Riskante Rezepte - Birand Bingül - E-Book

Riskante Rezepte E-Book

Birand Bingül

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Beschreibung

Tod im Sternerestaurant: Ein neuer Fall für PR-Genie Mats Holm.

Samstagabend in einem Edel-Restaurant nahe Hamburg. Familiengeführt. Voll besetzt. Es duftet nach Safranreis, warmem Holunder und Fichtenspitzen. Hier zaubert die 29-jährige Star- und Sterneköchin Bianca Veh zusammen mit ihrem Vater die wunderbarsten Gerichte. Doch plötzlich röchelt ein prominenter Stammgast. Und stirbt. Der Supergau! PR-Genie Mats Holm soll ihren Ruf retten. Und das Millionengeschäft mit Kochbüchern, TV-Shows und Werbung. War womöglich Gift im Spiel? Und warum? Je mehr Holm und seine smarte Mitarbeiterin sich in den Fall einarbeiten, desto tiefer sind die Abgründe, die sich im Gastro-Imperium der Familie auftun.

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Zum Buch

Samstagabend in einem Edel-Restaurant nahe Hamburg. Familiengeführt. Voll besetzt. Es duftet nach Safranreis, warmem Holunder und Fichtenspitzen. Hier zaubert die 29-jährige Star- und Sterneköchin Bianca Veh zusammen mit ihrem Vater die wunderbarsten Gerichte. Doch plötzlich röchelt ein prominenter Stammgast. Und stirbt. Der Supergau! PR-Genie Mats Holm soll ihren Ruf retten. Und das Millionengeschäft mit Kochbüchern, TV-Shows und Werbung. War es Mord? Will jemand der Starköchin schaden? Je mehr Holm und seine smarte Mitarbeiterin Laura May sich in den Fall einarbeiten, desto tiefer sind die Abgründe, die sich im Gastro-Imperium der Familie auftun.

Zum Autor

BIRAND BINGÜL, Jahrgang 1974, ist Autor und Redakteur beim WDR in Köln. Derzeit leitet er die ARD Kommunikation des Vorsitzes unter Tom Buhrow. Zuvor arbeitete dort u. a. als stellvertretender Unternehmenssprecher, Tagesschau-Korrespondent, Tagesthemen-Kommentator und Radiomoderator. Nach »Riskante Manöver« erscheint mit »Riskante Rezepte« sein zweiter Kriminalroman bei btb.

BIRAND BINGÜL BEI BTB

Riskante Manöver

BIRAND BINGÜL

RISKANTE REZEPTE

EIN FALL FÜR MATS HOLM

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Originalausgabe Februar 2020 btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2020 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © plainpicture/Millennium/Emilio Brizzi; © Shutterstock/Aggie 11

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21828-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

TAG EINS

19.48 Uhr

Zack-zack-zack. Ihr japanisches Messer glitt mühelos durch die grauen Schalotten. Sie liebte dieses Messer, ein Meisterwerk aus hundertlagigem Stahl, das Bianca Veh feinste Scheiben schneiden ließ, dünner als hauchdünn. Da braucht man keinen Laser, sagte sie gerne über das edle wie kostspielige Geschenk ihrer Eltern zum ersten Michelin-Stern.

Hack-hack-hack. Locker, präzise, aus dem Handgelenk. Ihre Bewegungen führte sie kurz, kontrolliert und rasend schnell aus. Keine Akkuratesse ohne perfekte Technik, das hatten ihre Ausbilder – angefangen mit ihrem Vater – ihr eingebläut.

Sie beugte sich, wie Abertausende von Malen geübt und erprobt, über die Klinge, nahm Maß und ließ sie auf die nächste Edelzwiebel für ihre Sauce los.

Zufrieden stellte sie fest, dass ihr Pony die richtige Länge hatte. Sie trug ihre Haare gern in der Stirn, doch bei den Augenbrauen musste Schluss sein, damit sie ihr beim Kochen nicht ins Blickfeld fielen und nervten. Jeden zweiten Samstag schnitt sie selbst ein Fingerbreit ab und fertig. Heute war es wieder so weit gewesen; ein Ritual, das sie nicht mehr missen mochte. Das war auch schon der größte kosmetische Aufwand, den sie sich in der Regel leistete. Ein Haargummi für den Zopf – in jeder ordentlichen Küche waren offene Haare tabu. Ihre Augen, die sie von ihrer Mutter hatte, bekamen einen Kajalstrich, Lippenstift trug sie nie, nicht mal in ihrer Kochsendung im Fernsehen, dafür musste sie viel zu oft abschmecken und probieren. Sie fand, es gab zwei Arten von Köchen: die Riecher und die Probierer. Sie gehörte definitiv der zweiten Gattung an.

Ihr »Porzellangesicht«, wie die Presse schrieb, hatte genug vornehme Blässe, so dass sie sich den Puder meist sparte. An ihren Händen hätte sie allerdings gerne etwas gemacht, sie waren voller Narben – das übliche Opfer, das Profiköche bringen mussten. Trotzdem ertappte sie sich manchmal dabei, dass sie die Hände hinter ihrem Rücken versteckte oder in ihren Hosentaschen verschwinden ließ, wenn ein Mann, den sie attraktiv fand, auftauchte.

Sie sah kurz neben sich zu Franco, ihrem Souschef. Er schien ihren Blick zu spüren, hob den Kopf und zwinkerte ihr zu, während er den Steinbutt mit chirurgischer Präzision zerlegte; eine Sonderlieferung, die sie erst am frühen Abend hereinbekommen hatten. Ob er hinguckte oder nicht: Er arbeitete noch schneller als sie und mit bewundernswerter Eleganz. Ihm in der Küche zuzusehen, erfüllte sie immer wieder mit einem geradezu kindlichen Glücksgefühl.

Seine Kommandos übertönten den Trubel. »In fünf die Rinder-Beilage«, orderte er, »in sechs die Sauce«, dann programmierte er eine niedrigere Temperatur am Garer ein. Exakt fünf Minuten später würde er die Beilage vom erfahrenen Entremetier bekommen, wenn er die erst scharf angebratenen, dann gegarten Filets für perfekt hielt, und exakt eine Minute später stünde Bianca mit der Sauce parat. Tag für Tag. Gericht für Gericht.

Bianca gehörte nicht zu den Küchenchefs, die am Pass standen und das feine Essen, das von den verschiedenen Posten kam, als Komponenten auf Teller drapierten und kunstvoll edle Kleckse auf deren Ränder auftrugen. Mit gerade einmal neunundzwanzig Jahren wäre sie sich wie eine Verräterin vorgekommen, die ihrem Team in der Hitze der Küche beim Schuften zusah. Nein, sie wechselte viel lieber alle zwei Monate den Posten, blieb in Bewegung, auf Entdeckungsreise und verfeinerte so ihre Rezepte immer weiter. Derzeit war sie die Herrin der Saucen.

Saucen hatten schön sämig zu sein, sie mussten das Fleisch umspielen, es nicht erschlagen. Sie durften nicht zur Sättigungsbeilage verkommen. Am Posten des Sauciers konnte man einem Gericht zu wahrem Glanz verhelfen oder es völlig verhunzen.

Lediglich mit ihrem Aushängeschild ging sie sehr vorsichtig um, dem Menü Sechs Kontinente, das sie nicht leichtfertig gefährden wollte und deshalb keinen Experimenten unterzog. Denn kamen an einem guten Abend sechzig Gäste, wählte fast die Hälfte von ihnen dieses Menü, mit dem sie bekannt geworden war. Die Sechs Kontinente bedeuteten die halbe Miete.

Am Saucen-Posten war ihre Dattel-Rotwein-Sauce zum Rinderfilet schwer gefragt. Zu ihrer Miseen Place gehörten deshalb Medjool-Datteln aus Kalifornien sowie graue Schalotten aus Usbekistan, der ursprünglichen Heimatregion der Edelzwiebel.

Für den Fonds nutze sie Abschnitte, vor allem Karotten- und Sellerieschalen. In einer Schale hatte sie Urwald-Pfeffer aus Madagaskar vor sich, das genial mit Quellwasser-Salz aus Peru harmonierte, wie sie nach einiger Tüftelei herausgefunden hatte. Und zusammen schmeichelte dieses Duo ihrem Rinderfilet auf unwiderstehliche Weise. Dabei entsprach das Filet nicht nur höchsten Bio-Standards, es zerfiel einfach auf der Zunge, sie bekam zurzeit die beste Qualität, die sie je gekostet hatte. Dieses Rinderfilet hätte manchen Vegetarier ins Wanken gebracht. Das i-Tüpfelchen setzte sie ihrer Sauce mit einem äußerst feinen, fruchtigen Cabernet Shiraz aus Australien auf, der just bei ihr Karriere machte.

Der Rest war Handwerk. Genauigkeit. Disziplin.

Trotz des hektischen Betriebs schweifte sie ab. In Gedanken experimentierte Bianca an einer sommerlichen Sauce für fettarmen Fisch. Sie hatte gerade einen Narren an Berberitzen gefressen, sie fand diese roten Beeren so schmackhaft und schön. Heb dir das für später auf, ermahnte sie sich und sah wieder auf, um zu checken, ob in der Küche alles lief und wie weit das Rinderfilet war. Alles im Lot.

Köchin des Jahres. Wow! Am Morgen hatte sie erfahren, dass sie die Auszeichnung erhalten sollte. Köchin des Jahres klang schön, sie spürte ein Kribbeln im Bauch, wenn sie sich ihren jüngsten Titel stumm vorsagte. Noch ein Meilenstein in ihrer – Karriere, ja, so würde es Katta nennen, Katharina Wiesenbach, ihre Managerin. Wenig später ging es bereits durch die sozialen Medien und die Fachwelt. Bianca hatte spontan alle für den Abend eingeladen. Selbst Dave, ihren Ex. Der war früh gekommen, am späten Nachmittag, und verschwand als Erster wieder, nach einem furchtbaren Streit. Er hatte ihr richtig Angst eingejagt.

