Roter Mohn verblasst nicht - Wilfried Stüven - E-Book

Roter Mohn verblasst nicht E-Book

Wilfried Stüven

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Beschreibung

Geheimnisse zwischen Bremen und Kreta Kreta, 1976 – durch Zufall trifft eine Gruppe junger Menschen aufeinander und beschließt, die Zeit auf der Insel gemeinsam zu verbringen. Claudia und Rudi verlieben sich auf den ersten Blick ineinander und sind unzertrennlich. Doch auch Tom verliebt sich in die attraktive Frau. Blind vor Eifersucht setzt Tom eine Lüge in die Welt, die auch nach Jahrzehnten noch weitreichende Folgen hat, denn die kurze Liebe zwischen Claudia und Rudi hat ungeahnte Früchte getragen. Bremen, 2017 – Claudia stößt auf einen Roman, in dem sie ihre eigene Geschichte wiedererkennt. Der Autor ist ihre einstige große Liebe Rudi. Doch auch Tom erfährt von dem Roman. Von seiner nie überwundenen Eifersucht getrieben, beschließt er, nach Kreta zu fliegen und seinen verhassten Rivalen zu töten, um Claudia endlich ganz für sich allein zu haben. Als Claudia von Toms Reise erfährt, hat sie eine schlimme Vorahnung und reist ebenfalls nach Kreta. Ein spannender Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Martha Bull

Frau Friese und der Tiermörder

Kriminalroman

Band 5 der

Frau-Friese-Reihe

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2017 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Bernd Raatz, Klaus Kellner

Satz: Merle Schiebeck

Umschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldt, Bremen

ISBN 978-3-95651-159-2

Die Autorin

Martha Bull wurde 1949 in Bonn geboren, hat dort auch ihr Abitur gemacht. Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Politik und Deutsch für das Lehramt in Bonn und Marburg schloss sie in Berlin ihr Referendariat ab. Seit 1979 lebt sie in Bremen. Hier hat sie lange in der Erwachsenen-bildung gearbeitet, unter anderem in einer freien Modellschule. Seit 1997 ist sie in der Kinderbibliothek im Viertel beschäftigt. Dort arbeitet sie auch über ihren Renteneintritt 2015 hinaus.

Veröffentlichungen:

• Hanseatisch cool – Beitrag in: Witte, Katharina (Hg.): Jetzt kommse übern Deich – 20 Jahre Bremer Karneval, Edition Temmen 2005

• Die Videobotschaft, Langlhofer Verlag 2007 ISBN 978-3-938487-24-2

• Frau Friese und der Fenstersturz Edition Temmen 2013

• Frau Friese und das Bunkergrab Edition Temmen 2014

• Frau Friese und die tödliche EinladungKellnerVerlag 2015

• Frau Friese und die finstere VerwandtschaftKellnerVerlag 2016

• Frau Friese und der TiermörderKellnerVerlag 2017

1.

Puh, es wird wieder heiß heute, da muss der Müll aus dem Haus, sonst verpestet er die Küche. Gut, dass gleich geleert wird. Ächzend bücke ich mich nach dem Beutel mit meinem Abfall. Aua! Der Rücken wird auch nicht jünger. Am besten wickle ich noch eine Zeitung herum. Da stutze ich.

»Giftige Hundeköder ausgelegt«, springt mich eine Überschrift im Kurier an. Das habe ich gestern ganz überblättert. Wer macht denn so etwas? Erschrocken sehe ich zu Teufel hinüber, der schon an der Tür aufs Gassigehen wartet. Wo sind diese Köder? Ach, in Hamburg. Erleichtert atme ich auf. Hamburg ist weit, tröste ich mich.

Verrückte gibt es überall, schießt es in meinen Kopf.

Ich lege Teufel die Leine an, knuffele den schwarzen Kobold liebevoll, bis er mir mit der Zunge über die Nase fährt. »Du Guter«, murmel ich gerührt. »Hauptsache, dir passiert nichts. Du bist mir der Liebste!« Fröhlich trete ich hinaus.

Da plötzlich zerrt Teufel an der Leine, reißt mich fast die drei Stufen hinunter, jault die Mülltonnen an. Was hat er? Oh, jetzt rieche ich es auch. Es stinkt. Wie faules Fleisch. Igitt, wie eklig.

Oh nee aber auch! Was ist denn jetzt wieder los? Muss ich immer in irgendwelche Machenschaften verwickelt werden? Kann ich nicht mal ein paar friedliche Monate verbringen?

Waltraud, spinn nicht rum, was denkst du nur? Wird schon keine Leiche in deiner Tonne sein. Ich will lachen, aber so ganz gelingt es mir nicht.

Ich bitte dich! Sicherlich ist das der Bio-Müll. Wahrscheinlich hat Frau Ahrens aus dem dritten Stock mal wieder das vergammelte Katzenfutter einfach so weggeworfen. Kein Wunder, dass Teufel wild geworden ist. Hunde fressen ja alles, während Miezi viel pingeliger ist. Die frisst nur vom Feinsten, deshalb hat die olle Ahrens zu viel Müll. Muss sie denn alles direkt in die Tonne schütten? Kann sie nicht die Stinkerei in ’nen Büdel verpacken? Zumindest jetzt im Sommer, wenn alles so schnell verdirbt? Das zieht bloß die Ratten an, wie oft habe ich ihr das schon gesagt. Es kann doch nicht so schwer sein, etwas Papier herum zu wickeln – das dauert keine Ewigkeit.

Aber nein, ich bin die senile Alte, die nicht versteht, dass Frau Ahrens soo beschäftigt ist.

Schade, denn als sie oben einzog, mochte ich sie. Inzwischen grüßen wir uns nur noch sehr knapp, wenn wir uns gelegentlich begegnen.

