Römisches Gift - Gisbert Greshake - E-Book

Römisches Gift E-Book

Gisbert Greshake

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Beschreibung

Ausgangspunkt dieses Kirchenkrimis sind Giftanschläge in Rom, die während der feierlichen Papst-Gottesdienste auf dem Petersplatz beim Kommunionausteilen verübt wurden. Darüber hinaus wurde einer der engsten Mitarbeiter des ermittelnden Questore vergiftet, und in einigen römischen Hostienbäckereien das gleiche Gift entdeckt. Wer steckt dahinter? Was bezweckt man mit all dem? Bald stellt sich der Verdacht ein, dass damit kuriale Kreise den Reformen des gegenwärtigen Papstes, die eine arme und machtlose Kirche zum Ziel haben bis hin zur Aufgabe der Eigenstaatlichkeit des Vatikans, entgegentreten wollen. Wie lässt sich das verhindern?

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Inhaltsverzeichnis

Ein „perfektes Verbrechen“ kündigt sich an

In Erwartung des Angekündigten

Ein bewegter Sonntag

Was Fronleichnam geschah

Nicht viel Neues

Arme reiche Kirche

Allmählich reicht’s

Ein Brief gibt zu denken

Fahndungsergebnisse

Entlarvende Gespräche, oder: Vom „gift“ zum „Gift“

„O Roma felix“, oder: Die Bombe platzt

Ende gut, alles gut!

Hinweise

Ein „perfektes Verbrechen“ kündigt sich an

Abend des Christi-Himmelfahrtsfestes. Vicequestore Dr. Teofrasto Bustamante (von seinen Freunden meist „Bu-Bu“ genannt, wenn sie ihn nicht witzelnd mit „Vice“ anredeten) war den ganzen Tag auf einer Bergwanderung gewesen: Mit dem Auto ging es zunächst nach Carpineto Romano, einem malerischen Städtchen etwa 80 km von Rom entfernt. Es ist der Geburtsort von Papst Leo XIII, der durch seine Sozial-Enzyklika „Rerum novarum“ in die Geschichte der Kirche eingegangen ist. Daran erinnert noch eine der Hauptstraßen des Ortes, welche „Via Rerum novarum“ heißt und in die „Strada panoramica“ della Semprevisa einmündet. Am Ende dieser Panorama-Straße ließ der Questore den Wagen stehen und stieg von dort aus zu Fuß auf einen der schönsten Aussichtsberge Latiums, auf den Monte Semprevisa, 1536 m hoch. Dann ging es auf einem anderen Weg wieder zurück zum Auto.

In diesen Tagen, Ende Mai, leuchtete das frische Grün, wie es nur leuchten kann, dazwischen eine Fülle von bunten Frühlings- und Frühsommerblumen. Und all das bei Vogelgesang und angenehmen Temperaturen. Dazu ein herrlicher Blick nach Osten auf die Abruzzen, nach Westen auf Küste und Meer bis hin zum Capo San Felice Circeo, dessen Name (Circeo ~ Circe) noch an die Irrfahrten des Odysseus erinnert. Gleich unterhalb des Berges sieht man auf die unter Mussolini am Reißbrett entworfenen Ortschaften der früheren Pontinischen Sümpfe, eine im Grunde langweilige Gegend, wenn man in ihr weilt oder sie durchfährt, aber jetzt, von oben her gesehen, eine Landschaft voller Grün und Hoffnung.

Zu Hause zurückgekehrt konnte der Questore nur eines feststellen: Es war ein gelungener, ja fantastisch schöner Ausflug! Jetzt lehnte er sich entspannt, glücklich und wohlig müde in seinen Sessel zurück, um auf RAI Uno die Fernsehnachrichten des Tages zu konsumieren. An Feiertagen wie diesem, wo alles im Grünen unterwegs war oder sich an den Stränden kuschelte, würde wohl nichts sonderlich Aufregendes passiert sein. Aber von wegen! Gleich die Spitzennachricht ließ ihn aufhorchen:

„Eine amerikanische Touristengruppe musste nach Besuch der heutigen feierlichen Papstmesse auf dem Petersplatz mit Darmvergiftung in umliegende Krankenhäuser eingeliefert werden. Es besteht der Verdacht, dass die Hostien, welche die Teilnehmer bei der Kommunion empfangen haben, vergiftet waren.“

