Robbe schwimmt rückwärts - Silvia Overath - E-Book

Robbe schwimmt rückwärts E-Book

Silvia Overath

4,8

Beschreibung

»Ich bin neunzehn. Es ist immer ein Thema, wie alt man ist, es wird besprochen, sie fragen danach. Jung sein ist ­richtig gut. Das sagen sie. Wenn du jung bist, bist du formbar, so nennen sie es.« Mona will auf die Schauspielschule. Wieder hat sie ihre Kleidertüte unterm Arm und memoriert Gretchen auf dem Klo. Ein allerletztes Mal wird sie sich auf die Prozedur des Vorsprechens einlassen: Begrüßung, Aufwärmen mit Füßekneten, Singen, improvisieren, Bessersein. In ihr sitzt ein schmatzendes Tier: die Angst. Aber Mona ist mutig. Und voller Hoffnung. Weil es keine Alternative gibt als das Glück. Silvia Overaths Romandebüt führt in die intimen Rituale des Aufnahmeverfahrens an einer Schaupielschule. Tage zwischen Probebühnen, Schnellimbissen und dem Etagenbett in der Jugendherberge, dessen Himmel die spermafleckige Matratze und dessen Erde das Linoleum ist, auf dem Mais-Chips zwischen Männersocken liegen. Wenn Mona im Zoo den Robben zuschaut, denkt sie an ihren Vater, den Matrosen. Und an ihre schöne Mutter, die sagt: Bestimmt kommt er zurück! Tag für Tag wird die Gruppe kleiner. Wer darf bleiben? Lunet, die Apfelmus aus dem Glas löffelt, Florian, der geschmeidige Mönch, das Mädchen mit den Stelzen? Oder sie, Mona, der 'sprechende Papagei, wenn er weiblich besetzt sein soll'? Der schmale Roman ist ein Fest intensiver Momente. Hier spricht, tobt, singt, explodiert eine junge Stimme. Und führt Mona am Ende über das Theater ins Leben.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Tag 1. Runde 1

Es ist da. Es ist wieder bei dir und du denkst: Das ist die Übelkeit an so einem Morgen. Das ist das, was immer wieder kommt. Es zieht sich vom Unterbauch hoch, klettert die Seiten entlang, weicht der Lunge und anderen Weichteilen aus und setzt sich wie ein Tier hinter deinem Busen ab. Die Fühler legt es auf deinen ersten Rippenbogen, die Beine streckt es in deine Speiseröhre hinein, es dehnt seine Gelenke, es rekelt sich, macht es sich bequem, entspannt sich. Es streckt seinen weichen Panzer, der besetzt ist von kleinen Hornplatten, die sich gegeneinander verschieben und dabei leise knistern. Dann bleibt es dort, schmatzt in deinem Inneren vielleicht, weil es warm und kuschelig wird und es sich gut beherbergt fühlt. Du kannst fast hören, wie es sich weiter ausdehnt. Du fühlst dich elend, dein Oberkörper ist lahmgelegt, deine Beine zittern, obwohl du dich hingesetzt hast, aber das Tier mit seinen Extremitäten in deinem Hals will noch weiterwachsen, will sich richtig ausbreiten und du musst ihm Raum geben. Du lehnst dich gegen die Wand, willst dich entspannen, spürst aber immer noch den Druck, es wird einfach sehr eng da, mit euch beiden zusammen. Und ganz klar bist du diejenige, die nachgibt. Du ziehst dich zurück, sagst, das ist nicht mein Körper, das ist nur etwas, was mich zufällig gerade begleitet, ich würde ja gehen, wenn ich könnte. So etwas sagst du. Dann sitzt du da und wartest und versuchst, dir selbst nicht wieder zu nahe zu kommen. Und du denkst: Wir hatten das alles schon mal. Das hier ist nichts Neues. Du weißt, es gibt keinen Grund, das zuzulassen, diese Enge auf deine Kosten. So weit waren wir schon. Schon oft.