»Dat du min Leevsten büst, dat du woll weeß …«

Nanu, wer singt so schön am frühen Morgen? Neugierig sehe ich mich um. Aha, Frau Baumann von nebenan! Was für eine klare Stimme sie hat – ist doch schon weit über 80 Jahre alt. »Kumm bi de Nacht«, singt sie weiter. Sie steht am offenen Fenster und spielt dabei mit ihrem goldenen Medaillon. Dass sie den Text auswendig kennt! Ich wäre über die erste Zeile nicht rausgekommen. Dabei ist Frau Baumann dement oder verwirrt oder so. Manchmal wirkt sie allerdings völlig normal. So wie jetzt. Als sie mich sieht, winkt sie sogar vergnügt.

Schick sieht sie immer aus. Nicht aufgedonnert, oh nein – hanseatisch bescheiden, wie wir es in Bremen gern mögen. Gediegen gekleidet, alle Achtung!

Plötzlich fällt mir dieser Spruch ein: Vögel, die morgens singen, holt abends die Katz’! Wie boshaft, Waltraud. Gönn der Frau doch, dass sie fröhlich ist. Schlimm genug, wenn man allmählich abdriftet ins Unbestimmte.

Davor fürchte mich am Meisten, dass ich langsam dement werde. Wenn ich mal wieder vergesse, wo meine Lesebrille ist. Oder wenn ich losgehe, um etwas zu besorgen, um dann neben der Tür zu stehen und mich zu fragen, warum ich eigentlich aufgestanden bin. Vielleicht ist es nicht schlimm, wenn man es endgültig ist, aber zu merken, wie einem zunehmend alles entgleitet – huh.

Warum grübelst du schon am frühen Morgen, Waltraud, die Sonne scheint. Gleich treffe ich wieder Rita mit Hexe am Osterdeich und kann Dönekens erzählen. Noch funktioniert mein Gedächtnis schließlich bestens.

Teufel reißt mich aus meinen Gedanken. Er tanzt auf den Hinterbeinen und bellt, will unbedingt an die Mülltonnen ran. Aber he, jetzt stemmt er seine Vorderpfoten gegen meine Tonne. Ist da etwas drin, was er haben möchte? Kann eigentlich nicht angehen. Misstrauisch hebe ich den Deckel hoch.

Huch! Die Tonne ist randvoll! Wie kann das denn sein? Dieser graue Müllsack ist garantiert nicht von mir. Nein, ganz bestimmt nicht. Solch einen Plastikverschluss mache ich nie oben drum. Besitze ich gar nicht, so ein Zeug, nehme immer Säcke mit einem Zugband.

Frechheit. Da schmeißen irgendwelche Leute ihren Abfall bei mir hinein. Kostet doch alles mein Geld. Muss ich jetzt etwa anfangen, meine Tonne abzuschließen? Irgendwann laufen wir alle mit Ritterrüstungen herum, damit man uns nicht das letzte Hemd stiehlt. Fürchterlich.

Ach, Waltraud, lass man gut sein, deshalb verhungerst du nicht. Natürlich nicht, darum geht es gar nicht, es geht um die Dreistigkeit dieser Leute, die würden genauso wenig verhungern wegen einer zusätzlichen Leerung. Passt meine Tüte da noch drauf? Ich ruckele an dem grauen Beutel, versuche, ihn in die Tonne zu drücken, um Platz für meinen eigenen zu bekommen. Dabei reißt das Plastik auf, etwas großes Weißes bricht durch die Folie. Ein widerlicher Gestank strömt mir entgegen. Entsetzt lasse ich den Deckel zufallen. Teufel heult jetzt zum Steinerweichen.

»Halt dein Maul«, schreie ich ihn an, eigentlich deshalb, weil ich so erschrocken bin. Der Hund hört sowieso nicht auf mich. Ich stolpere zwei Schritte zurück. Mein Magen rebelliert. Ich würge. Oh, bitte nicht, ich kann mich doch hier nicht übergeben, in aller Öffentlichkeit. Mühsam unterdrücke ich den Brechreiz, kneife mir die Nase zu. Lieber Gott, was ist da bloß drin in dem Sack?

Hühnerknochen vielleicht? Nein, die alleine können nicht so stinken, da muss das halbe Huhn mit drangehangen haben.

Wieder nein, Waltraud, für ein Huhn war dieses weiße Etwas zu groß. Das muss … das muss ein Knochen gewesen sein.

Unwillkürlich fällt mir der tote Junge ein, den Hund Gottfried vor einem Jahr in der Baugrube des Bunkers gefunden hatte, zuerst auch nur einen Knochen. Ich ziehe schaudernd die Schultern hoch wegen der entsetzlichen Erinnerung.

Waltraud, der Knochen war viel größer, versuche ich mich zu beruhigen. Der menschliche Körper hat aber auch kleinere, murmelt es in meinem Kopf. Lass das! Wieder würgt es mich.

Mach dich nicht lächerlich, Waltraud, wie kommst du nur auf so etwas? Wie schrecklich!

Hilft nix, ich muss meinen eigenen Müll wegwerfen. Ob ich ihn ausnahmsweise bei Karin Groote dazulegen darf?

Was du nicht willst … Waltraud. Stell dich nun nicht so an. Ich atme tief ein, halte die Luft an und wende das Gesicht ab. Also schnell: Tonne auf, Beutel fallen lassen, Deckel zu. Puh!

Ich atme lange wieder aus. So, das war’s.

Hoffentlich, murmelt es in meinem Kopf. Sei still! Lass die Spökenkiekerei! Nichts ist passiert.

»Bäh, Waltraud, haben Sie ein Schwein geschlachtet?«, klingt Karin Grootes Stimme hinter mir. Erst jetzt merke ich, dass ich auch die Augen zugekniffen habe. So ein Unsinn, Waltraud. Ich drehe mich um. Karin lehnt an der Pforte. Müde sieht sie aus, hatte sicherlich Nachtdienst in der Klinik.

