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Ein dystopischer Jugendroman – emotional, fesselnd, kompromisslos. "Roter Stern – Nebel und Asche" ist der zweite Band der spannenden Quadrilogie von Avery Parker. In einer kontrollierten Welt nach der Postapokalypse stellt sich Rey Wood den Kräften eines unterdrückenden Systems – getrieben vom Wunsch nach Freiheit, getragen von Freundschaft, Loyalität und der Hoffnung auf Liebe. Mitreißend, bildstark und erschütternd real. Zwischen Licht und Schatten braucht es Mut, um stark zu sein – ein Roman über die Suche nach Freiheit. Wenn Loyalität, Freundschaft und Liebe auf die Probe gestellt werden, zählt am Ende der Wille, den eigenen Weg zu beschreiten. Das Haus Bingen birgt ein Geheimnis – dessen sind sich Rey und Will ganz sicher. Der vermeintlich idyllische Schein trügt, denn etwas geht definitiv in den Tiefen des Berges vor sich, an dessen Hang das Anwesen liegt. Zu viele Ungereimtheiten lassen das erahnen, befeuert von Tante Em, die sich neuerdings wie der Wächter eines verborgenen Schatzes verhält. Unbemerkt in den Keller zu gelangen, in dem sie die Antwort auf ihre Fragen vermuten, wird dadurch zu einem schier unmöglichen Unterfangen. Unterdessen breitet sich jenseits der Berge der erbarmungslose Schatten des Jarl'schen Regimes aus, der Licht und Leben zu verschlingen droht und jeden Funken Hoffnung der Bürger auf ein gerechteres Leben im Keim erstickt. Neue Überwachungstechnologien verwandeln selbst das kleinste Aufbegehren in ein tödliches Spiel und Widerstand wird bald unmöglich. Die Uhr tickt und die Zeit für Träume wird knapp. Eine Welt, in der man schnell erwachsen werden muss … *** Sein Shirt klebte ihm nicht nur unter den Achseln, und er konnte nicht sagen, wovor er sich im Augenblick mehr fürchtete: vor Alex, da dieser ihm den Kopf abreißen würde, weil er sich von Rey hatte breitschlagen lassen, von der geplanten Route abzuweichen, oder vor Rey, die er im Stich gelassen hatte, als der Miliz auftauchte, oder den ganzen weiteren Milizen, die ihnen bald im Nacken sitzen würden. Sobald er Rey mit dem Milizen gesehen hatte, hätte er sich fast vor Angst in die Hose gepinkelt. Er verstand nicht, dass so eine zierliche Person so viel Kraft in sich hatte und zugleich präzise wie ein Uhrwerk ihre Griffe ausführte. Und als sie wie ein kaltblütiger Auftragskiller das Messer abgeputzt und es unter ihre Jacke geschoben hatte, war er sich wirklich unsicher, was in ihrem hübschen Kopf vorging.
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Seitenzahl: 580
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Avery Parker
ROTER STERN
Nebel und Asche
Band II
Das Haus Bingen birgt ein Geheimnis – dessen sind sich Rey und Will ganz sicher. Der vermeintlich idyllische Schein trügt, denn etwas geht definitiv in den Tiefen des Berges vor sich, an dessen Hang das Anwesen liegt. Zu viele Ungereimtheiten lassen das erahnen, befeuert von Tante Em, die sich neuerdings wie der Wächter eines verborgenen Schatzes verhält. Unbemerkt in den Keller zu gelangen, in dem sie die Antwort auf ihre Fragen vermuten, wird dadurch zu einem schier unmöglichen Unterfangen.
Unterdessen breitet sich jenseits der Berge der erbarmungslose Schatten des Jarl'schen Regimes aus, der Licht und Leben zu verschlingen droht und jeden Funken Hoffnung der Bürger auf ein gerechteres Leben im Keim erstickt. Neue Überwachungstechnologien verwandeln selbst das kleinste Aufbegehren in ein tödliches Spiel und Widerstand wird bald unmöglich. Die Uhr tickt und die Zeit für Träume wird knapp.
Eine Welt, in der man schnell erwachsen werden muss …
Für Zoe
Wahre Stärke zeigt sich nicht darin, wie oft wir fallen, sondern darin, wie oft wir aufstehen. Der Mut, trotz aller Rückschläge weiterzukämpfen, macht uns unbesiegbar.
„Rubali, was machst du da? Du blutest!“, schnaubte Hughs, sein Offizier, entsetzt, als er ohne anzuklopfen in sein vorübergehendes Quartier eintrat.
„Du weißt, was ich mache“, entgegnete Rubali ruhig, nachdem er in seinen Handrücken einen kleinen, fast runden Kreis geschnitten hatte und die Haut mit der Messerspitze aufklappte.
Er schaute noch nicht einmal von seinem Sitzplatz auf, als Hughs eingetreten war, da dieser sein Freund und Vertrauter war und genauso wie er tickte.
„Da ist er ja“, murmelte er. Seine Erleichterung mischte sich mit einem Anflug von Zorn, als er den Mikrochip zwischen seinem Fleisch schimmern sah. Er zischte durch die zusammengepressten Zähne, als er das winzige Metallstück aus seinem Fleisch zerrte. Die Wunde blutete stärker als erwartet.
„Willst du das wirklich bis zum bitteren Ende durchziehen?“
„Ja. Ich habe die Leute nicht in Gewahrsam genommen und kann ohne sie nicht nach Alexandria zurückkehren. Jetzt habe ich keine Wahl mehr“, stellte er abgeklärt fest.
„Wir könnten das noch hinbiegen“, lenkte Hughs erneut ein.
„Das will ich nicht mehr. Wir haben schon zu viel zurechtgebogen, und das hier wird definitiv auffliegen. Auch wenn Janus“, damit meinte er Alexanders ersten General, „vieles nicht gutheißt, buckelt er wie alle anderen. Keiner wagt es, Jarl zu widersprechen, und auf diese Weise wird sich nichts ändern. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dieser Mann“, damit meinte er Jarl, „besitzt keine Seele.“
Gefasst winkte er ab, nachdem er sich ein Tuch stramm um die verletzte Hand gewickelt hatte.
„Du musst morgen ohne mich nach Alexandria aufbrechen und berichten, dass ich Quickly nicht in Alexanders Dienst gestellt habe und dass er mit seiner Familie auf der Flucht ist.“
Er spuckte aus, da in Dienst gestellt ewige Gefangenschaft und Knechtschaft bedeutet hätte, bis Jarl diese Dienste nicht mehr brauchte und die Menschen wie Müll entsorgen ließ.
„Das haben sie nicht verdient. Sie haben schon zu viel durchgemacht“, hielt er sich knapp. Er kannte Quickly, beließ es aber bei dem Satz.
„Sag, dass ich allein unterwegs war und dann brandmarke mich als Verräter, der mit ihnen abgehauen ist. Dort, wo ich sie hingeschickt habe, werden sie sicher sein, und ich werde ihnen folgen.“
„Schließt du dich dem Widerstand an?“
Rubali zerbrach den Chip mit einem leisen Knacken und lächelte böse.