Ein Mann kommt herein. Er stellt sich in die Mitte des großen Raums hier. Er trägt einen Schal um den Hals und sagt: »Eine Ablehnung ist nicht persönlich gemeint. Ich will, dass Sie das wissen.« Dann macht er eine Pause und rückt diesen Schal zurecht, als wäre der eine Ringelnatter, zum Accessoire dressiert, und er würde ihr Leckerli geben, damit sie stillhält und nicht zudrückt. Ich kenne diesen Satz. Aus Wien, aus Leipzig, aus München, aus Frankfurt. Ich habe den Satz in Salzburg zur Begrüßung bekommen, in Hamburg, in Stuttgart, in Bern, in Berlin. Und mit jeder Stadt geht ein bisschen mehr Glaube daran verloren, dass er wahr sein könnte oder überhaupt irgendetwas meint.

Der Mann mit der Ringelnatter redet weiter: »Vielleicht suchen wir gerade nicht Ihren Typ. Oder wir haben von Ihrem Typ schon jemand. Das ist nicht persönlich gemeint. Sie wären ja dann einfach zu viel – Wissen Sie, das ist kein schöner Beruf. Sie können froh sein, wenn Sie heute nicht weiterkommen.« Bestimmt schwitzt er in der Halsgegend, weil sich der Schal immer enger um ihn herumlegt, die Ringelnatter will beständig fürs Stillhalten gelobt werden, da ist sie anspruchsvoll. Sie kennt das alles auch schon, vielleicht wird ihr langweilig. Sie schaut auf uns und denkt: Was für armselige Kreaturen, da unten. Wir hängen am Boden herum und schauen zu ihr hoch. Und der Schlangenträger atmet. Er zieht sich mit jedem Atemholen eine Welle Sehnsüchte in die Lunge. Er raucht uns, bis wir seine Sucht und sein Lungenkrebs sind.

Runde eins, so sagen wir, das ist heute. Und Runde eins ist immer überfüllt, in manchen Städten reisen bis zu tausend Bewerber an. Das heißt: Gestern saßen sie hier auf dem Boden, vorgestern, letzte Woche. Sie haben sich die Unterarme aufgekratzt, sie haben nichts gegessen, sie haben Kippen gedreht, Kaffee getrunken – keinen Pfefferminztee, der ist schlecht für die Stimmbänder – und manche haben gebetet. Das Linoleum ist noch warm.

Wir sind die Letzten. Wer seine Anmeldung nicht erst mit dem letztmöglichen Poststempel abgeschickt hat, war klüger als wir. Der wurde früher eingeladen. Der war frischer und hatte wache Prüfer.

Für diese Bewerbung bin ich zur Hauptpost am Bahnhof gerannt und habe den Beamten am Schalter vollgeheult: »Den Stempel von heute, ach, bitte.« Und ich habe große Augen gemacht und bin stehen geblieben und war ziemlich gut verzweifelt.

Ich wollte mich nicht noch einmal bewerben. Eigentlich. Wollte nicht Rollen aussuchen, Figuren andenken, lieben lernen, Kraft sammeln, um mich fertigmachen zu lassen, später. Wollte ich nicht mehr, das alles. Und dann habe ichs doch gemacht.

Der Mann streicht über das Schwanzende der Ringelnatter und wünscht uns allen viel Glück. Er hat vergessen, dass er uns vorhin Glück als Nichtweiterkommen erklärt hat. Bestimmt ist er Dramaturg. Heute musste der Dramaturg mit dem Schal einspringen. Der Leiter für Schauspiel ist krank geworden oder hatte einfach keine Lust mehr und steht gerade mit einer Kollegin vor dem Kaffeeautomaten und macht Witze, wie viele kleine Mädchen heute eine jämmerliche Julia zeigen werden.

Wir sind immer viel mehr Mädchen. Das macht mich schon fertig, beim ersten Blick in den Saal: überall Hintern und die Hüften mit den Knochen, überall die weichen Kinnpartien und die Stimmen höher.

