Rodinka: Meine russische Kindheit - Lou Andreas Salomé - E-Book

Rodinka: Meine russische Kindheit E-Book

Lou Andreas Salomé

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Beschreibung

Lou Andreas-Salomés literarische Aufarbeitung ihrer Kindheit in Russland: Die Autorin, die in einer wohlhabenden deutsch-russischen Familie in St. Petersburg aufwuchs und später in deutschen Intellektuellenkreisen mit u.a. Nietzsche und Rilke verkehrte, berichtet in Form der Ich-Erzählerin Musja über ihre Erinnerungen an den Hof "Rodinka" ihrer russischen Freunde, den sie als junge Frau noch einmal besuchte. -

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Lou Andreas-Salomé

Rodinka: Meine russische Kindheit

Neu herausgegeben von Ernst Pfeiffer

Mit einem Nachwort von Jutta Prasse

Saga

Rodinka: Meine russische KindheitCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1923, 2020 Lou Andreas-Salomé und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726540086

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

An Anna Freud,

ihr zu erzählen von dem,

was ich am tiefsten

geliebt habe

Erinnerungen an Witalii

Kindheit

Einmal waren Boris und ich beim Großpapa und mitten im »Pferdespiel« begriffen, als es kurz und hell läutete. Gleich darauf meldete Ossip, Großpapas alter Diener, uns den Besuch eines »fremden jungen Herrn«.

Boris, um ein paar Jahre älter als ich, zog mich keineswegs immer bei seinen »männlichen« Zusammenkünften hinzu. So ließ er mich auch diesmal im langen Eßzimmer, unserer »Manege«, stehen und begab sich allein zur Vorbesichtigung des Gastes.

Noch hatte ich jedoch gar nicht aufgehört, Pferd zu sein, als sich die Tür schon wieder auftat. Boris schaute mit geröteten Ohren herein.

»– Was sollst du hier so allein. Ich habe gesagt: ich hole dich –«

»Ach!« rief ich, gerührt von soviel Zartgefühl, und wieherte verwundert. »Wer ist es denn?«

»Er heißt Witalii. Witalii Sergeiewitsch Wolujew. – Aber so eil dich doch! Er wartet doch!«

Ich setzte mich in Trab nach dem »Saal«, wohin nur fremde Besucher gewiesen zu werden pflegten, in heller Neugier auf den, zu dessen Bewältigung ganz augenscheinlich zwei nötig waren.

Offenbar galt sein Erscheinen Großpapa, der wiederholt den Wunsch geäußert hatte, seines verstorbenen Regimentskameraden, Obersten Wolujew, Enkelsohn kennenzulernen, seit dieser sich in der russischen Hauptstadt aufhielt. Doch nun, da der kleine Wolujew gekommen war, befand Großpapa sich auf seinem täglichen Spaziergang.

Im ziemlich großen, wenig benutzten und deshalb einigermaßen unwohnlichen »Saal« mit der fast weißen Tapetenwand und dem Flügel stand Witalii aufrecht neben einem der steifen braunsamtenen Stühle. Durch den übertriebenen Ernst seiner Haltung erinnerte er an einen Pagen, der zum Empfang irgendwelcher Hoheit befohlen ist. Beinahe machte es mich verlegen, daß es nun gar nichts Hoheitsvolleres war, was daherkam, als nur ich, das Pferd.

»– Dies ist meine Schwester!« erklärte Boris etwas überstürzt schon an der Tür; »– Musja heißt sie – eigentlich aber Margot. Und ich heiße auch nur so russisch nach einem Taufpaten. Wir sind Deutsche.«

Witalii nahm die Hacken zusammen und stellte sich nochmals vor.

Wir standen alle drei und betrachteten einander ernsthaft.

»– Eine Schwester habe auch ich – das heißt ein Schwesterchen – ein Krümchen noch, so klein – Eudoxia!« setzte Witalii hinzu, und man konnte seinem Ton entnehmen, daß er den Besitz einer Schwester zu den vorwiegend angenehmen Dingen zählte.

Das gefiel mir gewaltig: Ich wußte sehr wohl, wie wenige Jungen so günstig denken.

Mit steigendem Wohlgefallen musterte ich seinen kurzgeschorenen Kopf und die blanken braunen Augen, über denen die Brauen so niedrig und geradlinig standen, daß sie die Augen verfinsterten – im Widerspruch zu deren hellem Blick.

»Wir haben auch noch einen älteren Bruder: Michael!« versicherte Boris, der ersichtlich nach etwas auf der Suche war, was der andere nicht besäße. Er mußte sich vorhin gegen ihn irgendwie im Nachteil gefühlt haben.

»Ich auch einen: Dimitrii!« gab Witalii flugs zurück. Und dann schwiegen wir wieder und blickten verstohlen aufeinander. Wir beide lächelten dabei, aus Verlegenheit. Witalii blieb steinern ernst; er war auch nicht verlegen.

Da fing ich aufs Geratewohl hastig an zu erzählen:

»Wir sind hier nämlich beim Großpapa – manchmal tagelang! Aber nicht etwa, daß wir keine Eltern hätten! Nur weil wir sehr weit vom Großpapa wohnen, auf der anderen Newaseite. Darum.«

Witalii nickte, zum Zeichen, daß er diesen Sachverhalt begriffen habe. Er schwieg.

»Haben Sie auch Eltern? Ihr Großpapa, der Freund von unserm, der ist ja schon tot!« stellte Boris fest, mit einer gewissen Genugtuung.

»Auch mein Vater ist tot«, sagte Witalii.

»– Aber Ihre Mutter? Lieben Sie sehr Ihre Mutter?« fragte ich schnell, sowohl aus Wissensdurst als auch damit Boris nicht etwa einen Freudenlaut von sich gäbe wie beim Spiel, wenn einer gewinnt.

Witalii hatte mir voll ins Gesicht gesehen: Er senkte den Blick auch jetzt nicht, die Antwort indessen blieb er schuldig. Er schwieg. Nur sein Blick wurde ein wenig starrer. Sein Gesicht, das die gesunde bräunliche Tönung derer besaß, die auf dem Lande aufwachsen, schien auf einmal gar nicht mehr so gesund und braun.

Verwundert sah ich ihn an. Ich glaubte erst, er habe die Frage überhört, ich wollte sie wiederholen, aber dann ging das nicht recht. Denn es war, als bemühe sich Witalii um ein »Ja!« Doch es kam keins zustande.

– Er liebt sein Mütterchen nicht! dachte ich, schreckerstarrt. Das kam mir unheimlich vor, ja grausig, fast hätte ich losgeheult.

»– Kein Großpapa – kein Papa – wie schlimm, sehr schlimm! Ja, da bleibt nur wenig! Eigentlich nur Onkel!« bemerkte Boris, bei dem männliche Familienglieder den Ausschlag zu geben schienen, mit steigender Anteilnahme. Denn nun fühlte er sich Sieger. Jedenfalls hätte er jetzt seinem Gast sogar aus freien Stücken einen Papa zukommen lassen.