„Das werde ich dir genauso wenig sagen, wie ich dir nicht sagen werde, wohin ich die Quicklys geschickt habe.“
Hughs nickte und presste die Lippen zusammen. Rubali erhob sich und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
„Ich vertraue dir“, sagte Rubali und schüttelte trotzdem den Kopf, „aber das geht wirklich nicht.“
„Ich weiß, mein Freund“, erwiderte Hughs mit gedämpfter Stimme und wiederholte: „Ich weiß.“
Er griff sich eine Schultertasche, die schon mit Lebensnotwendigem gefüllt auf dem Bett lag. Dann stopfte er sich drei Pistolen in den Hosenbund und zog sich seine Jacke über.
„Jetzt siehst du wie ein Zivilist aus“, lächelte Hughs.
„Du kannst immer noch mitgehen. Mein Angebot steht.“
„Das kann ich nicht. Wenn wir beide nicht zurückkommen, wird die Suchaktion nur umso umfangreicher ausfallen. Außerdem kann ich meine Frau nicht im Stich lassen. Ich werde dir Zeit verschaffen und Jarls Truppen etwas in die Irre führen, damit du einen Tag Vorsprung hast.“
Sie umarmten sich und klopften sich auf den Rücken.
„Schick sie zur Küste“, sagte Rubali, „und danke, mein Freund.“
Nach einem festen Griff auf Hughs Oberarm verließ Rubali den Raum und machte sich auf den Weg.
Jahre waren vergangen, seit Rey mit Will den Weg zu Tante Em gefunden hatte. Sie grübelte über den heutigen Tag nach. Ihren sechzehnten Geburtstag. Feiern mochte sie nicht mehr, zumal der Tag sich nicht so entwickelt hatte, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Will hatte sie einfach nach dem Abendessen sitzen lassen, obwohl sie gemeinsam feiern wollten und das größte Geschenk für Rey nun mal Wills Zeit war. Die hatte sie sich von ihm gewünscht, als er sie nach einem Geschenk gefragt hatte. Obwohl man nicht verraten sollte, was man verschenkte, hatte Will ihr hoch und heilig versprochen, mit ihr am Abend etwas zu unternehmen. Was es war, verriet er allerdings nicht.
Als er dann doch andere Pläne hatte, erklärte er zwar, dass er mit Wilbur etwas Wichtiges zu besprechen hatte, was keinen Aufschub zuließ, aber weil Will gefühlt ständig von Mädchen umringt war, wollte sie ihm nicht glauben. Sie glaubte an die Version, dass er einem anderen Mädchen hinterherlief, das ihm seit Wochen schöne Augen machte. Diese Melanie. Rey rümpfte die Nase. Was konnte wichtiger sein, als dass Will mit seiner eigentlich besten Freundin, ganz besonders an ihrem Geburtstag, Zeit verbrachte?
Nichts! Jungs sind beknackt. Will ist beknackt. Im Augenblick war vieles einfach total doof.
Reys Eifersucht wuchs ins Unerträgliche, weil Will sich nicht so für sie interessierte wie für andere Mädchen, obwohl es ihren Beobachtungen nach nur diese Melanie sein konnte. Jeder Moment, den Will mit Melanie verbrachte, fühlte sich wie ein Messerstich an. Wie konnte er Rey übersehen, nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten? Es war, als ob jede ihrer gemeinsamen Erinnerungen verblasste, verdrängt von Melanies strahlendem Lächeln. Darüber hinaus war Rey der festen Überzeugung, dass sie und Will füreinander bestimmt waren. In ihren Träumen war Will ihr Ritter, ihr Retter, ihr Prinz und sie das Mädchen, das beschützt und vor dem fiesen Schurken gerettet werden musste. Aber doch nicht jemand anderes. Und schon gar nicht diese Melanie. Die war weder besonders interessant, noch war sie besonders hübsch und schon gar nicht klug! Aber Melanie tingelte den lieben langen Tag um Will herum und hatte Will um den Finger gewickelt.
Was findet er nur an ihr? Blödmann!
Immerhin hatte Marby, ihre beste Freundin, sie nicht im Stich gelassen, und natürlich auch Tante Em nicht. Sogar Wilbur kam am Nachmittag ihres Geburtstags in das Haus hinter dem Berg, obwohl die Strecke so viel Zeit in Anspruch nahm. Ihre Tante war immer für sie da, und Marby schlug quasi als Entschädigung für die verlorene Zeit mit Will eine Mädelsnacht vor. Rey hatte das aber abgelehnt, als Will mit roten Flecken im Gesicht abgezischt war. Sie wäre einfach eine schlechte Gesellschaft für Marby gewesen und hätte nur schlechte Laune verbreitet.
Nachdem Marby wieder gegangen war, nahm Tante Em Rey in den Arm. Sie sprach nicht darüber, dass Will gegangen war, streichelte Rey wie so oft über den Rücken und spendete ihr stummen Trost.
Wann Will an diesem Abend wieder nach Hause käme, war Rey unklar und in letzter Instanz egal. Gerade weil er sie für einen zweisamen Abend versetzt und sie so gekränkt hatte. Sie war zutiefst verletzt, also war es ihr auch völlig egal, ob er überhaupt zurückkam.
Sie saß in der Abenddämmerung auf ihrem Lieblingsplatz hinter dem Haus auf dem Steilhang auf einem Stein.
Rey wollte sich ablenken, doch immer wieder führten ihre Gedanken sie zu Will und wie alles in ihrem Leben zum heutigen Punkt geführt hatte. Schließlich blickte sie auf den Zeitpunkt zurück, als sie bei Tante Em angekommen war, als sie sich an diesem Hang das Bein verletzt hatte, weil sie, koste es, was es wolle, ein Geheimnis lüften wollte.
Ein kleiner Laut entfuhr ihr bei dem Gedanken an ihre geschwächten Muskeln, die sie nicht richtig hatten laufen lassen. Trotzdem hatte sie alles darangesetzt, das Geheimnis im Berghang mit Will zu lüften, ohne dabei von Tante Em erwischt zu werden. Obwohl sie damals mit Wills Unterstützung eine Tür in einem Weinfass im Keller entdeckt hatte und sie sich sicher waren, dass sich in dem Berg ein Gang befand – wohin auch immer er führen mochte –, machte ihnen Tante Em einen Strich durch die Rechnung, den Gang zu erkunden. Ständig wuselte sie im Erdgeschoss herum und sortierte allerlei Dinge in dem riesigen Abstellraum in der Nähe des Treppenabgangs.
Rey war damals von ihrer Anwesenheit genervt.So lieb sie Tante Em auch hatte, wollte Rey aber entdecken und nicht warten, bis das Rätsel sich in Luft auflöste. Ihre Tante machte gar keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Da war es Rey auch egal, ob sie in ihrem privaten Refugium war oder sich sonst wo im Haus aufhielt. Aber bitte doch nicht in der Nähe der Treppe.
