Rommels Gold - Olaf Müller - E-Book

Rommels Gold E-Book

Olaf Müller

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Beschreibung

Wo blieb Rommels Gold, das 1943 in Tunesien geraubt wurde? Als am Dürener Vorbahnhof das Opfer einer Hinrichtung gefunden wird, geraten der Aachener Kommissar Fett und seine Kollegin Conti in eine Spirale von Gewalt und Geschichte. Spuren führen nach Maastricht, Südostpolen und Kalabrien. Doch die Mauer des Schweigens scheint unüberwindbar. Bis der Mossad ins Spiel kommt oder die Mafia - oder beide? Fett und Conti verfolgen die tödliche Spur des Goldes.

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Olaf Müller

Rommels Gold

Kriminalroman

Zum Buch

Das letzte GeheimnisRommels Gold. Wo sind die Metallkisten mit dem 1943 geraubten Gold der jüdischen Gemeinden aus Tunesien geblieben? In der Nähe des Dürener Vorbahnhofs wird im Sommer 2020 ein ermordeter Mann ohne Papiere gefunden. Kommissar Fett und Kollegin Conti finden jedoch kein Motiv und kaum eine Spur. Sie stehen vor einem Rätsel. Abrechnung im Milieu? Mord an einem osteuropäischen Wanderarbeiter? Während in den Ardennen ein Lieferwagen abbrennt, wird in Maastricht ein seltsamer Vorfall beobachtet. In Lüttich nimmt ein alter Mann Kontakt mit dem König der Vorkarpaten auf, in Aachen explodiert ein Lancia, in Kalabrien warten alte Herren auf einen Container. Gibt es einen Zusammenhang mit Rommels Gold? Spuren führen in die Ukraine, die polnischen Vorkarpaten und nach Kalabrien. Hat die Mafia die Finger im Spiel? Oder der Mossad? Fett und Conti geraten in eine Spirale von Gewalt und Geschichte.

Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien sowie Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Als junger Segelflieger erlebte er die Eifel aus der Luft, als erfahrener Wanderer heute vom Boden. „Rommels Gold“ ist sein sechster Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © A.Savin; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dueren_railway_station_10-2017.jpg

ISBN 978-3-8392-7162-9

Widmung

Gewidmet den polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs

Vorbemerkung

Wusste Rommel davon? Johannes Erwin Eugen Rommel, genannt Wüstenfuchs. Wusste er davon? Wir wissen es nicht. Die Quellenlage ist unübersichtlich. Am 22. Juni 1942 wurde er zum jüngsten Generalfeldmarschall der Wehrmacht befördert. Am 6. März 1943 verließ er Afrika. Da waren die Metallkisten bereits verschweißt und auf dem Weg ins Reich. Wusste Rommel davon? Von der Erpressung der jüdischen Gemeinden in Tunesien? Wusste er von der SS in Afrika, von dem Auftrag, nach dem Sieg des Afrikakorps alle Juden umzubringen? Wir wissen es nicht. – Es könnte so ähnlich gewesen sein.

Jemand musste Oskar Krapohl verraten haben

Die Hopfenklause am Hansemannplatz in Aachen war ein dunkles Loch. Getönte Butzenscheiben blockierten den Blick ins Innere. Seit Jahren hing ein schwerer Vorhang in undefinierbarer Farbe als Windfang hinter der Eingangstür. Wer diesen beiseiteschob, geriet in die schummrige Welt harter Trinker. Eine der verlorenen Gestalten stand vor der Tür, fummelte aus einer zerknitterten Zigarettenpackung die letzte Kippe, zündete mit gelblichen Fingern ein Streichholz und dann die Zigarette an. Leicht schwankend verfolgte er mit trübem Blick Passanten, ohne dass ein Außenstehender hätte ahnen können, welche Gedanken gerade in dem Gehirn gedacht wurden. Korn und Pils wirkten seit Jahren auf dasselbe ein. Nun kam Nikotin hinzu. Manche Passanten waren zu schnell für die Auffassungsgabe seiner Augen. Fett sah, wie sein Blick verzweifelt versuchte, an einer jungen Frau kleben zu bleiben. Dann knickte der Kopf wie der einer Stockpuppe zur Seite, fing sich, ein Zug aus der Kippe und die Person lehnte sich an die Tür, als ob sie sich anschmiegen wollte.

»Das ist Eisenbahnsiggi«, sagte Fett.

Kommissar Fett, Anfang 60, saß an diesem heißen Freitagmorgen, 10. Juli 2020, seit 10 Uhr im Zivilwagen und beobachtete mit Kollegin Daniela Conti die Kneipe. Oskar Krapohl verkehre in der Hopfenklause, hatte Riegel-Rudi am Donnerstagabend verraten, kurz nachdem Krapohl zur Fahndung ausgeschrieben worden war. Krapohl wurde wegen Mordes gesucht. Gegen 10.45 Uhr war er eingetroffen und sofort in der Kneipe verschwunden. Das SEK aus Köln war unterwegs. Bald würde der Verkehr verstummen und eine unbekannte Stille am Hansemannplatz einkehren. Ein Zug der Einsatzhundertschaft raste bereits die Trierer Straße herunter, fünf Mercedes Sprinter der Bundespolizei jagten mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn, über die Franzstraße und den Elisenbrunnen zur Peterstraße, Einmündung Gasborn.

»Hier wird es gleich ruhig«, sagte Fett und wischte den Schweiß von der Stirn. »Prüfen Sie Ihre Waffe, laden, entsichern. Für alle Fälle. Die kugelsichere Weste schließen.«

»Wer war beim BKA? Sie oder ich?« Daniela Conti, 40, durchtrainiert, schwarzer Pagenschnitt, schwarze Augen, sprach ruhig, ohne den Blick von der Gestalt abzuwenden, die Fett als Eisenbahnsiggi identifiziert hatte. Sie nahm die Walther P99 Kaliber 9mm vorsichtig aus dem Holster und lud die Waffe in Höhe ihrer Waden durch. Ein Passant hätte nichts bemerkt.