An Schauspielschulen sprechen zwei Drittel Mädchen vor und ein Drittel Jungen. Hier gibt es vier Ausbildungsplätze für Mädchen und vier für Jungen, an manchen Schulen gibt es fünf, an manchen drei. Und immer eine Geschlechtergleichheit. Später an Theatern braucht man viel mehr Männer und ein paar junge Frauen, gerne hübsch.

Jede Begrüßung war Hoffnung. Am Anfang habe ich an jede Begrüßung geglaubt, ich habe mitgeschrieben. Ich dachte, ich kann verstehen: Sie wollen es aufgekratzt oder weich. Sie mögen es hysterisch oder willig oder mit besonders betontem Ich. Aber eine Begrüßung ist ein Überrest aus der Zeit, als wir noch nicht so viele waren. An einigen großen Schulen gibt es keine, dann wird ein Informationsblatt an den Eingang gehängt, auf dem dein Name steht und eine Uhrzeit. Manchmal dauert es auch drei Tage bis zu dieser Uhrzeit. Manchmal sagen sie von Anfang an, dass sie keine Lust haben auf noch mehr Bewerber und man im Grunde schon zu spät dran ist. So wie heute.

An der Wand gegenüber sitzt ein Mädchen, ganz angesaugt vom Dramaturgen. Sie ist ein bisschen, wie ich früher war, mit viel Glauben in den Augen. Ihr Hintern in den Wickelhosen breitet sich auf dem Boden aus wie eine Qualle. Sie sitzt nicht auf dem Boden, sie schwimmt auf ihm. Sie hat den Mund geöffnet. Ich kann ihre Zähne sehen und ein Stück von der rosa Zunge. Ab und zu nuckelt sie an einer Wasserflasche, und neben ihr, im Laschennetz des Jack-Wolfskin-Rucksacks, ist ein aufblasbares Kopfkissen festgezurrt. Sie sieht wirklich nicht so aus, als käme sie heute eine Runde weiter. Vielleicht wird sie eine Rolle anspielen dürfen und die Dozenten werden rasch sagen: »Danke, Sie können abgehen.« Keine drei Minuten werden vergangen sein. Die Dozenten werden froh sein: Eine schnelle Entscheidung.

Du kannst hier für andere das Glück einer Zeitersparnis sein.

Aber wer will ihnen das verdenken. Den Dozenten, meine ich. Manche erste Runden dauern eine Woche, und dann haben sie siebzig, achtzig Jugendliche pro Tag auf so einer Bühne stehen, und 99 Prozent gehören da wirklich nicht hin und sehen erbärmlich auf einer Bühne aus, und alle spielen sie Goldoni und Shakespeare, und alle musst du dir anschauen. Leider glauben wir auch alle, zu dem auserwählten einen Prozent zu gehören. Ich auch. Natürlich glaube ich das auch. Natürlich bin ich das eine Prozent.

Was mir fehlt, ist Technik. Das sage ich mir, wenn es mal wieder nicht geklappt hat. Technik. Der Fingersatz beim Klavier. Trainieren, den dritten Finger zu überschlagen, dann den vierten, dann wieder den dritten. Irgendwann wissen: Ich kann mich auf meinen dritten Finger verlassen. Das hat Jonas mal gesagt und Jonas hatte flachshelle Haare und wollte Pianist werden, damals noch.

Und ich sitze immer weiter hier und der Dramaturg redet und das Quallenmädchen nuckelt und draußen wird es hell und ich werde immer älter.

Am Anfang (und du bist noch auf der Schule und sollst eigentlich auf das Abi lernen) gibst du 18 an, wenn sie im Bewerbungsbogen fragen, wie alt du sein wirst, wenn das Semester beginnt. Dann schreibst du 19 (und hast das Abi trotzdem geschafft), und wenn du irgendwann bei 23 bist (und ein Studium begonnen hast oder ein zweites), ist es eigentlich schon zu spät. Als Frau zumindest. Dann wärst du 27, wenn du fertig bist, und 27 ist zu alt, um noch die jungen Mädchen zu spielen.