„Sonst ist sie ständig nicht aufzufinden und jetzt ist sie aus den Zimmern im Erdgeschoss nicht zu bewegen“, beschwerte sich Rey bei Will im Flüsterton, als er sie zur Beruhigung wieder einmal in die Bibliothek gezogen hatte. „Oder meinst du, sie hat uns ertappt und weiß, was wir vorhaben?“, fragte sie beunruhigt, da ihr das schelmische Gesicht ihrer Tante vom Vortag nicht aus dem Kopf ging, als sie die Kinder fragte, was sie erkunden wollten.
Auch wenn Will selbst aufgeregt schien und darauf wartete, mit Rey in den Keller zu gehen, entkräftete er ihre Sorge und meinte nur: „Iwo! Kommt Zeit, kommt Rat.“ Das ging insgesamt seit drei Tagen so.
Aber Will hatte in jener Zeit ein gutes Gespür für Reys Ungeduld.Die Zeit des Wartens wurde durch die Schätze in der Bibliothek versüßt und Will bat Rey, ihm vorzulesen – nur, um sie zu beschäftigen und zu beruhigen, das wusste sie. So vertrieben sie sich die Stunden, und wann immer möglich, las Rey ihm leise aus den verbotenen Büchern vor, sodass es Tante Em nicht hörte.
Immer wenn Rey meinte, Tante Em nicht mehr zu hören, schielte sie in den Flur, um zu schauen, ob sie nun endlich etwas anderes täte, als zwischen den Zimmern hin und her zu laufen.
„Möchtest du etwas? Brauchst du etwas oder kann ich dir helfen?“, erkundigte sich Tante Em, die das Tippeln der Kinderfüße über die Keramikfliesen gehört hatte und den Kopf aus dem Wohnzimmer streckte.
„Äh, nein“, antwortete Rey verlegen und blickte in Tante Ems schmunzelndes Gesicht. Rey hätte schwören können, Em wusste, was sie vorhatten, fand aber keine eindeutigen Beweise dafür.
Da sie sich bei ihrer Observation ertappt fühlte – schon zum zweiten Mal innerhalb einer kurzen Zeitspanne, irgendwann zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen –, ließ sich Rey, um glaubwürdiger zu wirken, etwas in dem Buch erklären, das sie gerade las. Eines, das sie lesen durfte, sie war ja schließlich nicht dumm. Auch wenn sie ihre Tante lieber zu anderen Themen befragt hätte. Es gab viel zu viele Wörter in diesen speziellen Büchern, die sie nicht verstand, aber sie versuchte, sie aus dem Kontext zu entschlüsseln. Oft gelang ihr das nicht, was sie wurmte. Um dennoch den Sinn zu verstehen, suchte sie ähnliche Wörter und sprach diese ganz bewusst falsch aus. Tante Em bemerkte das nicht, auch wenn sie manchmal verblüfft die Augenbrauen hochzog. Da Rey die Definition dennoch bekam, war das eine praktische Vorgehensweise.
In dieser Zeit verkürzte sich das Warten durch das wandelnde Lexikon in Gestalt von Tante Em. Aber die freie Zeit ließ Rey in Gedanken verfallen. Sie wurde dann zeitweise von Tante Ems Schimpftiraden über diese schreckliche Welt, die sie hinter sich gelassen hatte, gedanklich in Wort und Bild eingeholt und überwältigt.
Auch, dass ihr Vater ihre Existenz gelöscht hatte, machte ihr zu schaffen. In diesen Momenten hatte sie die Szenen vor Augen, als Tante Em ihres Vaters Bitte nachgekommen war, Rey über diese Welt zu informieren und auch, was er getan hatte. Seitdem war sie von Vergeltung getrieben und wollte dieser Welt zeigen, wer sie war.
Rey und Will witterten beim Abendbrot ihre Chance, als Em sagte: „Morgen gibt es viel Arbeit, es wird ein Tag an der frischen Luft.“ Sie wollten sich ungesehen an Tante Em vorbeischleichen, um nach drei zäh dahinziehenden Tagen den geheimnisvollen Gang im Berg auszukundschaften. Reys Augen funkelten Will verschwörerisch an, doch er drückte nur ihr Knie unter dem Tisch und signalisierte ihr, ruhig und unauffällig zu bleiben.
Das Abendessen dauerte eine halbe Unendlichkeit. Die Zeit dehnte und dehnte sich, bis die zwei sich endlich zurückziehen konnten.
„Kommst du heute Nacht zu mir oder ich zu dir?“, fragte Rey im Flüsterton und sah im Augenwinkel, wie Tante Em ihnen neugierig nachschaute, als sie mit Will an der Hand die Treppe in die erste Etage erklomm.
„Ich zu dir“, flüsterte Will ihr zu.
Diese gemeinsamen Abende, an denen sie oft zusammen einschliefen, waren ihr immer noch wichtig, auch wenn sie seltener geworden waren. Manchmal war Will bis spät in die Nacht mit Wilbur wach oder trainierte genauso lang, und sie wollte ihn dann nicht stören. Doch heute, an ihrem Geburtstag, hatte sie gehofft, dass es anders wäre. Stattdessen hatte er sie allein gelassen, was sie nur noch mehr ärgerte. Sie dachte daran, wie sie sich manchmal heimlich in sein Zimmer schlich, nur um seine Nähe zu spüren, ohne ihn zu wecken.
Aber jene Nacht damals war so wunderbar und viel zu kurz, da sie besprachen, wie sie sich aus dem Haus schleichen wollten und was sie in dem Gang finden würden.Eigentlich fabulierte nur Rey, während Will ab und an nickte. Aber irgendwann schliefen sie zumindest für ein paar Stunden ein.
„Guten Morgen, ihr zwei. Nachher könnt ihr bei der Weinlese helfen“, sagte Em, als Rey mit Will die Treppe hinunterging.
Rey schaute Tante Em verdattert an. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, ausgerechnet heute bei der Arbeit mit eingespannt zu werden.
So ein Mist!
„Frühstückt erst, und dann ab nach draußen!“
Rey fand kein Wort der Widerrede. Ihre Pläne waren abermals durchkreuzt. Unauffällig blickte sie zu Will, dem der Unmut ins Gesicht geschrieben stand. Nicht, weil sie nicht in den Berg konnten, nein, er war nur faul. Nach Arbeit dürstete es ihn ganz bestimmt nicht.
„Ist gut, Tante Em“, antwortete Rey verbissen, auch wenn sie sich die Enttäuschung nicht hatte anmerken lassen wollen.
Mit gesenktem Haupt und stummen Flüchen ging das Mädchen nach dem Frühstück in sein Zimmer, schob mehr als betrübt den kleinen Rucksack, der schon tagelang auf sie gewartet hatte, mitsamt seinem Inhalt wieder unters Bett und schlüpfte in seine Gummistiefel.
Der Himmel war blau und klar. Der Tag begann frisch und vielversprechend warm. So zog Rey sich nur eine dünne Jacke über ihr Shirt und stiefelte in Begleitung von Tante Em und Will los.