Aber Witalii stand plötzlich stirngerunzelt. »Meine Mutter: Das ist nicht ›wenig‹!« antwortete er zurechtweisend. »Meine Mutter, das gilt soviel wie drei.«

Die Brauen machten ihn sehr böse aussehen.

Auch Boris’ gute Aufwallung verrauchte: Das da war doch mal unehrlich! Keiner durfte doch für mehr gelten als für ein Stück! Wo käm man sonst hin?

Ich las in seiner sich neu empörenden Seele; schon sah ich einen Männerkampf voraus. Und daher, während wir wieder steif und stumm standen, begann ich mit frischen Kräften:

»Gerade als Sie kamen, spielten wir ›Pferde‹.«

»Wie denn? Ohne Pferde –? Ja so: im Zimmer.« Witalii maß mich zweifelnd, prüfenden Blicks. »Ist denn das ein Vergnügen, ohne Pferde? Und was können denn Sie für ein Pferd sein?«

Ich flammte auf.

– »Ich?! Ach, gewiß kann ich eins sein! Sogar schon ein Beipferd an der Troika bin ich gewesen! Und das ist schwer, mit ›Zurseitegaloppieren‹!« versicherte ich tief verwundet, zuckenden Beines.

Witaliis Kinn vollführte eine kurze auffordernde Bewegung hinauf:

»Also gut: galoppieren Sie!«

»– Nein, Müsja! – aber Musja!« rief Boris dawider, jedoch zu spät: Schon stampfte ich durch den Saal.

Ich machte es wunderschön: den Hals seitlich gebogen und mit derartigem Feuer, daß meine sehr scheckige Pferdemähne mir auf das natürlichste den Kopf umflog. Ich war ein Beipferd in Ekstase.

»Genug! Dies genügt!« bemerkte Witalii, und wie auf Kommando stand ich still.

»Sie wären ein ganz gutes Pferd aus der Steppe. Brauchbar«, teilte er mir anerkennend mit.

Noch ganz atemlos kam ich zu ihm, berstend vor Stolz:

»Können wir denn nicht von jetzt ab zu dritt Pferde spielen?«

»Ja, aber der Kutscher, der bin ich: Das weißt du!« fiel Boris verdüstert ein. »Ja, ein für allemal ich! – Es ist meine Pflicht, meine Schwester selbst einzufahren!« erklärte er Witalii.

»Wozu denn auch Kutscher sein? Das ist es ja gerade, daß wir Pferde sein wollen!« Witalii blickte dabei mich, nicht ihn an. »Zwei echte Steppenpferde werden wir sein – zwei solche, die den Schlitten umwerfen. Das hab’ ich gesehen. Kopfüber flog der Kutscher. Brach das Genick.«

Eine so lange Rede hatte Witalii noch gar nicht gehalten. Zornglühend trat Boris auf ihn zu.

»– Ich fliege aber nicht kopfüber! Ich breche mir nicht das Genick. Untersteh dich, das noch einmal zu sagen!«

Witalii sah ganz erstaunt auf ihn hin.

»– Wie denn –? Jeder tut doch, was er kann. Das ist die einzigste Spielregel. Habt ihr denn die nicht? Willst du denn zahme Pferde? Soll ein Pferd sich ruhig knechten lassen, damit du nicht fliegst?«

Für ängstlich wollte Boris nicht um die Welt gehalten werden.

»– Nun, meinetwegen – aber auch ich werde – wart’s nur ab!« gab er zur Antwort, ohne ausch nur zu merken, daß sie sieb im Eifer der Sache bereits duzten.

Witalii nickte. »Also übe dich gut im Einfahren – und auch im Hinfallen übe dich, damit du günstig fällst«, riet er freundlich. »Sieh so –«: und voll Eifer machte er eine Schwenkung, »– dann wirst du noch am ehesten nicht zerstampft.«

Und wieder nahm er die Hacken zusammen, ganz so förmlich wie bei meinem Eintritt, und gab uns abschiednehmend die Hand.

»Ich werde also herkommen. Jetzt gehe ich nach Hause.«

»– Aber warum denn schon jetzt – warum denn?« rief ich trauernd. »Gerade jetzt muß Großpapa bald kommen.«

Doch Witalii war bereits im Vorzimmer.

»Man weiß zu Hause nicht, wo ich bin. Ein andermal«, erklärte er, während ich ihm nachlief.

»– Weiß man nicht? Aber Ihr Onkel wollte Sie ja selbst herbringen?« erinnerte ich mich jetzt.

»Ja –. Aber mir schien: besser so. Ich bring ihn schon noch.« Witalii fuhr in den Pelz, den der alte Ossip ihm entgegenhielt, und schüttelte uns, diesmal weniger förmlich, die Hände. Als er dann schon halb aus der Tür war, wandte er sich noch einmal rasch um und tat einen forschenden Blick nach meinen dünnen Waden in schwarzen Strümpfen, die in ihrer ganzen Länge unter meinem Kleinmädchenrock sichtbar waren.

»– Galoppieren Sie täglich – aber bitte: täglich!« empfahl er mir dringend, zu Ossips ungemessenem Erstaunen, und sprang die Stufen hinab.

Mit gemischten Gefühlen blickten wir hinter ihm drein, bis zur Wendung der Treppe – aufgeregt über die neuen Aufgaben, die so plötzlich unserer harrten. Und doch verhehlten wir uns diese Gemütsbewegung gegenseitig, und nach Witaliis Abgang war kaum zwischen uns von ihm die Rede.

Als wir aber am nächsten Morgen, einem Sonntag, wieder in unserer »Manege« spielten, da schien es gar nicht ein bloßes Spiel mehr. Mit besorgter und strenger Miene fuhr der Kutscher das neue Steppenpferd ein, und ich meinerseits galoppierte und wieherte mit solcher Hingebung durch alle Zimmer, daß ich selbst nachts im Traum nicht aufhören konnte, ein Pferd zu sein, und in der Frühe ganz erstaunt als kleines Mädchen erwachte.

Mir sagte diese Lebensweise ungemein zu, obschon ich ein Pferd mit schlechten Absichten war: Ausguck haltend nach einem Bruderpferd, das es lehren sollte, mit ihm durchzugehen.

Es kam nicht dazu, daß wir zu dreien Pferde spielten. Bald nach seinem Besuch bei uns wurde Witalii von den Masern befallen, und als er dann genesen war, kehrte er zu seiner Mutter zurück auf das Familiengut »Ródinka« im Jaroslawlschen Gouvernement. Nur der Großvater hatte ihn nochmals aufgesucht, und es schien, als seien sie dabei feurige Freunde geworden, der Alte und der Junge. Jedenfalls sprach der Großpapa stets in solchem Stil von Witalii, und dadurch blieb auch in uns die Erinnerung an ihn höchst lebendig.