Männer dürfen älter sein. Viele sind aber auch gerade 20 geworden oder kommen direkt vom Abitur. Es gibt welche, wie das Quallenmädchen, die bestimmt erst 18 sind. Oder wie ich. Ich bin 19. Es ist immer ein Thema, wie alt man ist, es wird besprochen, sie fragen danach. Jung sein ist richtig gut. Das sagen sie. Wenn du jung bist, bist du formbar, so nennen sie es. Du widersprichst nicht so oft, du bist weicher, lässt mehr mit dir machen, hast weniger Eigenes, das es zu verteidigen gilt. Du nimmst Sachen vielleicht nicht so persönlich. Du überlässt es ihnen, dieses Wort für dich zu definieren. Du lässt dich fallen.

Aber du hast weniger erlebt. Du hast weniger Erfahrung, auf die du zurückgreifen kannst, die du benutzen kannst. Du kennst nicht viel, was wehtut, du bist noch nicht oft genug enttäuscht worden. Das, was dir fehlt, macht dich weich für sie.

Sie betonen, dass es darum geht, den großen Bogen zu denken. Auch Simon, der Leiter unserer Theater-AG, hat gesagt: »Denk den großen Bogen von der Szene«, und er hat auf seinen Fußballen gewippt dabei: »Denk groß. Denk deine ganze Figur.« Simon war schon an der Uni, damals. Meine beste Freundin Katrin sagte gern: »Unser Theater-AG-Lehrer ist Student.« Wir probten in einer Sporthalle, spürten dem Geruch der Jungs aus der Oberstufe nach, die hier morgens ihre Basketbälle warfen, und ließen unsere Sätze durch den Raum und über den Gummiboden laufen. In den Pausen ging Simon schweigend nach draußen und biss auf Nikotinersatz-Kaugummis herum. Katrin und ich drückten unsere Schultern an die Mauer der Turnhalle und beobachteten Simon, der beißend die Straße hin- und herlief. Katrin befeuchtete Zigarettenpapier und sagte, dass Simon dieses Figur-Denken lieber selbst mal praktizieren solle: »Ich finde ihn herrlich, aber er hat was von einem aufgescheuchten Siebenschläfer.« Katrin inhalierte, die Wand war kalt, und ich nahm mir vor, immer sehr intensiv zu versuchen, groß und die ganze Figur zu denken.

Der Dompteur der Ringelnatter erklärt die Formalitäten. Wir kommen alphabetisch an die Reihe. Wir zeigen eine Rolle, bei Nachfrage eine zweite oder das Lied. Er sagt: »Sie können sich aussuchen, womit Sie anfangen möchten.« Aufatmen im Raum. Aufstehen. Wir können gehen.

Ich scanne den Saal noch einmal nach gleicher Haarfarbe und Körperbau. Mittelgroße Mädchen mit braunen Haaren gibt es zu viele. Die meisten sind dünner als ich. Groß sein ist nicht so ideal, das sieht auf der Bühne schnell albern aus, dünn sein ist immer gut. Ich werde mich später mit einem dieser perfekt dünnen Mädchen unterhalten. Später, bevor es vor die Prüfungskommission geht, dann sind Bewerber lieb zueinander. Dann macht Angst solidarisch.

Wir stellen uns immer dieselben Fragen: Woher kommst du? Welche Rollen spielst du? Wo warst du davor? Kennen wir uns aus Essen, Wien, Stuttgart oder Bern? Und dann wünscht man sich Glück. Und das meint: Diesmal keine Zeitersparnis zu sein.

Du bist dankbar für etwas Liebe. Für eine fremde Geschichte, die noch mieser ist als deine und dich für einen Moment leicht machen kann.

Am Eingang hängt die Liste. Es ist sieben Uhr morgens und ich bin in achteinhalb Stunden dran. Ich werde etwas essen müssen. Ich ziehe den Mantel an, nehme die Schlaufe meiner Ledertasche über die Schulter. Meine Ledertasche ist kirschholzfarben und weich und sehr alt. Und sie riecht gut. Alle verlassen den Hof. Keiner sieht sich um dabei.

Im Zoo schwimmen Robben in einem großen Kasten.

Es ist immer noch neblig.

