Romana Extra Band 118 - Michelle Smart - E-Book

Romana Extra Band 118 E-Book

Michelle Smart

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Beschreibung

LIEBE MICH, MON AMOUR von HILDY JOHNSTON
Sein Ziel: Rache! Nur deshalb leiht Pierre der bezaubernden Lucie Geld. Er weiß, dass sie es niemals zurückzahlen kann, und dann gehört ihre Austernfarm ihm. Aber er hat nicht mit ihrem Kampfgeist gerechnet – oder mit der Leidenschaft, die ein einziger Kuss von Lucie in ihm auslöst …

VERFÜHRUNG IN MAILAND von CHLOE BLAKE
Die meisten halten ihn für einen Playboy, tief im Herzen sehnt Antonio Lorenzetti sich jedoch nach einer Frau, die seiner Tochter eine gute Mutter ist. Die hinreißende Köchin Danica wäre die perfekte Kandidatin – würde sie nicht Gefühle in ihm wecken, denen er abgeschworen hat …

NEUES GLÜCK IN DEN ARMEN DES STOLZEN SPANIERS? von Michelle Smart
Damals war Charlotte nicht bereit für ein Kind, nun bittet sie ihn um Geld – für ein Kinderheim! Raul Cazorla glüht vor Wut – und vor Verlangen. Doch er wird seine Gefühle für die sinnliche Blondine ein für alle Mal bezwingen: mit einer Überdosis Leidenschaft …

NICHT MEHR ALS EINE NACHT MIT DIR von JOSS WOOD
Die Gelegenheit, das Luxushotel am Fuße des Tafelbergs neu einzurichten, ist für Innenarchitektin Bay ein Traum. Das Knistern zwischen ihr und Auftraggeber Digby ist allerdings ein Problem. Denn auf keinen Fall will sie mehr riskieren als eine Nacht mit dem Womanizer!

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Seitenzahl: 709

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Hildy Johnston, Chloe Blake, Michelle Smart, Joss Wood

ROMANA EXTRA BAND 118

IMPRESSUM

ROMANA EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 118 3/2022

© 2022 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg für Hildy Johnston: „Liebe mich, mon amour“

© 2018 by Tamara Lynch Originaltitel: „A Taste of Pleasure“ erschienen bei: Kimani Press, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gisela Blum

© 2021 by Joss Wood Originaltitel: „How to Win the Wild Billionaire“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: Originalreihe Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Bettina Ain

Erste Neuauflage in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 118 3/2022

© 2015 by Michelle Smart Originaltitel: „The Perfect Cazorla Wife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elfie Sommer Deutsche Erstausgabe 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA Band 412

Abbildungen: mauritius images/Westend61/Emma Innocenti, yvon52/Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 3/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751508148

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY

HILDY JOHNSTON

Liebe mich, mon amour

Lucie ist unglaublich dankbar, dass der attraktive Pierre ihr hilft, die Austernfarm ihres Vaters zu retten. Bis sie eine erschütternde Entdeckung macht. Hat sie ihr Herz dem Falschen geschenkt?

CHLOE BLAKE

Verführung in Mailand

Finger weg vom Boss! Diese Lektion hat Danica schmerzlich gelernt, deshalb sollte sie dem charmanten Antonio unbedingt widerstehen. Was allerdings unmöglich ist, wenn er sie so sexy küsst …

MICHELLE SMART

Neues Glück in den Armen des stolzen Spaniers?

Wütend blitzt Charlotte ihren Noch-Ehemann an. Raul war ihre letzte Hoffnung, doch der Tycoon denkt nicht daran, ihr Kinderheim vor dem Ruin zu retten. Außer sie kehrt zurück zu ihm – und in sein Bett!

JOSS WOOD

Nicht mehr als eine Nacht mit dir

Digby sollte erleichtert sein, dass die hübsche Bay ihn nach ihrer gemeinsamen Nacht abweist. Schließlich will er keine feste Beziehung. Nur warum fühlt sich seine Freiheit auf einmal so leer an?

Liebe mich, mon amour

1. KAPITEL

Lucie starrte auf das Lenkrad des Traktors, der einfach nicht anspringen wollte. Warum trat das Biest ausgerechnet jetzt in den Streik? Schon seit zehn Minuten drehte sie immer wieder den Zündschlüssel herum. Doch es geschah nichts. Dabei war Ebbe, die perfekte Gelegenheit, um durchs Watt zu den Austernbänken hinauszufahren. Verdammt!

Eine Möwe jagte kreischend über ihren Kopf hinweg auf die Bucht von Arcachon zu. Vom Ufer wehte eine leichte Brise herüber. Lucie atmete den Geruch von Meer, gemischt mit Dieselöl und dem Duft der Pinien auf dem Grundstück tief ein. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, nicht zu scheitern. In den vergangenen acht Wochen hatte sie jeden Tag im Schlick die schweren Drahtsäcke durchgerüttelt, damit die Muscheln darin nicht verklebten. Auf diese Weise wollte sie große und formschöne Austern heranziehen, um die bestmöglichen Preise dafür zu erzielen.

„Als ob du das könntest!“ Lucies Mutter hatte sie deswegen verspottet. „Du bist doch kaum in der Lage, eine Auster von einer Miesmuschel zu unterscheiden!“

„Na, und? Dann lerne ich das eben!“

„Lernen? Du?“ Im weit entfernten Northampton hatte Ellen James in den Telefonhörer geschnaubt. „Das wäre ja das allererste Mal, dass dir das gelingt!“

Doch Lucie hatte schon zu oft gehört, was sie alles falsch machte. Mit grimmiger Miene sprang sie vom Traktor herunter auf den mit hellen Natursteinen gepflasterten Hof. Dieses Mal würde sie sich nicht aufhalten lassen – weder von den Tiraden ihrer Mutter noch von einem altersschwachen Fahrzeug, das zu lange im Schuppen gestanden hatte. Ihr blieb auch gar nichts anderes übrig, als über sich selbst hinauszuwachsen, denn ihr Vater war schwer krank, und irgendjemand musste sich um seine Austernfarm und die Austernbar kümmern. Schließlich stand die Urlaubssaison auf der französischen Halbinsel Cap Ferret unmittelbar bevor.

Entschlossen näherte sie sich der Motorhaube. Unten rechts, auf Höhe des Reifens, befand sich der Hebel zum Öffnen. Zumindest sagte das der Bauer Hopkins aus Derbyshire in seinem ebenso unscharfen wie verwackelten YouTube-Video. Lucie hatte es sich unzählige Male angesehen und wusste jetzt, dass sie dort nach der Batterie suchen musste: ein grauer, rechteckiger Kasten mit einem Plus- und einem Minuspol. Eigentlich gar nicht so schwer. Vorausgesetzt, sie bekam diese verflixte Motorhaube auf.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief eine tiefe Stimme hinter ihr, als sie gerade dabei war, den Hebel herunterzudrücken.

Überrascht fuhr sie herum. Der Mann, der da quer über die Einfahrt auf sie zukam, sah aus wie einem Manager-Magazin entsprungen – groß, schlank, Maßanzug. Sein dunkles Haar war akkurat geschnitten, sein Blick undurchdringlich. Lucie runzelte die Stirn. Was suchte ein Typ wie er in einem Fischerdorf wie Cap Ferret, kilometerweit vom nächsten Bankenviertel entfernt? Und vor allem – was wollte er von ihr?

„Probleme mit dem Anlasser?“, fragte er interessiert.

Sie schüttelte den Kopf. „Mit der Batterie, denke ich.“

Der Fremde nickte, trat näher und strich mit der Hand über das goldfarbene Emblem auf der Motorhaube. „Ein wunderschöner Deutz“, sagte er fast andächtig. „Neunzehnhundertsechziger Baujahr?“

„Nee, ich bin erst siebenundzwanzig.“

Als der Anzug-Typ seine schwarzbraunen Augen daraufhin mit sichtlicher Irritation auf sie richtete, musste Lucie lachen. „Das war ein Scherz.“

„Aha.“

Eine unbehagliche Stille trat ein, in der Lucie zu dem Schluss kam, dass der Unbekannte zwar umwerfend gut aussah, aber leider keinen Sinn für Humor besaß.

„Äh – sind Sie wegen des Traktors hier, oder kann ich sonst was für Sie tun?“, fragte sie, löste ihr Haargummi und zwirbelte ihre roten Locken zu einem neuen Knoten zusammen.

„Ich bin Pierre Laban“, erwiderte er und schien auf irgendeine Reaktion zu warten. Als diese jedoch ausblieb, fügte er hinzu: „Ich hatte Ihnen geschrieben.“

„Echt?“ Schuldbewusst dachte Lucie an den Berg von Post im Wohnzimmer ihres Vaters, der jeden Tag größer wurde. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Sie sind Lucille James, nehme ich an? Die Tochter von Jacques Bernard?“

„Lucie“, korrigierte sie sofort, denn sie hasste es, wenn jemand ihren vollen Namen aussprach.

„Ich kenne Ihren Vater, Mademoiselle James. Wie geht es ihm inzwischen?“

Das war eine Frage, die man ihr täglich stellte in letzter Zeit. Die Nachricht, dass man den alten Jacques Bernard bewusstlos bei seinen Austernbänken gefunden hatte, schien alle Freunde und Nachbarn auf der Insel zutiefst erschüttert zu haben. „Sein Zustand ist stabil, aber er liegt immer noch im Koma“, antwortete sie.

