Tote Biber schlafen nicht - Olaf Müller - E-Book

Tote Biber schlafen nicht E-Book

Olaf Müller

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Beschreibung

Ein bekannter Aachener Immobilienhai hängt tot an der Victor-Neels-Brücke in Vogelsang, in Krakau wird ein Professor der RWTH Aachen tot aufgefunden und im Hambacher Forst eskaliert die Gewalt. Kommissar Fett und sein Kollege Schmelzer ermitteln in Aachen, Düren, Heimbach, Vogelsang und Moresnet. Sie stoßen auf ein ganzes Bündel an Motiven: Eifersucht, Rache, Konkurrenz. Als im Kloster Steinfeld ein weiterer Toter gefunden wird, entdecken die Kommissare unheimliche Verbindungen zwischen den Fällen …

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Olaf Müller

Tote Biber schlafen nicht

Eifel-Krimi

Zum Buch

Wem gehört die Eifel?Der bekannte Aachener Immobilienhai Brauers hängt nach einem Karnevalsball tot an der Victor-Neels-Brücke in Vogelsang. In Krakau wird Professor Haberstock, Biberexperte der RWTH Aachen, der auf dem Weg in die Vorkarpaten ist, tot aufgefunden und im Hambacher Forst eskaliert die Gewalt. Wie hängt all das miteinander zusammen? Kommissar Fett und sein Kollege Schmelzer übernehmen die Ermittlungen und stoßen auf ein ganzes Bündel an Motiven: Eifersucht, Rache, Konkurrenz. Sie recherchieren in der Aachener Gesellschaft, in Heimbach, Hambach, Düren, Kall, Vogelsang und in Moresnet. Seltene Erden könnten der Schlüssel sein. Oder Umweltschutz für die Eifel? Als im Kloster Steinfeld ein weiterer Toter gefunden wird, entdecken die Kommissare unheimliche Verbindungen zwischen den Fällen. Unterstützung bei der Lösung der rätselhaften Verstrickungen erhält Kommissar Fett von seiner Kollegin Kalumba aus Lüttich. Die Hektik um die Karlspreisverleihung an Präsident Macron bringt zusätzliche Herausforderungen …

Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien sowie Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Olaf Müller hält Vorträge u.a. zum Thema Heimat und Identität. Als Segelflieger kennt er die Eifel aus der Luft, als Wanderer vom Boden. „Tote Biber sterben nicht“ ist nach „Rurschatten“, „Allerseelenschlacht“ und „Die Macht am Rhein“ (gemeinsam mit Maren Friedlaender) sein vierter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Magnus / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6624-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Stumme Biber

Tote Biber schlafen nicht. Der tote Biber lag vor der Eingangstür der Leopoldina in Halle. Neben ihm eine rote Rose. Das Weiß des prachtvollen Gebäudes der Wissenschaftsakademie stand in scharfem Kontrast zum braunen Biberfell, der dünnen Blutspur auf dem Marmorboden, der Rose und den kalten Augen des Nagers. Dazu der Schnee. So weiß, so unschuldig. Er bedeckte die gesamte Zufahrt, knirschte und knarzte unter dem Schuhwerk und ließ die Moritzburg nebenan wie eine Zuckertorte aussehen. Der Himmel war stahlblau. Eine Postkartenidylle. Fast.

»Scheißä! Wiedär ein totär Bibär.« Hausmeister Mateo Modic, stets im eisengrauen Kittel, verdrehte die Augen, murmelte in Deutsch mit Streifen vor sich hin, wollte Schaufel und Besen holen, um den letzten Dienst zu erweisen, als Professor Dr. Hermann Haberstock, aus dem Flur kommend, im Eingang stand und sagte: »Scheiße. Ein toter Biber.«

Professor Haberstock, 75 Jahre alt und emeritierter Lehrstuhlinhaber für Biologie an der RWTH Aachen, gehörte zu den Topreferenten des 13. Bibersymposiums Ende Januar 2018 an der Leopoldina in der schönen Saale-Stadt Halle. Das Thema des Symposiums lautete: »Resilienz und Achtsamkeit in der mitteleuropäischen Biberpopulation.« Mit dem Exemplar im Eingang war nicht mehr viel los. Unachtsam lag er da, wenn man von der Rose absah. Der dritte tote Biber seit Beginn des Kongresses. Irgendetwas lief schief. Wurde Zeit, die Polizei einzuschalten. Was würde die sagen? Leopoldina und tote Biber. Großes Gelächter. Altehrwürdiges Haus, Kanzlerin Merkel regelmäßig zu Besuch. Und dann tote Biber vor der Tür. Haberstock schaute auf den Hausmeister. Der Hausmeister schaute auf Haberstock.

