere Frau vom Bürgersteig aus, unten am Anfang der Auffahrt, zusah.

»Oh, guten Abend, entschuldigen Sie«, sagte Holm. »Wir sind Kollegen von Frau Schönbaum. Von Wenner Pharma.«

Holm streckte der Frau kurz den Besucherausweis entgegen. Laura hielt ebenfalls ihren Ausweis hin.

»Wir haben uns Sorgen um Sandy gemacht«, erklärte Laura. »Sie ist seit zwei Tagen nicht zur Arbeit gekommen. Geht an kein Telefon.«

»Ist das wahr?«

»Leider«, sagte Laura und ging langsam einige Schritte auf die Dame zu, die sich als Marlies Hoppe vorstellte.

»Wir dachten, wir kommen nach Feierabend mal vorbei.«

»Man denkt ja an die schlimmsten Dinge. Und dann wohnt sie hier allein.«

»Das ist sehr anständig von Ihnen«, lobte die Frau. Laura hat sie schon um den Finger gewickelt, freute sich Holm. Was sie überhaupt nicht gebrauchen konnten, waren nervöse Nachbarn, die die Polizei riefen. So einen Umstand hätte er Hansen sehr ungern erläutert.

»Kennen Sie sie denn?«, fragte Laura.

»Mit der Mutter hatten Günther und ich viel zu tun. Eine reizende Person. Nach ihrem Tod ist Sandra eingezogen. Sie ist ja nicht mehr ganz unsere Generation. Und war viel unterwegs. Hat viel gearbeitet.«

»Ist Ihnen denn in den letzten Tagen etwas aufgefallen?«

»Nein. Ich hab sie nicht gesehen. Aber das heißt nichts. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.«

»Verstehe«, sagte Holm. Dieser Abstecher würde keine verwertbaren Informationen bringen, sagte sein Bauchgefühl. Er wollte weiter. Gut essen. Dann unbedingt zu Storch. Mit Werner telefonieren.

»Günther kann Ihnen beiden vielleicht mehr sagen. Der geht immer mit dem Hund. Und gibt zwei Abende die Woche Fußballtraining.«

»Das wäre toll«, rief Laura. »Wenn wir nichts herausfinden, überlegen wir, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, wissen Sie.«

»Ach Gottchen!«, rief Marlies Hoppe. »Günther hat sein Handy nie an. Kommen Sie mit rüber, ich kann Ihnen nur Kaffee und Kekse anbieten, sehen Sie mir das bitte nach.«

»Das ist aber sehr zuvorkommend. Wir wollen keine Umstände machen«, flötete Laura.

Holm verdrehte nur die Augen. Das ist doch reine Zeitverschwendung, bei der netten alten Dame zu sitzen, während die Krise sich aufbaut.

Laura hakte sich bei ihm unter und drückte seinen Unterarm. Jaja, er würde schon freundlich bleiben.

Obwohl sie sichtlich schlecht auf den Beinen war, machte Marlies Hoppe sich die Mühe, ein weißes Porzellanservice mit Blütenmuster hervorzuholen und selbst gebackene Kekse anzubieten.

Was es doch für liebenswürdige Menschen gibt in dieser Welt, dachte Holm. Leider habe ich meistens mit Leuten anderen Kalibers zu tun.

»An diese Kekse könnte ich mich gewöhnen, Frau Hoppe«, sagte er.

»Ich hoffe, das Rezept ist nicht geheim?«, fragte Laura und lächelte die alte Dame an.

Langsam kostete es Holm dennoch Mühe, seine innere Unruhe zu verbergen. Der Sturm konnte jeden Moment losgehen. Zum Glück übernahm Laura den Löwenanteil vom Smalltalk.

Endlich kam Günther Hoppe nach Hause. Er war einen halben Kopf größer als Holm, für sein Alter in guter Form und ebenso freundlich wie seine Frau.

»Tja, was soll mir aufgefallen sein?«, fragte er, nachdem sie ihre Geschichte wiederholt hatten, und blies in die dampfende Kaffeetasse.

»Haben Sie vielleicht in letzter Zeit länger mit ihr gesprochen?«, wollte Laura wissen.

»Nicht wirklich.«

»Besuch, der Ihnen merkwürdig vorkam?«

»Da würden wir uns nie einmischen«, sagte der Nachbar kategorisch. »Wir wollen ja auch unsere Ruhe haben.« Das macht ihn mir doch sehr sympathisch, dachte Holm.

Laura gab nicht auf: »Haben Sie vielleicht Fahrzeuge gesehen, die hier nicht hingehörten?«

Erstmals überlegte der Mann einen Moment.