»Nein, Karin, das kommt von diesem fremden Müllsack in meiner Tonne. Irgendwelche Leute haben ihren Abfall bei mir abgeladen. Unverschämt. Es stinkt bestialisch.«

»Darum wohl«, nickt die junge Frau. Dann zieht sie die Augenbrauen zusammen. »Gefällt mir nicht, riecht eindeutig nach Verwesung, da gammelt Fleisch und nicht nur 100 Gramm Gehacktes.« Sie zuckt die Achseln. »Obwohl das reichen kann, um die Umwelt dieser Straße zu verpesten.« Sie hebt den Deckel vorsichtig an, stutzt und berührt neugierig das weiße Etwas. Ja, das ist ein Knochen, eindeutig. Und so voll, wie der Sack ist, kann es kein Huhn sein.

Egal, es ist ekelhaft.

»Nicht, Karin«, bitte ich. Teufel bellt wieder wie hysterisch und zerrt an der Leine. Der Geruch muss ihn wahnsinnig machen. »Die Müllabfuhr kommt gleich, dann sind wir das los. Bitte, Karin.«

Zögernd klappt Karin die Tonne wieder zu. »Komischer Knochen …«, murmelt sie. Dann schüttelt sie energisch ihre schwarzen Locken. »Sie haben Recht. Gehen Sie mal einen Schritt zur Seite, Waltraud, ich schiebe die Tonne jetzt an den Straßenrand. Dann können sich alle daran delektieren.«

»Vielleicht eine tote Katze«, überlegt sie laut, während sie das Gerät vorsichtig über die Schwelle wuchtet. »Muss ein großes Vieh gewesen sein. Oder ein …« Sie bricht ab, schaut schnell zu Teufel und mir, presst kurz die Lippen aufeinander. »Ein dicker Kater vielleicht«, murmelt sie. Die Tonne wackelt und rumpelt.

Pass auf, Mädchen! Fehlt nur noch, dass da etwas rausfällt. Igitt, nicht auszudenken.

Warte, was hat sie gesagt? Tote Katze? Wie bitte? In meiner Tonne? Das tut man nicht. Aber wer will so etwas vor der eigenen Haustür haben!

Das Bild des Knochens will mir nicht aus dem Kopf gehen, als ich allmählich Richtung Weserstadion weitergehe, wo Rita sicherlich längst auf mich wartet.

»Katze« hat Karin gesagt, beschwichtige ich mich. Karin ist Ärztin, die muss es wissen. Katze, Waltraud. Nichts anderes. Doch Moment, was sollte dieser schnelle Blick eben bedeuten? Hat sie etwa an einen Hund gedacht? Erschrocken lege ich die Hand vor den Mund. Heißt das … muss ich Angst um Teufel haben? Unsinn, Waltraud, du kommst auf dumme Gedanken!

Langsam, meine Liebe, wiegele nicht gleich ab. Für eine Katze war dieses Paket wirklich zu groß.

Nicht, wenn das tote Tier steif war. Dann ist es sperrig.

Igitt, Waltraud, hast du es nicht ein bisschen weniger widerwärtig?

Wie auch immer, das war ein totes Tier und gehört nicht in eine Mülltonne. Egal, ob Hund, Katze oder … nein, das denke ich jetzt nicht zu Ende. Niemand hat das Recht, mir etwas Totes in den Müll zu werfen. Wenn dies ein böser Streich war, geht es nicht um eine gesparte Leerung, dann will mich jemand persönlich damit treffen. Dann, liebe Waltraud, kann es nur um meinen Teufel gehen.

Spinn nicht rum, du hast entschieden zu viel Fantasie, vor allem bei deinem … was du nicht zu Ende denken möchtest. Das ist und bleibt ekelhaft und ist nicht akzeptabel. Dadurch wollte dir jemand eins auswischen. Es gibt ein paar Leute hier umzu, die dir Übel wollen. Hast du den Menschen vergessen, der dir eine Schlinge an die Tür gehängt hat? Das ist gerade vor ein paar Monate geschehen. Der lebt hier immer noch. Vielleicht macht es solchen verqueren Naturen Spaß, dich zu ängstigen. Wer weiß?

Also lass man gut sein. Wenn du dir keine Angst machen lässt, hört der Unsinn schnell wieder auf, mache ich mir Mut.

Energisch schiebe ich den ganzen Tünkram beiseite.

In dem Augenblick kommt mir der Postbote entgegen. »Guten Morgen, Frau Friese, warten Sie, ich habe Post für Sie.« Schnell kramt er in seinem Karren herum, reicht mir einen Brief und eine Postkarte herüber. Mit der anderen Hand knuffelt er Teufel, der sich das schwanzwedelnd gefallen lässt. Manchmal hat der freundliche Mann ein Leckerli dabei, das er Teufel geben darf, solange keine Gewohnheit draus wird. Heute bleibt es beim Streicheln.

»Ich muss weiter, Frau Friese, schönen Tag wünsche ich Ihnen«, winkt mir der Briefträger zu und springt die Stufen zum nächsten Haus hoch. Der braucht nicht ins Sportstudio. Neugierig schaue ich auf die Post. Der Brief ist von der Sparkasse, sicherlich die Auszüge. Ich stecke ihn ungeöffnet in die Tasche.

Von wem wohl die Ansichtskarte ist? Blaues Meer und Palmen! Wie ist das schön. Ich sollte auch mal verreisen. Oh, von Elsbeth. Sie ist auf Kreta, hat sich dort für ein paar Wochen ein Haus gemietet. Ich hätte mitfahren können, erinnere mich an ihr freundliches Angebot. »Komm endlich raus aus deinem Peterswerder, Waltraud. Du musst nicht mehrere Wochen bleiben. Warst du überhaupt schon mal im Ausland?«

Nein, war ich nicht. Hans-Georg wollte nicht verreisen, das war ihm zu unordentlich. Alleine hätte ich nie Urlaub gemacht. Der Gedanke wäre mir nie gekommen, eine Ehefrau, die ohne ihren Mann fährt. Undenkbar! Ich lache still vor mich hin, wo habe ich eigentlich gelebt? Sind wir nicht die berühmten 68er? Neben mir spielten die jungen Leute Revolution, und ich saß da mit meinem Mann, verklemmter als meine Oma vor hundert Jahren. Ich komme mir vor wie 1868, wenn ich zurückschaue.