»Nun machen Sie doch was! Stehen Sie nicht rum wie ein Hornochse in Grau! Da liegt ein toter Biber. Der hat vielleicht eine Seuche und verpestet den Eingang der Leopoldina.«

»Wie die beidän anderän«, brummelte Modic, dem die Arroganz der Professoren schon lange auf den Senkel ging. Vor allem diese Wessiprofessoren. Sieht selber aus wie ein Bibär. Warte nur Freundchen, dir werde ich noch heute den Abfluss der Dusche im Zimmer verstopfen, dachte er und schlurfte davon, um das Kehrblech zu holen. Mateo Modic war ein gutmütiger Mann, dem der linke Unterarm im Jugoslawienkrieg abhandengekommen war. Zusammen mit seiner Frau Zofia lebte er am Stadtrand von Halle, war seit 15 Jahren Hausmeister und liebte es, in seinem Kleingarten an der Saale Tomaten, Bohnen, Möhren und Kartoffeln zu pflanzen. Dass er dort, in seinem kleinen Paradies, wie er es nannte, im übernächsten Jahr zur Sommerzeit von sturzbetrunkenen Neonazis grundlos oder vielleicht wegen seines Namens oder wegen Lust an Grausamkeit zusammengeschlagen und so verletzt werden würde, dass er den Rest seines Daseins in Halle im Rollstuhl verbringen sollte, konnte Mateo Modic natürlich nicht ahnen, als er sich mit seiner rechten Hand und dem rechten Arm um den toten Bibär kümmerte.

Haberstock gab sich einen Ruck. Aufrechten Ganges strebte er in seinem taubenblauen Stangenanzug Richtung Cafeteria. Drei tote Biber von der Saale-Population. Was hat das zu bedeuten? Wieder diese militanten Umweltfuzzis? Warnungen, Bedrohungen? Wem galten sie? Dem Symposium? Ihm? Der Leopoldina? Seit der bayerische Vorläufer des BUND, der Bund Naturschutz in Bayern, 1966 das Projekt Wiedereinbürgerung der Biber in Bayern gestartet hatte, wurden immer mehr Lehrstühle mit Biberkennern besetzt und die Flüsse und Stauseen zu einem Eldorado für die Nager.

Jetzt haben wir den Salat, dachte Haberstock. Zuerst ein Kaffee. Dann würde die Welt wieder besser aussehen. Vielleicht kommt Kollegin Wittstein-Olmütz hinzu. Ihre Forschungsergebnisse in den letzten Jahren waren rasant. So, wie ihr Aussehen. Haberstock verdrängte sein Alter, die toten Biber und wandte sich den schöneren Seiten des Lebens zu.

Im Café »Grammophon« schäkerte derweil Frau Professor Ines Wittstein-Olmütz mit dem jungen Inhaber, der ihr seine Geschichte aus Neuseeland erzählte. Endlich mal keine Biber, sondern das wahre Leben. Eine Auf- und Aussteigergeschichte. Ihre Latte wurde so kalt wie die Außentemperatur, die Marmelade tropfte vom Croissant, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. In ihrem engen und figurbetonten Kostüm – der Pelzmantel, natürlich Kunstpelz, hing an der Garderobe – hatte sie nur Augen für den jungen Mann, der immer wieder von Gästen unterbrochen wurde. Zumeist Studentinnen, die bei ihm, nur bei ihm, einen Cappu oder ein stilles Wasser oder einen Darjeeling-Tee bestellten. Sie wurde eifersüchtig auf die jungen Madeln. In Wien, wo sie den Lehrstuhl innehatte, da war sie die Nummer eins. Frau Geheimrat, das sagten die Hausmeister zu ihr. Hier, in Halle an der Saale, wo der Sozialismus noch mit Händen greifbar war, hier in Halle, da war Essig mit Geheimrätin. Ob er denn wisse, wo die Biber an der Saale besonders und vor allem im Winter zutraulich seien? Genervt von der Biberprofessorin verzog der weitgereiste Gastronom keine Augenbraue, sondern den Gürtel seiner löchrigen Stonewashedjeans etwas enger.

»Unten, da bei der Moritzburg, wo der Park beginnt. Da sollten sie mal runtergehen oder runterrutschen«, sagte er freundlich und bestimmt, und noch freundlicher schaute er die blonde Yasmin an, die wie ein Sonnenschein durch die Tür schwebte, ihn anlächelte und sanft hauchte: »Wie immer, mein Lieber.« Da dachte er an die letzte Nacht in seiner alten Studentenbude. Was sie ihm ins Ohr geflüstert hatte zum Thema Latte macchiato brachte ihn so in Fahrt, dass sie und auch die Nachbarn kaum ein Auge zugemacht hatten. Das Futonbett war schließlich durchgebrochen. »Alte Latten«, hatte der Caféhausbetreiber Yasmin ins Ohr gestöhnt. Sie säuselte sanft: »Nur nicht deine. Du brauchst nicht zu flüstern. Die haben alles gehört, mein Weltmeister.«

»Also wie immer, gerne«, hauchte er nun zurück.

Das reicht, dachte die Geheimrätin, rutsch mir doch den Buckel runter, du Vorstadtgigolo. Der Zehner segelte auf die Theke. Sie verließ ohne Verabschiedung das moderne Café. Dann doch lieber Fachgespräche mit Haberstock, dem alten Schwerenöter. Immerhin kann er mit ihr etwas anfangen. Mit ihren etwas über 50 Jahren sah sie immer noch aus wie Anfang 40, Ende 30, und, ja, so war es, ihren Reizen konnte so mancher Doktorand nicht widerstehen. Still lächelte sie vor sich hin, als sie, warm eingemummelt, die ruhenden Löwen vor der Aula der Universität passierte. Biberspezialistin; hatte sie sich nie träumen lassen. Ihr Vater war einst Förster im Waldviertel. Und sie die Erste aus der Familie, die eine Universität von innen sah. Haberstock, den würde sie ein wenig anfixen. Der war empfänglich. Halle, wo muss ich hin, gibt’s denn hier keine Droschken? Scheiß Winter. Alles so kalt und glatt hier. Selbst im Winter ist Wien doch besser als alle anderen Städte auf der Welt. Fast alle anderen Städte, fügte sie rasch an, denn sie dachte an Barcelona, an Juan, den Tangotänzer, der ihr den Kriminaltango beigebracht hatte.