Egal. Nicht jetzt.

Sie befahl sich, positiv und konzentriert zu bleiben.

Sie musste sich etwas sputen, hatte zu viel ihren Gedanken nachgehangen, trotzdem würde Franco seine Sauce auf den Punkt bekommen.

19.54 Uhr

Die rotgoldene Abendsonne adelte den Tag. Mats Holm steuerte seinen A8 zu einer Bootstour, die im Freundes- und Familienkreis auf der Müritz stattfinden sollte. Im Autoradio lief ein Sommerhit, den Laura mitsummte – Laura May, seine Partnerin bei Holm KPR.

Holm konnte ihre gute Laune in keinster Weise teilen. Nicht, dass er etwas dagegen hatte, auf einer hübschen Jacht herumzuschippern. Im Gegenteil. Ein Tapetenwechsel konnte nichts schaden, raus aus Berlin, raus aus seiner Wohnung, raus aus seinen Grübeleien. Da hatte Laura Recht. Und trotzdem.

Er rutschte auf seinem Sitz hin und her, ehe er einen Blick in den Rückspiegel warf. Am inneren Rand des Spiegels sah er einen Teil seines Gesichts. Das kräftige Kinn, volle Lippen, die er zusammenzog; seine mächtige Nase, die sein Gesicht dominierte. Die dunkelbraunen Augen zogen seine Aufmerksamkeit auf sich wegen der Falten in den Augenwinkeln. Sorgenfalten, die sich seit einiger Zeit dort eingenistet hatten und keinerlei Anstalten machten, sich ein neues Zuhause zu suchen.

Vor bald zwei Wochen hatte er das letzte Mal mit seiner Tochter Liv gesprochen. Seitdem unterband sie jeden Kontaktversuch, den er unternahm, reagierte weder auf Nachrichten noch Anrufe. Ein unangemeldeter Besuch an ihrer Wohnungstür endete ebenfalls erfolglos.

»Kommt sie wirklich?«, fragte er Laura.

»Wenn du mich noch einmal fragst, schicke ich dir für jede Antwort eine Rechnung«, erklärte sie, was ihm trotz allem ein Lächeln entlockte. Er wollte ihr mit seiner Laune nicht den Abend verderben, bevor dieser überhaupt angefangen hatte.

Natürlich steckten Laura und die anderen hinter dieser Veranstaltung. Werner, sein alter Chef und Mentor. Storch, sein bester Freund – und ein ziemlich cleverer Hacker.

Die Bootstour auf der Müritz war nicht einfach ein charmanter Ausflug. Sie würde ein ungebetener Versöhnungsversuch auf der Mecklenburgischen Seenplatte werden, eine Friedensmission, die Holm selbst nicht besser hätte einfädeln können: gute Freunde, entspannte Atmosphäre und ein Boot, von dem man nicht herunterkonnte; auf dem es ein Kunststück sein würde, sich einen ganzen Abend lang aus dem Weg zu gehen. Schöner Versuchsaufbau, dachte Holm.

»Wie habt ihr euch das eigentlich vorgestellt, Laura – mit der Familientherapie vor Publikum?«

»Ich sehe, das Partyfieber hat dich schon fest im Griff«, erwiderte sie.

Haha, sehr witzig.

Sie verließen die Autobahn Richtung Röbel, einem Ort direkt an der Müritz.

Er hätte sich diesem Arrangement mit Leichtigkeit entziehen können. Absagen. Verreisen. Sich verkriechen. Wäre da nicht seine unendliche Neugier.

»Ich brauche diesen Trip nicht. Ein Blick in Livs Augen, Laura, ein paar Worte mit ihr, und ich weiß, wo wir stehen. Dann weiß ich, wie ich sie zu nehmen habe. Wie ich kommunizieren muss.«

»Kommunizieren?«, rief Laura, »mein Lieber, das klingt nach Pressearbeit und Krisen-PR, nicht nach Tochter«.

Er wusste, dass sie richtiglag, antwortete jedoch: »Dann werde ich wohl wieder nicht Vater des Jahres.«

Dabei hatte er einiges dafür getan. Auf jeden Fall viel riskiert, damit es endlich besser wurde zwischen seiner neunzehnjährigen Tochter und ihm.

Holm hatte sich neulich ein Herz gefasst und Liv die ganze Wahrheit über Helenas Tod gesagt.

Über den Tod seiner Frau – ihrer Mutter.

Über ihren Selbstmord vor dreizehn Jahren.

Na ja, fast die ganze Wahrheit über ihn und Helena.

Der Moment in Livs Studentenküche ging ihm nicht aus dem Sinn. Das Bild hatte sich tief in sein Innerstes eingebrannt. Er hatte Liv zum ersten Mal anvertraut, dass er sich schuldig fühlte an Helenas Selbstmord. Er hatte seiner Tochter verraten, dass ihre Mutter damals ein Verhältnis mit einem Staatssekretär im Verteidigungsministerium gehabt hatte. Holm selbst, noch Journalist, hatte ein übles Waffengeschäft aufgedeckt, in das der Politiker verwickelt gewesen war. Holm hatte Helena beweisen wollen, auf wen sie sich eingelassen hatte. Wollte ihr Herz zurück. Doch es kam anders. Dann lag seine Frau nachts tot in der Badewanne ihrer Wohnung. Noch ein Bild, das er niemals vergessen würde.

Seine Lebensbeichte.

Am Ende hatte seine Tochter ihn fortgeschickt.

Einfach so.

Zu seinem Erstaunen legte Laura eine Hand leicht auf sein Bein. Ein paar Gedanken lang hatte er vergessen, dass sie neben ihm saß, vielleicht war es noch länger gewesen. Er rang sich ein unfertiges Lächeln ab, woraufhin sie fragte, ob er reden wolle. Er schwieg unentschlossen.

»Was hast du ihr genau gesagt?«, hakte Laura nach, wie es ihre Art war – feinfühlig, aber klar in der Sache.

Holm verdrehte die Augen und rümpfte die Nase, antwortete Augenblicke später dennoch leise: »Dass ich schuld am Selbstmord ihrer Mutter bin. Und dass ich die Verantwortung trage.«

Er spürte, wie Feuchtigkeit unweigerlich seine Augen benetzte.

»Tut mir leid«, antwortete Laura schnell. »Ich wollte nicht … Was auch immer. Vielleicht brauchte Liv einfach etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten.«

Er nickte ohne jede Überzeugung.

»Mats, jeder hat seinen eigenen Rhythmus. Kaum jemand ist so schnell wie du. Und Liv wäre auch ohne deine Offenbarung im Ausnahmezustand.«

Wenn sie sich von einem dahergelaufenen Schlagzeuger schwängern ließ, war das ihr Problem, hielt eine Stimme in ihm dagegen. Sei kein Fiesling, wies ihn eine zweite zurecht.

»Gleich kommen wir nach Röbel«, wechselte Laura das Thema.

»Ich freue mich.« Seine Stimme klang kühl statt ironisch. Dieses Gespräch machte die Sache nicht angenehmer für ihn. Er ließ sich nicht gern in die Seele schauen. Und Laura war immer noch Helenas Schwester, gottverdammt! Livs Tante. Das würde in solchen Momenten immer zwischen ihnen stehen.

Er hätte am liebsten kehrtgemacht, doch sie erreichten den Ort. Mit einem leisen Ächzen ergab er sich seinem Schicksal, ging vom Gas und sah sich missmutig um.

»Zwei Kirchen und eine Mühle, traumhaft.«

»Ach komm, Mats, die Natur hier ist reizend, und da, die bunten Fachwerkhäuser, das muss die Altstadt sein. Gib zu, die ist hübsch!«

Er sah kurz hinüber. Wie zu erwarten keimte keinerlei touristisches Interesse in ihm auf. Stattdessen warf er einen Seitenblick auf Laura, mit der er schon so lange zusammenarbeitete. Irgendetwas war anders an ihr als sonst. Ihre braunen Haare trug sie wie immer halblang, ein Friseurbesuch schied also aus. Den Schmuck kannte er auch, eine dezente Halskette und dazu passende Ohrringe. Dann erst bemerkte er die Bräune, die sich über ihr Gesicht, die hohen Wangenknochen und um die hellblauen Augen gelegt hatte. Sie hatte in den vergangenen Tagen offensichtlich viel Zeit in der Sonne verbracht. Darüber hinaus trug sie ein neues, weiß-rotes Sommerkleid.

Na ja, streng genommen war es mehr Sommer als Kleid.

Um ihre Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken, bemühte er sich um einen leichten Ton. »Wird frisch auf dem See.«

»Immerhin hast du mich eines Blickes gewürdigt.«

»Sehr schick, Laura. Ist bestimmt schön warm unter Deck.«

»Werner wird sich schon um alles gekümmert haben«, beendete Laura die Frotzelei.

Sie erreichten die Marina, parkten und gingen ein paar Schritte hinüber zu den Stegen. Von hier aus öffnete die Müritz sich nach Norden hin. Der leichte Wellengang ließ die Boote und Jachten schunkeln. Tiefe Sonnenstrahlen hüpften von Wellenkamm zu Wellenkamm. Die Aussicht ließ Holm tief durchatmen. Es gab durchaus einen Grund, warum er in Berlin mit Blick auf die Spree wohnte.

»Ich weiß doch, dass es dir am Wasser gefällt.« Laura hakte sich bei ihm unter.

»Ein Hauch von Monaco«, antwortete er.

Laura lachte auf.

»So gefällst du mir schon besser, Mats. Da sind übrigens die anderen.«

Ich gefalle mir aber so nicht, Laura, dachte er. Ich gefalle mir so ganz und gar nicht.