Teufel zieht an der Leine. Oh, ich muss wirklich weiter, Rita wird sich schon wundern, wo ich bleibe. Trotzdem geht mir Elsbeth nicht aus dem Kopf. Denn eigentlich hat es mich gereizt, mitzufahren. Aber, nun ja, da war dieses »Aber«. Elsbeth liebt Frauen und nun, wo sie sich von Nora getrennt hat, ist sie wieder frei. Ich mag sie gern, also als nur als Freundin. Und sie?

Damals fühlte ich mich unsicher. Ob sie was von mir will? Sie weiß doch, dass ich äh … nicht so bin wie sie. Andererseits, vielleicht will sie im Urlaub nur eine Freundin dabei haben, ganz einfach so. Ich habe mich auch nicht getraut, mit irgendjemandem darüber zu reden. Vielleicht war das falsch. Nun ist es zu spät. Ich seufze tief, schiebe die Karte ungelesen in die Tasche.

2.

An der Unterführung zum Weser-Stadion löse ich Teufels Leine, denn schon stürzt Hexe, Ritas kleine Promenadenmischung, schnell auf uns zu, kriegt sich gar nicht mehr ein vor Freude, springt an mir hoch, japst und bellt. Jetzt bellt auch Teufel wie verrückt, was machen die für einen Lärm. Im Nu stieben sie davon, jagen sich den Deich rauf und runter. Sie werden sich hoffentlich müde rennen.

Rita winkt heftig von weitem, ihr Federhut wackelt bedenklich auf dem Kopf, ihre weißen Löckchen scheinen vor Aufregung mitzuschwingen. Ist etwas passiert?

»Waltraud, da bist du ja endlich«, ruft sie mir entgegen, streichelt nur nebenher Teufels schwarze Locken, als der sie begrüßend umspringt.

»Stell dir vor, ich bekomme Besuch! Richtigen Besuch, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Enkeltochter aus Süddeutschland kommt mit Mann und Kindern für ein paar Tage nach Bremen. Ist das nicht herrlich? Sie waren überhaupt noch nie bei mir. Wir haben uns bestimmt vier Jahre lang nicht gesehen, sie waren für ein paar Jahre im Ausland, in Dubai, wo sie die hohen Türme bauen. Mittenmang in der Wüste, erzählte Julius, das ist mein Schwiegerenkel – sagt man so? Also der Mann von Claudia, meiner Enkelin, der dort mitgebaut hat. Deshalb waren sie so lange da unten in der Wüste.«

Sie schaut irritiert, muss mir meine Verwirrung wohl ansehen. »Kannst du folgen?« fragt sie etwas atemlos. Rita und ihre Sätze ohne Punkt und Komma. Ich lache.

»Langsam, Rita. Was hat dein Schwieger-frag-mich-wer gebaut? Einen Turm? Was wollen die in der Wüste mit einem Turm? Ist es da nicht platt? Kann man auch ohne weit gucken.« Doch keinen Aussichtsturm, Waltraud, stell dich nicht dösiger, als du bist, geht mir zugleich durch den Kopf.

»Was weiß ich?«, zuckt Rita die Achseln. »Die haben wohl zu viel Geld für das Erdöl erhalten, deshalb können sie bauen, was sie wollen. Vielleicht beabsichtigen sie, dem Turm zu Babel Konkurrenz zu machen, obwohl – es sind keine Christen, oder passte das trotzdem? Wie war das noch? Ach je, Bibelfest bin ich eindeutig nicht mehr. Verstehst du, was ich meine?« Rita kräuselt kurz die Stirn.

Ich versuche gar nicht mehr, alles zu begreifen, ich merke, sie ist völlig überdreht vor Aufregung, dann muss man sie plappern lassen.

»Mein, äh nein … ich meine Claudias Julius war in Dubai als eine Art Bauaufseher tätig. Er hat meine Enkelin mitgenommen und die Kinder, also die Urenkel, die noch nicht in der Schule sind, dann geht das. Obwohl ich es nicht gern gesehen habe, so kleine Kinder in diesem heißen Land. Wüste ist schließlich gefährlich, nicht wahr, du verstehst.

Dazu kommt, dass alle dort Muslime sind, also Islamisten oder, nein, das sind die Radikalen, aber eben schon mit Schleier und allem, du weißt schon was ich meine. Ich wollte nicht, dass meine Enkelin so rumlaufen muss, vor allem, weil es da unten sehr heiß ist, besonders unter so einem Talar, sag ich immer dazu, wie die Nonnen bei uns. Nee aber auch, darunter muss man bestimmt entsetzlich schwitzen.«

»Halt, halt, Rita«, unterbreche ich sie nun. »Wann kommen sie denn an?«

»Anfang der Woche und bleiben ein paar Tage. Sie haben sich ein Hotelzimmer genommen, ist mir lieber so, mit den Kindern dauernd um mich rum in meiner kleinen Wohnung, das wäre mir bestimmt zu viel geworden. Zum Essen sollen sie natürlich zu mir kommen, dass gehört sich so.