Im Folgenden hieß es dann weiter, man sei zunächst davon ausgegangen, dass die Gruppe sich in ihrem Hotel an einer verdorbenen Speise infizierte. Doch dann stellte sich heraus, dass auch andere Leute, die nicht im gleichen Hotel wohnten, aber während der päpstlichen Messfeier in der Nähe der amerikanischen Touristen standen und beim gleichen Priester die Kommunion empfingen, dieselben Symptome: hohes Fieber, Erbrechen, Bauchschmerzen usw. aufwiesen. Die polizeilichen Untersuchungen würden der rätselhaften Sache weiter nachgehen. Soweit die Meldung.

„O je!“, dachte der Questore, „das könnte dann auch neue Arbeit für mich bedeuten.“ Schließlich war er Behördenleiter der Kontaktstelle zwischen vatikanischer und italienischer Justiz und als solcher mit allen gemeinsamen rechtlichen Fragen und kriminellen Angelegenheiten befasst. Als einer der hochrangigsten Polizeioffiziere Roms unterstand er direkt dem italienischen Innenministerium, in einigen Fragen aber auch dem Ministerium der Justiz. „Vicequestore“ war dabei sein amtlicher Titel, der ihn vom „Questore“, dem Polizeipräsidenten von Rom, mit dem er relativ selten zu tun hatte, unterschied. Im hochoffiziellen Umgang wurde er als Onorevole Signor Questore angeredet.

Sollte hinter der Vergiftung der Hostien ein Verbrechen stehen – was ja noch keineswegs sicher war –, musste er sich wohl in Zusammenarbeit mit den vatikanischen Behörden der Sache annehmen. Denn zwar gehört der Petersplatz in Rom zum vatikanischen Staatsgebiet, doch ist in Artikel 22 der sogenannten Lateranverträge von 1929 geregelt: „Auf Ersuchen des Heiligen Stuhles und durch Bevollmächtigung von seiner Seite, die von Fall zu Fall oder für dauernd erteilt werden kann, wird Italien auf seinem Gebiet für die Bestrafung der in der Vatikanstadt begangenen Straftaten sorgen.“ Da diese Bevollmächtigung meist automatisch erfolgte, zumal wenn es um Touristen in Rom ging, war sie auch jetzt vorauszusetzen. Vermutlich würde sich Monsignore Salvatore Morreni schon bald bei ihm melden.

Msgr. Morreni war in etwa das vatikanische Gegenstück zum Vicequestore: Wie dieser in Rechtsangelegenheiten und bei Straftaten die Kontaktstelle von italienischem Staat zum Vatikan hin bildete, war jener umgekehrt der Verbindungsmann des Vatikans zur italienischen Polizei und Justiz. Daneben hatte er noch die Arbeit verschiedener anderer vatikanischer Behörden zu koordinieren. Obwohl er kein Bischof war, sondern nur „Monsignorino“ – „Kleiner Monsignore“ –, war er ein mächtiger, einflussreicher Mann, mit dem sich Bustamante, der sich selbst als „bekennenden Agnostiker“ bezeichnete, sehr gut verstand, um nicht zu sagen: mit dem er eng befreundet war.

Oder sollte sich der Monsignore vielleicht schon telefonisch bei ihm gemeldet haben? Bustamante suchte nach seinem „Cellulare“ (oder auch „Telefonino“, beides italienische Namen fürs Handy), das er fast nie bei seinen Ausflügen mitnahm und das überhaupt bei ihm meist ausgeschaltet war. Denn im Grunde hasste er Handys. Er erinnerte sich noch an eine Vorlesung während seines früheren Theologiestudiums. Damals führte der Professor aus, dass sich die Sucht des Menschen, Gott gleich sein zu wollen, auf vielerlei Weise ausdrücke. Eine davon sei der exzessive Gebrauch des Handys. „Überall und sofort erreichbar sein, überall und sofort zugegen sein – das ist im Grunde ein göttliches Prädikat!,“ hatte er gesagt. „Wir dagegen sind Menschen, endliche Geschöpfe, an Zeit und Raum gebunden. Man muss nicht überall und sofort erreichbar und zugegen sein!“ Bustamante hatte das eingeleuchtet. Er benutzte das Handy nur, wenn sein Beruf es unbedingt erforderlich machte. So musste er auch jetzt lange herumkramen, bis er es unter einem Haufen ungelesener Zeitungen und Zeitschriften schließlich fand und einschalten konnte. Und tatsächlich fand sich darauf eine SMS von Msgr. Morreni, der ihn um Rückruf bat.