„Das tut mir leid. Er wird doch vollständig genesen, oder?“

„Die Ärzte wissen es nicht.“ Bedrückt senkte Lucie den Blick auf die Motorhaube. „Es war ein besonders schwerer Schlaganfall. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass er bald gesund wird.“

„Verstehe. Und jetzt sind Sie extra aus England hergekommen, um ihm für ein Weilchen beizustehen?“

„Nicht nur für ein Weilchen, ich bleibe länger. Mein Vater wird Hilfe brauchen, wenn er aufwacht, deshalb bin ich fürs Erste hierhergezogen.“

Diese Information schien Laban zu überraschen. „Das – das ist fürsorglich von Ihnen.“ Er räusperte sich. „Und was werden Sie hier auf der Insel machen? Beruflich?“

„Das, was fast alle hier tun: Austern züchten und verkaufen. Zu Beginn der Saison eröffne ich die Austernbar, die mein Vater bisher betrieben hat – das L’Huitrière.“ Sie deutete auf das Holzhaus rechts von ihr, das mit einem frischen weißen Anstrich unter den wuchtigen Pinien lag. Die Fensterläden leuchteten blau, genau wie das massiv gezimmerte Geländer der überdachten Außenterrasse. Von dort hatte man den perfekten Ausblick auf die Vogelinsel gleich gegenüber sowie auf die Düne von Pilat am anderen Ende der Bucht. Weiße Blumenkübel, mit Lavendel bepflanzt, rahmten den Eingang ein, und auf dem rostroten Dach wehte die französische Nationalfahne. „Die Renovierungsarbeiten habe ich fast abgeschlossen“, sagte Lucie stolz. „Nur ein paar Holzdielen auf der Terrasse müssen noch erneuert werden.“

„Das ist nicht Ihr Ernst!“

„Aber sicher, die Dinger sind total morsch! Ich will doch nicht, dass meine Gäste sich daran verletzen …“

„Ich rede von der Austernzucht!“, korrigierte der Franzose mit unbewegter Miene. „Sie scheinen nicht viel von dem Geschäft zu verstehen, wenn ich das mal so sagen darf …“

Das kam der Wahrheit so nahe, dass Lucie kurz zusammenzuckte. Sie hatte noch nie mit Austern, geschweige denn in der Gastronomie gearbeitet, und außer einer abgebrochenen Ausbildung zur Yogalehrerin konnte sie nichts vorweisen. Offiziell stand sie auf der Gehaltsliste der Brauerei, die ihrer Familie in Northampton gehörte. Doch da sie dort immer wieder mit ihrer Mutter aneinandergeraten war, hatte Lucie beschlossen, sich in Frankreich ein neues Leben aufzubauen. „Es stimmt, ich bin Quereinsteigerin“, gab sie widerwillig zu. „Aber was ist daran auszusetzen?“

„Austernzucht ist ein Handwerk, das man von der Pike auf lernen muss, Mademoiselle. Da steigt man nicht einfach mal so von der Seite ein. Und wer es doch versucht, wird scheitern.“

„Was macht Sie da so sicher?“, fragte sie trotzig zurück.

„Instinkt.“

Irgendetwas an diesem Gespräch gefiel ihr nicht. Und zwar ganz und gar nicht. „Monsieur Laban, warum sind Sie eigentlich hier?“

„Wegen des Grundstücks. Ich möchte es kaufen.“

„Wie bitte?“ Lucie traute ihren Ohren nicht. „Das erklärt zumindest, warum Sie mir einreden wollen, ich verstünde nichts vom Austerngeschäft. Sie sind hinter unserem Betrieb her!“

„Verzeihen Sie, dass ich vorpresche – aber ich bin Geschäftsmann und nutze Chancen, wann immer sie sich bieten. Und die Lage der Immobilie direkt am Wasser eignet sich ideal, um ein professionell geführtes Delikatessen-Restaurant darauf zu errichten.“ Er unterbrach sich und senkte die Stimme. „Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass Sie demnächst erhöhten Finanzbedarf haben werden.“

„Was?!“

„Jacques ist schwer krank“, fuhr Laban seelenruhig fort. „Vielleicht müssen Sie ihn behindertengerecht unterbringen, sobald er das Krankenhaus verlassen kann …“

„Ich werde mit Ihnen hier weder über den Gesundheitszustand meines Vaters noch über unsere Finanzen spekulieren!“

„Nicht mal, wenn ich Ihnen das Vierfache dessen biete, was das Haus wert ist? Und denselben Betrag für den Austernpark noch einmal dazu?“

„Vergessen Sie’s!“, erwiderte sie hitzig. „Meinetwegen können Sie Ihr Nobelrestaurant auf dem Mond eröffnen, aber nicht hier bei uns! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mir von Bauer Hopkins zeigen lassen, wie man eine Batterie auflädt!“

„Wer ist Bauer Hopkins?“, fragte Laban, ohne sich von ihrem Ton provozieren zu lassen.

„Ein Typ aus Derbyshire, der die schlechtesten Videos der Welt bei YouTube einstellt.“

In seinem Kopf schien es schwer zu arbeiten. „Wollen Sie damit andeuten“, begann er umständlich, „dass Sie Ihren Traktor mithilfe eines dubiosen Internet-Videos in Gang bringen wollen?“

„Genau das will ich damit andeuten.“

„Warum schauen Sie nicht einfach ins Montage-Handbuch?“

Lucie errötete. „Ich, ähm, kann es gerade nicht finden.“

Mit fachkundigem Blick öffnete er daraufhin die Motorhaube. „Sind Sie sicher, dass es nur die Batterie ist?“

„Halbwegs.“

„Was dagegen, wenn ich mir die Sache mal ansehe?“

Lucie zögerte. Alles in ihr sträubte sich, seine Hilfe anzunehmen. Als ob sie das Haus ihres Vaters versilbern würde, während er im Koma lag! „Ehrlich gesagt …“, fing sie an, aber da inspizierte er schon den Motor.

Er ruckelte an einem Kabel, schraubte hier, drehte da und verschmierte sich dabei seine gepflegten Hände, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ich kann nichts finden, also bleibt nur die Batterie“, sagte er schließlich und angelte sich ein blütenweißes Stofftaschentuch aus der Hosentasche, mit dem er sich die Finger abwischte.

„Wissen Sie denn auch wirklich, wovon Sie da reden?“

„Glauben Sie mir, Miss James, das hier ist nicht der erste Traktor, den ich in Gang bringe.“

„So? Danach sehen Sie aber gar nicht aus.“

„Wonach sehe ich denn aus?“

Nach Ärger, dachte Lucie. Aber diese Bemerkung verkniff sie sich im letzten Moment. „Sie wirken auf mich wie jemand, der vom Schreibtisch aus Befehle erteilt“, sagte sie nur.

„Das tue ich mittlerweile auch“, räumte er ein. „Mein Unternehmen beliefert Restaurants und Kaufhäuser in ganz Europa mit Delikatessen und Meeresfrüchten. Laban Selected Foods. Schon mal gehört?“

„Sie meinen den Feinkost-Konzern?“ Lucie staunte. „Der gehört Ihnen?“

Er nickte. „Ich habe ihn aufgebaut und lebe mittlerweile die meiste Zeit des Jahres in London. Aber geboren und aufgewachsen bin ich hier auf Cap Ferret.“

„Wow!“, entfuhr es ihr anerkennend. „Dann sind Sie ja ein internationales Aushängeschild für die Gemeinde. Hat man Ihnen schon die Ehrenbürgerschaft angetragen?“

„Nein“, erwiderte er. „Und ich lege auch keinen Wert darauf.“

Irgendetwas löste das Thema in ihm aus, bemerkte Lucie verblüfft. Die Kieferknochen in seinem unverschämt attraktiven Gesicht traten noch deutlicher hervor, fast so, als würde er die Zähne zusammenbeißen. Sein Mund war nur noch eine einzige schmale Linie, und seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen. Mit einem Mal wirkte Pierre Laban noch angespannter.

„Ich habe meinen Wagen an der Uferstraße geparkt“, sagte er abrupt und zeigte auf den schwarzen Porsche hinter ihm. „Damit könnte ich Ihnen Starthilfe geben.“

„Starthilfe?“ Skeptisch blickte Lucie von seinem Sportwagen zu ihrem Traktor und wieder zurück. „Meinen Sie, Ihr Edelschlitten schafft das?“

„Wir sollten es drauf ankommen lassen.“

„Lieber nicht“, wehrte sie ab. „Ich bin nicht sonderlich gut versichert, und wenn Ihr Motor durch die Aktion Schaden nimmt …“

„… übernehme ich dafür die volle Verantwortung“, vollendete er ihren Satz. „Aber keine Sorge, das wird nicht passieren. Wichtig ist nur, dass ich meinen Motor laufen lasse und Sie eine etwas längere Tour mit dem Traktor unternehmen, sobald er angesprungen ist.“ Laban zückte seinen Autoschlüssel. „Warten Sie kurz, ich fahre den Wagen auf den Hof.“

Lucie sah ihm hinterher, wie er mit langen Schritten auf sein Auto zuging. Sie wurde nicht schlau aus ihm, aber er faszinierte und irritierte sie gleichermaßen. Wenig später rauschte er durch die Einfahrt, wendete und parkte in geringem Abstand rückwärts zu ihrem alten Deutz.

„Nehmen wir mein Starterkabel oder Ihres?“, rief er beim Aussteigen.