Tiere anschauen ist gut, um etwas über Bewegungsmuster zu lernen. Wie bei Tänzern haben ihre Impulse einen Anfang und ein Ende. Trotzdem gibt es kein Stocken, alles ist flüssig, geht ineinander über, selbst wenn sie schlafen. Mein Theaterlehrerstudent Simon hat gesagt: »Schau dir Tiere an. Sie bewegen sich so echt«, und er ist für einen Atemzug stillgestanden in der Sporthalle, die nach Basketballschweiß und Bühnenangst roch.

Die Robben sind braun. Ich lege die Hände an das Glas des Kastens. Sie ziehen Halbkreise, tauchen ihre Körper in das Wasser gegen den Druck und lassen sich sinken. Sie lassen sich untergehen. Ich mag Robben. Sie haben diese dicke Haut, als trügen sie einen Taucheranzug. Mit der Flosse streift eine Robbe die Glaswand vor meinem Gesicht, drückt sich dann wieder nach oben. Es sind elegante Tiere, obwohl sie so dick sind. Ich habe mal gelesen, dass Babyrobben von ihren Müttern Milch bekommen, die fett wie Sahne ist. Es muss eine schöne Kindheit sein, in der man nur dick werden muss. In dem Becken vor meinem Gesicht gibt es keine Jungrobbe. Alle Tiere haben eine glatte, dunkle Haut und kleine Köpfe. Sie jaulen nicht. Sie machen Geräusche mit ihren Flossen auf den Steinen. Sonst ist es still.

Man sollte Tiere nicht einsperren. Hinter Glas zum Anschauen.

Man sollte sich nicht einsperren auf einer Bühne von wenigen Quadratmetern und solchen Scheiß machen wie fremde Sätze sagen und hoffen, dass das irgendjemandem gefällt. Die Robben sind so sanft, dass ich heulen könnte. Es ist kalt. Ich gehe weiter. Rechts beginnt ein Terrarium. Die Tür lässt sich schwer öffnen. Es riecht süßlich. Ich lehne mich an eine Reling über ein Wasserbecken, in dem etwas Großes liegt, das stinkt. Es ist ein Alligator. Alligatoren sind ziemlich blöde. Der hier ist weiß, obwohl auf einem Schild steht, dass er grün ist. Er schaut mit seinen kleinen Augen nach oben und bewegt sich nicht. Er stinkt wie vergorener Biomüll mit Urin. So riechen die Toiletten in der Schauspielschule. Es hat gemeine Augen, dieses Tier. Es würde mich, gelangweilt, sofort auffressen.

Ich gehe zu den Braunbären und den Ponys. Dann weiter zum Affenhaus. Hier ist es warm und das Licht ist rötlich gedämpft. Auf einem Ast sitzt ein kleines Tier mit kugeligen Ohren und schaut mich an. Sein schwarzes Gesicht hat keine Haare. Zwischen uns ist Glas. Es sitzt da und bewegt ganz leicht seine orangene Pfote nach oben und nach unten. Ich lese auf dem Schild, dass es zu einer sehr friedfertigen Affenart gehört. Es ist ein Rothandtamarin. Bei dieser Spezies bekommt nur ein dominantes Weibchen die Kinder, aber alle kümmern sich zusammen um den Nachwuchs. Der Rothandtamarin lächelt. Er lächelt wirklich. Sein Fell glänzt wie mit Öl gebürstet. Er sieht aus, als wisse er, dass ich heute einen ruhigen Blick auf die Welt nötig habe, und das finde ich sehr nett von ihm.

Als ich in die U-Bahn steige, ist es noch hell. Ich möchte Zeit haben, um mich warm zu machen, aufwärmen, sagen sie. Der Uringeruch in den Abteilen. Letzten Monat in der Schweiz waren die Züge so sauber. In Hamburg gab es einen Hafen und es roch nach Meer. Dazwischen immer der Gedanke, in einer Stadt zu Hause zu sein.

Der Saal ist noch leer. Nur vier erste Bewerber sitzen am Boden und schweigen. Sie nicken mich ab, als ich hereinkomme. Die Luft schmeckt schon nach Enttäuschung.