20.03 Uhr

Bianca Veh warf einen raschen Blick in ihre Küche – und hielt einen Moment inne. Wie die Mitglieder ihrer Brigade aneinander vorbeiglitten, tänzelten und schwebten, in gestärkten Kochjacken – Küchenballett nannte sie das Spektakel, es faszinierte sie immer wieder. Wie ein Postenkoch dem anderen beiläufig eine Schale reichte, die der wiederum genau in jenem Moment brauchte. Wie ihre Jungs sich selbst in der engen, heißen, U-Boot-haften Küche mit kleinen Bewegungen blind Platz machten, wie sie einrückten, sich wegdrehten oder dünn machten, perfekt im Timing. Und ihre Auszubildende, auf die sie große Stücke hielt, schwang im Takt des Teams mit.

Ein Spüler sammelte Geschirr ein und umkurvte die Köche dabei, ohne sie im Geringsten zu stören. Wie die anderen trieb er mit seinen schnellen Bewegungen die Düfte ineinander: indischer Safran-Reis traf auf Fichtenspitzen, der Patissier schickte Schwaden von warmem Holunder auf die Reise, bis sie auf den Rauch von zartestem Rinderfilet aus Argentinien trafen; der bretonische Rochen, den sie ausnahmsweise nicht braten ließ, steuerte vom Kaltspeisen-Posten aus eine Meeresbrise bei, dazu ein geschmeidiger Roquefort und iranischer Liqwan-Käse; die sizilianischen Pinienkerne stachen dank Röstung nussig heraus – während ihr australischer Wein, leicht erhitzt, die Duftwolke edel abrundete.

Das Küchenballett wirbelte unaufhaltsam weiter, begleitet vom Summen der Kühlschränke und Hacken der Messer, vom Brodeln der Töpfe und Zischen der Pfannen. Alles vereint zu einem einzigen, akribischen Arbeitsrhythmus, den die Bestellungen der Gäste diktierten.

Wenn sie sterben würde, dachte sie, während sie die Sauce ein letztes Mal abschmeckte, dann gerne hier. An so einem Abend. In so einem Moment. Wenn das Adrenalin ihre Sucht stillte, wenn es alle Ängste und jeden Ärger einfach für ein paar Stunden fortschwemmte. Wunden betäubte. Wenn die Schiene über ihrem Posten voll mit Bons hing. Wenn die Küche richtig heiß lief, ja wenn sie kurz davor war abzuheben.

Nur im Fernsehen kochte sie allein. Für den Marktwert und, zugegeben, fürs Ego. Mit dem hier konnte man das nicht vergleichen. Diese Küche war ihr Zuhause. Ihre Heimat. Und sie war Teil eines verschworenen Haufens von ehrgeizigen Köchen. Es würde sie die Länge eines Fingerschnippens kosten, müsste sie sich zwischen beidem entscheiden.

Nichts trieb sie nach draußen, zu den – oft betuchten wie prominenten – Gästen. Die Honneurs zu machen überließ sie gern ihrem Vater, der ein leidenschaftlicher und begnadeter Gastgeber sein konnte. Er hielt ihr da draußen den Rücken frei. Sie tat hier drinnen das Ihrige.

Erneut prüfte sie die Abläufe in der Küche. Ihr Blick fiel auf ihren Commis, einen Jungkoch, dem sie zum zweiten Mal den Posten der Kaltspeisen anvertraute. Das bedeutete ein gewisses Risiko, auf das Franco ein Auge hatte. Gerade verließ der junge Bursche seinen Posten und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Der Beilagenmann, Entremetier, nickte Bianca zu. Er hatte den verlassenen Posten im Blick.

»Schau mal, Bianca, die Äpfel für den Salat Spezial.«

Sie legte das Messer weg, rieb sich die Hände am Geschirrtuch, das ihr an der Hüfte aus der schwarzen Küchenhose hing, dem Torchon. Sie nahm den Apfel, roch an ihm: frisch, leicht, es gab jedoch intensivere. Sie ließ den Apfel durch die Hände gleiten. Tastete ihn ab, drückte den Daumen in die Schale. Er war etwas fest. Vielleicht zu fest für den Salat Spezial? Sie schnitt ihn auf, roch noch einmal, zog mit der freien Hand die Sauce vom Herd. Dann biss sie einfach ab, schloss die Augen und kaute den Bissen in Ruhe durch. Die Härte ging, doch die Fruchtsäure fiel ihr unangenehm auf.

Sie legte den Apfel beiseite.

»Haben wir noch eine Alternative im Kühlhaus?«, fragte sie Franco, der alles mitbekommen hatte und hinüberschaute.

»Ja, eine frische Lieferung.«

»Qualität?«

»Das sind die besten Äpfel, die wir dieses Jahr bekommen haben.«

Sie nickte. »Dann die alten Äpfel fürs Personal und die neuen für die Gäste.«

Der Jungkoch zog ab und rief den Spüler.

»Dein Vater wird nicht begeistert sein«, rief Franco ihr zu.

»Tja«, sagte sie, lächelte und widmete sich ihren Saucen, als die Schwingtüren aufflogen und der Oberkellner zu ihr geeilt kam.

»Bianca!?« Sie hörte, wie alarmiert seine Stimme klang, sah aber nicht auf. Sie musste schleunigst für acht Personen die selbst kreierte Ingwer-Fenchel-Sauce für den Steinbutt auf den Weg bringen.

»Was denn?«, fragte sie genervt. Er wusste, dass sie äußerst ungern gestört wurde.

»Du musst schnell kommen.«

Sie werkelte einfach weiter.

»Sofort«, beharrte er, griff vorsichtig an ihre Schulter und rüttelte sie.

Franco, ihr Souschef, schob sich neben sie und wisperte, dass er das erledigen würde. Seinem Kompagnon beim Fleisch und Fisch gab er ein kurzes Handzeichen.

Bianca sah auf. Ach, jetzt verstehe ich, dachte sie. Das ist doch irgendein Trick, um mich aus der Küche zu locken. Hat sich Franco ausgedacht, zusammen mit Katta. Die steckten bestimmt unter einer Decke. Die Köchin des Jahres sollte sich den Gästen zeigen und die verdienten Lorbeeren einheimsen. Einen Applaus bekommen. Warme Worte. Schöne Fotos. Na toll.

Doch der Oberkellner, der überaus besorgt aussah, zog die Tür zum Restaurant einen Spalt breit auf, so dass Bianca einen Blick hinauswerfen konnte.

Erst jetzt tauchte sie aus ihrer Blase auf.

Erst jetzt hörte sie die aufgeregten Stimmen.

Sah die bestürzten Blicke der Gäste, die aufgesprungen waren.

Ihre bleiche Mutter, die an brummenden Abenden wie diesem mit kellnerte.

Eine Frau hatte beide Hände vor den Mund geschlagen.

Erst jetzt beschlich Bianca ein grausames Gefühl, das sich in ihren Magen eingrub.

Oh Gott! Was war da los?

Sie wischte sich die Hände sauber, warf ihren Torchon auf den Posten und stürzte aus der Küche.

20.06 Uhr

Auf Werners grauem Schopf thronte allen Ernstes eine Kapitänsmütze. Werner, der Fuchs, wie ihn die Branche ehrfürchtig genannt hatte, strahlte übers ganze Gesicht, während sie auf den letzten Passagier warteten: Liv.

Storch hatte nur Augen für seine neuste Eroberung, Shirin, eine persische Schönheit, die Holm heute zum ersten Mal sah.

»Da ist Liv!«, rief Storch in dem Moment. Holm blickte über die Schulter und entdeckte zu seiner Überraschung neben seiner Tochter einen schmalen Typen im Kapuzenpulli, der einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.

Sofort sah Holm fragend Werner an, der ahnungslos die Augenbrauen hob.

»Könnte der Schlagzeuger sein«, flüsterte Laura Holm zu. Ja, mit den langen Haaren und den Lederbändchen am Handgelenk könnte das passen. Das wäre also der Vater des Babys. Liv hatte ihn abserviert, ehe Holm ihn ein einziges Mal unter die Lupe nehmen konnte. Wie hieß er noch mal? Und wenn sie sich so schnell mit dem Kapuzenpulli versöhnen konnte, warum dann nicht auch mit ihm?

Augenblicke später stellte Liv ihn als Ben vor.

Ihren Vater bedachte sie mit einem kühlen »Hallo« und einem winzigen Blickkontakt.

Ben gab ihm immerhin die Hand. Der Händedruck kam erstaunlich solide daher. Was sollte Holm sagen. Der sah nett aus. Bisschen verstrahlt vielleicht. Natürlich hatte dieser Ben nichts mit dem zu tun, was Holm sich unter einem angemessenen Partner für Liv vorstellte. Geschweige denn unter dem Vater seines Enkelkinds.

Mit einem Räuspern riss Werner ihn aus seinen Gedanken.

»Liebe Gäste. Mein Name ist Kapitän Mühlen.«

Alle applaudierten, und Storch pfiff auf den Fingern.

»Die Tretboote waren leider ausgebucht, deshalb habe ich«, er wies über seine Schulter, »dieses Ausflugsbötchen gechartert.«

Hinter ihm lag eine prächtige Motorjacht mit braunem Rumpf und vanillefarbenem Aufbau am Steg.

Holm hob die Augenbrauen. Storchs Begleitung stand der Mund offen. Liv verbarg sich hinter einer undurchdringlichen Miene.

»Für die Wasserratten unter euch, wir reisen auf einer Linssen Grand Sturdy 500. Gebaut in Holland. Schlappe 15 Meter lang, knapp fünf Meter breit und fast anderthalb Meter Tiefgang. Das Schätzchen hört auf den schönen Namen Delphin.«

Werner ließ seinen Blick auf Laura ruhen.

»Wenn schon, denn schon«, sagte sie voller Anerkennung.

»Genau! Na dann, alle Mann an Bord!«, rief Werner und half Shirin und Storch die Planke hoch.