„Ich glaube, ich habe gar keins.“

„Wieso überrascht mich das nicht?“ Kopfschüttelnd ging Laban auf den Traktor zu. „Dann wollen wir mal sehen, ob wir dich wieder startklar kriegen, alter Junge“, murmelte er und befestigte das Kabel an der Batterie. Dabei wirkte er wie jemand, der ganz in seinem Element war – konzentriert und mit sich im Reinen. Beinahe hätte man glauben können, dass ihm das alles richtig Spaß machte, doch dieser Eindruck konnte trügen, hielt Lucie sich vor Augen. Sie kannte diesen Mann schließlich nicht.

„Nett, dass Sie mir helfen“, sagte sie. „Aber damit wir uns nicht missverstehen: Ihr ritterlicher Einsatz hier ändert nichts an dem, was ich vorhin gesagt habe. Das Haus bleibt unverkäuflich.“

„Und was ist mit dem Austernpark?“, fragte er, ohne aufzublicken. „Treten Sie den an mich ab?“

„Nicht in diesem Leben!“

Laban nickte und ging auf seinen Porsche zu. „In Ordnung.“

„In Ordnung?“, wiederholte Lucie ungläubig. „So einfach geben Sie auf?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Hören Sie, ich werde mich nicht von Ihnen erpressen lassen oder so …“

„Wir sind hier in Frankreich, Miss James“, entgegnete er und öffnete die Heckklappe seines Autos, unter der sich der Motor befand. „Hier erpressen wir niemanden.“ Er drehte sich über die Schulter um und warf ihr ein unerwartet spitzbübisches Lächeln zu. „Wir verführen lieber.“

Als Lucie ihn daraufhin nur völlig entgeistert ansah, war es an ihm, zu lachen. „Das war ein Scherz“, sagte er.

Schade, schoss es ihr durch den Kopf. Für einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, er würde mit ihr flirten, und dieser überraschende Anflug von Humor ließ ihn noch attraktiver wirken, als er ohnehin schon war.

„Nach allem, was man sich im Dorf erzählt, sind Sie in England bei Ihrer Mutter aufgewachsen“, nahm er das Gespräch wieder auf. „Wie kommt es, dass Sie so akzentfrei Französisch sprechen?“

„Ich hatte ein Kindermädchen aus Marseille, dem ich einfach alles nachgeplappert habe.“ Lucie schob die Hände in die Taschen ihres blauen Overalls. „Meine Schulnoten in Französisch waren trotzdem ziemlich mies, aber immerhin konnte ich mich mit meinem Vater unterhalten, wenn ich ihn in den Schulferien besuchte.“

„Sehr oft war das aber nicht, oder? Ich lebe zwar seit Jahren nicht mehr hier in der Gegend, aber ich erinnere mich nicht daran, Ihnen früher schon einmal begegnet zu sein.“

Lucie zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern waren nur kurz zusammen und trennten sich im Streit. Anfangs wollte meine Mutter deshalb nicht, dass ich überhaupt Kontakt zu Jacques hatte, aber er hat zum Glück ein Besuchsrecht durchgesetzt. Und als ich etwas älter war, durfte ich regelmäßig herkommen.“

„Verstehe.“

„Was ist mit Ihren Eltern?“, fragte sie in das Schweigen hinein, das sich zwischen ihnen ausbreitete. „Leben die noch hier auf der Insel?“

Labans Blick verdunkelte sich. „Nein“, sagte er tonlos. „Sie sind schon vor längerer Zeit gestorben.“

„Oh. Das tut mir leid.“

Er wandte sich ab und überprüfte das Überbrückungskabel, ohne weiter auf das Thema einzugehen. „Sie können den Motor jetzt starten, denke ich.“

Lucie drehte den Zündschlüssel um, und der Deutz sprang dröhnend an.

„Es funktioniert!“, rief sie verblüfft aus. „Es funktioniert tatsächlich!“

Minutenlang rumpelten beide Motoren vor sich hin, bevor Laban die Kabel abklemmte und seinen Porsche ausschaltete. „Falls Sie es sich mit dem Verkauf noch anders überlegen sollten – Sie erreichen mich bis Ende nächster Woche im Plaza Hotel in Arcachon.“

„Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht warten!“

„Wie Sie meinen. Aber was den Deutz betrifft: Mit dem müssen jetzt mindestens eine halbe Stunde lang fahren, um die Batterie aufzuladen.“

Lucie saß bereits hinter dem Steuer. „Danke für Ihre Hilfe! Mal sehen, ob ich es unfallfrei bis ins Watt schaffe …“

„Haben Sie überhaupt schon mal auf so einem Ding gesessen?“

„Nicht besonders oft! Aber dafür klappt es ganz gut, oder?“

Sie steuerte die Hofausfahrt an und riss scheppernd die verrostete Regentonne mit, die vor der Mauer des Geräteschuppens stand. Ein letztes Winken, dann bog sie um die Ecke und rollte tuckernd in Richtung Strand.

Fassungslos sah Pierre ihr hinterher. Eine Irre. Diese Frau war eindeutig eine Irre. Traktor-Reparatur mit YouTube-Videos und Austernzucht ohne Vorkenntnisse – das konnte ja was werden.

Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, bevor er herkam. Mit harten Verhandlungen und dreisten Forderungen nach noch mehr Geld. Nicht aber mit einem durchgedrehten Rotschopf, der sein Angebot ausschlug, ohne es sich überhaupt bis zu Ende angehört zu haben.

Kaum zu glauben, dass dieses seltsame Geschöpf die Tochter seines größten Feindes sein sollte. Denn im Gegensatz zu Jacques Bernard fand er dessen Tochter bei allem Wahnsinn geradezu … anziehend.

Anziehend?

Pierre erstarrte. Das fehlte noch!

Er wollte keine Frau in seinem Leben, und daran würde er auch nichts ändern. Nicht jetzt. Nicht hier. Und nicht mit ihr.

Grimmig drehte er sich zu dem Grund um, der ihn hergeführt hatte. Das Haus stand klein und etwas windschief unter den Pinien, genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Nur das Schild, das über dem Eingang hing, war neu und versetzte ihm einen schmerzhaften Stich: „Ostréiculture Bernard“, prangte da in leuchtend blauen Buchstaben an der Stelle, wo über Jahrzehnte der Name seines Vaters gestanden hatte. Gaston Laban.

„Ich mache es wieder gut, Papa“, flüsterte Pierre kaum hörbar. „Ich weiß noch nicht wann, aber ich mache es wieder gut.“

Im gleichen Augenblick wusste er, dass er sich selbst belog. Es gab nichts wiedergutzumachen, sein Vater war tot. Allein und verarmt gestorben in einem überfüllten Hospiz für Sozialhilfeempfänger, während sein Sohn im Jugendgefängnis von Bordeaux die Strafe für eine fatale Dummheit absaß: einen Austerndiebstahl, den er aufs Bitterste bereute. Pierre zog die Augenbrauen zusammen. Wenn er seinerzeit nicht so versessen darauf gewesen wäre, dem verhassten Jacques Bernard eine Lehre zu erteilen, hätte sein Vater niemals den Glauben an ihn verloren. Und in der Stunde seines Todes hätte er wenigstens ein Zuhause gehabt. Das Einzige, was Pierre tröstete, war, dass seine früh verstorbene Mutter das alles nicht miterleben musste.

Schnell wandte er sich ab und stieg in den Wagen. Er wollte weg von hier, fort von all den Erinnerungen, die ungebremst auf ihn einzuprasseln drohten und ihm die Luft zum Atmen abschnürten. Doch als er mit seinem Porsche aus der Ausfahrt rollte, kam ihm auf der Uferstraße ein alter Mann in Anglerhosen entgegen, den er als einen Freund und ehemaligen Kollegen seines Vaters erkannte.

Er bremste und ließ die Fensterscheibe nach unten. „Bonjour, Alfons“, rief er dem Austernzüchter zu. „Comment ça va?“

Statt den Gruß zu erwidern, warf der Alte ihm einen verächtlichen Blick zu. „Dass du dich hierher traust, Laban“, stieß er hervor. „Schaff mir deinen protzigen Sportwagen aus dem Weg und scher dich zum Teufel!“

Für den Bruchteil eines Augenblicks rang Pierre um Fassung, aber dann hatte er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. „Dir auch einen schönen Tag“, entgegnete er mit unbewegter Miene und trat aufs Gaspedal.

Siebzehn Jahre. So lange war es her, dass man ihn vor Gericht schuldig gesprochen hatte, doch die Menschen auf Cap Ferret hatten es nicht vergessen. Aufgewühlt steuerte Pierre den Porsche die Straße hinunter. Sein Reichtum, sein beruflicher Erfolg und das Ansehen, das er sich international als Selfmade-Millionär erarbeitet hatte, waren hier auf der Insel nichts wert. Im Gegenteil, man verachtete ihn dafür und reduzierte ihn auf das, was er als Teenager getan hatte.

Schwer atmend richtete er den Blick auf die Fahrbahn. Austern zu stehlen war eines der größtmöglichen Tabus, das man in der Bucht von Arcachon brechen konnte, und dieser Makel würde an ihm haften, solange er lebte. Dabei war es den Leuten egal, dass Pierre damals lediglich versucht hatte, mit dem Diebstahl auf der Farm von Jacques Bernard das Geld einzutreiben, das dieser seiner Familie schuldig geblieben war.

Dieser eine Fehler hatte eine fatale Kettenreaktion ausgelöst, an deren Ende Pierre seinen Vater, sein Zuhause und seinen Ruf verloren hatte. Jacques Bernard hingegen war als Sieger aus der Sache hervorgegangen. Das Haus, der Austernpark, das öffentliche Wohlwollen, alles fiel an ihn, während Pierre im Gefängnis von Bordeaux seine Jugendstrafe absaß und bis heute als Austerndieb gebrandmarkt war.