»Sie waren beim BKA. Ich weiß«, stöhnte Fett leicht genervt. »Da kommt Papesch, der Wingman von Krapohl.« Fett nickte in Richtung des sonnenbankgebräunten Gesichts. Papesch stieg kurz vor 11 Uhr aus einem zitronengelben Porsche 924. Gegelte Haare, goldene Sonnenbrille, überteuertes Sakko in knallrot.

»Wingman?« Conti fragte, ohne den Blick von Papesch abzuwenden.

»Krapohls Schatten. Wingman kommt aus der Fliegerei. Der Begleitpilot des Rottenführers, der ihn deckt. Horst Papesch, genannt Hotte, ist Krapohls Schatten. Beide kennen sich aus dem Aachener Knast. Sie haben mehr Zeit in der JVA als auf der Straße verbracht. Geben Sie ihn an die Zentrale durch. Der ist bestimmt bewaffnet.«

»Robert 13 an Zentrale.«

»Zentrale hört.«

»Zielperson bekommt Besuch. Horst Papesch betritt Hopfenklause. Informieren Sie SEK.«

»Zentrale verstanden. Ende.«

»Zusammen mit Eisenbahnsiggi haben Krapohl und Papesch in Aachen manches Ding gedreht. Überfälle auf Juweliergeschäfte, Bankraub und vermutlich Auftragsmord.«

»Wer ist Eisenbahnsiggi?«

»Siegfried Mirtek. Liebt Modelleisenbahnen. Hat beim Modelleisenbahngeschäft Hünerbein am Markt die Scheibe mit einem Diamantschneider zerkleinert, um ein bestimmtes Märklinmodell zu stehlen. Irgendwas mit Krokodil oder Dampflok. Darum Eisenbahnsiggi. Kaltblütiger Ganove. Schwerer Trinker. Der sieht nicht gerade wach aus.«

»Sie kennen sich aus in der Aachener Szene.«

»Warum nicht? Mordkommission Aachen über 30 Jahre.«

Beide Kommissare schwitzten unter den kugelsicheren Westen. Daniela Conti trug ihre dünne braune Lederjacke darüber, Fett eines seiner dunkelblauen Sakkos. Er dachte an die Kollegin mit dem schwarzen Pagenkopf auf dem Nebensitz. Sie würde schneller sein als er. Mit der Pistole und bei der Verfolgung. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte. Seit Dezember 2019 waren sie ein Team. Er mochte sie. Jetzt juckte seine Narbe unter dem Bauchnabel. Das lenkte ihn ab.

Mach mal Hoppegarten!

Als Fett seine Gedanken und Gefühle sortierte, stürzte in der Hopfenklause die dicke Johanna Brummer, genannt Hanni, Whisky-Cola in sich hinein. Lokalrunde von Krapohl. Für Hanni, Papesch, Eisenbahnsiggi, Franky und Toni, den Wirt. »Auf OK!«, dröhnte es aus den heiseren Kehlen; Oskar Krapohl, genannt OK.

In seiner Stammecke hockte Franky, der gescheiterte Schriftsteller und verhinderte Journalist, süppelte an seinem Kölsch und rauchte eine Sweet Afton. Nur er und Krapohl hatten Raucherlaubnis in der Hopfenklause, weil Franky so klug reden konnte und Krapohl sich einen Dreck um die Verordnungen scherte. Franky las den Kicker, überlegte, auf welchen drittklassigen Fußballverein er seine letzten 20 Euro setzen sollte. Die Stütze war verbraucht. Pumpen könnte er höchstens bei Platten-Paul oder dem langen Pit. Er hörte Krapohls Ruf im Unterbewusstsein, denn er kalkulierte die Gewinnquote für eine Partie in der Regionalliga.

»Hoppegarten!«, befahl Krapohl. Papesch und Eisenbahnsiggi verzogen säuerlich das Gesicht, sie wussten, was kam. Toni schlurfte zum Plattenautomaten, donnerte eine Zweieuromünze in den Schlitz, dann erklang Marianne Rosenberg: »Er gehört zu mir.«

»Zehn Gläser Wodka auf die Theke, Toni! Zehn für mich, zehn für Hanni! Und hol die Hocker raus für Paps und Siggi. Die reiten für Deutschland. Scheiß auf Corona. So nenn’ ich meinen Zossen.«

Toni kannte die Spielregeln. Papesch und Siggi mussten auf den Hockern um den Stammtisch reiten. Krapohl und Hanni kippten die zehn Gläser Wodka in die Kehle. Wer von den Reitern als Letzter ins Ziel kam, teilte sich die Wodkarechnung mit dem, der langsamer getrunken hatte. Die dicke Hanni lachte trinklüstern, sie wusste, dass sie für zehn Wodka nur fünf zahlen musste.

»Krapohl, du bist der King«, säuselte Hanni mit feuchtem Mund. »Sag ich mal so.« Sie stieß auf und Krapohl lehnte sich mit dem Rücken an die Theke. Toni brachte die Hocker.

»Pferde müssen saufen, Krapohl, gerade wenn wir morgens reiten. Lass uns nicht hängen. Wir brauchen Feuerwasser, verstehste?« Papesch, untersetzt und aus allen Poren schwitzend, lachte ihm mit seinem Doppelkinn, den gegelten Haaren und Zahnlücke entgegen. Den Schneidezahn hatte er in der Dusche der JVA Aachen verloren, als er seinem Zellenkumpan Josef »Juckel« Kappes klarmachte, dass Juckel nicht beim Knast-Theater mitmachen würde, das die Frau des Aachener Generalintendanten seit einigen Jahren zur Abwechslung der Insassen und der gelangweilten Schickeria im Aachener Sing Sing einstudierte und aufführte. Stets kamen die Happy Few des Aachener Kulturlebens und ergötzten sich an den schweren Jungs, der Regisseurin und den Schnittchen der Gefängnisküche.