Etwa ein halbes Jahr später, als Boris und ich ein paar Osterfeiertage beim Großpapa zubrachten, überraschte uns unvermutet und inmitten der idyllischen Beschäftigung der Besuch von Madame Wolujew, Witaliis Mutter.

Der Großpapa saß im Hausrock, lesend und rauchend, am Kamin seines kleinen Salons, dessen Teppich wir unter dem Tisch lang hervorgezogen hatten, um uns darauf im russischen Osterspiel des Eierrollens zu ergehen. Die buntgefärbten Hühnereier kollerten von ihrer hölzernen Rutschbahn, einander nach Kräften zerstoßend, dem Großvater fast unter die Füße; über sein Buch hinweg mußte er aufpassen, daß dabei nicht geschwindelt wurde. Wer am meisten Eier anstieß, hatte von ihm ein Schokoladenei zu empfangen; standen beide Parteien gleich, so aß er diesen Gewinn selber auf. Davor ängstigten wir uns merkwürdigerweise am meisten, obwohl ein dem angeblich verspeisten Ei sonderbar ähnliches sich regelmäßig unter den übrigen Eiern wiederfand.

Bei Anmeldung des Besuchs war der Großpapa aufgesprungen und ging in seiner, ungeachtet des braunen Hausrocks, immer noch tadellos weltmännischen Haltung Witaliis Mutter, einer geborenen Gräfin Lensky, entgegen, sich wegen der Unordnung auf dem Teppich entschuldigend, den sie wie ein Eierland überschreiten mußte, um zum Sofa zu gelangen.

»Schnell! Alles zur Seite! Und marsch ins Nebenzimmer!« kommandierte er uns; sie jedoch verwehrte es:

»O nein! Auf keinen Fall! Hierbleiben! Sofort weiterspielen!« Und dies klang weit eher als ein Kommando, dem man ohne weiteres gehorcht.

»Nun denn – da es euch so gütig erlaubt wird«, – meinte der Großpapa.

»Gütig? Aber was fällt Ihnen bloß ein? Merkt’s euch, Kinder: Gütig ist die Irina Nikolajewna nicht! Und dann: Sie, mein lieber General, stehen zu Witalii – ja, selbst gegen mich, zu Witalii mit Feuer und Schwert! Nun also: Da steh ich zu Ihren beiden – und sehen Sie zu, daß es nicht mal gegen Sie ist – daß ich Ihnen da nicht so eine Kleine raube –«

So rasch sagte sie all das, mit einer so hellen Stimme und einer Unzahl lebhafter Bewegungen, während sie uns nacheinander mit ihren ganz lichtgrauen Augen anstrahlte – Augen, deren Blick Kundigeren vielleicht seine Schwachsichtigkeit verriet, dessen Innenausdruck dadurch aber nur um so selbstmächtiger zur Geltung gelangte.

Sie plauderte und fragte und lachte und schlug segnend ein Kreuz über uns erstaunte Kinder und setzte sich schließlich gar nicht auf das Sofa jenseits der Eier, sondern auf den erstbesten Stuhl, worauf sie anfing, ganz kleine Zigaretten zu rauchen.

Noch nie hatte sie das Haus betreten, kannte auch den Großpapa nicht anders als flüchtig, und weckte doch ein Gefühl, als gehe sie von jeher hier aus und ein und wisse längst um alles und jedes.

Wir verwandten keinen Blick von dieser Frau, die von vornherein mit uns im Bunde gewesen – die überhaupt mehr wie unseresgleichen wirkte als wie eine von den Großen und sich übrigens auch äußerlich neben Großpapas hoher, schlanken Reitergestalt gar klein ausnahm. Wundervoll schön fanden wir sie – mit dem lebendigen Gesicht und all dem Aschblond des gewellten Haares drum herum, das eigentlich aussah wie eine mächtige Wolke oder wie ein Heiligenschein, durch den der Kopf in lauter Licht überging.

Ganz schwarze Kleidung trug sie. Über der Brust ein altsilbernes Kreuz – deshalb wohl der Eindruck von Heiligenschein – und an einer zweiten Halskette ein Augenglas am Schildpattstiel, das in den kleinen vollen Händen wunderlich durch die Luft fuhr – denn bei ihrem lebhaften Gebärdenspiel riß sie das Glas des öfteren mitten in seiner Benutzung von den erschrockenen Augen fort, nur weil die Hand nicht stillhalten wollte.

Sehr bald befand sich Madame Wolujew im hellsten Streit mit dem Großpapa, Witaliis wegen. Das heißt: Der Großpapa mühte sich meistens nur, ein Wörtchen hier und da in ihren Redestrom einfließen zu lassen, und blickte dabei von Zeit zu Zeit beunruhigt nach uns Kindern, deren Seele nicht so gänzlich in den Eiern aufzugehen schien, als er gewünscht hätte.

»– Bis sein Vater starb – vor zwei Jahren starb mein Sergei –, verlangte ich für mich keinen Gehorsam von Witalii. Nichts als sein Mütterchen war ich, seine Wärterin – pflegte mein Goldkind – einfach! Denn sein Herr, das war Sergei – sein Herr und meiner, wie es auch sein soll. Langte Sergeis menschliche Einsicht einmal nicht – was tat ich? Zu Gott betete ich um Einsicht. Gab Gott welche, so gab ich sie weiter an Sergei. – – Aber Sergei ist nicht mehr. Ein Herr muß sein. – Wie sagen Sie –? Jawohl: im Hause, nicht nur im Himmel. Auf direkterem Wege muß ich Witalii jetzt mitteilen, was Gott befiehlt. Nicht um meinetwillen! Was könnt’ er wohl tun, was ich ihm nicht verziehe zum voraus! Wie könnt’ er jemals schuldig werden vor mir, seinem Mütterchen, die ihn gebar! Darum: Gottes unwiderstehliches Gebot muß es ihm sein. Nur so brech’ ich seinen Eigenwillen, der härter ist als Stein. Auf die Knie gedrückt hab’ ich ihn schon, seine Stirn gebückt auf den Fußboden, und doch hat er sich losgerungen vom Hauslehrer, der ihn niederhielt – – Den geistlichen Lehrer wechseln, sagen Sie? – Nein, wie denn? Nachdem ich einen fand, der so gut meinen Weisungen folgt – ich meine: Gottes Weisungen.«

Der Großpapa räusperte sich in einem fort wie sonst nur, wenn er seinen Luftröhrenkatarrh bekam.

»Geht doch und spielt!« sagte er uns halblaut.

Allein schon hatte Witaliis Mama ihre Hand nach mir ausgestreckt und nahm mich dicht an ihr Knie, wo man weich stand, wie in lauter Eiderdaunen.