Dafür hasste er den alten Bernard noch heute und suchte seit Jahren nach einem Weg, es ihm heimzuzahlen. Pierre wollte sein Elternhaus zurück, denn er ahnte, dass er niemals Frieden finden würde, ehe er nicht diesen Teil seiner unrühmlichen Geschichte korrigiert hatte.

Sein Blick verfinsterte sich. Er hatte geglaubt, die Angelegenheit mit dem Scheckbuch regeln zu können, wie mittlerweile alles in seinem Leben. Aber jetzt stand ihm diese Lucie James im Weg. Lästig, naiv, wunderschön. Und fest entschlossen, ihren aberwitzigen Plan mit der Austernzucht durchzuziehen, obwohl sie von nichts eine Ahnung hatte. Doch sie wird scheitern, dachte Pierre grimmig. Und ihm damit unbeabsichtigt helfen, sein Ziel zu erreichen.

Sie wusste es nur noch nicht.

2. KAPITEL

Abgehetzt traf Lucie am Nachmittag darauf im Krankenhaus von Arcachon ein, gerade noch rechtzeitig, bevor die Besuchszeit endete. Sie hatte sich länger als sonst bei den Austernbänken aufgehalten und mit Mühe die Fähre erwischt, die alle paar Stunden von Cap Ferret in Richtung Festland ablegte. Eilig wollte sie über den Stationsflur auf das Zimmer ihres Vaters zugehen, als der Oberarzt ihr in den Weg trat. „Haben Sie einen Moment, Mademoiselle?“

„Sicher“, erwiderte sie und blieb abrupt stehen. Der Blick von Dr. Leroc verhieß nichts Gutes.

„Es geht um die Behandlung Ihres Vaters …“

„Was ist mit ihm?“

„Sein Zustand ist weiterhin unverändert, aber wir tun, was wir können.“

„Oh.“ Lucie atmete hörbar aus und spürte, wie ihre anfängliche Angst einer tiefen Enttäuschung wich. Wann gab es endlich einen Fortschritt zu vermelden? Sie fand es immer schwerer, diese Ungewissheit zu ertragen.

„Ich spreche Sie wegen der noch offenen Rechnungen an“, kam der Arzt zur Sache. „Die Krankenhausverwaltung hat Ihnen bereits die zweite Mahnung geschickt. Allerdings konnte man bisher keinen Zahlungseingang feststellen.“

„Wie bitte? Was meinen Sie mit Zahlungseingang?“

„Sie wissen, dass Ihr Vater keine Krankenversicherung besitzt?“, fragte Dr. Leroc zurück.

Lucie schluckte. „Nein, das wusste ich nicht.“

„Nun, das ist ja auch ungewöhnlich. Offenbar hat sich Ihr Vater gezielt dafür entschieden, auf diesen Schutz zu verzichten. Aber jetzt, wo er hier bei uns behandelt wird, kostet sein Aufenthalt täglich sehr viel Geld.“ Mit betretener Mine reichte ihr der Doktor eine Kopie der Rechnung. „Mittlerweile hat sich eine fünfstellige Summe angesammelt.“

Fünfstellig?!

Lucie nahm das Papier entgegen. Dunkel erinnerte sie sich daran, vor Kurzem einen Umschlag mit dem gleichen Logo aus dem Briefkasten gezogen zu haben. Wie immer hatte sie das Kuvert ungeöffnet auf den Wohnzimmertisch gelegt – nicht aus Desinteresse, sondern weil sie mit Buchstaben grundsätzlich auf Kriegsfuß stand. Lucie litt unter einer angeborenen Lese- und Rechtschreibschwäche, die sie ungern zum Thema machte und so gut es ging vor anderen verheimlichte. Doch wenn sie dieses Mal über ihren Schatten gesprungen wäre und sich Hilfe geholt hätte, um den Brief aus dem Krankenhaus zu lesen, wären ihr wenigstens die Mahngebühren erspart geblieben. Und jetzt?

„Sie können den Betrag in Raten abbezahlen, wenn Ihnen das hilft“, sprach Dr. Leroc weiter, der ihren bestürzten Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. „Allerdings müssen wir darauf bestehen, dass Sie aktiv werden – andernfalls leitet die Klinik rechtliche Schritte ein …“

„Das ist ein ziemlicher Schock“, brachte Lucie heraus. „Heißt das im Klartext, dass mein Vater mit jeder Minute, die er hier verbringt, einen Schuldenberg anhäuft?“

„So sieht es leider aus, Mademoiselle.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Die Rechnung wird so schnell wie möglich beglichen, Herr Doktor“, sagte sie und ließ das Papier in ihrer Tasche verschwinden. „Verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten.“

„Melden Sie sich jederzeit bei der Krankenhausverwaltung, wenn Sie Fragen haben“, erwiderte er nachsichtig. „Wir beraten Sie gerne.“

Aufgewühlt blieb Lucie auf dem Flur zurück, nachdem der Arzt sich von ihr verabschiedet hatte. Bei dem Gedanken an die Unsummen von Geld, die sie auftreiben musste, wurde ihr schwindelig. Der laxe Umgang ihres Vaters mit seinen Finanzen war legendär. Dass er aber so weit gehen würde, sehenden Auges auf eine Krankenversicherung zu verzichten, entsetzte sie.

Alles, was sie an frei verfügbarem Geld von ihren Großeltern mütterlicherseits geerbt hatte, war bereits vor einem Jahr an die Bank geflossen. Damals hatte ihr Vater Insolvenz anmelden müssen und schon einmal fast alles verloren.

„Hilf mir, mapetite“, hatte er Lucie angefleht. „Ich besitze keinen Cent mehr, und ich sterbe, wenn ich das Haus nicht halten kann.“

Lucie hatte keinen Zweifel daran gehabt, dass ihr Vater es absolut ernst meinte. Er hing an seinem Zuhause und hätte sich freiwillig niemals davon getrennt. Sie konnte das verstehen, denn auch sie hatte die alte Fischerhütte längst in ihr Herz geschlossen. Das windschiefe Haus mit Blick auf das Meer war für sie zum Sinnbild der unbeschwerten Tage ihrer Kindheit geworden. Ein geschützter Ort, an dem sie sich der unnachgiebigen Strenge ihrer Mutter wenigstens für die Dauer der Sommerferien entziehen konnte. Lucie hatte sich daher nicht lange bitten lassen, für ihren Vater einzuspringen, um es behalten zu können. Doch nun waren ihre Reserven aufgebraucht.

Ihre letzten Ersparnisse hatte sie kürzlich erst in die Renovierung des Hauses gesteckt. Und sie besaß jetzt nichts mehr, um auch noch diese horrende Krankenhausrechnung zu begleichen. Lucie biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie nur tun? Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Einen Moment lang stand sie da und lauschte den Geräuschen auf dem Gang. Dann hatte sie sich genug beruhigt, um das Krankenzimmer zu betreten.

Jacques Bernard lag an ein Beatmungsgerät angeschlossen im Bett und wirkte wie ein Schatten seiner selbst. Nichts an seinem reglosen Körper erinnerte an den vitalen, vor Gesundheit strotzenden Mann, der noch im Seniorenalter bei jeder Witterung aufs Meer hinausgefahren war.

„Hallo, Papa“, begrüßte sie ihn, zog sich einen Stuhl an die Bettkante und nahm seine Hand. Obwohl die Ärzte sagten, dass er Lucie höchstwahrscheinlich nicht hören konnte, war sie sich sicher, dass er ihre Nähe spürte. Deshalb kam sie jeden Tag vorbei, um bei ihm zu sein, brachte sie ihm einen frischen Schlafanzug, Blumen oder eine Muschel vom Strand mit.

Nachdenklich blickte sie nun auf seine geschlossenen Augen und das wettergegerbte Gesicht unter der Atemmaske. Sie konnte mit Gewissheit sagen, dass ihr Vater immer hart gearbeitet hatte, aber ansonsten wusste sie nicht viel über ihn. Die wenigen kostbaren Sommer, die sie als Kind bei ihm auf Cap Ferret verbracht hatte, reichten nicht aus, um sich ein vollständiges Bild von dem Menschen zu machen, der er war.

Es hatte nie einen gemeinsamen Alltag gegeben, und in den ersten zehn Jahren ihres Lebens auch nur sehr spärlichen Kontakt. Lucies Mutter hatte Besuche bei ihm bis dahin unterbunden, zuerst aus Prinzip, später unter dem Vorwand, dass die enge, unaufgeräumte Junggesellenwohnung des Ex-Geliebten an einer Hauptverkehrsstraße nicht der richtige Ort für ihre Tochter war, um die Ferien zu verbringen.

Dass ihre Eltern zusammengefunden hatten, war im Rückblick überraschender als deren Trennung. Beide besaßen eine grundlegend andere Vorstellung vom Leben und vom Geld. Ellen James, die reiche Erbin einer Privatbrauerei, war stets darauf bedacht, ihr Vermögen beisammenzuhalten und zu vermehren. Jacques Bernard hingegen, der mittellose Austernzüchter, gab grundsätzlich mehr aus, als er besaß.

Erst nachdem ihr Vater eine besser gelegene Austernparzelle pachten und das Haus direkt am Strand beziehen konnte, durfte Lucie ihn regelmäßiger besuchen. Kurz nach ihrem elften Geburtstag war das, und sie wusste noch, dass sie sich diese Erlaubnis mit sehr viel Hartnäckigkeit erkämpft hatte, bis ihre Mutter jeden Widerstand aufgab und sie nach Frankreich reisen ließ. Und dort hatte Lucie die beste Zeit ihres Lebens.