Retter der Vorkarpaten

Haberstock bekam Herzflattern. Nicht wegen der Geheimrätin. Die Biber machten ihm Sorgen. Genauer gesagt, die toten Biber. Nun gut, dachte er, noch ein Nachmittag und eine Nacht. Morgen geht es weiter. Vorträge und Gutachten. Die Biberfrage ist brandaktuell. Haber­stock hatte die toten Biber aufmerksam betrachtet. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob die Biber eines natürlichen Todes gestorben seien. Die Blutspur kam später hinzu. Jemand musste sie angeritzt haben. Was hatte das alles zu bedeuten? Galt es ihm oder dem Symposium? Wer erlaubte sich solche makabren Scherze? Zum Glück hatte die Lokalpresse noch keinen Wind davon bekommen. Haberstock, notorischer Frühaufsteher, hatte die drei toten Biber jeweils zeitgleich mit dem Hausmeister entdeckt. Ein wenig Autorität – und zack lagen die Biber in der Biotonne unter verblichenen Blumensträußen der letzten Rednerpultverzierung. Modic hatte bereits zweimal einen Zehner kassiert für diese fachgerechte Entsorgung. Der wird doch wohl nicht, nein, ausgeschlossen, dachte Haberstock beim Aufklopfen des Frühstückseis. Unmöglich. Wer bringt denn Biber für zehn Euro um? Nein, nein. Er verdrängte den Gedanken, drosch auf das Ei ein, die Schale zersprang, und das Eigelb mäanderte die Schale hinunter auf die Tischdecke. Scheißdreck, dachte Haberstock. Hab extra ein Zehn-Minuten-Ei verlangt. Nichts klappt hier. Sapperlot!

Nachmittags rauschte die Geheimrätin in der Kaffeepause auf ihn zu. Ihre blonde Mähne erinnerte Haberstock entfernt an eine Kabarettistin – oder war es ein Kabarettist? Seine Erinnerungen spielten ihm einen Streich. Trixie Dörfel, so hieß die Schauspielerin. Hatte er doch beim Rumschalten entdeckt. Ja, so wie Trixie Dörfel sah die Geheimrätin aus, die ihm am Kaffeetisch Gesellschaft leistete. Trixie Dörfel, dieser blonde Traum aus der Welt der Prominenten. Ihre Lebensbeichte hatte den Professor angerührt. Dass all dies nur eine Parodie war, hatte der gute Haberstock nicht mitbekommen. Schließlich sagte ihm auch der Name Olli Dittrich nichts.

»Lieber Herr Haberstock, schade, dass das Symposium sich dem Ende nähert. Die Zusammenkünfte sind zu kurz. Und das, wo doch Natur- und Tierschutz immer höhere Priorität erlangen.«

Haberstock hatte keine Lust zu antworten. Er knurrte etwas, weil ihm die toten Biber wieder in den Sinn gekommen waren.

»Mit den toten Bibern, das ist ja eine merkwürdige Chose.« Als Ines Wittstein-Olmütz diesen Satz getan hatte, fiel dem guten Haberstock fast die Tasse aus der Hand.

»Tote Biber?«, fragte er leutselig.

»Ah, geh. Sie wissen schon. Blöde Sache. Der Modic, seine Vorfahren stammen ja aus der Nähe von Wien, alles noch k.u.k. Reich, der hat es mir erzählt. Und dann der Ärger mit der Entsorgung. Er sprach schon von ersten Anrufen. Da hab ich ihm schnell einen Fünfziger in die Hand gedrückt. Braucht ja keiner die Nase dran zu bekommen, nicht wahr, Herr Haberstock. Das fehlte noch. Bibersymposium mit toten Bibern. Da freut sich die Journaille.«

»50 Euro!« Haberstock rechnete. Wenn der Modic dreimal 50 Euro von der Wittstein-Olmütz kassiert haben sollte, dazu noch seine spärlichen Zehner, dann hätten ihm die drei toten Biber 180 Euro eingebracht. Na servus. Haberstock traute ihm alles zu.

»Tote Biber. Ja, der hat davon gebrummt, der Hausmeister. Bestimmt irgendwelche Umweltheinis, die denken, dass wir unsere Forschungsobjekte quälen. Sie entschuldigen mich, liebe Kollegin, Sie sehen wieder bezaubernd aus. Aber ich muss noch meine Abreise checken. Morgen geht es in die Vorkarpaten.«

»Vorkarpaten! Wie spannend. Achten Sie auf Vampire, lieber Haberstock. Denen reichen die Biber nicht aus. Die stehen auf weiße Männer.« Geh, du alter Angeber, dachte sie, alte weiße Männer, die werden auch von den Vampiren nicht mehr angepackt. Wird Zeit, dass diese emeritierten Altprofessoren mal das Feld räumen. Früher war er galanter. Sie stand auf, bevor Haberstock zu einer Antwort ansetzen konnte und entschwand in den Workshop »Vermehrung von Biberpopulation trotz Waldsterben und Klimawandel«.