»Für heute Nacht habe ich im Hotel Seelust Zimmer klargemacht. Morgen dann Frühstück am Wasser und, wer möchte, kommt noch mit in die Therme. Spätestens dann nehme ich auch die Kapitänsmütze ab.«

Die Reisegesellschaft jubelte Werner zu und ließ ihn hochleben. Allein Liv und Holm schienen unbeteiligt.

Laura drückte seinen Arm.

»Wenn wir ihn nicht bremsen, verbringen wir den Rest des Jahres hier«, flüsterte sie.

»Meine Rede«, erwiderte er, wobei er versuchte, Liv zu taxieren. Sein ungutes Gefühl im Bauch drängte sich vollends in den Vordergrund. Zwei Wochen lang hatte sie ihn gemieden wie das Weihwasser den Teufel. Doch in die Bootstour willigte sie ein? Die Sache hier ging zu glatt. Es sei denn … Sie hatte etwas vor! Na klar. Es lag auf der Hand, er hatte ihr einfach nicht zugetraut zu taktieren.

Leider fiel ihm das erst wie Schuppen von den Augen, als sie ablegten.

Dummkopf!

Holm registrierte, dass er mit Storch und seiner Shirin zusammenstand, die nicht bloß sexy, sondern auch noch unterhaltsam war. »Ich dachte schon, es gibt Sie nur in Felix’ Fantasie, Herr Holm, als wären Sie sein Alter Ego, in der Supermann-Version.« Holm schnaubte amüsiert, doch bevor er eine eigene Spitze setzen konnte, rief Storch: »Momentmomentmoment. Also, erstens heißt der Mann hier Holm, nicht Herr Holm, kein Mensch nennt ihn so. Zweitens bin ich die Supermann-Version von Holm, da bist du kurz durcheinandergekommen. Und drittens ist es ein echter Trennungsgrund, dass du mich in aller Öffentlichkeit Felix nennst.« Tränen lachend nahm sie ihn in den Arm und gab ihm, von einem heiteren Raunen begleitet, einen leidenschaftlichen Kuss.

Holm zwinkerte seinem alten Weggefährten ein Kompliment zu und setzte sich ab. Am Bug streckte er sich auf überdimensionierten Kissen aus, verschränkte einen Arm hinterm Kopf und sah auf den See hinaus. Der Fahrtwind huschte über seine kurz geschnittenen, dunklen Haare. Er nippte an seinem Bier, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen langen Zug.

Hier war er nun. Wenn Liv etwas zu sagen hatte, dann sollte sie zu ihm kommen. Der Ball lag in ihrem Feld.

Er versuchte, sich zu entspannen, schließlich wollte – und musste – er souverän bleiben, komme, was da wolle. Er wandte eine unauffällige Technik an, die ihm oft half. Er spannte Muskelpartien einige Sekunden an und ließ wieder locker. Das war es. Dazu einen tiefen Zug. Den Rauch blies er in den Abend über der Müritz.

Er hörte Schritte, die sich ihm näherten. Eine Person. Sie kam allein. Eine Hochzeit hatten sie also wohl nicht anzukündigen. Fragte sich, ob die Alternative besser oder schlechter ausfiel. Er setzte sich etwas auf, als sie an ihm vorbeitrat, kehrtmachte und sich zu ihm auf Augenhöhe niederkniete.

Bevor er sie genauer mustern konnte, platzte es aus ihr heraus.

»Das mit Mamas Tod …« Ihre Stimme erstickte.

»Ich ahne, wie sehr dich das getroffen hat«, er spürte einen Frosch im Hals, der seine Stimme belegte, »aber ich musste es einfach loswerden und …«

Liv gab sich einen Ruck und ging dazwischen.

»Papa, ich will, dass du es von mir erfährst.«

Er kniff die Augen zusammen. Lag er doch richtig. Da kam die Attacke.

»Was du mir erzählt hast, reicht mir nicht. Mein Kopf ist voller Fragezeichen. Ich werde Mamas Tod nachgehen. Das meine ich ernst. Ich will herausfinden, was damals passiert ist. Sonst wird mir das Trauma immer nachhängen.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte ihre Mutter damals am frühen Morgen gefunden, mit durchschnittenen Pulsadern. Er würde nie verwinden, dass er das zugelassen hatte, mit seiner Sauftour, nachdem Helena …

Aber das jetzt?

Er senkte den Blick. Starrte in den Zigarettenrauch, der ungerührt emporstieg. Mit einem Angriff hatte er gerechnet. Mit Vorwürfen, Enttäuschung, vielen Fragen. Als er wieder aufsah, erschrak er beinahe: Ihre Augen quollen fast über vor Wut und Verachtung. Sie verzieh ihm nicht. Würde es nie tun. Dachte, dass er seine Frau und die Familie zerstört hatte, damals …

Er fühlte sich wie paralysiert.

Liv wollte die Tür wieder öffnen, die er mühsam hinter sich geschlossen hatte.

»Ich glaube«, hörte er sich angestrengt flüstern, »das ist nicht der richtige Ort für …« Er klang lahm.

»Ich wollte es nicht diskutieren«, schnitt Liv ihm das Wort ab, »ich wollte, dass du es weißt. Papa!«

Sie erhob sich und ging.

Er wollte etwas rufen.

Hinterhergehen.

Er blieb kraftlos auf den Kissen liegen, als würde er von unsichtbaren Fesseln zurückgehalten und jeder Versuch aufzustehen wäre aussichtslos.

Stattdessen ließ er den Kopf gegen die Bootswand sinken. Darum ging es Liv also. Nicht um Vergebung und Versöhnung von Angesicht zu Angesicht, sondern um den offenen Bruch. Um eine Kriegserklärung.

Er war ihr in die Falle gegangen. Und die hatte getan, was sie tun musste: Sie war zugeschnappt.

20.15 Uhr

Der Mann übergab sich schon wieder. Bianca konnte weder hinschauen noch hinhören und atmete durch den Mund. Was war bloß los mit Richter Reichelt, einem ihrer Stammgäste?

»Ausgerechnet heute ist nur ein Zahnarzt da. Sonst stehen die Chefärzte Schlange«, wisperte Katta ihr ins Ohr.

Der Zahnarzt, der betonte, bereits drei Wein getrunken zu haben, legte Reichelts Beine hoch und sprach beruhigend auf ihn ein. Dessen Frau kniete daneben und hielt Reichelts Hand – ihre Augen pure Sorge.

Katta und sie saßen am Ende des leeren Restaurants, zwanzig Schritte entfernt von dem am Boden liegenden Richter. Seine Atemversuche gingen in Röcheln über. Bald rang er um jeden Atemzug. Mit größter Anstrengung saugte er ein winziges bisschen Luft in sich hinein, ein kurzes Keuchen, ein Rasseln, fast zu mechanisch, um von dieser Welt zu sein.

Ihr Vater kam zu ihnen, er hatte sich so leise bewegt, dass Bianca ihn gar nicht gehört hatte.

»Die Meute ist versorgt«, flüsterte er ihnen zu. »Schampus und Wasser im Hof, alles aufs Haus, das Team kümmert sich, Franco hat ein Auge darauf.«

»Fein«, dankte Katta matt.

»Und unsere eigenen Gäste?« Es war Bianca höchst unangenehm, an ihre Freunde und die ihrer Eltern zu erinnern, mit denen sie die Köchin des Jahres feiern wollten.

»Mama und Bernhard haben alles im Griff«, erklärte ihr Vater leise. Bernhard Scheller, sein ältester Freund und wichtigster Lieferant.

Bianca hätte sich am liebsten in ihrer Küche verkrochen, bis der Zwischenfall vorüber war. Doch der Schock lähmte sie vollständig.

»Herr Reichelt«, rief plötzlich der Zahnarzt, »bleiben sie bei uns.«

Reichelts Frau lehnte sich über ihn. »Liebling!«, rief sie, ihre Stimme kippte, »sieh mich an, KaDe! Klaus-Dieter?«

»Er ist bewusstlos geworden!«, rief der Zahnarzt über die Schulter.

»Oh mein Gott«, flüsterte Katta.

Bianca verschlug es die Sprache.

»Können wir irgendwie helfen?«, fragte ihr Vater.

»Wo bleibt denn die Notfall-Ambulanz!«, schrie der Zahnarzt.

Reichelts Frau fing an zu weinen, so herzzerreißend, dass Bianca Gänsehaut bekam.

»Herr Veh«, rief der Zahnarzt, »bringen Sie Frau Reichelt bitte weg«.

»Natürlich, sofort.«

Ihr Vater sprang auf, ging zu den anderen vor und nahm Reichelts Frau mit beiden Händen an den Schultern.

Katta zog Bianca am Ärmel.

»Du musst hier raus, Bianca. Ich hätte gerne, dass du in der Küche wartest. Und dir das alles … nicht antust.«

Ihr Körper gab Katta nicht nach. Blockierte. Ich kann ihn doch nicht im Stich lassen, dachte Bianca.

Sie musste einfach hinsehen, hoffen und beten, dass der reglose Körper sich gleich wieder in Bewegung setzte.

Ihr wurde schwindlig. Sie spürte Arme um sich, wie Katta sie zu einem Restauranttisch hievte, ehe sie sich wieder fing.

Der Zahnarzt schrie etwas, das sie nicht richtig wahrnahm.

Tränen in den Augen ließen alles unscharf werden, als Bianca aus dem Nichts des Schocks ein Gedanke durchfuhr und sie aufschrecken ließ. Der Gedanke presste ihre Rippen in die Lungen. Zerrte an ihren Schultern. Sog den Magen zusammen.

Was, wenn sie schuld daran war, dass der Mann – starb?

War ein Allergikerhinweis nicht bei ihr angekommen? Die Kellner waren gehalten, jeden danach zu fragen. Sah so ein allergischer Schock aus?