Der Questore erledigte dies sofort. Man kam überein, heute und morgen in dieser brandneuen Angelegenheit einer möglicherweise vergifteten Kommunion noch nichts zu unternehmen, sondern erst das Ergebnis weiterer Untersuchungen abzuwarten. Vielleicht stellte sich ja alles doch als ganz harmlos heraus. „Und im übrigen,“ so Bustamante, „trifft sich am Samstagabend der ‚Club novità‘, zu dem Du ja als Mitglied gehörst und ich meist als Gast eingeladen werde. Am kommenden Samstag werde ich wohl dabei sein, und dann können wir uns ja dort über alles weitere verständigen.“

Tatsächlich wollte Bustamante sich nicht zu eng an diesen akademischen Klub binden, der ursprünglich den Namen „Novità professioni accademiche“ (deutsch etwa: „Neues aus Akademikerberufen“) trug, dann aber nur noch kurz als „Club novità“ bezeichnet wurde. Zu diesem Klub gehörten 20 bis 30 Akademiker aus unterschiedlichen Berufen und Fachrichtungen, die sich im Schnitt monatlich abwechselnd in ihren Privatwohnungen trafen. Dort informierte dann jeweils ein Klubmitglied über die neuesten Entwicklungen in seinem Beruf, und nach einem kleinen Imbiss diskutierte man weiter über das Gehörte. Obwohl der Questore kein formelles Mitglied war und sein wollte, wurde er doch regelmäßig von dieser Vereinigung wie auch von anderen wissenschaftlichen Zirkeln, kulturbeflissenen „Salons“ und politischen Konventikeln, wie es sie in Rom in Unmengen gibt, eingeladen. Denn man schätzte ihn nicht nur wegen seiner außergewöhnlich hohen Bildung – immerhin hatte er ein komplettes Philosophie-, Theologie- und Jurastudium mit Auszeichnung absolviert –, sondern auch wegen seiner immensen Fähigkeiten: er war nicht nur hochgescheit, sondern ebenso ein feinsinniger Psychologe und tiefschürfender Analytiker, der sowohl komplizierteste Rechtsprobleme wie auch schwierigste Kriminalfälle zu lösen verstand. Aber diese Vorzüge wie auch seine exponierte, einflussreiche Stellung verbargen sich hinter seinen äußeren, irgendwie arglos-treuherzig wirkenden Umgangs- und Erscheinungsformen. Man glaubte, in ihm einen gutmütigen, naiven und sehr harmlosen „Onkel“ vor sich zu haben, den pyknischen Typ eines freundlich mitfühlenden guten Nachbarn oder auch Stammtischkumpanen. Wehe, wer auf diesen ersten Eindruck „hereinfiel“!

Die kurze Besprechung mit Msgr. Morreni am Rande des Klub-Treffens am Samstagabend brachte nicht viel Neues. Die polizeilichen Ermittlungen – ziemlich oberflächlich auch deshalb, weil die Infizierten sich nach 2 Tagen schon wieder erholt hatten und aus der Klinik entlassen wurden –, hatten die ursprüngliche Vermutung bestätigt: Ursprung und Grund der Darminfektion der Touristen konnte tatsächlich aller Wahrscheinlichkeit nach nur der Empfang der Kommunion bei ein und demselben Priester sein. Diesen hatte man auch ausfindig gemacht. Es war Don Hippolyte Nguma, ein Priester aus Liberia, der an der „Urbaniana“, der Hochschule für die aus den Missionsländern kommenden Seminaristen und Priester, seine Promotion vorbereitete. Als Priester hätte er eigentlich in dem der Hochschule angegliederten Collegio S. Pietro wohnen müssen. Da dies aber überfüllt war, wurde er provisorisch in das Collegio Urbano, das an sich nur für Seminaristen bestimmt war, aufgenommen. Bei ihm und in seinem Umfeld konnte man aber nichts Auffälliges oder Besonders feststellen. Auch nicht bei dessen „Assistenten“, einem Ministranten, der beim Austeilen der Kommunion mit einer knallgelben sog. „umbrella eucharistica“, einer Art „Schirm“, neben dem jeweiligen Priester stand. Wahrscheinlich hatte Don Hippolyte vor dem Austeilen der Hostien seine Hände irgendwo infiziert und dann nicht ordentlich gewaschen. Ein Verbrechen schloss die Polizei jedenfalls aus. Somit war der Questore aus dem Schneider. Er konnte aufatmen. Aber etwas anderes belastete ihn.