Am nächsten Tag nahm Prof. Haberstock den Fernbus des Busunternehmens »Sindbad« nach Krakau. An der Jagiellonen-Universität war ein Folgekongress geplant. Die Biber wurden in Polen zu einem riesigen Problem. In den Vorkarpaten, der Dreiländerregion Polen, Ukraine, Slowakei waren bereits mehrere Flüsse über die Ufer getreten, weil die Biber das Holz der Vorkarpatenbäume verputzten wie Eis am Stiel. Der San, einer der großen Karpatenflüsse, wurde an der Quelle immer wieder gestaut. Felder standen unter Wasser, Baumstämme, die von Lesko aus bis nach Sanok trieben, verkeilten sich und bereiteten den Wasserbehörden große Schwierigkeiten. Sandsäcke wurden in Sanok vor Skansen, dem berühmten Freilichtmuseum, meterhoch geschichtet. Am riesigen Stausee von Solina blieben die Ausflugsboote am Steg vertäut. Schatten an den Ufern des Badeortes Polanczyk war kaum zu ergattern. Nachts krachte es, schattenspendende Bäume rauschten ins Wasser, und die Biber feierten wieder ein Fest. Immer öfter hörte man von den Gemeindevorstehern, den Förstern, den Hoteliers, den Bootsvermietern das aus tiefer Brust ausgesprochene polnische Schimpfwort »Kurwa!«. Alle Hoffnungen ruhten auf Prof. Haberstock aus Akwizgran, so der polnische Name für Aachen. Man erwartete ihn wie einst »Henderson the Rain King« im tiefen Afrika. Alles war vorbereitet. Nach der Konferenz in Krakau würde Haberstock mit den Bürgermeistern von Sanok, Lesko, Polańczyk, Cisna sowie den Vertretern der unteren und oberen Wasserbehörden zusammentreffen. Der Konferenzsaal im Rathaus am Marktplatz von Sanok war bereits reserviert, Wodka kalt gestellt, eine Führung durch das Ikonenmuseum und das Freilichtmuseum gebucht. Gerade das Freilichtmuseum war von den Überschwemmungen bedroht. Diese historischen Gebäude aus der gesamten Karpatenregion bildeten einen Touristenmagnet, ganz zu schweigen von den vielen Filmen, die in der Kulisse gedreht wurden. Jedenfalls hatte die Feuerwehr von Sanok ein Boot reserviert, um, den Eisschollen im San zum Trotz, flussaufwärts zu fahren. Für den Stausee von Solina war die Betreibergesellschaft verantwortlich. 472 Millionen Kubikmeter Wasser, der größte Stausee Polens, und nur 202 Millionen Kubikmeter in der Rurtalsperre bei Heimbach; Haberstock war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Endlich mal eine richtige Aufgabe für ihn. Eine Herausforderung im Nationalpark Vorkarpaten, den Beskiden, wo Pan Jan, Herr Jan, der Bauer aus dem kleinen Ort Falejówka bei Sanok, täglich mit den Bibern kämpfte.

Jans kleiner Biber-Krieg

»Schlagtrafikundaqua!« Mit diesem Fluch hatte Jan Kulka im Herbst 2017 seinen Gemüsegarten in dem kleinen und lieblichen Ort Falejówka betreten, knapp zehn Kilometer nördlich von Sanok gelegen, eingebettet zwischen sanfte Hügel und Srogów Górny und Raczkowa. Zwei Dörfer von ähnlicher Größe in den Vorkarpaten. Ein kleiner Bach entsprang irgendwo hinter Raczkowa und hatte sich im Laufe der Zeit ein Bett gegraben, das dicht hinter dem Haus von Pan Jan vorbeiführte. Das Wasser diente im Sommer auch für den Garten, in dem Möhren, allerlei Gemüsesorten und Rote Beete blühten und gedeihlich in den Himmel oder, wie bei den Möhren, in die Erde schossen. Bis eines Tages alles verschwunden war, neu gepflanzt wurde und zur Erntezeit wieder auf Nimmerwiedersehen im wahrsten Sinne des Wortes abgetaucht war. »Kurwa!«, brummte damals Jan und hatte auf die Bescherung geschaut beziehungsweise auf die leeren und geplünderten Beete für Kapusta, also Gemüse, auf das Stück Garten, wo gestern noch die Möhren in voller Pracht standen. Die Rote Beete war komplett verschwunden. »Bóbre«, knarzte Jan und blickte auf das Meisterstück der Biber drüben im Bach. Zwischen den Baumstämmen, Ästen und Zweigen hatte er alles entdeckt: Möhren, Kapusta, Rote Beete. Dazwischen einige leere Flaschen Wodka und Bierpullen der Marken »Tatra«, »Tyskie« und »Lech«. Jan Kulka ging zum Traktorschuppen, startete an diesem Oktobertag den sorgsam gepflegten »Ursus«, ein zuverlässiges Modell aus kommunistischen Zeiten, und tuckerte an den Rand des Baches. Er klinkte das Stahlseil ein, rammte den kiloschweren Haken in den Biberdamm und schaltete den Ackergang ein. Nur mit Mühe gelang es ihm, dieses Wunderwerk animalischer Baukunst zu zerstören. Das Wasser schoss durch die Lücke. Jan hoffte inständig, dass die Biber sich nun eine andere Stelle zum Bau aussuchen würden, damit er endlich wieder sein eigenes Gemüse essen konnte. Dass er, ein Bauer, im Supermarkt »Biedronka« in Sanok Gemüse kaufen musste, war ihm in diesem Herbst hochnotpeinlich. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er wie Sisyphos den Stein immer wieder hochwälzen würde, mit anderen Worten, dass auch am nächsten Tag die verbliebenen Apfelbäume im Garten des Nachbarn ruckzuck von den Bibern für die Reparatur genutzt werden würden. Langsam reifte eine für die Bóbre, die Biber, tödliche Idee. Schluss mit Sisyphos, könnte man sagen. »Arrest!«, rief er im November zu Bombel, der Promenadenmischung, die am Abend wie immer das Haus verlassen wollte, um einen Kontrollgang zu machen. Auch für die Katze, eine Mischung aus Straße und Siam, hieß es: »Arrest!« Sie schaute Jan verdutzt an, den Kopf schief gelegt, so ganz schien sie nicht verstanden zu haben. »Alle Tiere bleiben heute Abend und heute Nacht im Haus. Das ist ein Befehl«, hatte Jan zu seiner Ehefrau Danuta gebrummt, die spürte, dass Jan wieder eine besondere Idee ausgebrütet hatte. Besser nicht fragen, dachte sie und sperrte Bombel und die Katze ins Wohnzimmer, wo beide sich irritiert anschauten, beschnüffelten und dann einen gemütlichen Platz auf dem Sofa eroberten, wo sie sonst unter Strafe nicht mal die nasse Schnauze drauflegen durften.