»Lassen Sie die Kinder ruhig zuhören und mitreden – warum denn auch nicht? « fragte sie in ihrem zwanglosen und sicheren Ton. »Sind wir doch alle zusammen ganz dasselbe: einfach nur Gottes Kinder –. Und manches Kind hab’ ich gekannt, das konnte besser beten als ein Großer, und das wußte ganz fest, daß man von Gott alles bekommt, um was man bittet. Zu solchem Kinde kam man von vielen Seiten, sagte ihm: ›Bete! Bitte!‹ Und das Kind bat, und man bekam. Nur fromm muß man sein.«

Sie erzählte es insbesondere mir, und ich starrte sie mit ungeteiltem Interesse an. Großpapa war gewiß fromm, und mit welch tiefer Ehrfurcht betete er uns abends das Vaterunser vor, wenn wir schon in den Betten lagen. Gar nicht wie ein General sah er dann aus, sondern so gehorsambereit. Aber in das setzte ich wirklich Zweifel, ob er immer alles bekommen würde, um was er bat – und auch er selber mußte es am Ende heimlich bezweifeln, darum hatte er uns der Sicherheit halber zugleich mitgeteilt, das höchste aller Gebete laute: »Dein, nicht mein Wille geschehe.«

Das schien auch klar: Dermaßen vertraut und intim, wie Witaliis Mama mit dem lieben Gott war, konnte nicht leicht einer sein.

Aber Großpapa hatte inzwischen auf das energischste das Gesprächsthema gewechselt und erörterte den Plan, ob denn Witalii nicht doch, seinem Verlangen gemäß, an ein städtisches Gymnasium dürfe. Als nach langem, heißem Streit hierum Madame Wolujew sich erhob, um zu gehen, ließ sie mich erst aus ihren Knien frei. Sie küßte mich und rief klagend:

»Nein, ich Sünderin, daß ich dir noch nicht einmal ein Osterandenken mitgebracht habe! Wie mache ich denn das nur schnell wieder gut?!«

Dabei sah sie ratlos gegen die Zimmerdecke. Dann leuchteten die eigentümlichen lichtgrauen Augen auf, und mit einemmal kam aus den Falten ihres schwarzen Seidenkleides ein kleines Lederfutteral hervor, dem sie ein wunderbar blitzendes Ei entnahm – ein goldenes Ei anscheinend, bedeckt von wertvoller Emaillierung: russischen Mustern in reizender Buntheit.

Der Großpapa fiel ihr mit bittender Abwehr in die Hand:

»Nein, das nicht! Das auf keinen Fall! Es geht wirklich nicht, ist auch viel zu kostbar für ein Kind.«

»Für Kinder ist nichts zu kostbar. Und Ostern ist soeben gewesen, unser größtes Fest. – – – Nimm das Ei! Ich bin gewiß: Gott selber gab es mir für dich!« behauptete Madame Wolujew, sich zu mir beugend.

»– Kam es aus dem Himmel?« fragte ich stockend und legte vor Aufregung beide Hände auf den Rücken.

»Nein!« antwortete Großpapa überlaut, Witaliis Mama zuvorkommend, die auch nur lächelte. Erstaunt sah er nieder auf seine dumme kleine Enkelin. »Aus dem Juwelierladen kommt das Ei, mein liebes Kind. Bedanke dich dafür bei der Geberin.«

Ich schämte mich etwas; nie wär es mir ja auch von selber eingefallen, daß Eier vom Himmel kämen; allein ich glaubte doch so sicher zu wissen, daß Witaliis Mama, die das ja konnte, vorhin ganz schnell ein Ei »erbetet« hatte.

Als wünschte Großpapa den mystischen Wert dieses Eies noch endgültiger zu zerstören, äußerte er:

»Nun hat der Zufall meiner Musja ganz unrechtmäßig zugewendet, was Sie doch jedenfalls schon für jemanden bestimmt hatten, als Sie es kauften.«

Aber Madame Wolujew unterbrach ihn:

»– An Zufälle glaub’ ich nicht! Und ist es nichts als ein Zufall, daß gerade dieses Kind fragen muß: Kam es aus dem Himmel? – Nein, nein, das verstehen Sie nicht, mein lieber General! Ich liebe dieses Kind! Und was ich liebe, das ist mein, und all das Meine gehört meinem Gott! Und bei mir gilt das für zeitlich wie für ewig.«

Noch einmal fühlte ich mich geküßt, bekreuzigt: diesmal nicht ohne geheime Unruhe, so als drücke Madame Wolujew nun ihr Siegel auf mich –. Auf keinen Fall würde doch Großpapa mich einfach einer Fremden abtreten und dem russischen Himmel? dachte ich besorgt und horchte hinaus, wo er sie bis in das Vorzimmer geleitete.

Inzwischen unterzog Boris das neue Ei gemütsruhig eingehender Prüfung.

»Ganz famos! Paß mal auf, das machen wir so: Da es das unzerbrechliche ist, so gilt jetzt umgekehrte Spielregel: nicht, wer die meisten zerbricht, sondern wer heil an diesem vorbeikommt, gewinnt –. Und wir wollen es auch taufen, wie die übrigen – aber nicht nach unseren verschiedenen Verwandten wie die – nein, was Feines: zum Beispiel König David könnte es heißen –«

Die neue Spielform entzückte uns für eine Zeitlang. Gleißend und blitzend im Schmuck seiner Emaille lag König David auf dem Teppich zwischen den Hühnereiern, die sich vor so hartem Anprall schützen mußten und deren Osterpracht hinblaßte neben ihm. Denn wie schön auch unsere männlichen Verwandten darunter gefärbt waren in Anilin und Zwiebelschale, und die Tanten sogar gesprenkelt durch all die Buntheit mitgekochter seidner und samtener Bandrestchen, so trug doch der goldemaillierte Gast dies Farbenspiel ganz anders leuchtend gesammelt auf sich gleich einem Mosaik winziger Juwelen. Als daher das erste auf ihn zurollende Ei – ein Onkel aus Boris’ Vorrat – sich daran zerstieß und dann auch noch an Tante Malchen das halbe Staatsgewand von den Goldzäckchen abgerissen wurde, bis ihr weiches Weißes sich ganz entblößte, da erröteten wir vor Schreck; scheu ward der mißbrauchte König David auf den Tisch zurückgelegt.

Und bei Großpapas Eintritt – endlos lange hatte es ja noch im Vorzimmer gedauert – gaben wir uns etwas verlegen und gewaltsam der Freude hin, ihn wiederzuhaben. Ach, wie gut konnte man ihn doch herzen und hänseln und ohne weiteres zu jeglichem Spiel verwenden! Wie gut, daß er nicht so unheimlich schön war wie Witaliis Mama und ihre Gaben.