»Juckel, du wirst nicht auf der Bühne stehen, sondern die Programmzettel verteilen.« Und weil Juckel, lebenslänglich wegen Muttermordes, unbedingt auf der Bühne stehen wollte, wagte Juckel ein zögerliches »Nein.« Danach hatte Juckel zwei Veilchen, mehrere gebrochene Finger, und da Papesch auf der Seife ausgerutscht und mit dem Oberkiefer auf die Armaturen der Dusche aufgeschlagen war, fehlte ihm fortan der mittlere Schneidezahn. Einige »Kollegen« nannten ihn seitdem Alfred, wie Alfred E. Neumann aus dem MAD-Satirecomic, dem ebenfalls der mittlere Schneidezahn fehlte.

Papesch stürzte ein Herrengedeck in sich hinein. Bitburger mit einem Schnaps. »Noch eins, Toni! Die Kiste kannste mir später nach Hause fahren. Heute machen wir einen drauf!« Nach dem zweiten Herrengedeck kletterte er auf den Reitschemel.

»Hoppegarten! Auf die Plätze, fertig, los!« Krapohl brüllte und hob zugleich den ersten Wodka in Lippenhöhe, trat der dicken Hanni gegen das Schienbein, die prompt ihr Glas verschüttete. Toni musste nachschenken. Sie kannte das Spiel und schluckte langsam. Der Sieger stand eh immer fest: Krapohl.

Papesch und der schwer betrunkene Eisenbahnsiggi rutschten mit den Hockern auf dem Linoleumboden um den Stammtisch, wobei Papesch sich aus der Innenkurve gegen Eisenbahnsiggi lehnte, der mit dem Kopf gegen den Plunger vom Gottlieb-Flipper »Star Trek: The Next Generation« donnerte, sich die rechte Augenbraue aufriss und hinter Papesch in Runde zwei ritt. Krapohl schüttete mit weit aufgerissenem Mund den Wodka in seine Kehle. Die dicke Hanni setzte das Glas an die Lippen und ließ den Stoff in den Hals rinnen. Sie konnte nicht so schnell trinken, und Eisenbahnsiggi kam nicht hinterher. Mit blutverschmiertem Gesicht hechelte er hinter Papesch her, der mit seinem dreckigsten Lachen den Hoppegarten-Sieg garnierte. Mittlerweile sang Michael Holm »Mendocino«. Die Wurlitzer funktionierte einwandfrei.

»Auf Papesch, den Sieger auf ›Corona‹ im Hoppegartenduell mit ›Lahme Printe‹ und dem Vollpfosten Eisenbahnsiggi. Lokalrunde, Toni! Hanni, lass gut sein. Du hast, wie immer, verloren, du dumme Kuh.« Krapohl tätschelte ihr die linke Wange. Papesch und Eisenbahnsiggi lagen mehr auf der Theke, als dass sie davorstanden. Toni stellte zwei Pils auf den Tresen, Krapohl lachte rachitisch und hob den Daumen, die Jockeys setzten an – und zack waren die Gläser leer. Hanni rutschte ständig vom Hocker, und Papesch schrie Toni an: »Nun gib der dicken Hanni endlich zwei Hocker, die Kuh liegt hier gleich auf der Rennbahn!«

Toni schleppte einen zweiten Barhocker zur lallenden Hanni, die sich widerstandslos auf zwei Hockern zur Wand schieben ließ, damit sie nicht nach hinten wegkippte.

»Toni, Buletten! Auch für Franky, los Franky, hau rein, bevor du den Jackpot knackst!« Krapohl zeigte auf den Teller unter der Käseglocke, auf dem Tonis selbst gebratene Bremsklötze lagen. Oskar Krapohl war böse, böse als Jugendlicher und böse als junger Mann. Er kannte kein anderes Leben als rein in den Knast und raus aus dem Knast. An Sicherungsverwahrung war er bei all seinen Prozessen vorbeigekommen. Eigentlich hatte er mit dem letzten Coup die Altersversorgung aufstocken wollen. Doch mit den Itakern war das so eine Sache. Krapohl biss in die Bulette, die unter dem Senf kaum zu identifizieren war. Papesch und Krapohl dämmerten auf der Theke. Papesch zeigte auf die Schnapspulle. Toni lieferte sofort. Franky raffte sich auf, griff zur Bulette, begutachtete sie fachmännisch und gab seinen Kommentar ab: »Alfred Biolek hätte mehr feingehackte Zwiebel hineingegeben, Vincent Klink ausschließlich Rinderhack genommen und Lea Linster hätte gar keine Buletten gebraten. Toni, mach endlich einen Bulettenkurs bei Lafer.« Er biss hinein, mümmelte und stellte fest: »Konsistenz okay, könnten noch eine Minute länger gebraten sein. Ein Hauch von italienischen Kräutern, statt Löwensenf wieder Aldi-Senf, versuch es mit Olivenöl anstelle von Rapsöl. Schmeckt man.« Er schnappte zwei weitere Buletten, schoss aus der Senfplastikflasche der 60er-Jahre einen Strahl hellbraunen Senf mittelscharf auf den Teller und verzog sich in seine Stammecke mit dem Kicker.

»Hör, der Restauranttester hat gesprochen. Oh, Franky, der Fachmann für alle Lebenslagen. Gib lieber einen totsicheren Tipp rüber, dann kriegste die Hälfte vom Gewinn.« Krapohl dröhnte durch die Kneipe.

»Hoppenstedt auf Platz im dritten Rennen von Köln Weidenpesch heute um 15 Uhr!« Frankys Antwort kam wie ein Pistolenschuss, wobei ihm etwas Senf von der Bulette auf die Lederjacke tropfte, die er eigentlich nie auszog. Manche Kumpels hatten ihn damit sogar im Bett angetroffen, wenn er denn gerade ein Bett zur Verfügung hatte und nicht auf irgendeiner Matratze, umgeben von Bücherstapeln und alten Zeitungen, schlief.