Jan verließ kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit einem meterlangen Elektrokabel das Haus in Richtung Bach. Mitten in der Nacht kam es zu einer Art Verpuffung, und die alte Porzellansicherung flog in hohem Bogen aus der Fassung. Jan lächelte. Hoffentlich hatte es nicht den Nachbarn erwischt, der ab und an tief in der Nacht mit versetztem Schritt aus der Dorfkneipe am Bach entlang torkelte und unter der Erdanziehungskraft litt. Es war nicht der Nachbar gewesen. Es war … Im Morgengrauen, nachdem er die Sicherung wieder eingebaut hatte, schnappte Jan den Spaten seines Vaters und ging bis zum Ende des Elektrokabels in der Nähe des Baches, wo er Flaschen und Äste abgelegt hatte. An den offenen Enden der Kabel lag wie schlafend ein Prachtexemplar mit versengter Schnauze. Mit kräftigen Spatenstichen hob Jan blitzschnell eine Grube aus. Bevor die Sonne aufging, erinnerte nichts mehr an diese Art eines elektrischen Stuhls. Fortan wurde im Bach, dicht bei Jans Haus, kein Damm mehr gebaut. Dafür 100 Meter weiter bachabwärts beim Nachbarn, dem mit dem versetzten Schritt. Mit anderen Worten, das Biberproblem bei Jan Kulka war damals gelöst worden, hatte sich aber nur verlagert. Letztlich warteten die Vorkarpaten immer noch auf Haberstock aus Deutschland. Den Biberpapst aus Aachen.

Tödliche Abzweigungen

Haberstock hatte Flugangst, besaß kein Auto, und mit dem Zug würde die Reise zwei Tage dauern. Er stieg in den Fernbus Richtung Krakau und überquerte bei leichtem Schneefall in Görlitz die Grenze. Dann ging es auf der A 4 an Wrocław, also Breslau, entlang in Richtung Kattowitz. Von da aus war es ein Katzensprung zur ehemaligen Hauptstadt Polens, dem schönen Krakau. Wäre da nicht der Autobahnabzweig nach Oświęcim: Auschwitz. Nachdenklich hing er in seinem Fenstersitzplatz. Was war sein Vater im Zweiten Weltkrieg? Schweigen. Das große Schweigen. Nie hatte er mit ihm darüber gesprochen. Erst nach dem Tod seiner Mutter entdeckte er Unterlagen über seinen Vater Egon, an den er sich nicht erinnern konnte, weil er so früh aus seinem Leben verschwunden war. Unterlagen über dessen Zeit als Soldat. Ein Foto in schwarzer Uniform. Der Name Stroop schoss ihm durch den Kopf. SS-Panzergrenadier- und Ausbildungsbataillon 3 in Warschau. Dann muss sein Vater um Versetzung gebeten haben. Ein Foto von ihm. Auf dem Kragenspiegel links SS-Runen, rechts ein Totenkopf. Ihm grauste. Er wollte es nicht wissen. Als er klein war, da kamen Herren zu Besuch. Sie zogen sich mit Mutter zurück. Manchmal horchte er an der Tür: Warschau, Ghetto-Aufstand, Versetzung, Kamerad Haberstock, Führer, Vaterland, Argentinien, Mengele, Höß, Rudel, Eichmann. Seine Mutter hatte leise und still gelitten. Vater wurde vermisst. Wie so viele. Haberstock wuchs ohne ihn auf. Nun passierte er die Ausfahrt nach Auschwitz. Die Historiker und Politologen der Philosophischen Fakultät sprachen immer wieder über Auschwitz und das kollektive Gedächtnis, über den Holocaust, die Shoa. Haberstock wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Sein Zuhause war die Biologie, genauer gesagt, die Familie der Biber. Bereits als kleiner Junge war er an den Bächen und Flüssen der Eifel auf der Suche nach Biberspuren gewesen. Er war damals die Rur entlang geradelt, warf seinen Blick auf die Bäume am Ufer und krachte oft mit anderen Radlern zusammen. Sein Blick galt den Bibern. Diese Nager, diese possierlichen Tierchen, wie Loriot einst sagte, sie wurden der Kern seiner Forschung. Er, Haberstock, war die Biberkoryphäe in Europa. Wäre doch gelacht, wenn er den Polen nicht helfen könnte. Vortrag und Ortsbesichtigung in Lesko und Cisna am Fluss Solinka; er würde rasch die geeigneten Maßnahmen und Methoden vorschlagen und darüber dann einen Aufsatz schreiben.