„Komm, wir heben die Welt aus den Angeln, ma petite“ lautete jedes Jahr zu Ferienbeginn das Credo ihres Vaters. Ein neues Fahrrad, Inline-Skates, Computerspiele – alles machte er möglich, auch wenn er es sich gar nicht leisten konnte. Er kaufte Lucie Kuscheltiere und Zuckerstangen, Taucherbrillen und Sommerkleider. Und wenn Jahrmarkt war, durfte sie auf Ponys reiten, Karussell fahren und kandierte Früchte essen, bis sie grün im Gesicht wurde.

Heute wusste sie, dass es nicht mehr als ein Gastspiel gewesen war, das sie in seinem Leben gegeben hatte. Trotzdem blickte sie mit Wehmut auf diese heißen Sommertage zurück, an denen sie stets eine ganz andere Tochter hatte sein können als zu Hause. Bei ihrem Vater musste niemand stillsitzen, den Teller leer essen oder sich die Fingernägel schneiden lassen. Die Welt des Austernzüchters Jacques Bernard wurde von nichts anderem bestimmt als durch die Gezeiten. Er fragte nicht nach Schulnoten, und es war ihm völlig egal, dass Lucie jedes Buch verkehrt herum hielt und keinen Satz geradeaus schreiben konnte. Ihre Legasthenie, wegen der ihre Mutter ihr zu Hause ständig Druck machte, war für ihn kein Thema.

„Ihr solltet sehen, wie geschickt sie ihre Austern aufbekommt“, prahlte er stattdessen bei jeder Gelegenheit vor seinen Nachbarn. „Sie ist ein echtes Naturtalent, sage ich euch!“

Lucie, die es nicht gewohnt war, dass man überhaupt ein Talent an ihr entdeckte, hatte auf Cap Ferret immer sie selbst sein dürfen. Die windschiefe Fischerhütte ihres Vaters wurde für sie zu einem Ort des Durchatmens, den sie über alles liebte und sich bewahren wollte, koste es, was es wolle.

Doch konnte sie noch an dieser Linie festhalten, jetzt, wo ihr das Wasser bis zum Hals stand? Lucie dachte angestrengt nach. Alles, was von ihrem Erbe übrig war, bestand aus einem Treuhandfonds, den ihre Großeltern für sie angelegt hatten. Und an den kam sie vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag nicht heran.

„Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa?“, murmelte sie und strich ihm behutsam über die Stirn. „Kein Mensch bleibt ewig gesund. Hast du wirklich geglaubt, du kommst ohne Krankenversicherung aus?“

Eine Weile saß sie da und lauschte dem rhythmischen Geräusch des Beatmungsgerätes. Der einzige Mensch, der ihr schnell und unbürokratisch Geld leihen konnte, war ausgerechnet ihre Mutter. Doch die war wütend auf sie, weil Lucie einen Großteil ihres Erbes bereits dafür verwendet hatte, ihrem Vater zu helfen. Sie musste sich auf schwere Verhandlungen mit offenem Ausgang einstellen.

„Ich werde es trotzdem versuchen“, sagte sie zu sich selbst. Das hier war schließlich ein Notfall.

Unterdessen stand Pierre auf der Landungsbrücke Jetée Thiers, die majestätisch in das blaue Meer vor Arcachon hineinragte. Der breite Holzsteg, eingesäumt von weißen Geländern und verschnörkelten Laternen, diente nicht nur als Bootsanleger für die Fähre nach Cap Ferret, sondern war ein beliebter Treffpunkt für Flaneure, Liebespaare und Touristen.

Er ließ den Blick hinter seiner Sonnenbrille über die Spaziergänger schweifen, die bunt gekleidet und in Feierabendstimmung an ihm vorüberzogen. Die Unbeschwertheit der Menschen um ihn herum berührte ihn, und einen Moment lang wünschte er sich, Teil davon zu sein und diesen milden Aprilabend genießen zu können.

Dann aber fiel ihm der Zwischenfall mit Alfons vom Vortag wieder ein, und er verspannte sich. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren aufgebrachte Einheimische, die ihn wegen einer Jugendsünde anpöbelten, die er längst verbüßt hatte.

„Ach, hier bist du!“, rief da eine fröhliche Stimme neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Verabredung, Chantal Clary. Sie war eine gute Freundin aus Kindheitstagen und die einzige Verbindung zu jener unbeschwerten Zeit, als er sich in seiner Heimat noch nicht fühlte wie ein Ausgestoßener. Mit einem Lächeln stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf beide Wangen. „Entschuldige, dass ich so spät dran bin. In der Kanzlei war schrecklich viel zu tun.“

„Kein Problem“, sagte Pierre und erwiderte ihr Lächeln. „Ich hoffe, du hast es wenigstens mit ein paar spannenden Fällen zu tun?“

Chantal, die als Anwältin arbeitete, winkte ab. „Nur Nachbarschaftsstreitigkeiten. Komm, lass uns essen gehen. Ich habe einen Bärenhunger!“

Wenig später saßen sie sich auf der Außenterrasse eines Fischrestaurants mit Meerblick gegenüber. Sie trafen sich regelmäßig, wenn Pierre aus geschäftlichen Gründen in der Gegend war, und normalerweise fand er ihre Gespräche über ehemalige Lehrer, Schulfreunde und alte Zeiten entspannend und unterhaltsam. Dieses Mal jedoch war er nicht bei der Sache.

„Sechsunddreißig Stunden lag Monique in den Wehen“, plauderte Chantal zwischen zwei Bissen Meeresfrüchtesalat. „Und am Ende musste dann doch ein Kaiserschnitt gemacht werden, weil der Kleine sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Martyrium ist?“

„Nein“, antwortete Pierre wahrheitsgemäß und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. Wehen und Kaiserschnitte waren nichts, worüber er im Entferntesten nachdenken wollte.

„Sie hat ihn Marcel genannt, nach ihrem Vater“, plapperte Chantal weiter. „Er ist so süß. Schau mal, wie viele Haare er hat. Pierre?“

„Wie bitte?“

„Du sollst dir das Baby ansehen!“

Jetzt erst bemerkte er, dass Chantal ihm das Display ihres Smartphones hinhielt. „Oh“, sagte er teilnahmslos. „Toll.“

„Toll?! Mehr fällt dir dazu nicht ein?“

„Ähm … Ganz schön wenig Haare, die Kleine. Wie heißt sie noch gleich?“

„Marcel.“ Entnervt knallte Chantal das Smartphone auf den Tisch. „Du hast mir überhaupt nicht zugehört!“

„Entschuldige. Mir geht gerade viel im Kopf herum.“

„So? Was denn?“

Er zögerte kurz, sagte es dann aber doch. „Ich war gestern auf Cap Ferret. Hast du gewusst, dass Jacques Bernard im Koma liegt?“

Seufzend legte sie ihre Gabel beiseite. „Natürlich habe ich das! Auf der ganzen Insel spricht man davon!“

„Und warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Weil es dir nicht guttut, in der Vergangenheit herumzurühren. Und ich mir wünsche, dass es dir gelingt, damit abzuschließen.“

„Wie soll ich das machen, wenn ich ständig deswegen angefeindet werde?“

Chantal verzog die Stirn. „Hat dich schon wieder jemand auf den Diebstahl angesprochen?“

„Alfons Traulet ist mir über den Weg gelaufen und sagte, dass ich mich zum Teufel scheren soll“, berichtete Pierre und stocherte lustlos in seinem Salat herum.

„Alfons? Euer ehemaliger Nachbar?“

„Genau der.“

Chantal legte ihre Hand auf seine. „Du hast das Gefühl, dass es niemals aufhört, nicht wahr?“

„Ich habe einen Fehler gemacht und dafür bezahlt“, sagte er und entzog ihr seine Hand. „Aber ich bin nicht bereit, mich für den Rest meines Lebens auf diese eine Dummheit reduzieren zu lassen!“

„Du musst die Leute verstehen – als du damals erwischt wurdest, war es eine schwierige Zeit für die Austernzüchter hier in der Bucht“, gab Chantal zu bedenken.

„Glaubst du, das hätte ich vergessen?“, brauste Pierre auf. „Mein Vater und ich mussten dabei zusehen, wie uns die Muscheln unter den Händen wegstarben, weil sämtliche Bestände von einem Herpesvirus befallen waren! Unsere nackte Existenz stand auf dem Spiel, und wir wussten nicht mehr, wovon wir unsere Rechnungen bezahlen, geschweige denn, wie wir den nächsten Monat überstehen sollten!“

„So erging es vielen. Ich glaube, deshalb war die Stimmung nach deiner Festnahme auch so aufgeheizt.“

Es hatte Tumulte aufgebrachter Austernzüchter vor dem Gerichtsgebäude gegeben. Nachbarn und Kollegen seines Vaters behaupteten im Zeugenstand steif und fest, Pierre an bestimmten Orten gesehen zu haben, obwohl er dort nicht gewesen war. Und je länger der Prozess dauerte und je mehr absurde Anschuldigungen gegen ihn erhoben wurden, desto mehr schwand das Zutrauen, das sein eigener Vater in ihn setzte.