Ich setze mich dazu. Jetzt sind wir fünf. Das Quallenmädchen hockt da und guckt mich an wie durch eine Scheibe. Sie mustert mich, mit halb offenem Mund, als hätte nur die Tatsache, dass sie schon länger dahockt, ihr das Recht gegeben, andere Leute anzustarren. Sie hat wässrige Augen. Ich schaue weg, versuche sie auszublenden. Sie ist bestimmt so eine Person, die Energie aus einem zieht, wenn man erst mal ein harmloses Gespräch angefangen hat. So jemand schafft es, dass du dich mies fühlst, nur weil du Hallo gesagt hast.

Das Mädchen am Fenster ist dünn und hat eine eingedrehte Hochsteckfrisur, bei der man die Klammern unter den Haaren nicht bemerkt, und deshalb sieht ihr Kopf aus wie mit blonder Natürlichkeit übergossen. Ihre Nasenlinie balanciert diese Frisur ideal aus, sie ist so ein Mädchen, das weiß, was ihm steht. Die beiden Männer fragen: »Wie heißt du mit Nachnamen?« Ich sage: »Teichle«, der mit den dunklen Haaren sagt: »Du bist die Vorletzte.«

Wir sind die fünf mit den Nachnamen von R bis T.

Ich denke positiv: Wie schön, die Vorletzte zu sein. Ein bisschen mehr Zeit, um sich vorzubereiten.

Ein bisschen mehr Zeit, um Angst zu haben.

Ein Mädchen mit Strickjacke kommt herein, ihre Augen glänzen unnatürlich hell. Sie sagt, sie sei aus dem ersten Schauspielsemester und würde mit uns nun zum Aufwärmen gehen. Wir sollen ihr folgen. Wir gehen in einen kleinen Saal mit Spiegeln und ziehen unsere Schuhe aus, schieben die Jacken und Taschen in einer Ecke zusammen.

Wir gehen wie das Strickjacken-Mädchen durch den Raum, laufen langsam, laufen schnell, machen Töne, summen, schreien, stehen im Kreis und sehen uns an. Das Strickjacken-Mädchen wirft einen Tennisball in die Runde. Wir geben ihn weiter, und wenn er die Handfläche verlässt, sollen wir laut Vokale sagen, um unseren Rachenraum zu öffnen. Wir klopfen unseren Körper von oben bis unten ab, wir sagen »ah« oder »brr« dazu. Ich schaue dem Mädchen mit der Strickjacke immer wieder in die Augen, weil die so ungewöhnlich grün sind, so hell glänzen. Und dann merke ich, dass sie farbige Linsen trägt. Man sieht an der Außenseite der Iris, dass eine andere Substanz beginnt. Die hat sich hellgrüne Scheiben auf die Augen gelegt, denke ich, als wir unsichtbaren Goldstaub vom Boden aufheben sollen, um uns damit selbst zu bestäuben.

Das Mädchen hebt die Arme, sie sagt: »Ist das nicht schön?«

Wir stehen im Goldstaubregen, es ist weich auf unserer Haut, wir lächeln, wir schließen die Augen – Aladin im Wunderlampenland und die Wüste für einen Wimpernschlag vergoldet.

»Und nun fliegen wir«, sagt das Mädchen mit den grünen Kontaktlinsen. Sie beugt sich hinunter zu den Füßen des blonden Mädchens, legt ihre rechte Hand auf ihren rechten Spann und sagt langsam: »Kamelfüße!« Sie wiederholt: »Kamelfüße!« Dann schaut sie nach oben: »Lauf!«, sagt sie.

Das blonde Mädchen tut es. Und sie breitet die Arme aus und zieht Kreise im Raum. Wir gehen zu Paaren zusammen, und später sagt das Strickjacken-Mädchen mit den grünen Kontaktlinsen Danke schön, und unsere Füße werden noch ein wenig schwerer, als wir die Schuhe wieder anziehen.