Wie schade, dass mein Friedrich das nicht mehr erleben kann, er hat die Urenkel nicht mehr mitbekommen, da war er bereits tot. Dabei hat sich meine Tochter so beeilt mit dem Kinderkriegen, was hat sie uns für Sorgen gemacht. Unsere Elfie hat Claudia ja schon mit siebzehn bekommen. Ist aber alles gut gegangen. Sie haben später geheiratet, da war das Kind zwar lange da, aber wen hat das damals schon interessiert, waren ja die wilden Jahre, wo sowieso alle rumgemacht haben, du weißt, wie ich das meine.

Bloß Friedrich hat sich entsetzlich aufgeregt, wollte Elfie sogar aus dem Haus werfen. Das habe ich nicht zugelassen, Waltraud. Deshalb haben wir uns richtig gestritten, wie du dir vorstellen kannst.« Jetzt wedelt sie wild mit den Händen, als müsse sie sich erneut mit ihrem Friedrich streiten, richtig rot werden ihre Wangen dabei.

He, Rita, es ist lange vorbei, möchte ich sagen, doch sie rappelt atemlos weiter.

»Geht schließlich nicht, die eigene Tochter rauswerfen, und das Kindchen konnte am wenigsten dafür. Und jetzt hat Claudia diesen tollen Ehemann, der durch die Welt reist, weil er so schlau ist und solche Sachen bauen kann wie in Dubai. Wer hätte das damals gedacht.«

Nun seufzt sie in der Erinnerung. Ich weiß, sie mochte ihren Friedrich sehr gern, vermisst ihn immer noch. Was ich von Hans-Georg nicht sagen kann, das ist allerdings meine eigene Dummheit gewesen, hätte ihn ja nicht heiraten müssen. Da war Rita pfiffiger bei der Wahl ihres Mannes. Überhaupt ist Rita eine plietsche Deern, obgleich sie immer so komische bayrische Sachen anhat, darin wirkt sie etwas fremd, ein bisschen dümmlich. Nicht, dass ich denke, alle Bayern sind dumm, um Himmels willen, nein, aber diese Jankerl sehen eben etwas betulich aus.

Über Geschmack streitet man nicht. Rita ist eine meiner besten Freundinnen, die könnte mit einem Indianerschmuck kommen, ich würde sie mögen. Oder mit so einem, wie hat sie gesagt? Talar. Nein, so heißen diese religiösen Dinger nicht, sondern Burka, das liest man jetzt alle Tage in der Zeitung.

Nun hat der Mann der Enkelin an einem Wolkenkratzer gebaut. Stimmt, ich erinnere mich, dass ich etwas darüber im Fernsehen gesehen habe. Irgendwie protzig das Gebäude, habe ich damals gedacht.

»Er muss tolle Sachen erlebt haben in Dubai«, überlege ich laut. »Und ich habe mich nicht mal mit Elsbeth nach Kreta getraut.« Dann lachen wir beide.

»Waltraud du bist eben sehr häuslich. Ich bin dagegen immer gerne verreist, mit Friedrich durch die Alpen, ach, das war schön.«

Jetzt bekommt sie wieder diesen verklärten Blick in die Ferne, der mich immer ein bisschen eifersüchtig macht. Allerdings habe ich tatsächlich etwas verpasst in meinem Leben, was ich so ohne weiteres nicht mehr nachholen kann, denke ich ein bisschen traurig. Das geht ja allen Menschen so, kann ja nicht anders.

Das Meiste macht mir nicht viel aus, dafür habe ich eben andere Sachen erlebt. Dass ich keine Kinder habe, hat mich nie gereut. Ich kannte aber Frauen, die schmachtend in jeden Kinderwagen starrten, weil sie unbedingt ein Kind haben wollten. Ich hatte eine Kollegin im Möbelgeschäft, in dem ich als Verkäuferin gearbeitet habe. Die heulte Rotz und Wasser, wenn sie ihre Regel bekam, nicht, weil es wehtat, das sicherlich auch, nein, weil sie noch nicht schwanger geworden war.

Vielleicht wäre mit eigenen Kindern manches anders gekommen in unserer Ehe, vielleicht hätte Hans-Georg seine freundlichen Seiten zeigen können? Nein, eher nicht. Dazu hatte er Gefühle viel zu gut vergraben. Gehörte sich nicht für einen richtigen Mann, dachte er. Der hätte nie wie Jamal von schräg gegenüber einen Kinderwagen geschoben. Vermutlich wäre er ein furchtbarer Vater gewesen, ähnlich wie meiner. Immer nur meckern, diese Garnitur.

Nur manchmal, sehr selten, wenn ich mit Karin Groote aus dem ersten Stock zusammen bin, dann wünsche ich mir, sie wäre meine Tochter. Natürlich würde ich ihr das nie, nie sagen. Dabei weiß sie, dass ich sie mag. Ich vermute, sie hat schlimme Erfahrungen mit ihrer eigenen Familie gemacht. Selten lässt sie Bemerkungen fallen, dann gruselt es mich.

Wie ist es nur möglich, dass sie trotzdem solch eine gestandene Frau geworden ist? Was macht es aus? Eine gute Kindheit reicht vielleicht nicht oder sollte ich sagen, eine schlechte muss nicht schaden? Ach nee, das ist mir zu kompliziert. Ob ich eine Tochter so gut hingekriegt hätte?

Schade, dass man nicht doppelt nebeneinander her leben kann. Das wäre spannend. Einen Moment versuche ich, mir das vorzustellen. Ich einmal mit Hans-Georg ohne Kinder und daneben mit äh … Hoppla, meine Gedanken geraten in’n Tüdel, mit wem hätte ich denn Kinder haben wollen?

Wieso fällt mir da Paul ein, Ilses Mann? Waltraud! Der Mann deiner Freundin! Schäm dich. Liest du zu viele Kitschromane?

Ich will ihn ja nicht wirklich. Dabei weiß ich, dass Paul sich als junger Mann in mich verguckt hatte, Ilse hat es mir mal erzählt. Ich habe es leider nicht kapiert. Was das betrifft, war ich ein bisschen dämlich.