„Ich schäme mich für dich, mein Junge“, hatte Gaston am Ende des letzten Verhandlungstages zu ihm gesagt. „War das Leben, das ich dir bieten konnte, nicht gut genug, dass du anfangen musstest, zu stehlen?“

Pierres Finger krampften sich um sein Weinglas. Die Wut, die ihm damals entgegengeschlagen war, konnte er nachvollziehen. Austernzucht war ein derart mühsames Geschäft, dass Diebstahl gegen die Berufsehre eines jeden verstieß, der damit seinen Lebensunterhalt verdiente. Die Aggression jedoch, mit der ihn die örtlichen Medien verfolgt hatten, erschütterte ihn noch immer genauso wie die Unerbittlichkeit des Jugendrichters, der seinerzeit das strengst mögliche Urteil gegen ihn verhängt hatte, um etwaige Nachahmer abzuschrecken.

„Ohne Jacques wäre es nie so weit gekommen“, sagte er voller Bitterkeit. „Wenn er uns wie vereinbart unser Geld zurückgezahlt hätte, wäre ich niemals straffällig geworden!“

Chantal sah ihn skeptisch an. „Hättest du das wirklich nicht anders klären können als mit einem Diebstahl?“

„Ich habe doch versucht, mit ihm zu reden!“, rechtfertigte sich Pierre und spürte, wie der alte Zorn wieder in ihm hochkochte. Er hatte Jacques damals aufgesucht, um die Summe zurückzufordern, die sein Vater in einem Anflug von leichtfertiger Gutherzigkeit verliehen hatte.

„Das geht jetzt nicht“, hatte Jacques Bernard abgewehrt. „Ich muss mir ein größeres Boot kaufen!“

„Aber nicht von unserem Geld!“, hatte Pierre hitzköpfig erwidert. „Uns steht das Wasser bis zum Hals, wir brauchen es sofort zurück!“

„Du verstehst das nicht, Junge! Zum ersten Mal zahlt es sich für mich aus, dass meine Farm am Leuchtturm so weit ab vom Schuss liegt. Meine Muscheln sind komplett vom Virus verschont geblieben! Wenn ich in den nächsten Wochen die Ernte einfahre, bin ich saniert und zahle euch dann nach und nach alles zurück.“

„So viel Zeit haben wir aber nicht! Wir müssen den Kredit für unser Haus bedienen und …“

Da war Bernard mit finsterer Miene auf ihn zugetreten. „Ich habe deinem Vater per Handschlag versprochen, das Geld zurückzuzahlen, wenn es wieder gut bei mir läuft. Und das tue ich auch – aber nicht einen Tag früher! Denn so eine Chance wie jetzt bekomme ich nie wieder, und eure Bank wird ja wohl noch zwei Wochen warten können …“

Pierre wusste noch, wie die lodernde Wut in ihm plötzlich überhandgenommen hatte. Mit beiden Fäusten war er auf Jacques losgegangen, der seinen Angriff jedoch überraschend gut parierte. „Leg dich nicht mit mir an, Kleiner“, hatte er ihn angezischt und ihm die Arme schmerzhaft hinter dem Rücken verdreht. „Ihr bekommt euer Geld – aber erst, wenn ich so weit bin!“

Demütigend war das gewesen, erinnerte sich Pierre. Er hatte sich damals, mit achtzehn, schon als Mann gefühlt und es gehasst, von Jacques als „Junge“ oder „Kleiner“ herabgewürdigt zu werden. Vollgepumpt mit Jähzorn und Adrenalin hatte er den Rückzug angetreten und Rache geschworen. Noch in derselben Nacht war er zu Bernards Farm am Leuchtturm hinausgefahren und hatte sich an den Zuchttischen bedient. Dabei entsprach der Wert der Austern, die er damals im Mondschein auf sein Boot geladen hatte, genau der Summe, die Jacques ihnen ohnehin schuldete. Aber das rechtfertigte sein Verhalten im Nachhinein in keiner Weise.

„Das alles ist so lange her.“ Chantal sah ihn eindringlich an. „Was passiert ist, kannst du nicht mehr ändern. Doch so schlimm es auch geendet ist, du hast dabei trotz allem etwas gewonnen, vergiss das nicht!“

Pierre starrte sie an. „Mein Vater war nach der ganzen Sache finanziell vollends ruiniert, sein Haus landete unter dem Hammer, und er wurde durch meine Schuld zum Sozialfall. Was bitte habe ich dabei gewonnen?“

„Einen erzwungenen Neustart.“ Sie warf ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Ohne die Zeit im Gefängnis wärst du nicht der Mensch, der du heute bist. Und dein Feinkost-Imperium würde nicht existieren.“

Er schnaubte verächtlich. „Und was habe ich davon?“

„Du könntest ein sorgloses Leben führen.“ Chantal beugte sich zu ihm vor. „Und endlich anfangen, an dein persönliches Glück zu denken.“

„Das verdiene ich nicht“, wehrte er ab. „Nicht nach dem, was ich meinem Vater angetan habe …“

„Es war ein Herzinfarkt, Pierre“, widersprach sie mit Nachdruck. „Es war tragisch, dass du ihn nicht begleiten konntest, als er starb, doch du trägst nicht die geringste Schuld an seinem Tod. Also hör auf, dich deswegen zu quälen!“

Das sagte sich so leicht, doch er konnte nicht aufhören. Immer wieder kehrten seine Gedanken an den einen Punkt in seinem Leben zurück, an dem er falsch abgebogen war. Und er ging der Reihe nach durch, was er anders machen würde, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte.

„Lass dir von mir helfen“, sprach Chantal weiter. „Du musst das alles nicht allein durchstehen.“

„Danke, ich brauche keine Hilfe. Ich habe mein Leben im Griff.“

„Was denn für ein Leben? Du spulst ein Pflichtprogramm ab wie ein Roboter und schaffst es nicht, die schönen Dinge zu genießen, wenn sie unmittelbar vor deiner Nase liegen!“

Das stimmte nicht. Gestern erst hatte er es unglaublich genossen, wieder an einem Traktor herumzuschrauben. Welchen Anteil Lucie James daran hatte, konnte er nicht sagen. In jedem Fall aber hatte sie mit ihrer unbedarften, unberechenbaren Art dafür gesorgt, dass er sich so lebendig gefühlt hatte wie lange nicht mehr. Aber davon durfte er sich nicht ablenken lassen. Den Diebstahl konnte er nicht ungeschehen machen, seinen Vater nicht mehr um Verzeihung bitten. Doch er wollte sein Elternhaus zurück, das war alles, was jetzt noch zählte. Und wenn es einen Gott im Himmel gab, dann ließ er Jacques Bernard bei vollem Verstand wieder aus dem verdammten Koma erwachen, damit er mitbekam, wie Pierre seinen erbärmlichen Hintern auf die Straße setzte.

„Ich sehe doch, wie unglücklich du bist“, fuhr Chantal fort. „Warum versuchen wir nicht gemeinsam, die Dämonen aus deinen Gedanken zu vertreiben?“

„Weil da keine sind“, log er.

„Du willst also weiter den einsamen Wolf spielen, der niemanden an sich heranlässt.“ Bekümmert schüttelte sie den Kopf. „Das muss auf Dauer doch furchtbar einsam sein. Träumst du nie von einer Partnerschaft oder einer eigenen Familie?“

„Beziehungen sind Gefängnisse, Chantal. Und davon hatte ich für den Rest meines Lebens mehr als genug.“

„Hast du so viel Angst davor, dass man dich verletzt?“

„Angst ist keine Kategorie, in der ich denke“, stellte er klar. „Abgesehen davon glaube ich nicht an Bindungen, die für die Ewigkeit angelegt sein sollen.“

„Warum nicht?“

Pierre zögerte kurz. „Meine Mutter starb wenige Tage vor meinem sechsten Geburtstag an Krebs, mein Vater kurz nach meiner Inhaftierung an Herzversagen. Mit achtzehn stand ich als Vollwaise da. Das Modell Familie ist mir einfach zu anfällig für Schicksalsschläge.“

„Was dir passiert ist, war tragisch. Aber so muss es doch nicht immer enden.“

„Ich bevorzuge es trotzdem, allein zu sein, okay?“

„Ist dir noch nie jemand begegnet, der dich so fasziniert hat, dass du nicht mehr aufhören konntest, an ihn zu denken?“, fragte sie unbeirrt. „Jemand, mit dem du alles teilen wolltest – deine Zahnpasta genauso wie deine wildesten Träume für die Zukunft?“

Die Verneinung lag Pierre schon auf der Zunge, als ihm Lucie James einfiel. Er sah ihre grünen Augen vor sich, das rote, wild nach allen Seiten abstehende Haar und ihren schön geschwungenen Mund. Kein Zweifel, sie beschäftigte ihn. Aber nicht in romantischer Hinsicht, beschwichtigte er sich. Alles, was ihn an dieser Frau zu interessieren hatte, war das Haus und ihr Halunke von Vater. „Nein, da ist niemand“, rang er sich zu einer Antwort durch.

Es schien genau das zu sein, was Chantal hören wollte, denn ihre Miene hellte sich schlagartig auf. „Sehr gut, dann gibt es ja noch Hoffnung.“

„Wie meinst du das?“

Sie lächelte geheimnisvoll. „Du kommst schon noch dahinter, versprochen.“

3. KAPITEL

Am selben Abend saß Lucie im Lotussitz auf der Terrasse und suchte nach ihrer inneren Mitte. Die Dämmerung zog auf und tauchte die Bucht in ein bläulich schimmerndes Licht. Zum Klang der Wellen, die im immer gleichen Rhythmus unten am Strand gegen das Ufer schlugen, absolvierte Lucie ein kurzes Yoga-Programm. Damit versuchte sie, sich für ein Gespräch mit ihrer Mutter zu wappnen, das sie am liebsten schon hinter sich gebracht hätte. Die Kommunikation zwischen beiden war schwierig und endete meist mit einem Streit – vor allem dann, wenn Ellen James etwas am Lebenswandel ihrer Tochter auszusetzen fand. Und das war eigentlich immer der Fall.