»Hoppenstedt auf Platz?«, knurrte Krapohl. Er kannte Franky seit Jahren und fand seinen Gefallen an diesem verkappten Genie. »Setz du. Den Zossen kenne ich nicht.« Er reichte einen Hunderter zu Franky hinüber, der sofort austrank, und mit einem »Ich bin im Wettbüro« die Kneipe verließ.

Mittlerweile lief Christian Anders’ »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«.

»So still da draußen«, murmelte Eisenbahnsiggi mit Bulettenkrümeln auf der Unterlippe. Er machte ein Bäuerchen und nickte Toni zu.

»Wie? Still? Still?« Krapohl schaute ihn scharf an und schien plötzlich fast nüchtern zu sein.

»Still. Keine Busse. Eben kamen Busse. Jetzt nicht. Keine Busse. Toni, tu mir einen Klaren.«

»Willst du uns verarschen, oder was? Wie, keine Busse?«

»Sag ich doch. Mann, Krapohl. Keine Busse eben. Scheiß drauf. Toni, den Klaren. Der spinnt, der Krapohl.«

Krapohl verzog seine Lippen, die Zähne mahlten. »Kaffee, Toni! Dalli! Ruckizucki. Verstehst du!« Er rutschte vom Barhocker und zog die Jeans hoch. Dann schob er Eisenbahnsiggi auf die Seite und öffnete die Gardinen von einem der Butzenscheibenfenster einen Spalt. Keine Busse. Stille auf dem Hansemannplatz. Oskar Krapohl griff zu seiner Hämmerli Schnellfeuerpistole mit extra großem Magazin. 20 Schüsse, 20 Dum-Dum-Kugeln, die aufplatzten und das kleine Kaliber wettmachten. Kann man in drei Sekunden rausjagen oder 20 Einzelschüsse. »Kaffee, Toni! Verdammte Scheiße, ich schieß dich gleich zu Klump. Kaffee oder es knallt.« Ein Getränkewagen fuhr vor den Eingang.

Was Anfang Juli geschah

Wieder bellte Charlie. Warum bellte Charlie so heftig und lange? Ottokar Spilles, pensionierter Diensthundeführer der Bundeswehr, gab Leine und folgte in Breitcordhose und Anglerweste Dackel Charlie an den Rand des Regenwasserrückhaltebeckens Arnoldsweilerweg, am Ende der Elsdorfer Straße in Düren. »Ruhig, Charlie!« Charlie, der fette Dackel, war nicht ruhig, zog zum Holzgitter vor der Metallplattform des Einlaufs, wollte rechts hinunter zur stinkenden Brühe. Unten dümpelte etwas im stehenden Wasser. Durch die Trockenheit des Sommers 2020 war das Wasser fast vollständig verdunstet. Ein Gewitterregen in der vorhergehenden Nacht hatte für Nachschub gesorgt. Ottokar Spilles sah den Körper und zog Charlie zurück. »Aus! Aus, Charlie!« Ein Güterzug pfiff. Der ICE nach Brüssel rauschte am Mittwoch, dem 1. Juli 2020, um 7 Uhr morgens, von Köln kommend, vorbei. All das hörte Ottokar Spilles nicht, er verdrängte die Geräusche der Bahn, das Bellen des Hundes. Er kramte nach seinem Handy, Charlie zerrte weiter an der Markenleine. Dann wählte Ottokar Spilles die 110.

Um 8 Uhr trafen der Aachener Kriminalkommissar Michael Fett und Kommissarin Daniela Conti über Arnoldsweiler kommend an der Fundstelle ein. Sie parkten auf dem kleinen Schotterplatz mit den Gittern über der Kanalisation. Die Wagen der Kriminaltechnik standen auf dem Feldweg vor dem abschüssigen Pfad zum Rückhaltebecken, das von Gebüsch, Bäumen, verdorrtem Dornenzeug und altem Ginster umgeben war. Kollegin Unsleber leitete das Team der KTU. Doktor Schunkert untersuchte die Leiche.

»Schöne Bescherung. Muffiger Ort, alles zugewachsen, kaum einsehbar«, murmelte Fett. Er und Conti streiften die weißen Overalls über, die Kriminaltechnik hatte an der Fundstelle ein weißes Zelt aufgebaut, der Tote lag auf dem Rücken vor dem Geländer. Ein Mann Anfang 30.

»Aufgesetzter Kopfschuss in die Stirn, beide Kniescheiben zerschossen. Vielleicht wollte er nicht reden?« Doktor Schunkert, Rechtsmediziner, zeigte auf die Einschussstellen, drehte den Kopf der männlichen Leiche zur Seite.

»Das macht doch die Organisierte Kriminalität«, sagte Conti mit Blick auf den Toten. »Eher eine Spezialität meiner besonderen Freunde aus Sizilien oder Kalabrien.«

Fett schaute sich um. Er kannte den Ort, denn er stammte aus Norddüren. Hier war früher ein Bolzplatz gewesen. Früher, das waren die 60er- und 70er-Jahre. Irgendwann wurde beschlossen, ein Regenwasserrückhaltebecken anzulegen, und der Bolzplatz verschwand so rasch, wie er entstanden war. Zwei Eurofighter vom Fliegerhorst Nörvenich schossen von Südosten kommend durch den Himmel. Fett schaute ihnen nach, wie sie in einer lang gezogenen Rechtskurve Richtung Geilenkirchen verschwanden.

»Wie lange lag er drin?« Fett fragte Doktor Schunkert, einen Mittfünfziger, groß gewachsen und immer mit schwarzem Humor bei der Arbeit.

»Seit zwei Tagen, können auch drei sein. Nicht länger. Sonst wären die Verwesungsspuren durch dieses Brackwasser stärker.«

»Sonntag oder Montag«, sagte Fett.