Erstaunlicherweise tummelten sich längst viele Frauen geschäftig zwischen den Reben und schnitten die reifen Trauben ab.
Wir. Das Wort hallte Rey in Erinnerung an ihre ersten Monate in Bingen durch den Kopf, damals verwundert, wo die vielen Menschen urplötzlich in dieser Einöde herkamen.Sie hatte sich ohnehin gefragt, wie Em es die Jahre zuvor geschafft hatte, den Wein zu ernten, und überhaupt, wer diese Mengen trinken sollte. Es war offensichtlich, dass dies viel von Ems Zeit in Anspruch nehmen musste und selbst mit Wilbur nicht ohne Weiteres zu stemmen war.
Rey lächelte über sich selbst, da sie unlängst ahnte, Tante Em und Wilbur konnten nicht die einzigen Menschen hier sein. Trotzdem hatten Tante Ems Erläuterungen und die neue Erfahrung die Frage für einen kurzen Moment getilgt. Unter Tante Ems Aufsicht schlossen sich Will und Rey den Arbeitern an.
Auch wenn Rey der Gedanke gefiel, gemeinsam anzupacken, fragte sie bei der ersten Gelegenheit die Frau, die neben ihr Reben schnitt, unverblümt: „Woher kommst du eigentlich? Woher kommen die anderen? Ich habe hier noch nie fremde Menschen gesehen und schon gar nicht so viele.“
Die Frau, nach deren Namen Rey nicht einmal gefragt hatte, hielt in der Bewegung inne und ließ die Hände sinken. Ihr Blick richtete sich auf Rey. „Du bist bestimmt Rey. Jennifer hat mir schon gesagt, dass du eine Neugiersnase bist“, lächelte sie und zwinkerte.
Rey ärgerte sich, dass die Frau ihren Namen kannte, aber sie den der Frau nicht.
„Wir“, die Frau machte eine ausladende Bewegung, „wohnen in der Umgebung“, hielt sie sich vage. „Aber wir unterstützen uns gegenseitig.“
„Aber hier wohnt weit und breit niemand“, hielt Rey energisch entgegen.
Ein helles Lachen entschlüpfte der Frau.
„Es gibt in der Umgebung einige kleine Dörfer. Wenn es an der Zeit ist, wirst du sie besuchen können.“
Rey zog die Stirn in Falten. Sie hatte nie daran gedacht, dass Tante Em in dieser Gegend nicht allein leben könnte, eher dass Menschen weiter weg von hier lebten. Aber dass Wilbur bei Tante Em erschienen war, hätte sie eigentlich darauf bringen müssen, dass es Ansiedlungen in der unmittelbaren Nähe geben musste.
Die Frau wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, hielt sich bei Reys Fragen knapp und lenkte das Gespräch immer wieder auf Rey und fragte sie aus, ohne dass sie es bemerkte. Aber die Anwesenheit der vielen Helfer motivierte Rey nur noch mehr, die Geheimnisse, die griffbereit hinter dem Haus lagen, zu ergründen.
So wurden den ganzen Tag über Trauben geschnitten und volle Behälter zum Keller abtransportiert, wo sie seit einiger Zeit die Kellerei vermutete. Gelegenheit, sich das anzuschauen, bekam sie nicht. Aber wenn keiner zu ihr sah, schob sie sich immer wieder Trauben in den Mund, weil sie süßer als Honig schmeckten. Bis auf eine ausgedehnte Brotzeit am Mittag gab es zudem keine Pause.
Am Abend stank Rey verschwitzt und fühlte sich selbst zum Essen zu müde. Ihre Glieder waren bleiern schwer. Ein warmes Bad, das sie noch genommen hatte, setzte ihr noch mehr zu und so fiel sie schlicht und einfach todmüde ins Bett.
Erst als sich ein Vogel vor ihrem Fenster niederließ und fröhlich sein Lied trällerte, erwachte Rey.
Einige Spritzer kaltes Wasser mussten genügen, um hellwach zu werden. Hastig schlüpfte Rey in Hose und Shirt, schnappte sich den Rucksack und rannte in Wills Zimmer, der immer noch zugedeckt unter seiner Decke tief schlief und wie ein Berserker schnarchte.
Mit klammen Händen riss Rey an der Bettdecke und rüttelte ihn unsanft aus dem Schlaf.
„Lass mich, du Quälgeist!“, grummelte er mürrisch und blinzelte ihr mit dick verquollenen Augen entgegen.
„Komm schon, Will, wir haben fast den ganzen Vormittag verschlafen und außerdem wollten wir los. Hast du schon wieder unsere Abmachung vergessen?“ Gereizt runzelte sie die Stirn und stellte forschend ihre Augen eng.
„Gib mir einen Moment. Ich komme gleich“, gähnte er und streckte dabei seine Glieder.
Während der Junge sich lustlos aufrappelte, schritt Rey mit dem Rucksack in der Hand ungeduldig vor seiner Tür auf und ab. Voller Tatendrang griff sie seine Hand, als die Tür aufging, und zog Will noch schlaftrunken in den Weinkeller. Dabei erkundete sie vom Treppenabsatz den Flur. Von Tante Em war weit und breit nichts zu sehen. Rey grinste wie ein Honigkuchenpferd. Die letzten Stufen nahm sie voller Euphorie im Sprung.
„Hier, um deinem ewigen Hunger vorzubeugen.“
Energisch hielt Rey ihm einen Apfel entgegen, den Will träge griff.
Hektisch betätigte das Mädchen den Mechanismus des Weinfasses und schloss die Öffnung direkt wieder von innen. Dass Rey damit ihre Rückkehrmöglichkeit verschlossen hatte, bemerkte sie erst im Tunnel.
Darum kümmern wir uns später. Wenn es rein geht, geht es sicher auch raus. Den Mechanismus werden wir schon finden. Bleib ruhig.
Gegenüber Will erwähnte sie ihren kleinen Lapsus nicht.
„Rey, ich bin müde und hungrig. Können wir nicht morgen wiederkommen?“
„Nein, auf keinen Fall! Du hast es mir versprochen. Außerdem hast du ja deinen Apfel. Der muss fürs Erste genügen. Außerdem wissen wir nicht, wann Tante Em wieder so viel Zeit im Erdgeschoss verbringt, und ich möchte es nicht darauf anlegen, wieder so lange warten zu müssen. Wir haben viel nachzuholen.“
Die Lichtstrahlen der Taschenlampe huschten über den grauen glatten Stein. Plötzlich hörten sie ein seltsames Geräusch, das aus einem der drei Tunnel kam, die vom Gewölbe abzweigten.
Reys Herz schlug schneller. „Was war das?“, flüsterte sie.