Kurze Zeit später tauchte die Abfahrt Krakau-Zentrum auf. Seine Nachbarin im Bus, die erzählfreudige Doktorandin Agnieszka Globus aus Krakau mit ihren langen schwarzen Haaren, empfahl ihm die Sehenswürdigkeiten. Sie stammte, wie sie mit einem leicht polnischen Akzent sagte, aus der Stadt an der Weichsel, promovierte in Göttingen an der Fakultät für Agrarwissenschaften und sollte eines Tages den Kleinbauernhof ihrer Großeltern in der Nähe von Krosno zu einem Musterbetrieb für biologische Landwirtschaft entwickeln. Das erzählte sie dem liebenswerten alten Herrn Professor, der seine väterlichen Augen nicht von ihr wenden konnte, auch nicht von ihrem knappsitzenden T-Shirt unter dem wärmenden Mantel und der hautengen Lederhose. Sie schwärmte mit Begeisterung und Freude von den Tuchhallen, dem Wawel, den Planty, der Universität und dem jüdischen Stadtviertel Kazimierz. Dort habe Steven Spielberg einst Szenen für »Schindlers Liste« gedreht. Dort finde jedes Jahr im Sommer ein jüdisches Kulturfestival statt. Haberstock müsse einfach im Sommer wiederkommen und nicht im Februar. Im Sommer, vor der Marienkirche, da sei es fast so wie in Italien, nur anders, aber auch wieder nicht sehr viel anders. Ach, dem Turmbläser, dem müsse er zuhören. Er spiele zu jeder vollen Stunde und verstumme plötzlich. Zur Erinnerung an den Bläser, der vor dem Angriff der Tataren mit einem Signal warnte und mitten im Ton von einem Pfeil im Hals getroffen wurde. Haber­stock schauderte ein wenig. Doch das Lächeln der vollen Lippen von Agnieszka lenkte ab. Er dachte an Napoleon. Da war doch was mit einer polnischen Liebe. Die Aussichten bei der Fahrt durch Krakau vertrieben die Gedanken an den kleinen Korsen. Die Straßen waren belebt, die Straßenbahn brummte um die Innenstadt, der Turm der Marienkirche strahlte, der Wawel war leicht mit Schnee bedeckt. Haber­stock reichte Agnieszka seine Visitenkarte und näherte sich ihr mit dem Restduft seines After Shaves bedrohlich, nahm erstaunt und dann erfreut die Apfelsaft-Minz-Flasche von ihr als Geschenk, die sie ihm so gerade vor die Nase hielt, damit er ihr nicht die Wange küssen konnte.

»Dzienkuje, danke, danke, liebe Pani Agnieszka. Sie haben einem alten Professor die Fahrt verkürzt und meine Vorfreude auf Krakau enorm gesteigert. Sie sind eine wundervolle Botschafterin Ihres Landes. Danke, danke. Viel Erfolg für Ihre Doktorarbeit. Wenn Sie nach Aachen kommen, bitte melden Sie sich. Ich habe auch ein Gästezimmer. Leben Sie wohl.« Das Gästezimmer war leicht geflunkert, eher ein Klappsofa im Arbeitszimmer. Er dankte nochmals für die Einladung, dann nahm er ein Taxi zur Ulica Garbarska, sein Zimmer war reserviert. Morgen würde er vortragen, übermorgen eine Exkursion nach Lesko machen. Die Luft im Bus war trocken, er trank stets zu wenig, wie so viele alte Menschen.

Haberstock und die Unbedenklichkeit

Haberstock hatte als ordentlicher Professor gezockt. Er hatte für sein Leben gern gezockt und war früher Stammgast im Aachener Casino, als dort die Kugel noch rollte. Er hatte seine Ehe verzockt und die Zuneigung seiner Kinder, sein Haus, seine Grundstücke und hätte fast Privatinsolvenz anmelden müssen, wenn er nicht einen Auftrag erhalten hätte, der ihn zurück ins wahre Leben holte. Das wahre Leben hielt ihn auch noch nach der Emeritierung über Wasser, denn die Biber, die vermehrten sich in demselben unaufhörlich.