Oder stimmte etwas mit den Zutaten nicht? Hatte sie schlechte Ware geliefert bekommen? Konnte es sein, dass rohes Fleisch bei ihr im Kühlraum verdorben und Tropfen davon irgendwie aufs Wachtelconfit geraten waren? Das wäre fatal. Wurde sie Zeugin einer ganz üblen Lebensmittelvergiftung?

Was hatte sie bloß falsch gemacht?

Sie bekam mit, dass ihr Vater die Frau des Richters an Katta übergab.

Dann stoppten die Schuldgefühle ihren Atem und schlossen ihre Augenlider, sie wusste nicht, für wie lange. Sie realisierte nicht, wie der Notarzt hereinrauschte, an dem Körper herummachte, daneben ihr Vater, auf den Knien.

Als der Arzt innehielt und leise »es tut mir leid« zu ihm sagte, riss sie endlich die Augen auf. »Ich kann nur noch den Tod feststellen«, erklärte der Notarzt, ohne aufzusehen.

»Nein, bitte nicht«, hörte sie ihren Vater wispern.

Reichelts Frau riss sich von Katta los und stürzte zu ihrem Mann.

Katta wiederum zog Bianca auf die Beine, sie wollte sie offenbar herausschaffen, schützen. Der Notarzt gab ihrem Vater ein kleines Zeichen, und sie standen auf und gingen ein paar Schritte weg vom Leichnam, damit Reichelts Frau ungestört Abschied nehmen konnte.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Veh«, erklärte der Notarzt mit gesenkter Stimme, »ich kann unter diesen Umständen keinen natürlichen Tod attestieren.«

Ihr Vater sah den Arzt traurig und leer an. Vollkommen schockiert.

»Ich weiß, wie unangenehm das für Sie ist, aber ich muss Sie bitten, die Polizei zu rufen.«

Bianca sackten die Beine weg. Katta fing sie auf, ehe sie stürzte, führte sie Richtung Küche, sprach Worte, die sie nicht verstand, die sie nicht einmal hören konnte, denn ein schriller Ton dröhnte in ihrem Kopf.

Bianca warf den Kopf noch einmal herum, als könne sie noch etwas ungeschehen machen, wenn man sie bloß ließe.

Was sie sah, versetzte ihr einen scharfen Stich in die Brust. Es brannte sich im selben Augenblick in ihr Gedächtnis ein. Für immer.

Richter Reichelts leere Augen schienen sie anzustarren.

Der Rest war Pfeifen.

20.27 Uhr

Holm konnte es einfach nicht fassen, dass Liv dem Tod ihrer Mutter nachgehen wollte. Seiner Frau. Helena. Hielt Liv sich jetzt für die junge Miss Marple oder was? Er stand allein vorn am Bug, trank die zweite Flasche Bier und blies den Rauch seiner Zigarette dem Fahrtwind entgegen.

Mit seinem Geständnis, sich für Helenas Selbstmord verantwortlich zu fühlen, hatte er gehofft, die Mauern zwischen Liv und ihm einzureißen. Das Gegenteil war passiert.

Ehrlichkeit wird überschätzt, dachte er bitter.

Was glaubte sie denn, welche Geheimnisse sie dreizehn Jahre danach lüften würde?

Er wollte schnellstens runter von diesem verdammten Kahn. Das Geschaukel nervte. Der Motor stank. Das Essen war kalt.

Er sah eine Weile auf den See hinaus.

Trank. Rauchte. Atmete tief ein und langsam aus.

Sein Smartphone vibrierte. Rechte Tasche. Arbeit. Halleluja!

Er zog es sofort hervor.

Katharina Wiesenbach stand im Display.

Katta, die Promi-Managerin.

Katta, die etwas bei ihm guthatte.

Katta aus alten Zeiten.

Wurde das ein berufliches oder privates Gespräch?

»Der Anruf kommt unerwartet, Katta«, sagte er zur Begrüßung, so neutral er konnte.

»Holm, entschuldige, es ist ein absoluter Notfall!« Das höre ich, dachte er, sie hatte ihre Stimme kaum unter Kontrolle.

»Erzähl«, erwiderte er knapp.

»Du weißt ja, dass ich einige Promis manage, oder?«

»Natürlich.«

»Eine davon ist Bianca Veh. Die Sterneköchin.«

»Bianca Veh? Die war doch heute in den Nachrichten?«

»Als Köchin des Jahres, ganz genau. Wir wollten es am Abend feiern.«

»Okay«, murmelte Holm.

»Es ist so furchtbar«, schluchzte Katta, die zu Holms Überraschung die Beherrschung ganz zu verlieren drohte, »eben ist jemand im Restaurant gestorben.«

»Wie? Gestorben? Wer?«, fragte Holm nach. Warum sagte sie das nicht gleich? Sie musste völlig durch den Wind sein.

»Ein Gast. Ich habe es selbst gesehen. Er versuchte aufzustehen, fiel hin, röchelte, dann war er weg. Wir konnten nichts machen …« Ihre Stimme versagte.

»Wer ist der Tote?«, wollte Holm wissen.

»Als wäre es nicht schlimm genug. Behalt es unbedingt für dich, bitte: Es ist KaDe Reichelt, der Richter.«

Auch das noch. Klaus-Dieter Reichelt. Richter am Hamburger Oberlandesgericht. Ein beinharter Jurist, der dank seiner Unbestechlichkeit und Hartnäckigkeit den verschiedensten Leuten mächtig auf die Füße gestiegen war und sich bundesweit einen Namen gemacht hatte.

»Hölle, Holm, es ist die Hölle.«

Wahrscheinlich hatte Katta allenfalls in der Vorhölle eingecheckt, was die Krisenkommunikation anging. Doch seine Erfahrungswerte behielt er besser für sich. Es würde nichts bringen, sie in diesem Augenblick noch mehr zu verunsichern.

»Wo genau liegt das Restaurant?«, wich er auf eine naheliegende Frage aus, »Hamburg, die Ecke, oder?«

»Ja, Altes Land. In Jork. Wo bist du?«

»Auf der Müritz.«

»Da bist du uns ja schon ein ganzes Stück entgegengekommen.«

Er kramte ein Bild von Bianca Veh aus seinem Gedächtnis. Keine klassische Schönheit – wie Helena es gewesen war –, aber gewiss eine außergewöhnliche und anziehende Frau. Er erinnerte sich als Erstes an ein frisches, müheloses Lächeln und an einen frechen, etwas schiefen Pony, der direkt über ihren Augenbrauen stoppte und von dem er annahm, dass sie ihn sich selbst schnitt. Das gab ihr eine eigene Note und nahm der Erfolgsfrau das Unnahbare. Warme, bernsteinfarbene Augen. Er schätzte, dass sie weder groß noch klein war, knapp unter eins siebzig etwa. Eine junge Frau wie gemacht fürs Marketing. Mit einer sehr wohltuenden Mischung aus Selbstvertrauen und Natürlichkeit. Kein Wunder, dass sie so gut ankam. Sie ist auf jeden Fall ein Trumpf, hielt er in Gedanken fest.

»Holm, warte mal, ihr Vater, will was mit mir besprechen, er ist hier Geschäftsführer.«

»Ich bleibe dran«, versprach er, da hatte sie ihn bereits in eine Warteschleife befördert.

Er nahm noch einen Zug und bemerkte erst dann, dass Laura Blickkontakt zu ihm suchte, ihre feinen Antennen waren angesprungen, was sie mit einer fragenden Geste unterstrich. Er winkte sie zu sich.

»Im Gourmet-Restaurant von Bianca Veh ist ein Gast tot umgefallen. Ihre Managerin will, dass wir sofort kommen.«

Für einen Sekundenbruchteil sah er Laura an, dass sie die Bootstour genoss, dann blinzelte sie und meinte: »Naherholung will gut dosiert sein.«

»Danke, Laura. Kennst du die Veh?«

»Ich habe ein tolles Kochbuch von ihr.«

Holm zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.

»Aus dem ich nie koche, das gebe ich zu«, erklärte sie, »aber ihre Sendung ist auch ganz nett.«

Holm zog die zweite Augenbraue hoch.

»Na ja, für eine Kochsendung«, sagte Laura kleinlaut.

»Ich dachte, du machst dieses Functional-Outdoor-Dingsbums.«

»Aber doch nicht den ganzen Tag, Mats!«

»Du hast deutlich zu viel Freizeit.«

Sie lächelte spöttisch, während Holm sein Bier austrank und einen Moment wartete, bis Katta ihn wieder in die Leitung holte.

»Entschuldige, Holm. Es geht hier drunter und drüber. Und: Wie sieht es aus?«, fragte Katta, er hörte den Druck in ihrer Stimme.

»Tja, ich entdecke eine ganz neue Seite an meiner Partnerin. Laura May, du erinnerst dich, die Schwester von …«

Er verstummte, als er aus dem Augenwinkel registrierte, wie Liv sich ihm zuwandte. Der Fahrtwind musste Wortfetzen hinübergeweht haben.

Er räusperte sich, drehte sich von Liv weg und sagte leise: »Ich könnte ja noch ewig Boot fahren, wenn meine Partnerin nicht Feuer und Flamme wäre, sie ist ein Fan von Bianca.«

Laura formte drei Finger zu einer Pistole und drückte ab. Sie lächelte ihn dabei an.

»Ihr kommt?«, fragte Katharina Wiesenbach ungläubig.

Wenn es sein müsste, würde ich nach Hamburg schwimmen, dachte Holm.

»Du kennst unsere Bedingungen?«

»Du willst die Wahrheit von uns. Lügst nicht für uns. Und das Honorar bestimmen wir.«

»Das klang jetzt auswendig gelernt.«

Katta ging nicht auf die Spitze ein.