Denn obwohl sie uns nicht einmal wie eine richtige Erwachsene vorgekommen war, sondern eher als eine Art von Riesenkind, so durfte man doch sicher auch mit ihr selbst nur ganz vorsichtig umgehen. Kletterte man ihr auf den Schoß und zupfte ohne zu fragen an der aschblonden lichten Haarwolke –: Wer weiß, was Gott dann auf einmal tat –

Das goldene Ei wurde in einem alten schönen Glasschrank verschlossen, wo der Großpapa Andenken und Nippes aus vielerlei Jahren verwahrte; dort funkelte es prahlend zwischen einem wunderfeinen Porzellanmarquis, der zu jeder Erschütterung des Sehranks wehmütig mit dem gepuderten Kopfe nickte, und einer rosigen Muschel, worin unsere ersten Milchzähnchen von ihrem kurzen Dienst ausruhen durften gleich dieser Muschel Perlen.

Jahrelang berührte niemand das Goldemaillierte. Nur ein Blick in eine der vier Glaswände des Schranks rief hier und da die Erinnerung wach an den aufregenden Ostergast. Boris und ich wuchsen heran, ohne mit der Familie Wolujew weiter in Beziehung zu kommen, obwohl Großpapa noch im nämlichen Sommer, für nicht ganz kurze Zeit, auf das Gut »Ródinka« reiste. Ob er dort für Witaliis Wünsche was erwirkt hatte – dazu ging er ja hin –, erfuhren wir nicht. Als ich aber einmal das große, besonders wertgehaltene alte Familienalbum mit Malachitdeckel aufschlug – der infolge seiner Schwere schon das Album auseinandertrieb –, worin Großpapa als Bräutigam drin steckte und Großmama im Reifrock, und noch viel frühere, lange verstorbene Verwandte von Deutschland her, da entdeckte ich nicht weniger als drei Aufnahmen von Madame Wolujew – die Großpapa wohl mitgebracht haben mußte. Wie sie strahlte zwischen den alten Herrschaften! Mir erschien sie weit weniger schön als die lebendige Frau – und doch: Wie war sie schön – – –!

Zur Zeit, wo Boris und ich schon zu spielen aufhörten und Michael, unser Ältester – nach großem Familienkampf, ob er uns verlassen und in Deutschland studieren solle –, sich doch für das Bergchor-Institut entschied, geriet vorübergehend ein arideres Mitglied der Familie Wolujew in unsern Gesichtskreis: Witaliis Bruder Dimitrii.

Wenige Monate nach dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges war es, heiße Herbstzeit, worin nur der Großvater bereits den gemeinschaftlichen Landaufenthalt verlassen und seine Stadtwohnung wieder bezogen hatte – vielleicht um unserer, der beiden schulpflichtigen Enkel willen –, vielleicht aber auch, weil es ihn in der allgemeinen Unruhe der Tage nicht länger im Sommerhaus draußen litt, wo die Post nur einmal täglich einlief; denn wenn es auch nicht leicht etwas Weltbürgerlicheres geben konnte als den Vater meiner Mutter, so hatte er, selber von deutschem und französischem Emigrantenblut, doch bis vor wenigen Jahren dem russischen Militär angehört.

Seinen Stadträumen fehlte noch ihr winterliches Behagen; in den Vorhang- und teppichlosen Zimmern standen die Polstermöbel im mottenwehrenden Überzug, hingen Bilder und Wandleuchter mit Mull bespannt; der Großpapa jedoch, sonst ungemein empfindlich gegen diese Hundstagstoilette der Wohnung und ihren Kampfergeruch, saß tief versunken in den Inhalt von Zeitungen und Depeschen oder studierte an den Kartenplänen herum, die von den Wänden niedersahen.

An einem dieser Nachmittage, als ich aus der Schule zu ihm heimkam, schritt ein lang aufgeschossener blonder Mensch immer dicht hinter mir her und betrat mit mir zugleich die Wohnung. Kaum aber hatte Großpapa, an das Vorzimmer tretend, ihn erblickt, als er auch schon mit ausgestreckten Händen auf den fremden Menschen zuging.

Das war Dimitrii Wolujew. Zur Begrüßung ließ er sich kaum Zeit, ganz verstört rief er:

»– Helfen Sie uns! Witalii ist fort! Einfach auf und davon–! Und wo –? Nicht wahr: hier? Glauben Sie nicht auch: sicherlich hier –? Ach, ich hoffte: bei Ihnen!«

Der Großpapa nahm ihn mit sich und schloß die Tür hinter sich. Erst viel später, beim Abendtee, bekam ich ihn wieder zu sehen.

Dimitrii wurde mit mir bekannt gemacht, rang sich aber nur ein paar Worte dabei ab, bedauerte, daß meine beiden Brüder gerade an diesem Tage fehlten. Dann wanderten seine Gedanken sofort wieder zum eigenen Bruder zurück.

»Wenn Witalii zur Vernunft käme! Nur wieder zu uns käme! Wie soll man leben in der Angst um ihn!«

Er saß am Tisch vor seinem unberührten Glas Tee, die Hand ins blonde Haar gewühlt, das dicht, wellig und verworren war. Wie seine Mutter damals, redete er französisch.

»– Sie lieben ihn – und wünschen ihn doch zurück, Dimitrii«, bemerkte der Großvater, und ein feines Ohr konnte Tadel heraushören.

Dimitrii besaß Ohr dafür. Sein groß und rein geschnittenes Gesicht bedeckte sich mit fliegender Röte und Blässe wie ein sensitives Mädchengesicht.

»– Sterben würde ich für den Bruder!« stieß er heraus. »Aber bei uns sein muß er! Die Mutter will es. Der Mutter kann man sich nicht widersetzen. Auch mit Wünschen nicht.«

»– Ach ja –!« sagte der Großvater. Und es klang ergebungsvoll. Ganz erstaunlich wissend klang es.

Dann schwiegen beide, vielleicht in Gedanken an die Unwiderstehlichkeit von Madame Wolujew.

Aber nach einer Weile sagte der Großpapa schwer: »Gott gebe, daß uns unsere Nachforschung gelinge!« und, ablenkend: » Sie, Dimitrii, sehnten sich niemals fort von zu Haus?«

Dimitrii blickte auf. Seine großgeformten Züge wirkten nicht durch hervorstechenden Ausdruck von etwas einzelnem, von Blick oder Mund; erst jetzt, wo ein Lächeln drüberging, wurde er für eine Minute strahlend schön.

»– Ich –? Nein!« antwortete er rasch und lebendig. »Nein, Gottlob, ich habe keine Versuchungen, will nicht fort. – Und beim Militär, Gottlob, da haben sie mich zurückgestellt.«

»– Ist es nicht einsam in Ródinka?« steuerte ich zaghaft zur allgemeinen Unterhaltung bei.