Ich werde tatsächlich rot. Ich alte Frau, bloß wegen so einem Hirngespinst. Was du manchmal denkst, Waltraud. Ist schon besser, dass wir nur einmal leben können. Ich würde sicherlich den größten Kuddelmuddel draus machen.

Jetzt lache ich laut auf.

Rita guckt mich erstaunt an. Sie hat inzwischen weitergeredet, ich habe gar nicht zugehört. Wie unhöflich.

»Entschuldige Rita, ich hatte gerade eine blöde Idee.« Sie ist ein bisschen eingeschnappt, merke ich. Bei Geschichten von Kindern und Enkeln schalte ich öfter auf Durchzug. Aber ich muss zugeben, dass Rita sich damit normalerweise zurückhält.

Wir sind mittlerweile um das Weser-Stadion herumgegangen, im Freibad hinter der Hecke kreischen Kinder. Die ersten Angler stehen an der Weser, dabei ist Ebbe, aber deren Leinen sind sehr lang. Enorme technische Wunderwerke sind das, nicht einfach ein Stock mit Strippe und Haken, womit wir als Kinder unser Glück versucht haben. Ich bin immer mit den Nachbarkindern losgezogen, hatte jedoch selten Erfolg. Mir fehlte die Geduld zum Angeln. Ich erinnere mich an Rudi aus der Malerstraße, der hat manchmal vier, fünf Fische aus dem Wasser gezogen und stolz nach Hause getragen.

»Unser Mittagessen. Ich kriege zehn Pfennig für jeden«, hat er stolz behauptet. Wie haben wir ihn beneidet! 40 Pfennige waren viel Geld. Für ’nen Groschen bekam man eine Eiskugel. Geld hatten wir nicht, viel weniger als die Kinder heutzutage, aber dafür waren wir frei, wenn wir erst aus dem Haus zum Spielen gegangen waren.

Wir waren eine richtige Clique, haben dabei viel voneinander gelernt. Kein Erwachsener kümmerte sich darum, wo wir herumtobten. Wenn ich daran denke, dass es Eltern gibt, die ihren Kindern sogar einen Chip einpflanzen wollen, damit sie immer wissen, wo diese sind, gruselt es mich. Dabei glaube ich nicht, dass früher mehr schlimme Dinge passiert sind.

Nein, ich möchte nicht mit den heutigen Kindern tauschen.

Oh, ich schweife schon wieder ab. Liegt bestimmt daran, dass mit Rita heute nicht viel anzufangen ist. Sie hat nur ihre Gäste im Kopf, was sie alles planen und besorgen muss. Interessiert mich nicht sonderlich. Hoffentlich steckt sie nicht zu viele Erwartungen in diesen Besuch, aber ich halte besser den Mund. Ich unke sowieso viel zu viel, will ihr nicht die Freude nehmen. Aber bei Verwandtenbesuchen muss man vorsichtig sein, fürchte ich.

3.

Im Hausflur kommt mir Frau Schneider entgegen, eine junge Frau im Schlepptau. Teufel möchte sie freudig bellend begrüßen. Schnell halte ich ihm das Maul zu. Frau Schneider mag keine Haustiere.

»Wieder jemand für Ihre Wohnung?«, frage ich.

»Hoffentlich klappt es diesmal«, murrt meine ehemalige Nachbarin. »Mein bitte-bald Ex-Mann ist auf Geschäftsreise in Irgendwo, kann sein, dass er meine Mail übersieht und diesmal vergisst, meinen Vorschlag abzulehnen. Der Mistkerl. Bis die Scheidung durch ist, brauchen wir Monate. Die Anwälte möchten schließlich ein paar tausend Euro verdienen. Da ist jeder Buchstabe, den die schreiben, Gold wert, Frau Friese, glauben Sie mir. Dabei braucht Frau Hübinger so dringend eine Wohnung.«

Eine junge Frau springt leicht die letzten Stufen herab und reicht mir die Hand.

»Guten Tag, ich bin Anna Hübinger. Ich würde gern einziehen. Ich mag den Peterswerder.« Sie hat einen soliden Händedruck. Gefällt mir.

»Friese, angenehm. Ich hoffe, dass alles gut geht.«

»Es ist zum Jungehundekriegen, wissen Sie. Ich habe einen neuen Job in Bremen, aber man findet keine passende Wohnung, wenn man keinen festen Wohnsitz vorweisen kann, das ist ein Teufelskreis. Darum bin ich Frau Schneider sehr dankbar, dass sie mir eine Chance gibt.«

»Wo leben Sie denn nun? Etwa auf der Straße?«

»Nein, nein, so heftig ist es zum Glück nicht, ich darf in einem Schrebergarten bei Bekannten bleiben, das ist natürlich nichts auf Dauer. Jetzt im Sommer ist es okay, sogar romantisch.« Sie kichert.

Teufel schnuppert an Frau Hübingers buntem Rock, der muss gut riechen. Ich ziehe das Tier zurück.

»Lass das, Teufel«, befehle ich. »Entschuldigen Sie, ich hoffe, Sie haben keine Probleme mit Tieren, oben wohnt eine Katze.«

Sie lacht fröhlich und lässt sich von Teufel erst die Hand beschnüffeln, dann knuddelt sie ihn tüchtig durch. Oh, die kennt sich mit Hunden aus. Teufel wedelt begeistert mit dem Schwanz. »Ich mag alle Sorten Tiere, Frau Friese, no problem.«

»Ich habe überlegt, ob ich sie nicht einfach einziehen lasse und Lukas vor vollendete Tatsachen stelle. Aber der bringt es fertig, und wirft sie wieder raus.« Frau Schneider flucht ungeniert.

Soll ich sie erinnern, dass auch sie in letzter Zeit einige Bewerber ihres Mannes abgelehnt hat? Dass die beiden einen Kleinkrieg über die Wohnung führen?