»Jetzt, wo Sie es sagen …« Augenblicklich hatte er Holms Aufmerksamkeit. Was kam jetzt?

»Neulich war alles so knapp. Ich kam vor dem Training nicht mit dem Hund vor die Tür. Ich gebe Jugendtraining, wissen Sie.«

Beide nickten anerkennend.

»Ja, erzählte ihre Frau. Das ist großartig.«

»Und dann?«

»Na ja, als es mir später einfiel, habe ich mich noch einmal aufgerafft. War so elf Uhr. Hab die Nachrichten zu Ende geguckt, deswegen weiß ich die Zeit.«

»Und?«, trieb Laura ihn an.

»Da stand so ein Wagen in Sandras Einfahrt. Weiter oben.«

»Welcher Tag war das?«, bohrte Holm nach. Er merkte selbst, dass er jetzt mehr wie ein Ermittler klang als ein besorgter Kollege. Laura stieß ihn unmerklich ans Knie.

»Ja, nach dem Training halt. Also vor drei Tagen.« Elf Uhr abends vor drei Tagen. Seit 48 Stunden war sie nicht zur Arbeit erschienen. Das passte zu den Angaben, die sie von Wenner bekommen hatten.

»Erinnern Sie sich genauer?«, fragte Laura beiläufig und tunkte einen Keks in ihren Kaffee.

»Puh, das war auf jeden Fall nicht ihr Auto, sondern ein großes. Ein Minibus. Oder einer von diesen neuen Kutschen. Größer als ein Kombi.«

»Ein Minivan? Oder ein SUV?«

»Genau. Ja. So in der Richtung auf jeden Fall. Es war stockfinster. Dichte Wolkendecke. Und die Lichter in der Auffahrt müsste Sandra seit Monaten reparieren lassen. Ich hab’s ihr gesagt.«

»Die Farbe konnten Sie dann sicher auch nicht erkennen?«

»Auch dunkel, würde ich sagen.«

Laura sah Holm an. Der zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht warten wir mit der Anzeige noch ein paar Tage«, sagte er zu ihr.

»Nicht dass sie verreist ist und nur ihren Urlaubsantrag vergessen hat. Oder?«

»Soll vorkommen«, stimmte Hoppe zu, rieb sich zufrieden seinen Bauchansatz und lehnte sich zurück.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt – das ist mein Handy«, sagte Laura und notierte die Nummer eines Geräts, das sie für solche und ähnliche Situationen bereithielten.

»Dann halten wir jetzt mal die Augen und Ohren offen«, sagte Marlies Hoppe auf dem Weg zur Tür.

»Hoffen wir das Beste«, meinte ihr Mann.

»Darf ich fragen, wie lange Sie verheiratet sind?«, fragte Laura zu Holms Überraschung.

Beide strahlten sich an.

»Siebenunddreißig Jahre!«, rief sie.

»Und meistens haben wir es nicht bereut«, sagte er.

Laura lächelte die beiden gerührt an.

»Sie sind ein süßes Paar. Ich hätte gerne so Nachbarn wie Sie beide!«

»Schau, ist sie nicht ein Herzchen?«, sagte Marlies Hoppe zu ihrem Mann. Er legte einen Arm um ihre Schulter und erwiderte: »Sie beide geben aber auch eine ganz gute Figur ab.«

Ich sehe Laura jetzt nicht an, entschied Holm, aber ich bin mir sicher, dass sie rot wird.

Sie verabschiedeten sich und gingen zurück zum Auto.

»Was sagt uns das alles?«, fragte Laura geschäftsmäßig.

»Nichts Genaues weiß man nicht«, antwortete Holm.

Und du selbst – bist du gerade auch rot?

19.17 Uhr

Von Granditz betrat das Vorzimmer von Hansen mit einem widerwilligen Zucken im Mundwinkel. Die vorderen Plätze der Assistentinnen waren verlassen, die Tischlampen dunkel. Nur der letzte Schreibtisch vor Hansens massiver Eichentür war besetzt. Die Büroleiterin des CEO, Alexa Klee, sah schnell über den Rand der beiden Monitore vor ihr.

Büroleiterin. Pah! Früher haben wir Chefsekretärin gesagt, aber heutzutage ist das ja gleich frauenfeindlich, wenn man das Kind beim Namen nennt.

»Aaah«, rief von Granditz mit überzogener Geste, »Frau Klee, die fleißigste Mitarbeiterin von Wenner Pharma!«

»Guten Abend, Herr von Granditz!«