„Keine Ahnung“, murmelte Will und ließ seine Augen zwischen den Tunneln hin- und herwandern. „Wir müssen uns für einen entscheiden. Das war sicherlich nur ein harmloses Tier.“
Sie standen einen Moment still, lauschten und schauten sich dann an. Kurzerhand entschieden sie sich, den rechten Gang zu erkunden. Als Rey das erste Mal über die Schulter blickte, erkannte sie bereits kein Tageslicht mehr.
Ihr war unheimlich zumute, doch mit Will an der Hand fühlte sie sich stark, beinahe unbezwingbar. Sie spürte seine Berührung und erkannte, dass seine Gegenwart ihr den Mut gab, weiterzugehen.
Das wird er aushalten, Müdigkeit hin oder her. Wir sind unzertrennlich. Wir haben uns immer gegenseitig gestützt und so wird es auch bleiben. Will ist mein Anker, genauso wie ich es für ihn bin. Wir sind stark genug und überwinden alles gemeinsam.
Der Gang weitete sich und die zwei erkannten Schienen, denen sie auf den Holzbohlen folgten. Nach einem Knick im Tunnel schaltete Rey die Taschenlampe aus, da sie meinte, einen Schimmer in der Entfernung wahrzunehmen. Innerlich jubilierend empfand sie Freude und Anspannung zugleich. Die aufkommende Beklommenheit unterdrückte sie, so gut sie konnte, obwohl sich ihr Körper straffte.
„Wir müssen leise sein. Wenn hier eine Beleuchtung ist, gibt es hier auch Menschen. Wer weiß schon, wer die sind.“
„Wir sollten zurückgehen! Das könnte gefährlich werden“, konterte Will.
„Nein. Ich will sehen, was dort verborgen ist“, stellte sie klar und der Klang ihrer Stimme ließ keine Gegenrede zu.
In ihren Gedanken gefangen, dachte Rey an längst vergessene Höhlenmenschen, die womöglich Menschenfresser waren. Es gruselte sie, und sie überlegte, wie sie sich verteidigen könnte.
Ein kleines Schälmesser würde bei einer Überzahl Wilder nichts ausrichten können. Rey ärgerte sich, nicht das Messer ihres Vaters mitgenommen zu haben, das eine bessere Waffe gewesen wäre. Nun zweifelte sie an ihrer Entscheidung weiterzugehen, war aber zu neugierig, um Will nachzugeben.
An den Wänden hingen altertümliche, mit Metallstreben ummantelte Leuchten, die über verschiedene Stromkabel gespeist wurden. Manche Kabel hingen lose, andere spendeten den Lampen ein wenig Licht. Spärlich erhellt war niemand zu sehen oder zu hören, also gingen die beiden Kinder weiter. An einem Nebenarm des Tunnels verzweigte sich der Schienenstrang und eine dreirädrige Draisine stand einsam darauf.
„Wo wird sie uns wohl hinführen? Wir müssen uns entscheiden, welchem Weg wir folgen wollen.“
Fragend schaute Rey ihren Freund an, der selbst grübelte, wie sie vorgehen sollten.
„Wohin wir auch gehen, wir müssen hier wieder herausfinden. Hast du irgendetwas zum Markieren dabei?“, fragte Will schließlich mit schräggelegten Brauen. Sein Blick sagte, hier sei Ende. Denn was konnte sie schon dabeihaben?
Wie von einem Geistesblitz getroffen, kramte Rey im Rucksack und zog ein Garnknäuel und ein kleines Stück Kreide heraus. Natürlich war sie vorbereitet. Stolz streckte sie ihm die Utensilien entgegen. An eine Umkehr war jetzt schließlich nicht zu denken!
Will entschied sich für die Kreide. Die anderen Utensilien wanderten zurück in den Rucksack. Mit der Kreide malte er einen Kreis am unteren Ende des Ganges und meinte, dort sei dieser für andere nicht so schnell sichtbar.
„Dann sollen wir damit weiter?“, erkundigte er sich skeptisch, während er auf die altertümliche Draisine zeigte.
„Ja, das wird ein Heidenspaß.“
„Du bist ja lustig. Einer muss ja treten und der werde dann wohl ich sein.“
Will verdrehte die Augen.
„Wir können uns abwechseln“, erwiderte sie gebieterisch und stupste ihn ermunternd in die Rippen, dachte aber daran, wie sie ihn in der Vergangenheit stundenlang durch das Haus kommandiert und ihn als ihre Zofe bezeichnet hatte. Sie würde es wieder tun, lächelte sie in sich hinein. Doch jetzt war sie auf sein Zutun angewiesen, da dieser Gang ganz bestimmt noch verbotener war als alles andere – falls Tante Em überhaupt davon wusste.
„Lass mal!“, hielt er entgegen, durchkreuzte ihre Gedanken und setzte sich auf den Sitz des altertümlichen Fahrgeräts.
Rey nahm eine mäßig gemütliche Position auf der Fläche des Gefährts ein, die sicher nur für den Transport von Kleingut gedacht war.
Abwechselnd tauchten die zwei Freunde in die spärlichen Lichtkegel und in das Dunkel ein. Die wellenartige Lichtbewegung ließ ihren Augen kaum Zeit, um sich an die ungleichen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ohne jegliches Zeitgefühl trat Will in die Pedale. An einzelnen Stellen querten sie weitere Ausläufer und passierten mit rotem Ziegel und grauer Masse ausgebesserte Stellen.
Außer Puste stoppte Will den fahrbaren Untersatz und schnaufte durch. Die Jacke zog er aus, da sein Oberteil auf der Haut klebte, obwohl es kalt war.
„Was meinst du, wie groß mag diese Anlage sein?“, fragte sie.
„Ich habe keine Ahnung. Geheuer ist mir das aber nicht“, keuchte er nach Luft ringend.
Ihr war klar gewesen, dass er sich vor Konsequenzen fürchtete und sich sorgte, worauf sie vielleicht stoßen oder dass sie sich in dem zunehmenden Irrweg die Orientierung verlieren könnten.
„Sollen wir wechseln? Oder hast du Lust, in einem der Seitengänge nachzusehen? Vielleicht finden wir ja etwas Spannendes.“
„Auf keinen Fall, Rey, aus den Nebengängen finden wir nie wieder heraus. Es gibt noch nicht einmal Schienen, an denen wir uns orientieren könnten. Das ist bestimmt ein Labyrinth“, entfuhr es ihm etwas lauter als gewollt.
Rey interpretierte Wills Verhalten als Zeichen seiner Entschlossenheit, sein Versprechen zu halten, die Tour nicht zu gefährden, auch wenn er solche Exkursionen künftig vermeiden wollte. Für ihn schien das Risiko, sich in den Gängen zu verirren, eine größere Strafe als die möglichen Konsequenzen von Tante Em, sollte sie von ihrem Ausflug erfahren.
Seine Besonnenheit bewunderte Rey sehr, obwohl es sie in den Fingerspitzen juckte und sie am liebsten aufgesprungen wäre und jeden Winkel erkunden wollte. Sie fügte sich jedoch, da seine Stimmlage noch nicht einmal ein Vielleicht zuließ. Diese Entscheidung war zudem richtig, auch wenn Rey es niemals zugeben würde. Niemals.