Als man am Ende der Klub-Veranstaltung fragte, wer denn wohl zum nächsten Klub-Treffen einladen könne (was wegen der bevorstehenden Sommerferien schon in 2 Wochen sein müsse) und sich niemand meldete, war er mehr oder minder „spontan“ eingesprungen. Jetzt fragte er sich: Warum eigentlich? Als Nichtmitglied war er dazu überhaupt nicht verpflichtet. Aber irgendwie fühlte er sich in diesem Augenblick gedrängt, nicht immer nur vom Klub zu profitieren, sondern auch mal selbst als Referent und Gastgeber aufzutreten. Aber war das hinreichend durchdacht gewesen? Schließlich hatte er nur eine kleine und nicht sehr repräsentative Wohnung, war unverheiratet, Selbstversorger, ohne Haushälterin. Und da sollte er jetzt eine stattliche Zahl von ausgesuchten „Herrschaften“ empfangen und bewirten?

Gewiss, einige Klubmitglieder ließen sich, wenn sie Einladende waren, den Imbiss von einem Catering-Unternehmen anliefern. Aber Bustamante, der zu den ausgesprochen sensiblen Feinschmeckern gehörte und als solcher auch weithin bekannt war, hielt dieses „Essen von der Stange“ meist für eine Zumutung. Deshalb war ihm klar: Jetzt musste er selbst heran und einen Imbiss hervorzaubern, der ganz einfach und schnell zu bereiten, aber raffiniert im Geschmack war. Dabei könnte ihm ja vielleicht der Monsignorino helfen, denn anders war es gar nicht möglich, sowohl das Referat zu halten als dann auch sofort anschließend den Imbiss anzubieten.

All das beschäftigte den Questore in den folgenden Tagen ungemein. Gottseidank, gab es dienstlich kaum etwas Wichtiges zu tun. So konnte er auch in Ruhe sein Referat über das von ihm ausgesuchte Thema „Strafverfolgung im Vatikanstaat und das italienische Recht“ vorbereiten. Sodann legte er seinen Menü-Plan fest. Als Vorspeise: Wildpastete (die würde er fertig in einem exzellenten Spezialitätengeschäft kaufen) mit einer von ihm selbst kreierten und bereiteten pikanten „Sauce aux airelles rouges“. Vorgesehener Wein: ein Montepulciano aus Apulien. Als Hauptgang: Sülze aus feinem Kalbsfleisch mit einer von ihm selbst erfundenen äußerst raffinierten Soße, deren Hauptbestandteile Blutwurst (Blunzen) und Johannisbeergelee waren. Dies hielt er aber geheim, da es einigen Zeitgenossen schon vom Gedanken an Blutwurst gruselte und anderen die Kombination mit einem süßen Gelee geradezu grotesk vorkam. Als Beilage zur Sülze hatte er vier geschmacklich äußerst verschiedene Kartoffelgerichte vorgesehen: (1) Kartoffelpuffer (am Tag vorher in Öl zubereitet, am Folgetag aber – und das ist ganz wichtig! – in Butter aufgewärmt), (2) Kartoffelscheiben (roh in einer Eisenpfanne ohne Beschichtung in Schweineschmalz gebraten), (3) Bratkartoffel in Speckwürfeln und Zwiebeln zubereitet, (4) pikanter angewärmter Kartoffelsalat (bei dem die Kartoffeln, vermischt mit etwa einem Fünftel Süßkartoffeln, in einer Rinderbrühe gekocht werden und deren Dressing man sehr kleine ausgelassene Speckwürfel hinzufügt). Vorgesehener Wein: ein junger Orvieto Classico Superiore. Als Nachtisch dann: in Butter gebackene Bananen mit Honig, Mascarpone, gemahlenen Haselnüssen und einem nicht zu kleinen Schuss sehr guten Kognaks. Vorgesehener Wein: Brunello di Montalcino. Die Bananen würde er selbst am Abend frisch zubereiten, während er fast alle anderen Gerichte schon am Vortag fertigstellen konnte (mit Ausnahme der Bratkartoffeln und Kartoffelscheiben; da musste Salvatore ran).