Ach was, Frau Schneider ist nicht so dumm, wie sie sich manchmal gibt. Immerhin ist sie beim Verfassungsschutz oder bei sonst was für einem Geheimdienst. Dort lernt sie das, so zu tun, als sei sie harmlos. Als sie hier wohnte, mochte ich sie nicht, seit sie nach der Trennung von ihrem Mann in die Nachbarschaft gezogen ist, geht es besser. Ein bisschen Abstand hilft manchmal. Wir verabschieden uns höflich.

Wie alt mag diese Hübinger sein, überlege ich, als ich mit dem Kochen beginne. Junge Menschen kann ich immer schlechter einschätzen. Vielleicht Ende zwanzig. Ob das gut geht mit einer jungen Frau im Haus?

Warum nicht, Waltraud, dann ist jede Altersstufe vertreten, Frau Ahrens und Karin sind beide in den Vierzigern. Dann sind wir ein Dreigenerationenhaus, hihi.

Hauptsache, sie feiert nicht dauernd irgendwelche Partys mit lauter Musik, das bitte nicht. Teufel mochte sie, das spricht für sie, denn Hunde haben ein gutes Gefühl für Menschen, davon bin ich überzeugt.

Es wird Zeit, dass jemand einzieht. Ich mag es nicht, wenn ständig wildfremde Menschen durchs Haus laufen. Kann jeder kommen und sagen, ich will mir die Wohnung ansehen. Alte Leute können nicht vorsichtig genug sein, liest man ständig in der Zeitung. Was so alles passiert, liebe Güte. Aber Teufel beschützt mich irgendwie, seit ich ihn um mich habe, fühle ich mich wohler.

Waltraud, mach dir keine Gedanken über ungelegte Eier, es kann Monate dauern, bis wir wieder komplett sind.

4.

Ich habe mir auf dem Ziegenmarkt ein paar Pflanzen für das Gärtchen gekauft, nichts Besonderes. Im Sommer kann ich nicht widerstehen bei all den schönen Farben. Als ich in die Braunschweiger Straße einbiege, rasen mir zwei Jugendliche mit ihren Skateboards entgegen. Ist doch viel zu schmal hier auf dem Fußweg! Sie fahren mich beinahe über den Haufen. Schimpfend drücke ich mich gegen den Gartenzaun. Da zeigt mir der eine tatsächlich den Stinkefinger, ruft »Weg da, Miss Marple!« Oder so ähnlich. Ist es denn zu fassen! Schon sind sie vorbei. Ich höre sie noch grölend lachen. Jungs!

Lass man, Waltraud, du warst auch nicht das liebenswerte, zarte Geschöpf, das deine Eltern gerne gesehen hätten.

Ich bin viel zu gut gelaunt, um mich über diesen Unsinn aufzuregen. Gut, dass Teufel zu Hause geblieben ist, der hätte denen ins Bein gebissen. Oder höher. Ich kichere in mich hinein.

Als ich in den Hausflur trete, rutsche ich fast aus auf einem Brief, der auf dem Fußboden liegt. Nanu? Post? Die ist längst durch. Ächzend bücke ich mich, hebe den Umschlag auf. Für wen? … Verdutzt sehe ich auf das Papier. »W. Friese« steht da in einzelnen Buchstaben, ausgeschnitten und aufgeklebt. Was ist das denn? Ich weiß nicht, ob ich lachen oder mich gruseln soll. Hahaha, mache ich, aber so richtig will mir die Fröhlichkeit nicht gelingen.

Ist das ein Kinderstreich? Von den beiden Jungs? Kamen die gerade von mir? Gut möglich, die Pforte zum Vorgarten stand offen – ich schließe sie aber immer sorgfältig.

Unschlüssig wende ich den Brief hin und her, drehe ihn um. Suchst du den Absender, Waltraud? Nun lache ich doch laut heraus. Ein spöttisches, böses Lachen wird es. Ich breche ab.

Guck rein, dann weißt du, was du davon halten sollst, wird hoffentlich nicht explodieren.

Vorsichtig, als hätte ich gerade davor Angst, lege ich das Schreiben auf den Tisch, suche langsam meine Lesebrille, setze sie umständlich auf.

Willst du Zeit gewinnen? Wozu?

Der Umschlag ist nicht zugeklebt. Ich ziehe einen Briefbogen heraus, falte ihn auseinander.

BLEIB WEG VON WO

DU NICHT HINGEHÖRST

SONST KRIEGEN WIR DICH

ZUERST DEINEN KÖTER

Hä, was soll das denn bedeuten? Richtiges Deutsch können die Kinder heutzutage offenbar nicht mehr, es ist ein Jammer. Teufel schnuppert an dem Blatt, knurrt leise. »Bist du beleidigt wegen dem ›Köter‹?«

Jetzt breche ich in schallendes Gelächter aus. Es ist zu komisch! Ich dachte, diese Art Streiche wären aus der Zeit, machen die jungen Leute heute nicht alles per Smartphone und SMS?

Waltraud, wie sollen sie dir eine SMS schicken, wenn niemand deine Handynummer kennt? Bei dir müssen sie auf die altmodische Art zurückgreifen.

Auch dieser Text ist aus Buchstaben zusammengeklebt. Die meisten wohl aus dem Blatt, aber da, das K ist eindeutig aus dem Kurier, das erkenne ich sofort.

Schmunzelnd, schiebe ich den Bogen wieder ins Kuvert, werfe alles in eine Schublade. Den zeige ich Rita, wenn wir mal was zum Lachen brauchen.

Abends beim Zähneputzen, schießt mir ein Gedanke in den Kopf: Und wenn das kein Streich war? Wenn das jemand ernst gemeint hat? Nachdenklich gucke ich mir in die Augen, sehe die tiefe Falte über meiner Nase. Die kommt vom vielen Grübeln, Waltraud, das macht dich nicht hübscher. Also lass den Tünnef. Energisch spucke ich aus. Ich mische mich nirgendwo ein, also kann ich mich nirgendwo heraushalten.