Widerwillig machte sich Will wieder ans Werk, aber nach einigen Metern stoppte er. Er legte seinen Finger auf den Mund und gebot Rey, mucksmäuschenstill zu sein. Er wirkte aufgeregt und seine Augen verdunkelten sich.
Als er abstieg, winkte er ihr zu, zog sie vorsichtig hinter sich her und schlich mit ihr im Rücken nahe an der Wand weiter.
„Will, wieso fahren wir nicht weiter?“, raunte sie.
„Pssscht!“
Und schon sah sie, was Will vor Sekunden gesehen haben musste. Vor ihnen wurde es heller und verhallende undefinierbare Geräusche drangen ihnen entgegen.
Die Freunde pirschten sich näher heran und aus dem Geräuschgemenge kristallisierte sich ein Brummen, Surren und Knistern heraus, das immer lauter wurde. Darunter mischten sich, wenn auch noch leise, Stimmen verschiedener Personen, deren Schritte durch die Gänge hallten.
Was auch immer vor ihnen vor sich ging, die Menschen schienen geschäftig und erwarteten sie sicher nicht.
Rey und Will waren bereits über zwei Stunden unterwegs, gleichwohl es gefühlt auch länger gewesen sein konnte, so tief waren sie in den Berg vorgedrungen, aber jetzt gab es Menschen – sehr viele.
Zum Glück der Kinder standen am Eingang des Gewölbes einige Kisten aufgestapelt, die ihnen als Sichtschutz dienten.
Zwischen den Spalten der Kisten hindurch beobachteten die beiden fasziniert das Spektakel, wobei Will Rey zurückdrängen musste, da sie drohte auf ihn zu fallen.
„Das scheint so etwas wie eine Kommandozentrale zu sein“, hauchte sie in sein Ohr.
Ihre Lippen hingen so nah an seinem Ohr, dass seine strubbeligen Haare auf ihrem Gesicht kitzelten.
Will nickte nur und schaute sie streng an, schweigsam zu sein, während sie sich die Lippen und die Wangen rieb, um das lästige Jucken zu vertreiben.
Neugierig verfolgten sie, wie an einem der Tische mehrere Männer standen. Einer zeigte auf verschiedene Stellen einer Karte, die ausgebreitet zwischen ihnen lag. Er sprach nicht verständlich für die heimlichen Beobachter, aber die Mimik der anderen Männer zeigte, dass er etwas erklärte. Dann hielt der Mann inne und stützte sich nachdenklich mit ausgestreckter Armlänge auf die steinerne Tischkante.
An anderen Stellen standen Apparaturen, deren Funktion Rey und Will nicht deuten konnten.
Ein sonores Brummen dominierte alle Töne und Geräusche, schien aber unmittelbar aus dem Gewölbe zu stammen.
Aus verschiedenen Stollen, die sich an das Gewölbe anschlossen, kamen und gingen Männer wie Frauen. Sie passierten geschäftig die Räumlichkeit und transportierten Kisten in unterschiedliche Richtungen. Andere schienen wiederum nur eine Richtung einzuschlagen, ohne dass Rey nachvollziehen konnte, welchem Zweck ihr Kommen und Gehen diente.
„Lass uns zurückgehen! Wir haben für heute genug gesehen und ich möchte unter keinen Umständen entdeckt werden“, murmelte Will, ohne sich zu Rey umzudrehen. „Wir sollten Tante Em davon berichten. Was meinst du?“
Obwohl Rey dem Treiben noch stundenlang zusehen hätte können, verstand sie seinen dringenden Wunsch und nickte, als sie sich doch Will zuwandte und dieser sie nur streng anblickte.
Schon im Begriff, den Rückzug anzutreten, baute sich erst unscheinbar, dann drohend ein Schatten hinter den Halbwüchsigen auf, der beide bis ins Mark erschrecken ließ.
„Wir haben euch bereits erwartet“, ertönte der sonore Klang einer wohlvertrauten Stimme wie aus dem Nichts.
Reys gedanklicher Ausflug in die Vergangenheit wurde unterbrochen, als sie im Augenwinkel wahrnahm, dass in Wills Zimmer Licht anging. Sie erkannte seinen Umriss deutlich und auch, wie Will im Zimmer auf- und ablief.
Ha, jetzt hat er bestimmt ein schlechtes Gewissen! Tante Em wird ihm schon einige Takte gesagt haben, triumphierte Rey mit einem bitteren Beigeschmack.
Sie gönnte ihm etwas Ärger, aber mehr noch, dass er vor Scham im Boden versinken würde, weil er ihren gemeinsamen Abend sausen hatte lassen – und das an ihrem Geburtstag.
Soll er mich doch jetzt suchen!, schmollte sie.
Ein Gefühl der Genugtuung durchfuhr sie, da Will sie im schwindenden Licht des Tages nicht von seinem Zimmer aus sah, zumal er noch nicht einmal den Kuchen angerührt hatte, den sie mit viel Mühe gebacken hatte. Aber vielleicht war es besser so – er war ohnehin ungenießbar. Es war nicht das erste Mal, und eigentlich hatte sie wider besseren Wissens, dass sie beim Backen und Kochen zwei linke Hände hatte, Tante Ems Hilfe ausgeschlagen.
Noch einen Moment lang hing Reys Blick an Wills Zimmerfenster. Aber als er sich nicht mehr blicken ließ, drehte Rey ihren Kopf wieder von der Rückseite des Hauses ab, blickte in die Ferne, wo der gegenüberliegende Berg schon schwärzer als die Nacht lag und es nur noch eine Frage von Minuten war, bis die Dunkelheit die letzten Schattierungen gierig auffraß.
Reys Gedanken schweiften abermals zu jenem Tag zurück, bevor Wills Rückkehr sie abgelenkt hatte. An jenem Tag, als ihre Welt irgendwie noch intakt war, mit Will intakt war und sie so ahnungslos um diese schreckliche Welt gewesen war. Vor ihren Augen flimmerten förmlich Bilder auf, die sich schärften und wie in einem Film vor ihr abliefen.
Rey sah vor ihrem inneren Auge, wie Will und sie damals unter den prüfenden und skeptischen Blicken der anwesenden Separatisten standen. Nachdem Wilbur sie hinter den Kisten entdeckt hatte, führte er sie wie Eindringlinge quer durch das Gewölbe, dann weiter durch einen Gang in ein ähnliches, aber kleineres Gewölbe.
Sie spürte immer noch die Blicke, die selbst so viele Jahre später noch auf ihrer Haut brannten.
Wilbur hatte ihnen einen Platz auf einem zerschlissenen Ledersofa zugewiesen. Wie zwei Lausbuben – was sie ganz sicher auch waren – nach einem zu üblen Streich saßen sie zusammengekauert mit eingezogenem Kopf da und erwarteten ihre Strafe.