Daniela Conti kniete neben dem Toten. »Auffälligkeiten? Irgendwas zur Identifikation?«

»Männlich, ungefähr Mitte 30. Bauarbeiter war er nicht.«

»Ach. Auf männlich wäre ich nicht gekommen.«

»Danke, Frau Conti. Könnte ja ein Transsexueller sein. Also: zu feine Hände. Keine Spuren von Handarbeit. Eher Schreibtisch, Musiker, Maler, Sänger oder so.«

»Ein toter Sänger im Überlaufbecken Anfang Juli 2020 mitten in der Corona-Scheiße.« Conti hörte Fett, sah ihn herumlaufen und wunderte sich über nichts mehr. Er ging seine eigenen Wege. So oder so.

»Dann warten wir auf die Obduktionsergebnisse. Danke, Doc.«

»Piaccere, signora Conti.«

»Spuren auf dem Weg? Wie kommt die Leiche hierher?«, fragte Conti Kollegin Unsleber, die am Rande des Wasserbeckens das Gras untersuchte.

»Sie können hier ruckzuck mit dem Auto runterbrausen, die Leiche in das Becken werfen und wieder abzischen. Den Poller öffne ich Ihnen mit einer Zange. Spuren auf dem Weg sind spätestens letzte Nacht durch den Gewitterregen getilgt worden. Wenn Sie mich fragen, wurde die Leiche hierhergefahren, reingeworfen und ab über Arnoldsweiler zur Autobahn. Fundort ist bestimmt nicht Tatort. Den müssen Sie suchen, Frau Kollegin, das schaffen Sie.«

Conti lächelte, es tat gut, nicht nur den Brummbär Fett zu hören.

»Hier gibt es zwei Treppen, die hinunter in das Loch führen, dazu zwei befahrbare Wege«, Fett hatte sich umgeschaut. »Wir müssen die Anwohner in der Elsdorfer Straße und auf dem Arnoldsweilerweg befragen. Elsdorfer Straße ist unwahrscheinlich, da hätte die Leiche getragen werden müssen, denn es gibt von dort keine Zufahrt. Eher mit einem Auto oder Transporter über eine der beiden Zufahrten. Das können höchstens die Anwohner der vier Häuser da vorne mitbekommen haben.« Fett zeigte auf den Arnoldsweilerweg.

»Ich kümmere mich drum. Was machen Sie?«, fragte Conti.

»Schaue mir die Umgebung genauer an. Warum ausgerechnet hier, am Ende dieser Baustellensackgasse?«, überlegte Fett.

»Warum nicht? Täter kennt sich aus, muss die Leiche rasch verschwinden lassen, da bietet sich dieses Loch an.«

»Wenn der Täter sich auskennt, müsste er wissen, dass hier oft Gassigeher unterwegs sind. Überall Hundehaufen. Schauen Sie genau hin.«

Daniela Conti sah die Hundehaufen auf dem Weg, im Gebüsch, vor dem Geländer.

»Stimmt, Chef. Also der Täter kannte den Ort, aber nicht die Frequenz der Hundebesuche. Oder er hat dieses Loch zufällig entdeckt.«

»Auf der Fahrt in eine Sackgasse?«

»Das Navi zeigt es nicht an. Baustelle. Hier fahren genug Falschfahrer rein, müssen umdrehen und wieder über Arnoldsweiler zurück.«

»Oder er kam aus Richtung Bahnlinie Köln-Aachen.« Fett zeigte mit seinem Kopf nach Südosten, wo die Sonne höher und höher stieg. Ein heißer Tag kündigte sich an. Wärme sei gut gegen Corona, sagten die Virologen, die mehr und mehr die Richtlinien der Politik bestimmten.

»Fünf Gleise, Starkstrom. Jede Minute fährt ein Zug: S-Bahn, Regionalexpress, ICE, Thalys und Güterzug. Wer soll bitte von dort gekommen sein?« Conti sah keinen Sinn darin, dort nach Spuren zu suchen.

»Frau Conti, alle Richtungen. Nicht nur Norden, Süden, Westen. Auch Osten.« Ihr Widerspruchsgeist nervte Fett. »Kümmern Sie sich nach der Befragung um die Identifizierung. Alles zusammentragen. Vermisstenanzeigen und so weiter.«

Als ob sie darauf nicht selbst gekommen wäre, dachte Daniela Conti und verließ Fett, um die Anwohner am Arnoldsweilerweg zu befragen.

»Herr Fett, Frau Conti! Wir haben was für Sie!« Elke Unsleber stand neben der Leiche und zeigte auf das Etikett im Hoseninnenbund. »Schauen Sie hin. Kyrillische Schrift.«

»Kyrillische Schrift? Und der Rest der Kleidung?« Fett kniete neben der Leiche und schaute auf zu Elke Unsleber, deren Sommersprossen von der Sonne regelrecht erleuchtet wurden.

»Der Rest der Kleidung könnte auch aus dem Osten stammen. Ich vermute Russland oder Bulgarien.«

»Ohne Papiere. Das wird schwierig. Russische Mafia? Bestrafung?« Conti hockte sich neben Fett. »Zu feine Hände für einen Mafioso. Das Sakko ist nicht ausgebeult. Der lief nicht mit einer Makarov unter der Schulter durch die Gegend. Und Erntehelfer war der auch nicht.«

Michael Fett betrachtete das Gesicht des Toten. Er hatte nicht die Züge eines Kriminellen. Haben Kriminelle ein besonderes Aussehen, überlegte er? Oft genug versteckte sich hinter dem Biedermanngesicht ein Serienmörder. Dieser Tote mit seinen weichen Zügen, den feingliedrigen Fingern, der wollte überhaupt nicht zu einem Gewaltverbrecher passen. »Wir nehmen die Fingerabdrücke ab und suchen in den Datenbanken. Vielleicht haben wir Glück. Frau Hof soll die Bauernhöfe in der Umgebung anrufen. Erntehelfer ist gut. Könnte ein illegaler Helfer aus Osteuropa sein. Den wird natürlich kein Bauer als vermisst melden.« Kyrillische Schrift; alles kam ihm merkwürdig vor an diesem heißen Julitag im Sommer 2020, dem Corona-Sommer.