„Oohm“, summte Lucie und atmete tief in den Bauch hinein, wie ihre Yoga-Ausbilderin es ihr gezeigt hatte. Die Kunst bestand darin, sich nicht provozieren zu lassen. Egal, was ihre Mutter zu ihr sagte, sie würde es hinnehmen, ertragen und einfach weiteratmen.

Ihr Ziel war es schließlich, an das Geld aus dem Treuhandfonds heranzukommen, um die Krankenhausrechnung ihres Vaters bezahlen zu können. Dass sie dazu die Zustimmung ihrer Mutter brauchte, war allerdings ein Problem. Ellen James besaß die Vollmacht über diesen Teil des Vermögens, das Lucie von ihren Großeltern geerbt hatte. Und sie würde es garantiert nicht gutheißen, auch nur einen Cent dafür zu verwenden, einen weiteren Fehltritt ihres Ex-Geliebten auszubügeln.

„Ooohm“, wiederholte Lucie, dieses Mal etwas lauter. Es war ihr Geld, ihre Entscheidung. Sie hing zu sehr an ihrem Vater, um ihn jetzt im Stich zu lassen. Auf seine Art war Jacques immer für sie da gewesen und hatte bedingungslos zu ihr gehalten, während ihre Mutter ständig an ihr herumnörgelte. Seine Warmherzigkeit war stets ein wohltuendes Kontrastprogramm zu der unterkühlten Atmosphäre gewesen, die Ellen James um sich herum verbreitete. Spontane Umarmungen, ein Kuss vor dem Schlafengehen – all das hatte Lucie als Kind nur mit ihrem Vater erlebt, und sie liebte ihn sehr.

Darum hatte sie auch nicht den leisesten Zweifel daran, dass es richtig war, was sie vorhatte. Sie musste es nur fertigbringen, auch ihre Mutter davon zu überzeugen.

Ein letzter Schluck Ingwertee, dann schob sie sich ihre kabellosen Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren und rief ihre Mutter an. „Hi, Mum. Wie geht es dir?“

„Fass dich kurz, Lucille, du störst mich bei der Arbeit.“

Ellen James war Geschäftsführerin der Privatbrauerei, die sich seit Generationen in Familienbesitz befand. Da sie diesen Posten nur aus Pflichtgefühl angenommen hatte und sich lieber mit Gartenbau beschäftigte, war sie die meiste Zeit über schlecht gelaunt.

„Hast du Papierkram zu erledigen?“, hakte Lucie mitfühlend nach.

„Weiß Gott! Und es ist absolut ermüdend, den ganzen Abend Bilanzen lesen zu müssen.“ Ihr Ton war vorwurfsvoll. „Aber wem sage ich das? Du scheiterst ja schon an der ersten Seite eines Micky Maus-Heftes …“

Oooohm, dachte Lucie und atmete.

„Was ist der Grund für deinen Anruf?“

„Es geht um Papa.“ Lucie nahm all ihren Mut zusammen. „Ich war heute bei ihm im Krankenhaus.“ Stockend erzählte sie von Dr. Leroc und der Tatsache, dass ihr Vater keine Krankenversicherung besaß. „Ich muss der Klinik einen fünfstelligen Betrag überweisen“, schloss sie ihren Bericht. „Und da dachte ich ehrlich gesagt an das Geld aus meinem Treuhandfonds.“

„Ich dachte mir, dass du das dachtest“, entgegnete Ellen eisig. „Doch das vergisst du am besten ganz schnell wieder.“

„Aber …“

„Keinen weiteren Penny deines Erbes wirst du für deinen Vater ausgeben“, fiel ihre Mutter ihr ins Wort. „Du hast ihm schon das Haus gerettet, obwohl ich dagegen war! Wenn Jacques meint, keine Krankenversicherung zu benötigen, muss er auch die Konsequenzen dafür tragen.“

„Er liegt im Koma, Mum. Und er besitzt nichts außer Schulden. Da muss ich ihm doch helfen …“

„Verkauf das Haus, wenn du dein Geld zum Fenster hinauswerfen willst“, sagte Ellen gleichgültig. „Aber an den Treuhandfonds lasse ich dich nicht heran. Irgendjemand muss dich schließlich vor deinem eigenen Irrsinn schützen.“

„Ich kann das Haus nicht verkaufen, ich brauche es!“

„Wozu? Für deine lächerlichen Yoga-Übungen?“

Sofort fühlte Lucie sich ertappt und knotete ihre Füße auseinander. „Du weißt genau, dass ich Papas Austernbar übernehmen will“, entgegnete sie, rollte sich auf den Rücken und zog ihre Knie zur Brust. „Es ist alles vorbereitet, und ich habe meine letzten Ersparnisse in die Renovierung gesteckt …“

„Umso besser, dann erzielst du beim Verkauf einen deutlich höheren Preis.“

„Verstehst du nicht, Mum? Ich will mir hier eine Existenz aufbauen!“

„Mit Austern? Na, dafür gebe ich dir erst recht kein Geld!“

„Mum!“

„Ich habe wirklich gehofft, dass du mittlerweile zur Vernunft gekommen bist, Lucille“, kam die genervte Antwort. „Sieh dir doch nur die prekäre Lage deines Vaters an. Denkst du, er stünde jetzt ohne Versicherungsschutz da, wenn es so einfach wäre, sich mit dem Verkauf von Austern eine Existenz aufzubauen?“ Ellen James machte eine bedeutungsvolle Pause. „Jacques besitzt noch nicht mal das Schwarze unterm Fingernagel. In all den Jahren hat er es nicht geschafft, sich etwas zur Seite zu legen. Und im Gegensatz zu dir verstand er sein Handwerk, und er konnte lesen und schreiben!“

Lucie zuckte zusammen, wie immer, wenn ihre Legasthenie zur Sprache kam. „Ich muss nicht lesen und schreiben können, um Austern zu züchten“, stieß sie hervor und drehte sich auf den Bauch. Die Knie angewinkelt, hob sie ihren Oberkörper hoch, umfasste mit beiden Händen ihre Fußgelenke und dehnte sich in den Bogen. „Ich weiß genau, was ich hier zu tun habe und bringe alles mit, um erfolgreich zu sein.“

„Das hast du von deiner Ausbildung zur Yoga-Lehrerin auch gesagt“, rief Ellen ihr schonungslos in Erinnerung. „Und wir wissen, welches Ende das genommen hat!“

Sofort wich alle Spannung aus Lucies Körper, und ihre Füße fielen auf die Yoga-Matte zurück. „Ich wusste doch nicht, dass die schriftliche Prüfung genauso viel zählt wie die praktische!“

„Willkommen in der Realität, Lucille. Das ist immer so.“

„Aber für den reinen Yoga-Teil habe ich Bestnoten bekommen!“, erwiderte sie und richtete sich auf. „Meine Ausbilderin hat sogar gesagt, dass kein anderer die Fünf Tibeter so sauber hingekriegt hätte wie ich!“

„Deine fünf sauberen Tibeter haben mich ein Vermögen gekostet, und du hast noch immer keinen Abschluss! In gar nichts! Glaubst du ernsthaft, ich gebe jetzt noch mehr Geld dafür aus, dass du das nächste Projekt in den Sand setzt?“

„Herrgott, Mum, ich kann nicht mehr tun, als mich zu bemühen! Was zum Teufel erwartest du von mir?“

„Dass du aufhörst, dich so bequem mit deiner Legasthenie einzurichten“, sagte Ellen prompt. „Reiß dich zusammen und stell dich deinen Schwächen – am besten dort, wo man dir helfen kann!“

Lucie schloss die Augen. Ihre Mutter spielte auf die Förderschule in Northampton an, die ein Lernprogramm für Menschen mit Lese- und Rechtschreibstörung anbot. In der Theorie eine feine Sache, in der Praxis jedoch wäre sie als siebenundzwanzigjährige Schülerin genauso alt wie manch eine der Lehrerinnen. Schon das war ein Grund für sie, nicht hinzugehen.

„Wenn es dir so wichtig ist, dass ich lesen und schreiben lerne, warum hast du dich dann nicht schon früher darum gekümmert?“, fragte sie trotzig, wohl wissend, dass sie sich damit auf ein Minenfeld zubewegte.

„Wie konnte ich denn ahnen, was mit dir los ist!“, brauste ihre Mutter auf. „Herrgott, ich war alleinerziehend und musste nach Großvaters Tod die Verantwortung für die Brauerei übernehmen. Da hatte ich nicht die Zeit, mich über die Hieroglyphen zu wundern, die du in deine Hefte geschmiert hast!“

„Du hättest mich zumindest fragen können, ob ich Hilfe brauche!“

„Wie bitte? Du hast die besten Privatschulen dieses Landes besucht! Ich bin selbstverständlich davon ausgegangen, dass du dort Hilfe findest …“

Von wegen, grollte Lucie innerlich. Keiner der teuer bezahlten Lehrer hatte ihre Legasthenie als solche erkannt. Viel zu lange war unentdeckt geblieben, was bei entsprechender Förderung abgemildert hätte werden können.