»Einsam – wo die Mutter ist?! Meine Mutter – das ist: ein Haus voller Menschen — voll Leben, voll Freude, voll Bewegung – ach, die Mutter!«

Der Großpapa bewegte den Kopf, leise, zustimmend. Er wiederholte versonnen:

»– Ja – die Mutter –.«

»Schöneres als meine Heimat kann es in der Welt wohl schwerlich geben«, versicherte Dimitrii mir treuherzig. »Unsere Wälder, die Weite, über der im Herbst die Nebel stehen – die Dörfchen, die sich um die Kirche drängen – als um ihr Mütterchen in der Weite der Welt – die Kirchenglokken, wenn sie in den Frühling hinausläuten, in den späten, plötzlichen – der Frühling selber, der alles überblüht, überwältigt, wieviel Winter auch da war – bis man in ihm irrt und irrt und nicht mehr weiß, wo es läutet, und nicht mehr weiß, wo das Heiligtum zu Ende ist – und nirgends, nirgends hat es ein Ende – Grenzen –«

Er sprach und sprach, und man gewann den Eindrück: Ewig weiter hätte der so sprechen können, den Kopf gestützt in die rötlichen, langfingrigen Jünglingshände – jede Sorge mit dem lichten Wortbild überwältigend, überblühend, wie mit Frühling, ohne Grenzen. Auch das Winterlichste konnte ihm gewiß nicht leicht was anhaben.

Wir erfuhren nicht mehr viel über die sorgenvolle Angelegenheit. Dimitrii reiste wohl nach Hause, er kam kein zweites Mal. Und der Großpapa schwieg sich aus. Erst weit später kam uns Kindern zu Gehör, daß Witalii gefunden und gewaltsam zurückgebracht worden sei und Großpapa selbst diesmal seine Fügsamkeit habe erzwingen helfen.

Allmählich nahm der Krieg alle Teilnahme gefangen, drängte Persönliches mehr und mehr in den Hintergrund. In unserm deutschen Vaterhause saß ich mit den andern, nähte und zupfte Fäden oder half der Mutter im organisierten Frauenverein bei den Paketsendungen auf den Kriegsschauplatz. Boris, der als kleiner Junge einst hatte »russischer Dichter« werden wollen, dichtete schwungvolle Oden an die »fallenden Helden« – deutsch; mehrere junge Mädchen aus unserm deutschen Bekanntenkreis waren dem Roten Kreuz hinuntergefolgt; eins von ihnen erlag der Typhusseuche in den Baracken.

Als endlich am 10. Dezember General Totleben über Osman Pascha gesiegt und der Kaiser die Hauptstadt wieder betreten hatte, brach ein vorzeitiger Begeisterungsjubel in allen Schichten der Bevölkerung aus.

Da, wenige Wochen später, nach der erneuten Kriegserklärung Serbiens an die Pforte, kam ein Brief von Dimitrii Wolujew, der wie eine Bombe bei uns einschlug. Witalii, der Knabe, stand im Krieg, im Feuer. Zwischen Sohn und Mutter schienen Auftritte vorangegangen zu sein, die das als eine Flucht der Verzweiflung auffassen ließen, fast als eine Flucht in den Tod.

Auch jetzt äußerte der Großpapa kein Wort über seine eigene Auffassung, aber er ging umher wie von einer Art Schuldbewußtsein gedrückt. Ich dachte dann an das reizende Gesicht von Madame Wolujew, das ich in drei Aufnahmen im großen malachitnen Familienalbum gefunden hatte, wo es im Grunde ja nicht hineingehörte– und daß es Großpapa vermutlich nie so recht gelungen war, kräftig genug für Witalii einzutreten, wenn er sie ansah. Wie ich jedoch nach den drei Bildern im Album suchte, waren sie zwischen den Reifröcken und Großmutterhauben verschwunden – als seien sie von mir nur ein Traum oder als hätten all die alten Herrschaften sich gewehrt.

Für uns Geschwister war Witaliis Andenken durch diese Kriegsgeschichte jählings in blendendem Glanze neu aufgeflammt, fast in bengalischer Theaterbeleuchtung. Wie stark wir innerlich auch unter dem Druck der Kriegszeit standen, sie war uns doch nicht das gleiche allgemeine Erleben wie für geborene Russen; so empfing sie durch Witaliis Beteiligung am Kampf erst ihren persönlichen Charakter für uns. Nachdem wir jahrelang kaum noch seiner gedacht, wurde er plötzlich zum Mittelpunkt, um den sich der ganze Lärm des Tages, all die unklaren Vorstellungen von Waffenklirren und Kugelregen, zerschmetterten Leibern und Heldengeistern für uns sammelten. Die kleine persönliche Begegnung mit ihm in der Kindheit war im Gesamtschicksal der Zeit von selbst zu etwas geworden, was nahezu alle stärksten Gefühle unserer jugendlichen Seelen in Mitleidenschaft ziehen mußte und sie verflocht mit der Erinnerung an Witalii Wolujew.

Gegen Ende Januar tauchte gerüchtweise eine Nachricht über ihn auf: Der Großpapa brachte sie uns heim. Während General Gurko den westlichen Balkan überschritt, hatte Witalii in der Heeresabteilung gekämpft, die unter Skobelew vom Schipkapaß her durchbrach. In der Schlacht von Philippopel verwundet – anscheinend durch eine Granate am Arm –, lag er zur Zeit typhuskrank in einem Lazarett des Roten Kreuzes.

Kaum bewegte uns Geschwister der Gedanke: »er lebt!« im wirklich privaten Sinn. Dermaßen war Witalii schon zum Sagenhelden für uns geworden, daß wir von ihm vernahmen wie von Rußland selbst: Er war wie ein Sieg.

So vieles: Kindheit, und auch was um junge Menschen liegt an ungelösten Weltzusammenhängen und Erwartungen, klang mit an, wenn Boris unversehens sagte: »Witalii!«

Letzter Winter

Schwer und grau lastete der Winter von 1879/80 über uns allen. Durchreisende Fremde hätten meinen können, die Newastadt sei an ihrem zugefrorenen Strom selbst in Schlaf gesunken. Leerer und länger noch als sonst schienen die geradlinigen Straßen sich zu dehnen, gleichgültiger die Menschen aneinander vorüberzugehen, wie wenn starre Stumpfheit jede Lebensäußerung im Bann hielte.

Dahinter aber, hinter dieser anscheinenden Ruhe, stand etwas Ruheloses, Atemloses –. Hier und da an Plätzen und Ecken gewahrte man berittene Schutzmannschaft; ungern nur schlich sich bei Einbruch der Nacht der Hausknecht auf seine Bank am Torweg, denn schon war es geschehen, daß solch ein armer Wärter, in den Schafspelz eingemummt, am nächsten Morgen tot dagesessen hatte, erschossen von unsichtbarer Hand. Nach zehn Uhr abends durfte niemand das Haus mehr verlassen ohne gelbe Erlaubniskarte der Polizei. Noch war ein Jahr hin bis zur Ermordung Alexanders II., noch war die Detonation im Winterpalais nicht erfolgt, noch schritt man ahnungslos über heimlich unterwühlten Straßen, man deckte vielleicht Butterbedarf eben dort: in jenen neuen Butterläden zur Seite des Fahrdamms, die im Innersten ihrer Fässer hinaufgeschaufelte Erde enthielten. Afeer auf den Gemütern lag bereits der dumpfe Druck alles Kommenden.