Der Abend verlief zunächst superb. Knapp 20 Personen waren gekommen, so dass Bu-Bu sich von seinem Nachbarn einige Stühle und dann auch noch Teller und Besteck ausleihen musste. Sein Referat wurde von den Teilnehmern als extrem spannend, der Imbiss als raffiniert und äußerst wohlschmeckend und die Weine als Spitzenklasse wahrgenommen. So war alle Welt zufrieden und nichts, rein gar nichts deutete darauf hin, dass der Abend ein völlig anderes Ende nehmen würde, bis – ja, bis die Diskussion nach dem Imbiss begann.

Gleich als erster meldete sich ein junger Mann, den niemand kannte. Erst später stellte sich heraus, dass es der Großneffe eines langjährigen Klubmitglieds war, des auch jetzt anwesenden pensionierten Staatsanwalts Dr. Tullio Veglianti, den dieser als Gast mitgebracht hatte. Der hochgewachsene Jüngling stellte sich als Giovanni di Querco vor. Er sei Jurist, der gerade sein 2. Staatsexamen beendet habe, und bat um Nachsicht, „weil meine Frage auf den ersten Blick, wohlgemerkt: auf den ersten Blick nichts mit dem fantastischen Referat des Questore zu tun hat.“ Aber die Beziehung dazu würde sich dann schon noch herausstellen. „Meine Frage ist also folgende: Questore, glauben Sie, dass es das perfekte Verbrechen gibt?“

Bustamante war in der Tat überrascht wie vermutlich auch die meisten anderen. Was sollte die Frage? Er antwortete: „Ich glaube, dass dieser Begriff in sich widersprüchlich ist, auch wenn er immer wieder als Buchtitel oder als Thema von Film- und Fernsehproduktionen gewählt wird. Aber sehen Sie, es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Am Schluss wird das Verbrechen dann doch noch aufgeklärt, dann war es nicht perfekt. Zweitens: Es wird möglicherweise in einer ferneren Zukunft – etwa aufgrund verbesserter Analyseverfahren – gelöst, dann war es nur vorläufig perfekt. Oder drittens: Das Verbrechen war gar nicht als solches bekannt, sondern man ging von einem Unfall oder von unerklärlichen Zufällen aus, dann kann man erst recht nicht von einem perfekten Verbrechen sprechen, da es als Verbrechen ja gar nicht identifizierbar war und ist. In allen drei Fällen ist dieser Begriff also in sich widersprüchlich.“

Der junge Mann entgegnete: „Prinzipiell einverstanden! Nur: es gibt noch eine vierte Möglichkeit: Die nämlich, dass sich ein Täter zu einem bis dahin nicht bekannten oder vielleicht sogar erst künftigen Verbrechen bekennt, ohne dass man ihm trotz aller erdenklicher Bemühungen irgendetwas nachweisen kann. Ein solches Verbrechen wäre dann doch wohl perfekt. Oder? So wie ich es jetzt tue.“ Und bei den folgenden Worten wurde seine Stimme immer lauter und schriller: „Die Infektion aufgrund vergifteter Hostien auf dem Petersplatz am Himmelfahrtstag war ein von mir begangenes Verbrechen, das man mir aber nie wird zuschreiben können. Genau so wenig wie die gleiche Untat, die sich in gut einer Woche am Fronleichnamstag wiederum während einer Papstmesse auf dem Petersplatz ereignen wird, allerdings mit weit schlimmeren Folgen. Daran sehen Sie: Es gibt wirklich das perfekte Verbrechen, da es weder die vatikanische noch die italienische Polizei je wird aufklären können. Das wird auch die in Ihrem Referat beschworene Zusammenarbeit von vatikanischer und italienischer Justiz nicht verhindern!“