Das Gutachten, das er damals fertigen sollte, war entscheidend für ein Urteil, von dem Millionen abhingen. Euro, nicht Biber. Und mit Blick auf die Millionen und die Biber, da entschied sich Hermann Haberstock für die Millionen. Ja, es sei vertretbar, an den Ufern der Urft einen Freizeitpark mit 150 Ferienhäusern anzulegen. Ein kleines Dorf, vor allem für die Nachbarn aus den Niederlanden, die rasch in die Eifel kommen wollten, Ferien machen, wandern, Berge, endlich mal Berge sehen. Denn vom flachen Land, da hatten sie genug: Niederlande eben. Haber­stock trat damals in den Gemeinderäten als Herr Professor Haberstock von der RWTH Aachen auf. Redegewandt, ein wenig eitel, Powerpointpräsentation von seinem Assistenten erstellt. So hatte er vor den Damen und Herren des Gemeinderates in Gemünd gestanden und erläutert, dass es dem Biber an der Urft nur guttun würde, quasi eine Dauerkur, wenn er von der Urft an die Rur transloziert würde. Dem Bau einer Anlage von Eifelbungalows für die lieben Nachbarn aus Limburg und die entfernten Nachbarn aus Friesland stünde aus seiner, sozusagen biberfachlichen Sicht, nichts im Wege. Nur die Entschlusslosigkeit der Mitglieder in der Gemeindeversammlung des Kneipp-Kurortes Gemünd, gelegen am schönen Flussbett der Urft. Zudem fließe die Olef ja auch in die Urft, und somit sei klar, dass hier auf den wenigen Restmetern bis zur Urfttalsperre nun wahrlich nicht zwingend eine Familienzusammenkunft mehrerer Eifelbiberclans erfolgen müsse. Das saß. Und in einer der hinteren Reihen saß damals Dr. Wilfried Brauers, lebendig, rotwangig, aufmerksam und in feines Tuch des Aachener Herrenausstatters Wienand gekleidet. Er hatte innerlich frohlockt am Ende der Gemeinderatssitzung. Vor seinem geistigen Auge hatte er bereits damals die naturbelassenen Kleinsthäuser, die PKW mit den gelb-schwarzen Kennzeichen aus den Niederlanden, die Schlangen im kleinen Supermarkt der Gästesiedlung gesehen. Auch nicht viel anders als in Domburg, Middelburg und all den anderen Urlaubsorten an der niederländischen Küste, die wiederum die Aachener in- und auswendig kannten. Wollte man im Sommer mal einige Geschäftskontakte mit Aachener Unternehmern in Ruhe anbahnen, so brauchte man nur dort ein Haus zu mieten. Nun sollte die Retourkutsche erfolgen. Niederländer bevölkern die Eifel, wandern sich die Hacken wund, bewundern Rur, Urft, Olef und lassen Knete in den Kassen von Dr. Brauers und den Gemeinden, den Bauunternehmern, den Kneipen und Gasthöfen, in Vogelsang und Einruhr, in Woffelsbach und Gemünd, in Dreiborn und in Rurberg und Heimbach. An den exponentiell ansteigenden Abverkauf der Erbsensuppe in Mariawald hatte er da noch gar nicht gedacht. Noch am Abend nach besagter Gemeinderatssitzung hatten Dr. Wilfried Brauers und Professor Hermann Haberstock im Restaurant »La Becasse« in Aachen gegessen, mit einem edlen Tropfen auf diesen rhetorischen und inhaltlichen Erfolg angestoßen und irgendetwas vom Lamm mit ganz besonderen Kartoffeln und ganz besonderer Soße und danach ein Sorbet verzehrt. Oder so ähnlich. Die Erinnerung wurde durch den Aperitif, den schweren Rotwein, getreten von ehrlichen Füßen italienischer Winzer, einem Digestif aus den Tiefen des Schwarzwalds, beste Ware, so eingetrübt, dass am Folgetag die Aktien des Aspirinherstellers einen Satz nach oben machten.

Haberstock hatte Dr. Brauers kennen und schätzen gelernt. Brauers, der Macher, der Gestalter, der die Eifel aus dem Dornröschenschlaf holte, sie wachküsste und Arbeitsplätze schuf. Da mussten die Biber mal hintenanstehen. Und Haberstock wurde wieder flüssig, liquide, konnte endlich mal eine Kollegin zum Essen einladen, war wie befreit, nahm Einladungen zu Kongressen und Vorträgen an. So gelangte er als Emeritus zur Leopoldina im Winter 2018 und stolperte über tote Biber. Böses Omen.

Mit großer Spannung wurde Haberstock nun in Krakau im »Dom Profesorski« in der Ulica Garbarska erwartet, dem Gästehaus der zweitältesten Universität Europas. Prof. Zamek, Leiter des Zentrums für Flora und Fauna der Vorkarpaten, suchte händeringend neue Methoden zu Bekämpfung des Nagers. Der Marschall der Woiwodschaft Vorkarpaten saß ihm im Nacken. Forschungsgelder wurden mit Fragezeichen versehen. Dieses verdammte Biberproblem müsse in den Griff zu bekommen sein. Die Vertreter von Tourismus und Landwirtschaft standen dauernd beim Marschall im Büro. Langsam bekam er Albträume. Zum Glück gab es noch Wodka aus Łancut, der beruhigte seine Nerven und führte zu einem tiefen Schlaf wie in der kommunistischen Kindheit.