Reys Herz pochte wie der ekstatische Trommelwirbel eines Feldtrommlers kurz vor einer Schlacht. Sie fühlte sich wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde, ohne zu wissen, was ihr Schicksal sein würde. Sie nahm an, es fiele viel schlimmer aus, als Will ihr vermittelt hatte. Schlimmer noch, als weggeschickt oder getrennt zu werden.
Hätte ich doch nur auf Will gehört!
Die Welt um sie herum schien zu verblassen und ihre Gedanken wurden von purer Angst kontrolliert, ganz gleich, ob sie sich einst gegen die Angst als einen Gefährten entschieden hatte und sie diese als ein bloßes Konstrukt ansah. Doch sie konnte sich nicht gegen das Gefühl wehren, das ihr den klaren Blick verwehrte.
Ob sie uns jetzt wohl einsperren werden, damit wir ihr Geheimnis nicht verraten? Ob wir wohl je wieder das Tageslicht erblicken werden? Jetzt sind wir Opfer unserer – meiner, korrigierte sie sich – Neugierde und werden zum Schlachthof geführt, werden zerrissen und aufgefressen. Das wird ein Tanz auf Messers Schneide, wenn wir das noch irgendwie abwenden können.
Wir müssen fliehen, wegrennen! Will, mach doch was! Sitz doch nicht einfach nur so herum! Hilf mir! Hilf uns!
Die Angst vor furchterregenden Konsequenzen erfasste Rey vollständig und sie war wie gelähmt, unfähig, etwas zu sagen, sich zu bewegen, geschweige denn zu fliehen. Das wäre ihre Wahl gewesen, wenn sie gekonnt hätte, wenn ihr ihre Beine gehorcht hätten. Aber wenn, wäre die Frage wohin noch zu lösen gewesen. Tröstlich fand Rey nur, dass Wilbur ein Teil von diesen Höhlenmenschen war, auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, was hier vor sich ging.
Wilbur lachte unweigerlich bei dem Anblick der Kinder belustigt und laut. Unterdessen hielt er sich den Bauch.
„Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis ihr hierher finden würdet. Jennifer hat es bereits vermutet.“
Verwundert blickte Rey auf.
„Wieso hat sie es vermutet und wieso habt ihr uns erwartet?“, fragte sie kleinlaut, als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
„Wieso hast du dir den Fuß gebrochen? Wieso hältst du dich dort auf, wo es untersagt ist?“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.
Wissend schaute Wilbur durch seine Nickelbrille.
„Meinst du wirklich, Jennifer ist das nicht aufgefallen?“
Betreten knibbelte Rey an ihrer Nagelhaut, schob den Nagel tief ins Nagelbett und fühlte sich auf ganzer Linie ertappt.
„Als ihr vor einigen Tagen im Tunnel standet, haben wir euch aus einem Gang heraus beobachtet. Jennifer hegte die Hoffnung, ihre unterrichtsfreie Zeit sowie die Weinlese könnten euch eine Zeit lang abhalten zurückzukommen. Ihr seid also früher hier als gedacht, zumal ich euch nicht zugetraut habe, auf Anhieb den richtigen Weg einzuschlagen. Doch ich habe euch unterschätzt“, erkannte Wilbur ihre Hartnäckigkeit an, bevor er weiter erklärte: „Wir haben hier überall Bewegungssensoren. Ihr habt eines der Signale ausgelöst. Durch die aktivierten Kameras konnten wir in unserer Schaltzentrale jeden eurer Schritte verfolgen.“
Sein Blick verweilte auf ihnen – eher belustigt, obwohl er Strenge bei solchen Rotzlöffeln walten lassen sollte. Ganz gleich, wie Wilbur auf sie hinuntersah, Rey fürchtete um die Konsequenzen, sich nicht an Tante Ems Regeln gehalten zu haben.
Trotzdem hatte Rey nun die unumstößliche Gewissheit, keinem Hirngespinst aufgesessen zu sein. Ihr Gefühl, beobachtet zu werden – als sie am Anfang des Tunnelsystems gestanden waren und zu ihrer Enttäuschung ins Haus zurückgehen mussten –, das sie tagelang begleitet hatte, hatte sie also nicht getäuscht.
„Was macht ihr jetzt mit uns?“, schaltete sich Will endlich ein.
Wieder lachte Wilbur herzhaft.
„Wir werden euch gefangen nehmen und euch für den Rest aller Tage einsperren“, scherzte er mit Tränen in den Augen.
Wills Gesichtsausdruck zeigte, wie sich ihm das tiefe, schwarze Erdloch präsentierte, denn so stellte er sich dieses spezielle Gefängnis der Ersten Neuen Ordnung vor, von dem seine Mutter gesprochen hatte, vor dem sie ihn so bewahren wollte. Seine Vorstellung, in einem ausgehobenen Loch ohne Hoffnung auf Rettung mit lauter Ungeziefer eingesperrt zu sein und restlos bei lebendigem Leib verschlungen zu werden, wirkte. Rey meinte, seinen Herzschlag zu hören. Seine blasse Gesichtsfarbe verriet seine zunehmende Angst. Nein, so wollte er nicht enden und in seinem Blick lag der Vorwurf: Rey, warum habe ich nur auf dich gehört!
„Nein, natürlich nicht! Wir werden euch nicht einsperren, das machen wir auf keinen Fall“, stellte Wilbur seine Aussage ins richtige Licht, da er in eingeschüchterte Gesichter blickte. Wahrscheinlich wollte er nur einen Scherz machen, erkannte aber offensichtlich und das rechtzeitig, dass er übertrieben hatte.
„Euch wird nichts zustoßen. Ich habe nur einen kleinen Spaß gemacht“, fügte er beruhigend hinzu.
Damit ließ zu Reys Erleichterung die flammende Panik, die Wills Körper beherrschte, nach. Erleichtert atmete er aus und gewann langsam wieder Farbe. Trotzdem blieb die Skepsis in seinem Gesichtsausdruck zurück, denn ihr gemeinsames Handeln hatte sicher Konsequenzen. Alles hat Konsequenzen.
„Aber hier ist nicht der richtige Ort für euch, oder denkt ihr, das ist das richtige Umfeld für zwei Zwerge?“, fügte Wilbur mit spielerischer Schärfe und einer Portion Provokation hinzu. Seine Augen, wie ein Falke scharf gestellt, blickte er die beiden durch seine Nickelbrille an.
Ihre kecke Art zurückgewinnend, forderte Rey Wilbur heraus. „Was ist das hier? Seid ihr so was wie ein Geheimbund?“ Kokett blickte sie ihn an.
„Nicht so frech, junge Dame, aber ich will mal nicht so sein. Über unsere Staatsgewalt habt ihr schon einiges erfahren“, erinnerte er sich mehr als deutlich. „Die Menschen, die ihr gesehen habt, sind Helfer in unserer Sache. Wir arbeiten gegen das System, sammeln weltweit Informationen, um uns dagegenzustellen. Wer weiß, ob unser großer Plan klappt und wir den Menschen ein normales Leben zurückgeben können. Doch ich glaube, bis dahin wird noch viel Zeit übers Land streichen.“
„Dann seid ihr doch ein Geheimbund“, folgerte Rey und ließ nicht locker, da Wilbur ihre Frage unbeantwortet ließ.