Solch ein Unsinn aber auch.

5.

Ich sitze mit Ilse an der Weser im Literaturcafé Ambiente, es ist ein schöner Sommertag. Ab und zu gönnen wir uns das, manchmal sogar mit einer deftigen Torte. Ich muss dann immer an das Lied von Udo Jürgens denken, dieses »Bitte mit Sahne«. So doll treiben wir es heute nicht, wir bleiben beim Kaffee.

Ich zeige Ilse die Postkarte von Elsbeth. »Sie will länger in diesem Nest in den Bergen bleiben, schreibt sie. Sie hat dort nette Leute kennengelernt. Wie sie das so schnell schafft?«

»Auf Reisen ist das oft leichter«, nickt Ilse.

»Bereust du, dass du nicht mitgeflogen bist?«

»Manchmal ja, manchmal nein; ich weiß nicht.«

»Hattest du Angst, dass sie dir an die Wäsche geht?« Ilse guckt mich schräg von der Seite an. Puh, muss sie immer so direkt sein?

Ich rutsche ein bisschen verlegen herum.

»Nein, natürlich nicht«, behaupte ich ein bisschen zu schnell und laut, ich höre selbst, wie falsch das klingt. Darum schiebe ich zögerlich nach: »Na gut, ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht etwas von mir will …«

»Meine Güte, Waltraud, denkst du, sie ist ein Sexmonster und fällt über dich her? Meinst du nicht, sie hätte dich zumindest vorher gefragt?«, unterbricht mich Ilse verärgert.

»Nein, nein, so meine ich das gar nicht. Herrje, Ilse. Ganz bestimmt nicht. Ich dachte nur, äh, ich …«, wie sage ich es nun, ohne mich weiter reinzureiten? »Es … ich … ich wollte sie nicht enttäuschen, verstehst du?« Hört sich das besser an?

Ilse bleibt skeptisch. »Warum hast du nicht mit ihr geredet? Das ist der einfachste Weg, Beziehungsfragen zu klären.«

»Du musst mich nicht belehren«, schnappe ich beleidigt, »selbst, wenn ich nicht die frischsten Erfahrungen damit habe. Besten Dank.« Mürrisch gucke ich in die Wellen. Von wegen, schöner Sommertag. »Was ist das hier, Inquisition?«, blaffe ich.

»He, Waltraud, mach mal halblang. Worüber regst du dich so auf? Dass du ungern über deine Gefühle sprichst, ist mir bekannt. Das bedeutet jedoch nicht, dass andere sich daran halten müssen. Ich möchte nämlich gern wissen, was dich umtreibt, schließlich sind wir befreundet. Du musst nicht jedes Mal in die Luft gehen.«

Meine Hände zittern ein wenig, als ich die Kaffeetasse anhebe. Vorsichtig trinke ich einen Schluck, das gibt mir Zeit. Da hat sie mich wieder kalt erwischt. Ilse kann ich nichts vormachen. Wie soll ich ihr aber erklären, was mir noch so alles durch den Kopf gegangen ist, als Elsbeth mich gefragt hat? Ich habe es mir ja selbst nicht zugeben mögen.

Ilse fragt leise: »Bist du dir vielleicht nicht sicher, was du willst?«

Ich schnappe nach Luft, spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. »Ilse!«

Die grinst verschmitzt. Oh nee aber auch! Stumm starre ich aufs Wasser. Die Stille wird mir allmählich unangenehm. Da drückt Ilse leicht meine Hand. »Ach komm«, murmelt sie versöhnlich.

Plötzlich ruft sie: »Oh, guck mal, ein Reiher! Wo kommt der denn her?« Sie zeigt aufs Wasser.

Ein großer Vogel fliegt mit schwerem Flügelschlag hinüber zum andern Ufer. Der will bestimmt zum Werdersee.

Wir schauen schweigend hinterher. Ich entspanne mich, schiebe peinliche Fragen und heimliche Ängste beiseite, genieße einfach nur die Schönheit des Augenblicks. Friedlich gluckert die Weser, ein Segelboot gleitet stromauf, die Sonne wirft vom blauen Himmel silberne Bänder über die Wellen, die riesigen Kastanien rauschen leise. Wie idyllisch! An Tagen wie diesen liebe ich meine Stadt. Stundenlang könnte ich so sitzen und gucken, mag gar nicht ans nach Hause gehen denken. Kann es nicht immer so bleiben?

Da unterbricht vom Nebentisch eine energische Stimme die Ruhe.

»Aufnehmen«, befiehlt ein Mann, hält seine Kamera gegen die Weser und wiederholt: »Aufnehmen!«

Seine Begleiterin verdreht die Augen. Als sie unsere erstaunten Gesichter sieht, beugt sie sich zu uns herüber und flüstert:

»Mein Mann hat eine neue Kamera, ist das Allersuperneuste auf dem Markt, muss er immer alles sofort haben, wissen Sie. Am besten, bevor es überhaupt erfunden ist.« Schnell schaut sie zu ihm hin, aber er achtet nicht auf sie. Er fummelt an dem Gerät herum, hält es wieder vor die Augen und befiehlt wieder »Aufnehmen.« Scheint nicht zu klappen.

»Scheiße«, brummt er. »Warum macht sie das nicht? Ist gerade so ein schönes Motiv, verdammt!«

»Warum bedienen Sie nicht einfach den Auslöser?«, fragt Ilse. »Gibt’s nicht mehr«, erklärt uns der Mann wichtig. »Das ist neu, die Kamera reagiert auf Ansprache, Spracherkennung, verstehen Sie? Man sagt ›Aufnehmen‹ und die Kamera macht ein Bild.«

»Offensichtlich nicht«, spottet seine Frau.