Ich habe doch nichts gegessen und mir ist schlecht. Durch enge Flure gehen wir an Räumen vorbei, in denen Gruppen warten. Als ob in allen Winkeln dieses Gebäudes ein paar Gestrandete am Boden säßen, Ratten, die die Überschwemmung kommen sehen. Sie ahnen, dass sie bald da ist, sie wissen, wie die große Welle sein wird, sie zählen die Minuten, die verstreichen, bis sie ins Ertrinken schwimmen.

Wir betreten ein kleines Zimmer. Ich erkläre, dass ich noch fünfmal pinkeln gehen muss, und die anderen grinsen. Das Mädchen mit der Hochsteckfrisur begleitet mich durch die Flure zurück. Aber die Klos sind wie immer belegt; es riecht schlimmer als der Alligator. Hier pinkeln alle nur ein bisschen, sie haben nichts mehr in sich. Nur noch Angst. Am Spiegel schminken sich zwei Mädchen; sie arbeiten an Verstecken.

Das Mädchen mit der blonden Hochsteckfrisur steht vor mir, ich sehe ihren Nacken. Wir gehen auf die Toilette und versuchen, doch zu pinkeln. Immerhin tun wir etwas, wir geben uns Handlungen, um vielleicht ein paar Sekunden weniger zu denken. Als wir in das kleine Zimmer zurückkommen, sitzen die anderen noch da. Keiner sagt etwas.

Es gibt zwei unterschiedliche Systeme für diese Auswahlverfahren. Entweder man spricht alleine vor einigen Prüfern vor. Oder sie holen alle Bewerber in großen Gruppen zum Vorsprechen in einen Raum und setzen sie als Publikum auf eine Reihe Stühle. Dann bitten sie uns, einzeln aufzustehen und nach vorne zu gehen. Dann sieht man die anderen. Die anderen Fehler. Das macht einen Unterschied. Wenn du zuschaust, bevor du selber spielst, kannst du dir nicht einbilden, viel besser als die anderen zu sein. Gleich wirst du aufstehen. Und auf der Strecke zwischen Stuhl und Bühne musst du etwas werden, das schreien mag: Ich möchte bitte ausgestellt werden! Schaut mich endlich an!

Und immer fühlt sich dieser Weg zu kurz an.

Vor zwei Monaten haben 15 Mitbewerber zugesehen. Da gab es ein Mädchen, das keine 40 Kilo wog und aussah wie ein Vogel ohne Knochen. Ihre Stimme war so luftig wie ihr Körper. Ihre Vokale kamen von ganz oben aus der Brust. Sie war außen und innen zerbrechlich und wurde immer leiser, weil sie gemerkt hat, dass sie dabei ist, völlig abzuheben und den Kontakt zu verlieren. Der Prüfer hat gesagt: »Schreien Sie.«

Sie hat versucht zu schreien. Sie ist in die Höhe gegangen und hat gekrächzt. Aber laut ist sie nicht geworden. Sie hat gezittert, aber sie konnte nicht schreien.

Der Bewerber, der nach ihr dran war, ist auf die Bühne gegangen und konnte sofort laut sein. Sie haben ihn in die zweite Runde genommen.

Mir war es so vorgekommen, als hätte er nur auf der Basis ihres Versagens gesiegt. Aber ich hätte an seiner Stelle wohl das Gleiche versucht. Drei Wochen später habe ich ihn in Salzburg getroffen. Er hatte es nicht in die dritte Runde geschafft.

Wir fünf mit den Nachnamen von R bis T sitzen hier und warten. Nacheinander werden wir hinausgehen, von dem Mädchen mit den grünen Kontaktlinsen zu einem Raum geführt werden und vor den Prüfern stehen. Dann wird der Erste zurückkommen und der Nächste wird vorsprechen gehen. Wenn wir uns alle fünf nacheinander gezeigt haben, wird uns zusammen mitgeteilt werden, ob jemand in der nächsten Runde ist. Solche Prozesse genau zu kennen, hilft enorm. Das ist Struktur. Sicherheit. Der Hauch einer winzigen Kontrolle. Wenn du schon fällst, kannst du immerhin abschätzen, wann du unten aufknallst.