»Heißer als in Afrika, Herr Kommissar.« Ottokar Spilles stand mit Charlie auf dem Feldweg, von dem die Abzweigung zum Regenrückhaltebecken führte. Er rauchte eine Selbstgedrehte und blies den Qualm in den Himmel.

Fett blickte zur Sophienhöhe, wo der Absetzer des Tagebaus Hambach Tag und Nacht den Abraum aufschüttete.

»Ja, die Sophienhöhe wird immer größer. Schlecht fürs Mikroklima. Hier kommt selten Regen runter. Oft sehe ich, wie es ab Arnoldsweiler und bei Niederzier prasselt. Wir stehen hier im Trockenen. Also Charlie und ich.« Spilles betrachtete den gähnenden Dackel, als ob der etwas dazu beitragen könnte.

»Kommen Sie jeden Tag hier vorbei?«, fragte Fett beiläufig.

»Jeden Tag.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Personen, Autos, Spuren?«

»Nichts. Oder, Charlie?« Charlie lag im Gras. Die Sonne kachelte auf den Feldweg. Der Hund japste.

»Denken Sie nach, Herr Spilles.«

»Tue ich ja. Nichts. Das Stinkeloch hat bis zum Regen kaum Wasser gehabt. Völlig überdimensioniert, wenn Sie mich fragen.«

»Wenn Ihnen was einfällt, einfach anrufen.« Fett gab ihm seine Karte, blickte zur Bahnlinie, wo ein Birkenwäldchen Schatten spendete. »Danke, Herr Spilles, haben Sie gut gemacht.«

»Gerne. Selbstverständlich. Als ehemaliger Hundeführer in Nörvenich, da weiß man, was man zu tun hat.«

»Was haben Sie bewacht?«

»Die Amis.«

»Sie haben die Amerikaner bewacht?«

»Ja. Die bewachten die Sonderwaffen im Shelter. Wir bewachten die Amis.«

»Sonderwaffen?«

»Na klar. Atombomben für Starfighter. Die gehörten den Amis. Im Ernstfall wären unsere Jungs mit den amerikanischen Atombomben gestartet. Richtung Osten. Zum Glück sind die Zeiten vorbei. Denn zurückgekommen wären die mit dem Starfighter nie und nimmer. Zu wenig Kerosin.«

Fett schaute in den Himmel. Zwei Eurofighter setzten zum Landeanflug an und flogen aus Westen kommend über die Landesklinik zur Airbase Nörvenich. Ein Güterzug von DB Cargo ratterte mit Kesselwagen von Köln auf Düren zu, eine S-Bahn fuhr auf ihrem eigenen Gleis zur Haltestelle Merzenich. Plötzlich hörte man Schüsse. Fett blieb ruhig.

»Der Eisenbahnerschießverein. Die knallen da seit zig Jahren. Kleinkaliber, würde ich sagen.« Fett sprach vor sich hin und winkte ab, als Conti auf ihn zukam und in Richtung der Schüsse zeigte. Er erklärte ihr die Ursache.

»Sollen wir trotzdem rübermachen, Herr Fett?«

»Warum? Glauben Sie, die Mordwaffe wurde drüben gestohlen, um den armen Hund zu erschießen und danach hier ins Loch zu werfen? Kümmern Sie sich endlich um die Anwohner.« Fett war ungehalten, als ob ihm etwas auf den Magen geschlagen war. Ein junger Mann war hingerichtet worden. Fetts Bauchgefühl, auch wenn er gerade dort Schmerzen hatte, sagte ihm, dass dies keine Tat im Affekt war.

Conti merkte, wie gereizt ihr Chef war. Er presste seine Hand gegen den Unterbauch, verzog das Gesicht. Bestimmt wieder depressive Stimmung und kein vernünftiges Frühstück. Immer diese alten weißen Männer, dachte sie und verschwand zur Elsdorfer Straße. Fett drehte eine Runde um das Regenwasserrückhaltebecken. Er sah den vergitterten Ablauf, der unterirdisch zur Kläranlage führte. Ein dickes Vorhängeschloss versperrte den Eingang. Alles merkwürdig, dachte Fett. Und dann diese Hitze und Corona. Er blinzelte in die Sonne, die unschuldig am Firmament über dem Birkenwäldchen hinter den Schienen glühte, wo einst der Dürener Vorbahnhof war.

Klassenfest und Station 9

42 Jahre Abitur. Fett verbrachte den Donnerstagabend mit seinen Klassenkameraden des Wirteltorgymnasiums im neuen Hotel von Düren, dort, wo einst die Stadthalle gestanden hatte. Ein heißer Juliabend. So heiß, wie der gesamte Sommer, der im Grunde bereits im März begonnen hatte. Kein Regen, dafür Corona. Heiße Tage mit Maske. Er konnte nicht alle Freunde identifizieren, manche trugen Maske, das erschwerte die Wiedererkennung. Am Tresen fragte er einen grauhaarigen Mann mit Hornbrille, welches Fach er unterrichtet habe. Es stellte sich heraus, dass der graue Panther ein ehemaliger Mitschüler war. Unterschiedliche Alterungsprozesse, nur sein ehemaliger Direktor, der große Humanist Doktor Seeger, er lächelte wie vor 40 Jahren. Vergeblich wartete Fett auf Karin Junkersdorf, für die er im Französischleistungskurs geschwärmt hatte. Sie kam nicht. Auch nicht ihre Schwester. Auch nicht Johanna Pohl. Die Gespräche kreisten um die Vergangenheit. Über 40 Jahre waren verstrichen. Viel war inzwischen passiert, das konnte schwerlich ausgeblendet werden. Um 21 Uhr begann der stechende Schmerz im Unterbauch. Um 24 Uhr fuhr Fett gekrümmt vor Schmerz in die Notaufnahme des 700 Meter entfernten Krankenhauses Düren.