Infolge des reaktionären Gesinnungswechsels des einst umjubelten »Zarbefreiers« gärte es immer drohender in der freiheitlich gesinnten Jugend, bis es, nach der »Volksfreundebewegung« des letzten Jahrzehnts, dem aufklärenden Wirken der »Narodniki« im Lande, zur Bildung eines revolutionären Exekutivkomitees gekommen war, zum Umschlag in den Terror. Wir hörten hie und da in Großpapas Hause von der innerpolitischen Sachlage dadurch, daß der damalige Kriegsminister Miljutin – einer der tatsächlich allerletzten aus der früher so bevorzugten Reformpartei im Regierungsdienst – sich als alter Bekannter bisweilen mit ihm traf.

Dennoch, obschon inmitten all dieser Dinge lebend, blieben wir doch auch immer ein wenig geschieden von ihnen; es ging damit wie mit dem Kriege, der erst in der Erinnerungslegende »Witalii« ein Gesicht für uns erhalten hatte. Obwohl wir von klein auf die russische Sprache beherrschten, Boris russisch gerufen wurde und ich im zärtlich verstümmelten Koserussisch, dem ein Name nicht leicht dortzulande entgeht, blieb doch immer gegenwärtig, daß unsere Heimat ganz fern in süddeutschem Lande stand, mochten wir ihr auch seit mehreren Generationen schon entrückt sein. Der Vater war es, der, obwohl mehr unwillkürlicher-, absichtsloserweise, uns das nie vergessen ließ: und wär es auch bloß die verräterische Sehnsucht gewesen, womit er ein paar verblaßte Landschaftsfotografien, als seien es Bilder teufer Angehöriger, auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, oder die besondere Pietät, die allem galt, was aus der Zeit vor der Übersiedlung sich vererbt hatte, sei es noch so unbrauchbar und beschädigt.

So fühlten wir uns vorwiegend im Verband mit den übrigen, zahlreich vertretenden Ausländern – ja, gelegentliche Verheiratung mit »echtem Russenblut« war seltener als die unvermutetste untereinander. Ob Deutsche, Franzosen, Engländer, Holländer, Schweden, unterschieden sie sich vom Russentum mit seiner nationalen Orthodoxie am gemeinsamsten durch ihre Kirchen; die evangelischen Kirchen, zu denen die Mehrzahl gehörte, und die ihnen angegliederten Schulen bezeichneten so – trotz der ungeheuren Zerstreuung der Gemeinden über die riesig ausgedehnte Stadt – gewissermaßen Mittelpunkte einer Stadt für sich, worin die fremden Straßen wie an einer Art von Heimatstätte zusammenliefen. Dies Internationale, verbunden mit dem Großzügigen russischer Verkehrsgewohnheiten, gab dem gesellschaftlichen Leben einen gleichzeitig weltstädtischeren und natürlicheren Zauber, als es vielleicht irgendwo sonst der Fall ist, und solange meine Mutter noch lebte, nahmen wir daran teil. Mit ihrer heiteren Anmut, die jung und alt bestrickte, hatte sie verstanden, das durchzuführen, wiewohl mein Vater als simpler Magister der Physik und Mathematik an höheren Lehranstalten Luxus in seinem Hause niemandem bieten konnte. In ihr verkörperte sich von jeher alles, was in sein ernstes Gelehrtendasein Reiz oder Rausch getragen, mit ihrem Tode nahm sein Heimweh nach dem Vaterlande, das er nur von ein paar Reisen her kennenlernen durfte, im stillen überhand. Schärfer als bis dahin spürte er im weiten Zuschnitt der hauptstädtischen Ausländerkreise die im Grunde wunderlich selbstgenügsame Enge: diese besondere Art eines Philistertums sozusagen, die sich als Weltbürgertum nur anfühlt, weil es – weder im In- noch im Ausland wahrhaft heimisch – sich der Wirkungen enthält. »Überhaupt: Welch eine Stadt, mein Gott!« bemerkte er immer öfter. »Schnell hingesetzt dort, wo das Land schon aufhört: als liefe sie hinweg vom eigenen Lande, als verlöre sie einfach das Gedächtnis für alles hinter ihr – alles stets neu anfangend und erlebend, ohne Voraussetzungen, ohne Vergangenheit: Wie will sie da Zukunft haben oder auch nur Gegenwart?«

In der Abgeschlossenheit dieser grauen, schweren Winterwochen, ein Jahr ungefähr nach meiner Mutter Tode, trat zum erstenmal wieder Witalii in unser Leben.

Der Großpapa hatte ihn uns angekündigt. Witalii, bei Verwandten untergebracht, hegte die Absicht, seinen alten Herzenswunsch nachträglich zu erfüllen und das Abitur zu bestehen. Aber als er nun leibhaftig unter uns drei Geschwistern dastand, wirkte es trotz der Ankündigung namenlos überraschend und unerwartet. Wir befanden uns im Zimmer der Brüder. Augenblickslang gab niemand einen Laut von sich. Dann entführ mir, als sei die einstige Stunde der Gemeinsamkeit eine ganze gemeinsame Kindheit gewesen, ein Freudenschrei: »Witalii!«

»Musja!« kam es ebenso zurück, und das Eis war gebrochen. Boris umhalste ihn wie einen zurückgefundenen Freund, und Michael, der im Alter besser zu ihm paßte, nahm ihn als den seinen auf.

Eine Bewegung, die wir ihn mit der linken Hand ausführen sahen anstatt mit der rechten, lenkte sehr bald unser aller Augen auf den Arm, der ihm schlaff und verkürzt aus dem Ärmel hing.

»Ich bin schon sehr geschickt!« versicherte Witalii. »Man muß nur erst die linke Hand üben« – und er entzog sich rasch mit Fragen nach Michaels Studium dem Versuch, ihn über seine »Kriegslaufbahn« auszuforschen. Auch später kam er niemals darauf zurück; als Boris ihn einmal dringend darum bat, sagte er unvermittelt heftig:

»Ihr müßt wissen – da war bei mir keinerlei Begeisterung dabei – nichts dergleichen – nicht für die ›russischen Brüder‹ oder gar: gegen die ›Ungläubigen‹ – nein, nein, nicht so war es! Nur ganz allein für mich selbst – nur um meinetwillen –«

Wenn es gewesen war, um sich Freiheit zu ertrotzen, so war es geglückt, und er benutzte sie ausschließlich zum Lernen. Mit Boris, dem Primaner, »büffelte« er ganz gewaltig, um Klassen zu überschlagen, doch auch Michael mußte seinen Wissensdurst löschen helfen, obschon er selber gar nicht viel für Studieren übrig hatte. Unseres eleganten Michael noch etwas schmalbrüstig aufgeschossene Gestalt überragte die Witaliis bei weitem, was dem etwas kurzgeratenen Boris entschieden angenehm war; dennoch erschien Witalii trotz seiner Schülereinstellung zwischen den beiden durchaus als der älteste von ihnen. Mich erinnerte er deutlich an den kleinen Knaben von damals, an Mund und Augen würde ich ihn überall wiedererkannt haben, besonders am Mund. Der war nicht hübsch, ein wenig aufgeworfen, aber ich stellte fest, daß dies nicht so sehr an den Lippen lag als an einem zu geradlinigen Verlauf der Gebißlinie, wodurch beim Sprechen oder Lachen die Eckzähne sichtbar wurden – was sich bald naiv, bald brutal ausnahm und zum übrigen Gesicht nicht recht passen wollte.