Haberstock trank auf seinem Zimmer die Flasche mit der Apfelsaft-Minz-Mischung in einem Zug leer. Erfrischt legte er sich auf das Bett und freute sich auf das Abendessen im Restaurant Hawelka auf dem großen Marktplatz mit Blick auf die Tuchhallen und einen Vorabbesuch in der Marienkirche. Der Altar von Veit Stoß, den wollte er unbedingt betrachten. Ach, das Leben war immer wieder für Überraschungen gut. Die Freude nahm kein Ende, denn er wurde nicht mehr wach.

Tiere, Träume, Terroristen

Freitagnachmittag Anfang Februar 2018 in Aachen. Karnevalszeit. Kurze Session. Schon am 12. Februar war Rosenmontag. Offiziere der Oecher Penn huschten am Dom vorbei auf dem Weg in Richtung Eurogress. Es regnete. Überall Berliner und Puffel und Fettgebäck in den Auslagen der Bäcker. Kam man abends an einer Kneipe vorbei, dröhnte es: »Hurra tsching bumm, Hurra tsching bumm – die Prinzengarde ist da!« Der Prinz mit Hofstaat war unterwegs. Der »Orden wider den tierischen Ernst« war am Samstag, dem 27. Januar 2018, an Winfried Kretschmann verliehen worden, den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der knarzende Kretschmann hatte sich wacker geschlagen. Gregor Gysi, linker Liebling des Establishments, hielt eine knackige Laudatio. Alles war im Lot. Ein großer Teil des Publikums freute sich auf die nächste Ordensverleihung: Karlspreis an Emmanuel Macron im Mai. Die Herren warteten auf Brigitte und die Damen auf Emmanuel. Beim Oberbürgermeister stand das Telefon nicht still. So viele frankophile Freunde im Bürgertum waren ihm neu.

Kommissar Fett hatte Schuhe gekauft. Cappuccino im »Café zum Mohren«. Am Abend »Three Billboards outside Ebbing, Missouri« mit Iska. Im Grunde alles in Ordnung. Fast.

Vorbereitung auf Kurdendemo in Köln. Sondereinsatzkommando Bonn in Bereitschaft. Schwere Ausschreitungen möglich. Die Absage für den Kinobesuch von Iska, durchtrainierte Leiterin des SEK Bonn, kam wie so oft. Die Zahl der Überstunden wuchs ins Unendliche. Reichsbürger, Linksautonome, sogenannte Aktivisten im Hambacher Forst, Clans im Ruhrgebiet, Folterknechte unter den Flüchtlingen. Seit dem Angriff auf »Charlie Hebdo« war die Sicherheitslage angespannt. Iska, der Sonnenschein aus Bonn, fand kaum noch Zeit, um mit Michael Fett durch die Eifel zu wandern, ins Kino oder Theater zu gehen. Die Einsätze im Hambacher Forst gingen ihr nicht aus dem Kopf. Selten hatte sie so radikale Demonstranten erlebt. Im Grunde waren es keine Demonstranten. Sie verklärten ihre kriminellen Ausschreitungen mit einem höheren Ziel und instrumentalisierten die friedlichen Protestierer für ihren Hass auf das Gesellschaftssystem. Baumfallen, mit Fäkalien beschmierte Pfeile, Bitumenbomben, Steinschleudern, Zwillen mit Stahlkugeln – das ganze Arsenal. Der Zweck heiligte für sie die Mittel. Die Gleichsetzung von Braunkohletagebau mit Nationalsozialismus war die verquere Spitze dieser ideologischen Verblendung und beschädigte die friedvollen Massenproteste der bürgerlichen Umwelt- und Klimaschützer. Iska trennte Müll, fuhr Rad, nahm den Zug, kaufte in den Supermärkten unverpackte Ware. Natürlich musste sich was verändern. Das war ihr so klar wie vielen Kollegen. Der Hass des harten Kerns im Wald ängstigte sie. Hier ging es nicht um den Wald. Hier ging es um das System, um die Demokratie.

Iska und ihr Team mussten die Einsatzhundertschaft aus Aachen unterstützen, wenn die gewalttätigen Umweltterroristen mit ihren verklebten Fingerkuppen auf die Polizei losstürmten. Die Rädelsführer wurden identifiziert und von ihrem SEK-Team festgenommen. Meist nur für kurze Zeit. Sie zweifelte am Rechtsstaat, an seiner Wehrhaftigkeit. Immer mehr Frust baute sich auf und schwappte in ihre Beziehung zu Michael Fett, der in Aachen Mordfälle aufklärte. Fett beruhigte mit seinem Interesse an Literatur, Film und Theater, seinen manchmal irritierenden Ansichten zum Lauf der Zeit. Immer wieder kamen ihnen die Einsätze dazwischen. Nicht viele Polizistinnen leiteten in Nordrhein-Westfalen ein Spezialeinsatzkommando. Sie spürte den Druck. Er beflügelte sie. Sie war ein Vorbild für viele andere SEK-Leiter und hielt Vorträge an der Führungsakademie. Fett kam abhanden. Sie sahen sich kaum noch. Jetzt lief Iska den Rhein entlang. Acht Kilometer, wie jeden Tag.