»Warum sind Sie nicht früher gekommen?«, fragte ihn der Krankenpfleger Heinrich Jumpertz bei der Aufnahme, bevor ihn die junge Ärztin Doktor Kalldewey untersuchte und die Diagnose Blinddarmdurchbruch stellte.

»Morgen wissen wir es genau. CT und Ultraschall. Sie bleiben hier.«

Abiturtreffen 2020 mit Krankenhausübernachtung. Na toll, dachte Fett, als ihn auf Station sechs eine Spritze von den Schmerzen befreite und er endlich gegen 2 Uhr in der Nacht die Augen zuklappte: Ende einer Abiturfeier.

Fetts Krankenbett stieß gegen Türrahmen, rammte den Rahmen des Aufzugs, donnerte in den Keller zum OP-Raum. Fett kam sich vor wie in einem Wagen der Geisterbahn auf der Annakirmes: ruckartige Richtungswechsel, Menschen beugten sich über ihn, ihm war kalt, er trug nur das OP-Hemd. Lachen, Gesprächsfetzen, die Schwester zerrte und drückte an seinem Bett, bis es endlich in einem Schleusenraum zum Stillstand kam. Junges Personal nahm er wahr; ein multinationales Team, Scherze. Er wurde umgebettet, kam auf eine Art Fließband und plumpste auf den OP-Tisch. Ein farbiger Anästhesist beugte sich mit strahlendem Lächeln über den Kommissar, beruhigte ihn, jemand fragte nach dem Oberarzt. Plötzlich wurde alles dunkel, schwarz, still.

»Türelüre wonnt in Düre, Mariännche wonnt in Oche.«

Der Kindervers, den seine Mutter ihm vorgesagt hatte, rauschte durch den Kopf. Bilder wechselten sich ab: Dreirad, Bolzplatz, Segelflug, brennende Bahnböschung, die Zinkbadewanne, das Plumpsklo. Er lag auf einer rauen Decke, Zitronentee in der Feldflasche des Vaters, die er aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hatte, vor ihm der Baggersee, Schottersteine, Abrisskanten. Die Bilder des ersten Ausflugs mit den Eltern. Beim Schluck aus der Feldflasche schmeckte er das Metall, in der Hand spürte er den Filz, der die Flasche umhüllte. Sein Vater in Polizeiuniform. Kognakschwenker, Zigaretten mit Goldfilter, Goldzähne, Traktoren, das Wort Krebs. Ein riesiges Durcheinander. Tote, Verbrecher, Blaulicht. Als ob das Leben im ICE vorbeirauschte. Iska Sonntag, Chantal Kalumba, Marie Utzerath, Catherine Kaufmann, Vera Braun, Theresa Rosenthal, Kolleginnen, Freundinnen, Verdächtige – sie alle rasten durch seine Synapsen, verschwanden wieder, er konnte keine festhalten, er lief hinterher, Türen öffneten sich, fielen zu, Lichtschein, Dunkelheit. Onkel Heinz lachte ihn mit der Onkel-Heinz-Frisur an und spendierte ihm eine ›Looza‹: die Kindheitslimonade.

Aufwachraum, eine ruhige Stimme redete auf ihn ein, Rauschen im Kopf, Pflaster an drei Stellen unter dem Bauchnabel. Alles sei gut gegangen, der Blinddarm entfernt. Er werde gleich abgeholt. Morgen Station neun: Dubai. Wegen seiner Zusatzversicherung. Einzelzimmer mit Blick in die Köln-Aachener Bucht.

Mathias Dorfmüller aus Jülich-Koslar lag neben ihm auf Station sechs. Darmkrebs. Wenige Jahre nach der Pensionierung. Fett schlief tief. Um 18 Uhr kam der Assistenzarzt. Es sei knapp gewesen. Eingekapselter Blinddarmdurchbruch. OP in letzter Minute. Ansonsten eine verseuchte Bauchhöhle. Fett wollte das gar nicht hören. Lieber ein Gespräch mit dem Pfleger aus Pakistan, der Putzfrau aus Rumänien, der Krankenschwester aus Sibirien, der Pflegerin aus Guatemala. Sie freuten sich, wenn sie über ihre Heimat erzählen konnten, ihre alte Heimat, denn nun lebten sie alle in Düren, Sindorf, Buir, Merzenich, Kreuzau oder Langerwehe. Wenn sie über ihre Heimat erzählten, leuchteten ihre Augen. Sie sprachen von Heimat. Wenn ein Deutscher dieses Wort benutzte, wurde er in die Schmuddelecke gestellt: konservativ, rechts, alt. Fett schlief ein.

Am nächsten Tag blickte er aus einem Einzelzimmer auf das ehemalige Schwesternwohnheim, wo nun die Verwaltung des Krankenhauses untergebracht war. Er müsse mehrere Tage im Krankenhaus verbringen, sagte ihm die verantwortliche Stationsärztin Brigitte Zermatt. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück und beharrte auf drei Tagen, drei Tage, das könne jeder im Internet nachlesen. Nicht länger dauere ein Aufenthalt im Krankenhaus nach einer Blinddarmoperation. Sie verzichtete auf eine Belehrung und blieb länger als geplant. Das Gespräch über Kino, Theater, ungelöste Kriminalfälle wurde intensiver, und oft lachten beide über das merkwürdige Verhalten von Männern und Frauen. Sie erzählte von Slow Food und genussvollem Essen, er wartete auf die Schonkost zu Mittag und plünderte später die Erdnüsse in der Minibar, denn das Abendessen um 16 Uhr hielt nicht lange vor.