»Ziemlich eigenwillig für deine Branche«, meinte sie, »aber wenn man sich den Spitznamen Master of Desaster verdient hat, kann man sich wohl auch etwas Extravaganz leisten.«

»Dann informiere deine Auftraggeberin«, erklärte er und hörte ein tiefes Atmen am anderen Ende der Leitung. Er gab Laura ein Zeichen, dass sie Werner bitten sollte, sie zurück zum Hafen zu fahren.

»Du bist mein Held«, flüsterte die Managerin der Starköchin.

»Da wir noch zurücktuckern müssen«, blieb Holm am Ball, »lass uns sofort anfangen, Katta«.

»Okay, schieß los.«

»Noch ist kein leitender Ermittler da, oder?«

»Die Fußtruppen sind eben erst eingetroffen.«

»Dann schnapp dir deren Truppführer. Bitte ihn, diskret vorzugehen. Das ist schließlich ein exquisites Restaurant mit entsprechender Kundschaft. Isst auch mal der Polizeipräsident bei euch? Oder ein Staatsanwalt?«

»Die Oberstaatsanwältin.«

»Lass das fallen. Schutzmann Fleißig soll die Gäste gut behandeln und nicht wie Tatverdächtige. Noch eine Front können wir nicht gebrauchen.«

Er merkte, wie die Jacht beidrehte und Fahrt aufnahm.

»Kann ich so offensiv auftreten?«, fragte Katta nach.

»Absolut! Bei der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die der Tod von Reichelt bekommen wird – das geht sofort durch die Decke. Polizeispitze, Staatsanwaltschaft, ziemlich sicher eine Meldung ans Innenministerium.«

»Ich sehe, was ich tun kann.«

»Gut. Wie sieht es mit der Presse aus?«

»Die war live dabei, ein Fernsehmoderator, der ist Stammgast von uns. Ansonsten marschieren sie langsam, aber sicher auf.«

»Da kann man nichts machen. Bring Bianca aus der Schusslinie. Keine Fotos, keine Kommentare. Außer: Sie ist geschockt. Kooperiert vollumfänglich mit der Polizei. Das reicht für den Anfang.«

»Schieße ich so raus. Wie können wir die Zeit noch nutzen?«

»Bete für eine freie Autobahn.«

»Sehr witzig. Wie lange braucht ihr?«

»Bisschen über Land, dann die A24. Eigentlich zweieinhalb Stunden. Ich sollte es unter zwei schaffen, sobald wir vom Schiff sind.«

»Das kriege ich überbrückt.«

»Wer, wenn nicht du, Katta?«

Er legte auf. Laura kam auf ihn zu und zeigte auf ihr Smartphone.

»In dieser Sekunde kommt die Eilmeldung: Tote in Restaurant von Starköchin. Krankenhaus bestätigt.«

»Jetzt geht es rum wie ein Lauffeuer. Und wir sitzen auf diesem Kahn hier fest.«

»Briefing zu Bianca Veh kriegst du im Auto«, kündigte Laura an und zog sich zurück, um direkt mit ihren Recherchen loszulegen.

Holm ging zu Storch.

»Dein Job ist beschissen«, sagte sein Freund, der offensichtlich bereits wusste, warum sie zurückfuhren.

»Er zahlt die Miete, Storch.«

»Jaja. Und meiner nicht.«

Holm lächelte ihn entschuldigend an. So war es nicht gemeint. Storch wusste doch, wie sehr er ihn für seine Jugendarbeit in einem sozialen Brennpunkt respektierte.

»Willst du etwas aufstocken?«, fragte Holm.

»Hab ich eine Wahl?«

Holm klopfte ihm dankbar auf die Schulter.

»Es geht um Bianca Veh.«

»Die Starköchin?«

»Genau.«

»Coole Sau«, Storch sah Bestätigung suchend zu Shirin. Die nickte. »Und das Kochbuch ist klasse.«

Gab es irgendwen, der nicht dieses verdammte Kochbuch toll fand?

»In ihrem Restaurant ist jemand tot umgekippt.«

»Fuck!«, entfuhr es Storch, »jetzt soll ich das Netz im Auge behalten«.

»Jeden Millimeter davon.«

»Gib mir fünf Minuten, sobald wir vom Bötchen sind.«

Storch schlug ihm brüderlich auf die Schulter.

»Und guck mal, Werner will dir etwas sagen.«

Holm sah über die Schulter.

Werner stand am Steuer, hatte sich zu ihm gedreht und tippte an seine Kapitänsmütze. Holm lächelte, machte es seinem Ziehvater nach und berührte mit dem Zeigefinger seine Schläfe. Plötzlich spürte er einen Blick im Rücken, wandte sich um und entdeckte Liv am Bug der Jacht, an die Reling gestützt, genau dort, wo er eben noch selbst gestanden hatte.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Weil er die Gesellschaft sprengte und den Abend kaputt machte, weil er sie und ihre Wut stehen ließ. Doch auf den zweiten Blick sah er noch etwas anderes. Etwas viel Schlimmeres.

Sie sah ihn an wie einen Fremden.

Er spürte einen Stich im Herzen, der wie ein Blitz einschlug.

Atmete ein. Atmete aus.

Und hörte eine Stimme in sich einen Befehl wispern.

Sie hat heute Abend bekommen, was sie wollte. Konzentrier dich jetzt auf den Fall, Mats Holm!

20.59 Uhr

Bianca konnte nicht so ruhig dasitzen wie ihre Mutter, die in der Dunkelheit auf die einzig Licht spendende Kerze auf dem Tisch starrte. Bianca ging in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Auf und ab. Auf weichen Knien. Der Schock ließ sie nicht los. Hoffentlich war sie nicht schuld am Tod des Richters. Oder ihre Brigade.

Am liebsten wäre sie losgerannt. Weg aus dem Hoteltrakt, in dem ihr Apartment lag. Losgerast, wie ihre Gedanken es taten.

Oh Gott, wie schrecklich! Der arme Richter. Seine arme Familie.

Tot. Der Mann war tot. Wie er geröchelt, um jeden Atemzug gekämpft hatte. Der Rücken des Arztes. Die toten Augen. Normalerweise speicherte sie Geschmack ab. Und heute Nacht das. Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»Iss doch bitte etwas«, bat ihre Mutter liebevoll und zeigte auf die Obstschale vor ihr.

Bianca schüttelte den Kopf. Irgendwo meldete sich zwar wirklich ein Hungergefühl, doch sie wusste, sie würde sich sofort übergeben, wenn sie einen einzigen Bissen zu sich nahm.

Vorsichtig ging sie zum Fenster, von dem aus sie den gesamten Hof im Blick hatte. Sie rührte die Gardine nicht an. Blaulicht. Blitzlicht. Fernsehkameras. Eine Belagerung, die sich absurd anfühlte. Unwirklich.

»Bleib doch da weg«, bat ihre Mutter sanft. »Die lauern doch auf genau solche Bilder.«

Bianca machte, weiter aus dem Fenster schauend, einen halben Schritt zurück.

»Unsere armen Gäste«, meinte sie nachdenklich. »Für die muss ich irgendwann etwas organisieren, als Wiedergutmachung.«

»Sie können doch erste Klasse gaffen und kriegen noch Freibier dazu.«

»Mama! Die wollten doch nur einen schönen Abend haben!«

Ihre Mutter verfiel wieder in Schweigen.

Biancas Smartphone vibrierte ohne Unterlass. Sie ging zurück zum Sofa und nahm es in die Hand. Katta hatte sie gebeten, ihre Nachrichten im Auge zu behalten, aber keine zu beantworten. Sie scrollte mit dem Zeigefinger. Da, Katta hatte geschrieben:

Holm kommt!

Gott sei Dank! Bianca kannte ihn nicht, doch Katta hatte ihr von ihm vorgeschwärmt. Er sei der Beste für solche Fälle. Holm würde den Schaden so gering halten wie menschenmöglich. Das hatte Katta ihr versprochen. Darauf verließ sie sich.

»Dieser Herr Holm ist auf dem Weg«, sagte sie vorsichtig zu ihrer Mutter.

»Na toll«, antwortete Hanna Veh tonlos.

Plötzlich musste Bianca an Monsieur Pierre denken. Sie hatten ihn Napoleon genannt oder Napo, weil er Korse war, klein und herrisch.

Die Erinnerungen kamen öfter, wenn sie stark unter Druck geriet. Vermutlich, so erklärte sie es sich selbst, war die Ausbildung bei Monsieur Pierre die Mutter aller Drucksituationen, auf die sie zurückgeworfen wurde. Überall anders wäre sie ein Demi Chef gewesen, er behandelte sie wie einen unfähigen Commis. Für seine Ansprüche ging sie als Anfängerin durch, nicht als Gesellin. Er hatte sie Veh genannt. Manchmal la fille allemande, das deutsche Mädchen. Meist cafard, Küchenschabe, wie er alle anderen auch bezeichnet hatte, wenn er sauer wurde, was praktisch jeden zweiten Abend der Fall gewesen war. Er befehligte seine Brigade dann vornehmlich mit Tritten in den Allerwertesten und Schimpftiraden, die sich durch tieffliegenden Speichel vollends in ihrem Gedächtnis verewigt hatten.

Daneben wirkten die unzähligen Doppelschichten und der nie, nie nachlassende Drill im Nachhinein wie ein Klacks.

Sie ließ sich von Napo nicht brechen, lediglich formen. Schließlich stand da ein Koch vor ihr, der seit über zwanzig Jahren drei Michel-Sterne verteidigte. Er war damals ein Gott für sie wie für alle in seiner Entourage. Und er wusste das. Er hielt sich ja selbst für einen.

Um diese Zeit zu überleben, hatte sie gelernt, das Gute vom Schlechten der Ausbildung zu trennen. Mit dem Guten arbeitete sie weiter, das Schlechte verdrängte sie, sperrte es weg, weit fort von ihrer Seele.