„Wir müssten dieses Gespräch hier nicht führen, wenn all diese Privatschulen ihr Geld wert gewesen wären“, sagte sie brüsk. „Das Einzige, was ich dort gelernt habe, ist schummeln und mich wegducken.“

„Und damit gibst du dich zufrieden?“

„Ich habe keine Lust, noch mal zur Schule zu gehen, Mum.“

„Warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil ich mittlerweile auch so zurechtkomme.“ Wozu gab es das Internet? Mit der Sprach-App auf ihrem Smartphone zum Beispiel konnte Lucie jede Suchmaschine bedienen und sich alles vorlesen lassen, was sie wissen musste. Als Meisterin des Sich-Durchwurschtelns hatte sie sich längst damit abgefunden, weder richtig lesen noch schreiben zu können. Legasthenie war eine Behinderung, kein Zeichen von Dummheit. Und wenn andere sich mit einem Blindenstock oder einem Rollstuhl arrangieren konnten, schaffte sie das auch mit einer Welt ohne Buchstaben. „Ich habe dich nicht angerufen, um diese Grundsatzdiskussion über mein Leben neu aufzurollen“, sagte sie grimmig. „Sondern weil mir das Geld fehlt, um Papas Krankenhausrechnung zu bezahlen!“

Am anderen Ende der Leitung stieß Ellen James einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Ich wiederhole mich ungern, Lucille, aber für solche Fälle schließt man eine Krankenversicherung ab. Und dein Vater hätte das eigentlich wissen müssen.“

„Es ist doch müßig, darauf herumzureiten!“, brach es aus Lucie heraus. „Wir sind die einzige Familie, die er hat. Wer außer uns sollte denn sonst sicherstellen, dass er die Versorgung bekommt, die er jetzt braucht?“

„Versuch’s doch mal mit dem französischen Sozialstaat.“

Lucie schluckte. „Du kannst ihn nicht zum Sozialfall machen, Mum! Ich würde einen Kredit aufnehmen, aber du weißt, dass mir keine Bank der Welt Geld gibt.“

„Vollkommen zu Recht“, sagte Ellen scharf. „Eine Legasthenikerin ohne Ausbildung, die sich in der Austernzucht versuchen will? Dafür würde ich auch keinen Penny lockermachen!“

Sekundenlang stockte Lucie der Atem. Es tat so weh, wenn ihre Mutter sie immer wieder auf ihre Schwächen reduzierte. Doch davon würde sie sich dieses Mal nicht aus der Bahn werfen lassen – dieses Mal nicht. „Er ist mein Vater!“, sagte sie mühsam beherrscht. „Er muss dir doch irgendwann einmal etwas bedeutet haben …?“

„Das tut er bis heute“, versetzte ihre Mutter trocken. „Er war der größte Fehler meines Lebens, dieser Platz ist ihm gewiss.“

Lucie schloss die Augen. Dieses Gespräch führte zu nichts. „Hilf mir“, bat sie trotzdem, weil sie keine andere Wahl hatte. Dabei hasste sie es, ihre Mutter um irgendetwas bitten zu müssen. „Gib den Treuhandfonds frei. Oder, wenn du das nicht willst, leih mir die Summe, die ich brauche. Ich zahle dir alles zurück. Versprochen!“

„Ach, und wovon?“

„Na, von den Einnahmen, die meine Austernbar in diesem Sommer abwirft!“

Da lachte Ellen James auf. „Einnahmen? Dein Optimismus ist köstlich, Kind!“

„Traust du mir etwa nicht zu, dass ich ein paar Muscheln verkaufen kann?“

„Ich traue dir noch nicht mal zu, den Lichtschalter an der Wand zu finden“, herrschte Ellen sie an. „Deshalb werde ich dir auch so lange kein Geld geben, bis du diese Austern-Farce beendest und nach Hause zurückkommst, um die Förderschule zu besuchen!“

„Vergiss es, Mum!“

„Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ Ellen James machte einen hörbar tiefen Atemzug. „Aber glaub mir, die Sache mit der Muschelzucht verliert ihren Reiz, wenn man von nichts eine Ahnung hat. Das alles wird dir in kürzester Zeit um die Ohren fliegen.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Komm schon, Lucille – bisher ist doch wirklich alles schiefgegangen, was du in die Hand genommen hast. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu tun.“

Klack, und damit hatte sie aufgelegt.

Lucie hörte das Tuten in der Leitung und nahm sich benommen die Kopfhörer aus den Ohren. Kein Mensch auf der Welt schaffte es, sie so gezielt zu verletzten wie ihre eigene Mutter. Immer diese Vorwürfe, immer diese Seitenhiebe gegen ihre Intelligenz. In Momenten wie diesen fiel es ihr schwer, überhaupt noch an sich zu glauben, doch sie wollte nicht zulassen, dass ihre Selbstzweifel wieder Oberhand gewannen. War es nicht das, was ihre Mutter erreichen wollte? Dass sie klein beigab und reumütig nach Hause zurückkehrte?

Das wäre eine Sackgasse, erkannte Lucie schmerzlich klar. In England stand sie wieder unter Ellens Fuchtel, einer Frau, die mit sich und ihrem Leben so unzufrieden war, dass man es ihr nie recht machen konnte. Auch deshalb war Lucie nach Frankreich gekommen. Denn nur hier, an dem Ort, an den sie sich als Kind immer dann zurückgewünscht hatte, wenn Mutters Schimpftiraden überhandnahmen, schien es ihr möglich sein, über sich selbst hinauszuwachsen. Nur hier konnte sie die Dinge erreichen, die ihr niemand zutraute. Niemand außer ihrem Vater, der immer an sie geglaubt hatte.

Sie drehte sich zu dem Haus um, an dem ihr Herz hing. In den vergangenen Tagen hatte sie erstmals darüber nachgedacht, für immer hier zu bleiben. So schön hatte sie es sich vorgestellt, hier zu leben und zu arbeiten, das Meer vor der Tür und den Wind in ihrem Haar. Und jetzt sollte alles daran scheitern, weil ihr Vater keine Krankenversicherung besaß?

Nein. Es musste einen anderen Weg geben. Sie würde ihrer Mutter beweisen, dass nicht alles zwangsläufig schiefging, was sie anpackte.

Nachdenklich starrte sie auf das Meer hinaus. Der Halbmond warf silberne Funken auf die Wasseroberfläche, die sich im Abendwind zu Wellen kräuselte, und in der Ferne blinkten die Lichter von Arcachon in das Dunkel der aufziehenden Nacht.

Mit einem Mal musste sie an das Gespräch mit Pierre Laban denken, das sie am Morgen geführt hatte. An sein Angebot, das Haus zu kaufen, koste es, was es wolle. Wer außer ihm, dem Besitzer eines Feinkostimperiums, konnte solche Unsummen an Geld bewegen, ohne dass es ihm wehtat? Lucie jedenfalls kannte niemanden.

Entschlossen rollte sie ihre Yoga-Matte zusammen und trug sie mitsamt dem Teebecher ins Haus zurück. Vielleicht ließ Laban sich auf das ein, was ihre Mutter so kategorisch abgelehnt hatte. Vielleicht gewährte er ihr einen vorübergehenden Kredit. Lucie hielt kurz inne. Doch warum sollte er ihr Geld leihen? Immerhin hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er das Haus mitsamt dem Grundstück am liebsten selbst besitzen würde. Und konnte man jemanden, den man erst ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hatte und noch dazu umwerfend attraktiv fand, überhaupt um so viel Geld bitten?

Ihr würde gar nichts anderes übrigbleiben, dachte sie, während ihr Blick über den Stapel Briefe auf dem Wohnzimmertisch glitt. Wie viele unbezahlte Rechnungen darunter waren, wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Und noch weniger wollte sie sich ausmalen, wie es sein würde, wenn sie gar nichts unternahm. Höchstwahrscheinlich stand dann bald der Gerichtsvollzieher vor der Tür.

Es war paradox, aber um das Haus zu retten, musste sie es als Pfand aufs Spiel setzen. Wenn sie Laban als Gegenleistung für den Kredit ein Vorkaufsrecht einräumte, könnte sie die Krankenhausrechnung ihres Vaters begleichen und außerdem Zeit gewinnen. Mehr als ein Jahr würde sie sicher nicht brauchen, um alles zurückzuzahlen.

Bei diesem Gedanken fasste Lucie neuen Mut. Wo, hatte Laban noch gesagt, dass er untergebracht war? Im Plaza Hotel in Arcachon. Sie nahm sich vor, ihn gleich morgen früh dort aufsuchen. Mehr als Nein sagen und sich noch mehr über sie wundern, als er es ohnehin schon tat, konnte er nicht.

Sie würde ihrer Mutter und dem Rest der Welt schon zeigen, was in ihr steckte. Und Laban sein Geld so bald wie möglich zurückgeben – vorausgesetzt, sie betrieb die Austernbar in der bevorstehenden Saison mit Erfolg.

Und wenn nicht?

Lucies Herzschlag geriet kurz aus dem Takt. Darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken.

4. KAPITEL

Pierre erwachte vom Schrillen des Telefons auf dem Nachttisch. Stöhnend zog er den Kopf unter dem Kissen hervor. Gefühlt hatte er nur zwei Stunden geschlafen. Seit der Rückkehr nach Arcachon waren seine Nächte noch unruhiger als sonst. Immer wieder quälten ihn Albträume, die mit seinem Vater zu tun hatten.

„Was hast du nur getan, Pierre?“

Im Traum hatte er Gaston vor sich gesehen, das Gesicht starr vor Enttäuschung. So verstörend echt hatte das gewirkt, dass Pierre schweißgebadet hochgeschreckt und erst in den frühen Morgenstunden wieder eingenickt war.

Das Telefon hörte nicht auf zu klingen. Halbblind vor Müdigkeit tastete er nach dem Hörer und zerrte ihn zu sich herüber. „Was ist?“