»Schauen Sie auch immer so kenntnisreich unter die Motorhaube Ihres Wagens, wenn Sie eine Panne haben?«, fragte sie ihn am Samstag nach der Visite.

Fett lachte. »Wenn ich ein Auto habe, dann schon. Liegt wohl Männern im Blut oder in den Genen. Selbst wenn wir keine Ahnung haben, öffnen wir die Motorhaube und schauen mit magischem Blick auf irgendwelche Teile, als ob wir durch das Ziehen an einem Schlauch oder Rütteln an einer Zündkerze etwas bewirken könnten. Stammt bestimmt aus der Jungsteinzeit. Da haben die Jäger das Wild direkt zerlegt, ausgenommen und in die Eingeweide geschaut. Nur so kann ich mir erklären, dass sogar technisch völlig unbegabte Geschlechtsgenossen den Kopf tief unter die Motorhaube stecken, etwas murmeln von Vergaser, Zündkerze, Zylinder, Anlasser und geradezu beschwörend auf den Motor einreden. Bringt nichts. Aber immer wieder zu beobachten.«

Brigitte Zermatt lachte und dachte an ihren Ehemann, der bei der letzten Fahrt zum Ferienhaus an der Atlantikküste bei La Rochelle nach einer Panne minutenlang unter der Motorhaube verschwunden war. Letztlich musste der freundliche Mechaniker aus einem Dorf an der Nationalstraße alles richten.

»Im Grunde sind wir beide im Reparaturbetrieb der Gesellschaft«, sagte Brigitte Zermatt.

»Reparaturbetrieb ist gut. Sie flicken die Leute zusammen, ich ziehe sie aus dem Verkehr«, lächelte Fett.

»Sind Sie zufrieden mit dem Beruf?«

»Zufrieden?«, Fett dachte nach. »Ich finde meinen Beruf sinnvoll. Muss ja jemand machen.« Er wurde nachdenklich, schaute aus dem Fenster. »Die Frage hat mir vor langer Zeit eine Kollegin in Reims gestellt. Ich weiß nicht mehr genau, was ich darauf geantwortet habe. Die Antwort kann sich auch verändern. Wir verändern uns, werden älter, nachdenklicher, vergesslicher, verletzbarer. Oder?«

»Sie fragen mich? Ich liebe meinen Beruf. Ich wollte seit der Schulzeit Ärztin werden und bin Ärztin geworden. Mein Traumberuf. Leider immer mehr Bürokratie, immer mehr Effizienz, immer weniger Zeit für die Patienten. Und Gesundheitsminister Spahn, der nie etwas mit Medizin zu schaffen hatte, der wollte vor Corona Krankenhäuser schließen. Na ja, was soll man von einem Politiker erwarten, der mit 38 Jahren eine Biografie über sich schreiben lässt.«

»Tja, Masken-Spahn. Im Februar noch überflüssig. Jetzt sollen wir alle Maske tragen. Schwierige Zeit«, sagte Fett, »hoffentlich ist nach dem Sommer dieser Mist beendet.«

»Machen Sie sich keine Hoffnung. Im Herbst, mit der Erkältungswelle, geht es wieder los. Wir tun jetzt so, als sei das Schlimmste vorbei. Das Schlimmste kommt noch.«

»Na servus. Da bleib ich am besten gleich hier«, meinte der Kommissar lächelnd. Er wollte nicht über seinen Beruf sprechen. Er war froh, einfach drei Tage raus zu sein. Eigentlich hätte er am Freitag die Treppe im Mietshaus putzen müssen, aber Nachbarin Frau Kleinjohann war so erschrocken, als sie vom Blinddarmdurchbruch erfuhr, dass sie sofort die Treppenreinigung zugesagt hatte.

»Wenn Ihre Zusatzversicherung zahlt, können Sie verlängern.« Brigitte Zermatt holte Fett zurück in die Realität des Krankenzimmers.

»Die Versicherung wird zahlen. Der Mörder wartet nicht. Ein vertrackter Fall. Lesen Sie Bücher?« Er wechselte das Thema, versuchte Brigitte Zermatt im Zimmer zu halten.

»Früher mehr, nun weniger. Zuletzt, wie hieß es, irgendwas mit Unterwerfung oder so ähnlich. Ich habe das Buch zur Seite gelegt. Es war mir zu pornografisch. Ich muss los.«

Fett sah ihr nach, doch plötzlich drängte sich das Bild des ermordeten jungen Mannes in den Vordergrund. Ihn fröstelte. Hatte Fett etwas übersehen? War er mit Conti zu barsch umgesprungen? Hätte er mit einer Hundertschaft das Gelände absuchen sollen? Die Zeit lief davon und er lag im Krankenhaus Düren.

Speck und Wodka

Er schlug zur Abwechslung die Tageszeitung auf: »Blasenschwäche kann jeden treffen!« In dicken Buchstaben sprang ihn die Anzeige an. »Tausende zufriedene Anwender können sich nicht irren!« So stand es seit Jahrzehnten in Anzeigen für Knoblauchpillen, Raucherpflaster und Fußpilzcreme. Er blätterte weiter und suchte die Kulturseite, danach den Lokalteil Düren: Annakirmes abgesagt.

Am Samstagnachmittag erhielt er Besuch. Es durfte pro Tag immer nur ein Besucher für eine kurze Zeitspanne zu ihm ins Zimmer. Die Corona-Regeln ließen nichts anderes zu. Daniela Conti brachte ihm ein belegtes Thunfisch-Tramezzini mit, sie ahnte, dass er mit Schonkost wie ein hungriger Wolf auf der Station umherirren würde.

»Grazie, Kollegin Conti, schön, dass Sie es geschafft haben.« Fett freute sich über die wundervolle Bereicherung des Speiseplans und noch mehr über die Anwesenheit der attraktiven Kollegin.

»War es sehr knapp?«, fragte Daniela Conti.