Am Ende hatte er ihr mit seinem korsischen Französisch gesagt: »Veh, du kannst arbeiten, und du kannst kochen. Das ist eine seltene Gabe für eine Schabe.«

»Oui, chef.« Napo, der Macho alter Schule.

»Das ist mehr, als ich zu meinen Schabenzeiten hatte.«

Sie hatte schon oui, chef sagen wollen, als sie begriff, dass er ihr ein außergewöhnliches Lob gemacht hatte, auf seine raubeinige Küchenbrigaden-Art.

»Und jetzt verpiss dich aus meiner Küche und lass dich nicht vom ersten Idioten schwängern. Sonst war alles umsonst.«

»Oui, chef«, hatte sie inbrünstig gerufen, den Blick gerade aus, als verlasse eine gestählte Soldatin ihre Militärakademie.

Er hatte sie gemustert, sie endlich an sich gezogen und sie mit seinen Pranken gedrückt, als wäre sie eine Keule luftgetrockneter Serranoschinken.

Danach hatte sie eine Auszeit gebraucht –und Inspiration. Sie entschied sich, auf eine kulinarische Weltreise zu gehen. Die startete in Vietnam, Thailand und Indien. Ging dann über Japan nach Australien, wo es ihr besonders gut gefiel, ehe sie über den Pazifik nach Chile flog. Die nächste Station hieß Argentinien, von wo aus sie sich nordwärts arbeitete: Kuba, Mexiko und Kalifornien, als Kontrastprogramm dazu Äthiopien, zum Abschluss Libanon, Iran, Türkei und Russland.

Sie entdeckte in jedem Land, an jedem Ort faszinierende Gerichte und Zutaten, oft in Familien, in die sie immer wieder ging; eine fünfzehn Monate währende Großrecherche und ein einziges Trainingslager für ihre Geschmacksnerven. Sie wusste, dass der riesige Fundus, den sie in dieser Zeit aufgebaut hatte, ein wichtiger Baustein ihres Erfolgs war. Ihr derart ausgeprägtes Geschmacksgedächtnis bildete die Basis für das, was Katta zu einem marketingfähigen Küchenkonzept zugespitzt hatte: haute cuisine around the world.

Die Erinnerungen an Monsieur Pierre und ihre prägende Zeit auf Tour entspannten sie oft.

In diesem Augenblick war es anders.

Ihre Hände zitterten leicht, was für Bianca bereits alarmierend genug war.

Sie nahm wieder ihr Smartphone. Wollte jemandem schreiben. Dave?

Ja?

Nein!

Nein, auf keinen Fall! Nicht nach heute und überhaupt.

Als es klopfte, legte sie das Handy wieder weg und lauschte an der Tür.

»Ich bin es, Katta!«

Bianca schloss auf, ihre Managerin huschte herein, und kaum fiel die Tür ins Schloss, nahm sie sie in den Arm.

»Ihr müsst bitte herunterkommen. Die Polizei will einige Ansagen machen und Auskünfte haben.«

»Kann Bianca nicht hierbleiben?«, fragte ihre Mutter.

»Ich habe es ja versucht, Frau Veh«, erklärte Katta kurz angebunden und wandte sich Bianca zu: »Wir sehen zu, dass du ganz hinten stehst. Zieh dich am besten um, keine Kochklamotten, Käppi auf.«

»Was wollen die denn von uns?«

»Personalien abgleichen. Eine Mitarbeiterliste von den Schichten heute. Die Reservierungsliste. Such es dir aus.«

»Verdächtigen die jetzt alle?«

»Na ja, sie wollen genau dokumentieren, wer hier war.«

»Manche sind gefahren, hab ich aus dem Fenster gesehen.«

»Überlassen wir das der Polizei.«

Bianca nickte notgedrungen.

»Werden sie die Küche absperren?«, fragte ihre Mutter.

»Das müssen die Kommissare entscheiden, sobald sie kommen, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Ist das wahrscheinlich?«

Katta verdrehte die Augen und ließ ihr Smartphone zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen.

Bianca verstummte. Na klar sperrten die die Küche ab. Ließen sie nicht mehr in ihr Zuhause. In ihre Oase. Dabei hätte sie sich am liebsten dort verkrochen.

Sie zog die Schirmmütze tief in die Stirn.

»Bereit!«, sagte sie und war verwundert, wie entschlossen sie klang.

Plötzlich konnte sie nicht anders. Der Stern. Sie musste an ihren Stern denken. Was, wenn etwas von dieser Tragödie an ihr hängenblieb, was auch immer? Quatsch, sagte sie sich. Trotzdem bildete sich in ihr ein Gefühl, ein Gedanke, ein Wort, sie konnte es nicht bremsen.

Das Wort lautete: Gefahr.

Ihr Stern war in Gefahr!

Sie musste kämpfen.

Mit allen Mitteln.

Ihn verteidigen.

Oui, chef!

21.51 Uhr

Holm jagte den Wagen mit 240 Stundenkilometern durch ein Sommergewitter über die leere Autobahn.

Laura legte ihr Mini-Laptop zur Seite und zog die kleinen Kopfhörer aus den Ohren. Als Nächstes machte sie sich am Reißverschluss ihres Sommerkleides zu schaffen.

»Kostet das Eintritt?«, fragte Holm nach einem irritierten Seitenblick.

»Oh, ich dachte, du hättest schon mal Frauenbeine gesehen.«

»Wenn ich jetzt in die Leitplanken rase, kriegen wir Schwierigkeiten mit der Haftpflicht«, erwiderte Holm.

»Denkst du dir die Komplimente vorher aus oder kannst du das spontan, Mats?« Sie lachte ihn an und stieg weiter geschickt in ein geschäftsmäßiges Kostüm, während er den Kopf schüttelte.

Ihr Smartphone machte ein ungewohntes Plingling.

»Dein Kurschatten?«

»Hab seine Nachrichten umgeleitet, damit ich nicht zwei Geräte schleppen muss.«

»Was hat Theiss dieses Mal gedichtet?«

»Wird dir gefallen: Trainiere hart. Bald laufen Sie mir nicht mehr davon.«

Holm rümpfte die Nase. »Reimt sich nicht, aber für einen Bullen überdurchschnittlich.«

Jan Theiss hatte im vorigen Fall die Ermittlungen geleitet und geahnt, dass Laura und er einen gewissen Einfluss auf die Geschehnisse genommen hatten. Er hatte Laura auf ihrer Jogging-Strecke abgefangen und ihr zu verstehen gegeben, dass er sie im Visier habe.

Seine Partnerin kräuselte nachdenklich die Lippen.

»Was antwortest du?«

Laura tippte bereits und las vor: »Endlich ist verletzte Männlichkeit mal zu etwas gut.«

Holm pfiff durch die Zähne. »Wenn ich mich auskennen würde, könnte ich das glatt für einen Flirt halten.«

»Oder ein Spiel mit dem Feuer«, murmelte Laura auf ihr Smartphone starrend. Schließlich tippte sie auf Senden.

»So«, sagte sie und zupfte ihre Haare im Rückspiegel zurecht, »ich hab alles geordnet. Das Leben der Bianca Veh.«

»Wie es in der Zeitung steht«, merkte Holm skeptisch an.

»Willst du es hören?«

»Erst die Essenz.«

Laura stutzte.

»Dann sieh dir das an.«

Sie rief ein Video aus einer Talkshow auf und hielt ihm den Bildschirm in sein Blickfeld.

»Frau Veh, haben Sie nicht manchmal die Nase voll vom Kochen?«, fragte die Moderatorin der Freitagabend-Talkshow. Die Regie schnitt um auf eine Steadycam, die aus der Halbtotalen auf die Starköchin zuschwebte. Wow! Die junge Frau hatte eine unglaubliche Bildschirmpräsenz. Wie war sie nur unter seinem Radar durchgeflogen? Ihre großen, hellbraunen Augen funkelten einladend im Studiolicht und zogen ihn magisch an. Ein schwarzer Einteiler, der sich vorne zuknöpfen ließ, verwies unaufdringlich auf ihre schlanke Figur. »Kochen ist nie Mühe für mich«, antwortete Bianca. Holm beobachtete, wie ihre sinnlich geschwungenen Lippen sich leicht zusammenzogen, als würde sie die Frage abschmecken. »Es ist immer ein Geschenk. Das ist mein Zuhause. Mit meiner Familie im Rücken. Wenn ich in der Küche stehe, dann bin ich bei mir. Dann ist alles leicht. Schwebt … Das klingt jetzt doof, oder?« Sie kokettierte nicht, das war sie, ganz echt und authentisch. Absolut bemerkenswert, fand Holm. Die wenigsten Menschen konnten sich das vor Fernsehkameras und Millionenpublikum bewahren: unverstellt bleiben. Sie tat es ohne jede Anstrengung. Einfach zauberhaft. »Nee, gar nicht«, antwortete derweil die Moderatorin. »Klingt so, wie Ihr Essen schmeckt.«

Sie ließ den Lacher kurz aufbranden, ehe sie tiefer bohrte.

»Also, wenn ich es richtig verstehe: Kochen gibt ihnen Frieden, egal, wie stressig es ist?«

Bianca sah auf.

»Ja, auf die Formulierung wäre ich nie gekommen, danke, das trifft es, glaube ich, ganz gut.« Sie lächelte verlegen – und Holm spürte als Zuschauer, wie ihm warm ums Herz wurde. Der Profi in ihm merkte sich, was für eine Wirkung Bianca auslösen konnte, wenn sie unbefangen und frei im Fernsehen auftrat.

Das Publikum klatschte, und die Moderatorin band das Gespräch mit wenigen Worten ab: »Ich wünsche Ihnen – natürlich ganz uneigennützig – viel Seelenfrieden am Herd.«

Laura stellte ihr Laptop wieder auf den Knien ab.