Die eigentümliche Zeitlage beschränkte für die Brüder manchen Verkehr auswärts und band die drei noch enger aneinander. Michaels bisheriger Freund, ein Student, der sich angeblich mit Verbreitung verbotener Schriften befaßt hatte, war gefänglich eingezogen worden; einer beargwöhnte den andern, und selbst harmloseste Zusammenkünfte zu vieren oder fünfen blieben nicht sicher vor polizeilicher Einmischung. Für mich wurden die »drei Brüder« halb zum Ersatz für allerlei Mädchenfreundschaften, die sich seit den letzten Klassen zu lockern begonnen. Von Körper und Gebärden noch backfischhaft eckig, von Natur schüchtern, verstand ich mich nur im Hause fröhlich gehen zu lassen und fand wenig Berührungspunkte mit Altersgenossinnen, von deren beginnenden Gesellschaftsinteressen mich überdies mein Trauerkleid schied. Durch Witalii indessen gelangte ich zu einer ganz neuen weiblichen Bekanntschaft: Nadeschda Iwanowna, Nadia genannt, den im Verkehr mit Russen so unwesentlichen Familiennamen habe ich nicht einmal in der Erinnerung behalten. Sie war vom Lande gebürtig, besuchte in der Hauptstadt die Bestuschewschen höheren Frauenkurse, hatte sich aber außerdem eine Art von Privatkurs ganz im kleinen eingerichtet, worin sie etlichen Fabrikarbeitern und Hausknechten, lauter Analphabeten, heimlich Unterricht erteilte. Dies volksfreundliche Tun, das Mut erforderte und sie den folgenschwersten Kämpfen aussetzen konnte, sicherte Nadia von vornherein unsere bewundernde Sympathie. Erstaunt entdeckten wir in der erwarteten heldenmäßigen Frau ein liebes, kleines, blondes Mädchen, zum Umblasen zart in ihrem abgetragenen dunklen Kleidchen, und mit den sanftesten Augen der Welt. Ich war überzeugt, sie müßte noch schüchterner sein als ich selber, und mein Herz flog ihr zu. Auch fügte es sich so, daß sie mir bald darauf Bekenntnisse machte, die sich weniger um Politik als um Liebe drehten: genauso, wie zwei Mädchen miteinander reden. Sie hatte sich vor einigen Jahren, fast noch ein Kind, mit dem Sohn einer ihrem Elternhause benachbarten Popenfamilie verlobt, der gleichfalls Pope werden wollte; die Glaubensfrage spielte dabei keine Rolle, um so mehr die des Volkswohls: Pope sein, das konnte heißen, dem Dorf ein Engel werden, besonders wo zwei Engel sich zu solchem Zweck zusammentun. Aber einmal Geistlicher, schoß ihr ehrgeiziger Spiridon über dies nächste Ziel hinaus in die höhere klerikale Laufbahn der »schwarzen« Geistlichkeit, welche zum Zölibat verpflichtet, während die » Weiße« des Popentums ja gerade Eheschließung voraussetzt. Ungewöhnlich intelligent, machte er – im Heiligen Synod, beim »Staatschef« der Russenkirche – durch wohlüberlegte Schriften von sich reden und opferte so seine ehemaligen Träume glatt der herrschenden Macht: Nadia sprach von diesem doppelten Verrat mit einer verblüffenden Sachlichkeit, als gelte der ungetreue Spiridon ihr nicht mehr als der Mann im Monde. Aber gerade hierdurch erhielt das private Leid seine erschütternde Betonung, daß sie es in eins geworfen hatte mit dem Umfassenden des russischen Menschen in ihr, dem Leid um die russische Sache: der allein sie fortan lebte und Treue hielt – die Treue für zwei.

Es war das erstemal, daß ich in so persönlicher Weise eine Liebestragödie zu Gehör bekam, und der Romantik meiner Backfischjahre entsprach sie sicherlich wenig. Andererseits näherte eben dieser Grad von überpersonaler Reife Nadias Bericht meiner Unreife: Er lieh ihr eine Art unerschlossener Mädchenhaftigkeit zurück aus diesem Jenseits menschlichen Begehrens. Und während wir einander gegenübersaßen – im Zimmer meiner Mutter, das mit seinen lichten Möbeln und geblümten Mullvorhängen ganz unverändert zur Stube der Tochter sich geeignet hatte –, wurden wir fast Schwestern in unsern schwarzen Kleidchen: wie heroisch die eine, wie kindisch die andere, doch beide zwei kleine Nonnen dem Leben gegenüber.

Einmal, als ich, wie immer nachmittags, Tee und Butterbrot ins Zimmer meiner arbeitenden »drei Brüder« hinübertrug, fand ich sie ausnahmsweise faulenzend.

Es dunkelte schon. Nur die großen Holzklötze, die Boris in den Ofen nachzuschleudern liebte, flammten hell durch die Stube, er selbst aber lag lang hingestreckt auf seinem Bett, die Hände unterm Kopf verschlungen.

»Was treibt ihr denn –? Und ohne Licht?« fragte ich.

»Ja, das Licht, siehst du, das soll uns im Kopf aufgehen«, belehrte mich Boris. »Du ahnst ja gar nicht, harmloses Kind Gottes, was der Mensch heutzutage und hierzulande alles für Probleme erledigen muß –«

Witalii löste sich vom Fenster, woran er stand, er unterbrach Boris: »Einfach um einen der Fabrikleute bei Nadia handelt es sich.«

Michael widmete sich bereits seinem Glase Tee. »Ja, stell dir das mal vor«, erzählte er, »der aus der Seifenfabrik, der jetzt aufs Dorf zurück mußte, der hat einen ganzen Aufsatz hergeschickt – oder hergeschleudert, eine ganze Standrede wahrhaftig, schreiben kann er also schon! Aber das empört ihn nun hinterdrein gewaltig, daß er jetzt glauben soll, die Sterne, die über seinem Dorfe standen, seit er denken kann, das seien keine Engelsaugen wie früher.«

»Na ja, die verfluchte Rückständigkeit!« meinte Boris gähnend, »das liebe heilige Rußland ist eben noch Asien, das heißt, es hat nur beten gelernt, nicht denken. Diese Kleinigkeit bringen erst wir ihm bei – wir, das heißt Europa.«

»– Wenn es nur angeschulmeistert ist – – beten oder denken, einerlei: Zwang ist es dann so und so!« murmelte Witalii.