Der Tumult, der sich nach diesen Worten erhob, war riesengroß. So etwas hatte Bustamante in diesem Kreis noch nie erlebt. Alles schrie durcheinander. Am lautesten der Großonkel Veglianti: „Ja, bist Du denn total verrückt. Das ist doch wohl ein Witz!“ Andere riefen: „Unglaublich!“ – „Unerhört!“ – „Unreifes Gequatsche!“ Und vieles andere mehr. Der Questore bemühte sich darum, Ruhe in das Ganze zu bringen und zu beschwichtigen: „Hören wir doch zunächst einmal zu, weshalb unser junger Gast so sehr an einem perfekten Verbrechen interessiert ist und ein solches sogar selbst begehen will!“ Der emeritierte Procuratore della Repubblica (Staatsanwalt) wartete gar nicht erst ab, sondern sprang auf und proklamierte mit lauter und sonorer Stimme: „Giovanni, ich will wissen: Ist das jetzt Dein Ernst gewesen oder nur eine Inszenierung, die unsere Reaktion testen wollte?“ Der Großneffe antwortete prompt: „Das war und ist voller Ernst!“

Und er fuhr, an den Questore gewandt, fort: „Mich beschäftigt die Idee eines perfekten Verbrechens schon recht lange. Dahinter steckt folgendes Problem: Wenn es in unserer total vernetzten Gesellschaft möglich ist, unentdeckt und, ohne daran gehindert zu werden, sogar angekündigte Verbrechen folgenlos zu begehen, dann Gnade uns Gott! Dann ist im Grunde nichts mehr sicher. Dann gibt es prinzipiell keinen Schutz mehr vor dem Einfall des radikal Bösen, weil dieses ja aufgrund eben dieser totalen Vernetzung restlos alles erfassen kann. Nun werden Sie sagen: Dass Verbrechen nicht aufgeklärt werden, ist ja überhaupt nichts Neues; das hat es immer gegeben. Gewiss! Aber die heutige Situation ist insofern neu, als es seit Jahren neue Techniken und Mittel gibt – man denke nur an die ganze IT-Technik mit ihren immer schnelleren Computern, an den großen Bereich der immer raffinierter werdenden KI, an Drohnen und ihre wachsenden Fähigkeiten usw. –, gegen die die Verbrechensbekämpfung vielleicht noch gerade im Einzelfall, aber generell gewiss nicht mehr ankommt. Das heißt dann aber auch, dass die durch Verbrechen gestörte Ordnung nicht mehr ins rechte Lot gebracht werden kann. Das haben – wie mir scheint – die Regierungen und staatlichen Strafverfolgungsbehörden noch nicht begriffen und tun so weiter wie bisher, anstatt durch personelle Verstärkung der Untersuchungsbehörden und ihrer Mittel, durch Verschärfung von Strafen und Strafvollzug entgegenzusteuern. Das also ist einer der Gründe für mein Interesse an dem, was man ‚perfektes Verbrechen‘ nennt. Und damit möchte ich mich dann auch von dieser erlauchten Gesellschaft verabschieden und Sie alle um Nachsicht bitten, falls ich Sie aus Ihrer Ruhe erschreckt habe. Aber genau das wollte ich auch!“ Erneutes allgemeines Gemurmel im Auditorium, während der junge Mann den Raum verließ.

Es meldete sich sogleich der Philosophieprofessor Geraldo Monte von der „Gregoriana“ zu Wort: „Eine juristische Frage: Wenn jemand sich eines Verbrechens bezichtigt oder sogar ein solches ankündigt, wie gerade geschehen, kann er dann bestraft werden oder wenigstens festgesetzt werden, auch wenn man ihm das Verbrechen nicht nachweisen kann?“

Der Questore: „Nun, man wird alles, aber auch alles daransetzen, den Nachweis des Verbrechens zu erbringen bzw. die angesagte Tat zu verhindern. Aber allein aufgrund einer Selbstbezichtigung wird kein Urteil gefällt werden können. Denn der Betroffene könnte ja jeder Zeit sein ‚Geständnis‘ zurückziehen. Nein, die Justiz muss Tat und Täter beweisen. Oder wie sehen Sie das, Procuratore?“ Der nickte nur ansatzweise, offenbar war er über die Eröffnungen seines Großneffen noch total eingeknickt und fassungslos.

Angela Sabbi, Professorin für Rechtsgeschichte und Byzantinisches Recht an der römischen Universität „La Sapienza“, wollte wissen, wie es denn jetzt konkret weitergehen könne, vor allem in Bezug auf die Papstmesse am Fronleichnamstag. Bustamante wies darauf hin, dass er morgen zusammen mit Monsignore Morreni darüber nachdenken und alle notwendigen Schritte unternehmen werde.