»Ich mache es chronologisch«, kündigte Laura an, »Bianca Veh ist im Familienbetrieb der Eltern zwischen Töpfen und Pfannen groß geworden. Die ersten eigenen Rezepte hat sie in der vierten Klasse in ihr geheimes Büchlein geschrieben.«

»Das will ich sehen.«

»Der Vater, Konrad Veh, hat die Kinder von Anfang an auf Gastronomie geeicht. Ihr Bruder Thomas ist anscheinend früh ausgebrochen und erst vor kurzem in den Schoß der Familie zurückgekehrt.«

»Aber sie hat es durchgezogen«, stellte Holm fest. Laura nickte, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

»Ausbildung bei Spitzenköchen in Deutschland, Österreich und Frankreich. Harte Lehrjahre. Dann eine Weltreise.«

»Warum?«, fragte Holm.

»Schwer zu sagen. Sie hat sich überall mit nationaler Küche, Kochen und regionalen Zutaten beschäftigt. Über ein Jahr lang.«

»Respekt.«

»Aus der Zeit stammt auch das Konzept für ihre Küche. Nennt sich haute cuisine around the world.«

»Der Name ist garantiert von Katta.«

»In jedem Gericht sind Zutaten von allen Kontinenten. Ihr Credo: Essen verbindet. Es geht nicht um lokal oder international. Sie interessieren nuancierte, vor allem schmackhafte Übergänge, Schnittstellen. Crossover und Verschmelzungen, heißt es. Sie sagt an einer Stelle, es fasziniere sie, wenn die Küchen mehrerer Länder im Austausch wachsen. Galt anfangs als zu ausgefallen für den Landgasthof, aber ihr Vater hat sie machen lassen.«

»Das Konzept ist ja fast politisch, in Zeiten wie diesen.«

»Auf jeden Fall kommt es an, speziell bei einem weltoffenen und zahlungskräftigen Publikum aus Hamburg und umzu.«

»Schickes Erfolgsrezept.«

»Das hat ihr auch den Michelin-Stern vor drei Jahren gebracht. Im Restaurantführer steht: Hier werden Kontraste zu Harmonien. Grenzen zwischen Geschmäckern und nationalen Küchen kreuzen und vermählen sich, bis kreative Gerichte von ausgezeichneter Qualität entstehen, stilvoll serviert im ländlich-eleganten Ambiente.«

»Wie viel verdient man mit so gesalbten Sätzen?«, fragte Holm, wissend, dass Laura sich nicht in ihrer Konzentration stören lassen würde.

»Wenn dir die Gourmet-Lyrik so gut gefällt, habe ich noch den GaultMillau für dich: Die Worte müssen erst noch erfunden werden, die der Kochkunst von Bianca Veh gerecht werden, der Überfliegerin ihrer Generation im deutschsprachigen Raum. Anbetungswürdig. Mit jeder verliehenen Haube verneigen wir uns in tiefer Dankbarkeit.«

»Das trieft ja noch mehr«, lästerte Holm weiter.

»Banause! Weißt du, was sie damals gesagt hat, als sie gefragt wurde, was ihr nächstes Ziel ist?«

»Den zweiten Stern zu erkochen.«

»Ganz genau«, antwortete Laura verblüfft.

»Empathie war schon immer meine große Stärke.«

Während Holm das sagte, verdrängte er aus seinen Gedanken Livs vorwurfsvollen Blick, den sie ihm auf der Jacht zugeworfen hatte.

»Du bist einfach ein Frauenversteher«, kommentierte Laura, was er geflissentlich überhörte.

»Wie viele Frauen haben drei Sterne?«, hakte er stattdessen nach.

»Eine Handvoll. Auf der ganzen Welt.«

Holm nickte nachdenklich.

»Mit dem Stern ist sie komplett durchgestartet. Kochbuch, TV-Sendung, Werbung, Sponsorenauftritte. Im Einsatz rund um die Uhr, 24/7. Einmal hat sie erzählt, wie sie in einer Woche in New York, Paris und Hongkong war. Und zurück nach Hamburg.«

»Brutal. Und das Team dahinter?«

»Da ist, wie gesagt, ihr Vater. Brachte es nie zum großen Koch, hat sich allerdings zu einem guten Geschäftsmann gemausert. »Der Sternemacher«, so nennt die Zeit ihn in einem Porträt. Ihre Mutter, Hanna Veh, ist der Fels in der Brandung, hält die Herde zusammen. Franco Belucchi heißt ihre kongeniale Nummer zwei in der Küche. Ihr Souschef. Und das sie von deiner Katta optimal gemanagt wird, weißt du besser als ich.«

Er ahnte, worauf der letzte Satz hinauslief, er zog es dennoch vor zu schweigen.

»Mats, darf man erfahren, woher ihr euch eigentlich kennt? So zur Orientierung.«

Nein, darf man nicht. In Erinnerungen schwelgen konnten sie später.

»Sagen wir, sie hat noch einen bei mir gut.«

»Gibt viele Frauen, von denen du das sagen könntest«, rutschte es Laura heraus.

Er sah sie böse an. »Dann sage ich es anders: Das geht dich nichts an!«

»Entschuldige, Mats, ich … wollte dich nicht angreifen.«

Er presste die Kiefer zusammen und schluckte die giftige Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Das Briefing war wichtiger.

»Ist mir alles irgendwie zu glatt. Blitzblank poliert. Sie hat das Talent, sie hat den Rückhalt, sie hat den Biss. Aber wo ist der Mensch Bianca Veh?«

»Das sehen einige kritische Stimmen wie du: Bianca sei zu perfekt, um wahr zu sein. Für dieses vermeintlich glattgebügelte Image kriegt Katta ihr Fett weg. Leider auch im Spiegel und in SPON.«

»Wie steht sie mit der Bild-Zeitung?«, klopfte Holm die wichtigsten Medienbeziehungen ab.

»Katta scheint sie etwas anzufüttern. Gerade genug, dass sie die Veh nicht ins Visier nehmen.«

»Kluges Mädchen. Und Fernsehen ist Biancas Medium, nehme ich an?«

»Absolut. Natürlich in ihrem Haussender, für den sie kocht. In einer ARD-Talkshow war sie auch schon mehrere Male.«

»Merken wir uns als bevorzugte Spielwiese.«

»Außerdem ist sie sehr aktiv auf Facebook und Instagram. Hat eine eingefleischte Fan-Gemeinde.«

»In guten wie in schlechten Zeiten, hoffe ich.«

Laura nickte zustimmend und klickte sich durch ihre Notizen.

»Einen Riss gab es dann doch in dem ganzen Hochglanzspektakel: Sie war mal mit einem anderen Koch zusammen, Dave Pauls. Ein Hamburger Starkoch, der so ziemlich das Gegenteil von ihr ist. Der Bad Boy der Kochszene. War als Jugendlicher im Knast. Fing dort eine Lehre an. Den Rest kannst du dir denken.«

»Die Schöne und das Biest?«

»Wie wäre es mit: Gegensätze ziehen sich an.«

»Ja, vielleicht. Oder jemand versucht, aus dem goldenen Käfig auszubrechen.«

»Tja, ist wohl beim Versuch geblieben. Sie hat ihn abserviert.«

»Sehr interessant«, murmelte Holm, »und dein Fazit?«

»Sie ist eine sehr beliebte Person, an der viele Interessen und noch mehr Geld hängen. Da müssen wir schauen, wie wir die Front befriedet bekommen, sollte sie stärker unter Druck geraten. Dazu ist sie eine extrem öffentliche Person. Bekommt viel Aufmerksamkeit. Muss viel von sich preisgeben. Schützt sich vielleicht mit geschönter Fassade. Ein Spagat, mit dem wir umgehen müssen. Ich meine, ein Toter in ihrem Restaurant – allein das kann sie sehr hart treffen.«

»Wie hart meinst du?«

»Kommt darauf an, was wirklich los war, wäre nicht das erste Mal, das so was eine üble Kettenreaktion auslöst. Da kommt sehr wahrscheinlich eine ziemliche Stinkbombe geflogen.« Sie klappte ihr Laptop zu, legte es beiseite und streckte sich, so gut das in ihrem Autositz ging.

»Dann planen wir mal eine Nachtschicht ein.« Holm spürte bei diesen Worten das Adrenalin in sich. Wie er seinen Fokus allein auf den Fall richtete, Biancas Bild vor Augen. Wie er anfing, alles andere auszublenden.

»Sag, Mats, damit ich weiß, wie ich mich verhalte: Vertrauen wir Katta?«

»So pauschal würde ich es nicht sagen.«

»Sondern?«

»Ich kenne Katta.« Und ich hoffe, schob er in Gedanken nach, dass das nichts Ungutes bedeutet.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Laura nachhaken wollte, dann aber doch den Mund schloss. Zum Glück waren sie ein eingespieltes Team und wussten sich zu nehmen.

Blieb noch etwas Zeit, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Lauras Briefing war gut gewesen, wie immer. Trotzdem bekam er kein richtiges Gefühl für Bianca, schon gar nicht für die Entourage und den Todesfall. Er musste sich sein eigenes Bild machen. Er würde sich, trotz allem, was früher geschehen war, an Katta halten. Biancas Vater fand er noch am griffigsten, den würde er sich an Ort und Stelle genauer ansehen. Außerdem würde er versuchen, das Vertrauen der Ermittler zu gewinnen. Die saßen, was den Toten anging, an der Quelle. Konnte er sie ein klein wenig anzapfen, brachte das immense Vorteile. Laura vorzuschicken war immer so eine Sache: Die einen vertrauten ihr als Ex-Kollegin getreu dem Motto Einmal Cop, immer Cop, für die anderen hatte sie mit ihrem Ausstieg alle Vorrechte verloren.

Sie mussten Informationen sammeln wie die Eichhörnchen, entscheidende Informationen, die sie zusammenfügen würden, bis sie eine belastbare Linie für ihre Krisen-PR