„Wenn du es so nennen magst, dann ja.“
Wilburs Stirn runzelte sich nachdenklich und er musterte die beiden. Er stützte sich auf seine Oberschenkel und beugte sich ihnen entgegen. Die Distanz schmolz auf wenige Zentimeter, sodass Rey jede seiner Poren sah und auch die Bartstoppeln, da er sich augenscheinlich nicht richtig rasiert hatte. Diesen Anblick kannte sie von ihrem Vater an manchen Tagen, wenn er lustlos dreinblickte.
„Könnt ihr ein Geheimnis für euch bewahren?“, fragte er verschwörerisch.
Eifrig bejahten sie seine Nachfrage.
„Nun, wenn das so ist. Dann wollt ihr euch bestimmt etwas umschauen?“ Eine Frage und eine Aufforderung.
Unschlüssig, ob Rey und Will richtig gehört hatten, meldete sich Rey erneut zu Wort.
„Ist das dein Ernst? Und wir bekommen wirklich keine Strafe?“
„Keinen Ärger, nicht von mir und auch nicht von Jennifer. Ihr habt mein Ehrenwort. Und jetzt los mit euch! Eure Augen blitzen ja vor Neugierde.“
Wie aus der Pistole geschossen, flitzten sie in das Herzstück des Komplexes.
Nach kurzer Begutachtung sah Rey, wie Will an einer Reihe aufgebauter Apparaturen hängen blieb. Er stellte sich hinter eine Frau und beobachtete ihre Handgriffe. Er stellte Fragen und hörte aufmerksam zu. Seine Faszination für das Sammeln und Auswerten von Daten war nicht zu übersehen.
Rey zog es zu einer Gruppe an einem großen Tisch, die eine Landkarte vor sich liegen hatte. Um die Details genauer zu erkennen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und klammerte sich an die Kante des Steintisches, damit sie nicht die Balance verlor. Das Gelände war ihr unbekannt, sie schlussfolgerte aber, dass es sich um Alexandria, den Regierungssitz des Kanzlergenerals und die Umgebung der Stadt handeln musste. Das war der wichtigste der fünf Machtzentren der Ersten Neuen Ordnung.
Die Gruppe suchte Wege, ungesehen dorthin vorzudringen. Noch während sie über die Kontrollpunkte sprachen, unterbrach Rey das Gespräch.
„Gibt es dort nicht auch Tunnel, so wie diese hier?“
Die Diskussion verebbte und jeder der Anwesenden blickte sie verblüfft an. Rey bemerkte das und wurde verlegen.
„Marby.“
Eine Jugendliche streckte Rey die Hand entgegen, die sie zur Begrüßung ergriff, und entspannte die Situation.
„Rey“, reagierte sie verdutzt, da diese Art der Vorstellung auf sie befremdlich wirkte, zumal sie die ganze Zeit nicht beachtet worden war.
„So, du meinst also, dort könnten unterirdische Anlagen sein?“, erkundigte sich eine Frau, deren Gesicht von blonden schulterlangen Haaren eingerahmt wurde.
„Die gibt es in der Tat“, fuhr Marby nickend fort. „Unser Problem ist nur, dass die Schachtsysteme nicht untereinander verbunden sind und wir nicht bis zu dem Punkt, wo wir hinmöchten, vordringen können. So muss man notwendigerweise an manchen Stellen längere Strecken oberirdisch überwinden. Manche Tunnel sind kilometerlang und verbinden Städte, andere eben nicht. Aber wir suchen hier einen Weg innerhalb der Stadt. Hier müssen wir entlang“, erklärte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Straßenzug.
Aufmerksam folgte Rey den Ausführungen, neigte den Kopf von der einen zur anderen Seite.
„Aber wenn hier und hier“, sie tippte auf die Punkte auf der Karte, „Überwachungspunkte sind, warum umgeht man sie nicht einfach?“ Dabei schob sie ihren Finger über die Karte und markierte somit einen anderen Weg.
„Das ist schlau von dir. Du kannst es ja nicht wissen, aber unsere Späher haben auf dieser Route zu viele Kameras ausgemacht. Ungesehen kommen wir da nicht durch“, meldete sich die blondhaarige Frau wieder zu Wort.
Marby holte aus ihrer Tasche ein sechseckiges, flaches, aus Metall gefertigtes Kästchen heraus und legte es mitten auf den Tisch. Sie tippte darauf und ein Hologramm öffnete sich. Mit ihren Händen zerrte und drehte sie in dem virtuellen Bild und veränderte die Ansicht, sodass man jedes Detail sehen konnte. So zeigte Marby ihr die Kameras und auch den unüberwindbaren Weg zu einem kleinen Gebäude, das das ersehnte Ziel war.
„Darf ich auch mal?“, fragte Rey fasziniert.
„Bitte. Natürlich.“
Nachdem sie die Handhabung raus hatte, drehte sie die Illumination in alle Richtungen. Hin und wieder runzelte Rey angestrengt die Stirn und schmunzelte.
„Wie wäre es, wenn man hier entlang ginge? Durch das Haus hier. Es hat einen freien Zugang durch diesen Torbogen. Dann über den Hinterhof, dort über die Mauer. Wäre das machbar?“
Fragend schaute sie in die Runde. Marby zoomte, drehte den Anschauungswinkel und analysierte den Vorschlag.
„Willkommen im Team!“, lautete Marbys Antwort. „Darauf wäre ich nie gekommen. Das hast du gut beobachtet.“
Noch bevor Rey antworten konnte, stand Wilbur zwischen ihnen.
„Was macht unser wissbegieriges Mädchen? Benimmt es sich auch?“ Er lächelte in dem Wissen, wie eigensinnig Rey sein konnte.
„Sie ist eine Strategin“, freute sich Marby. „Aus ihr wird mal was werden.“
„Hast du Lust, den Mädels zu helfen?“, blickte er Rey fragend an.
„Heißt das, ich darf mitmachen? Bei eurem Geheimbund, bei eurer Sache?“
„Ja, das heißt es“, grinste Wilbur breit.
Rey war fürchterlich aufgewühlt, da die neue Zukunft ungewiss war, und doch hatte sie nun Sicherheit darüber, die Separatisten gefunden zu haben, für die ihr Vater so viel zusammentrug, und war dahintergekommen, dass Wilbur und Tante Em ein Teil davon waren, nicht nur Unterstützer, wie Will es ihr auf ihrer gemeinsamen Reise erklärt hatte.
Sich den Separatisten anzuschließen und ihre neu entdeckte Fähigkeit zur Veränderung einzusetzen, hätte sie sich nie erträumt. Doch hier bot sich die Gelegenheit auf einem Silbertablett. Wie konnte sie da Nein sagen? Ihre Wut kochte wieder auf und sie verspürte das Bedürfnis, sich für den Verlust ihrer Identität und ihrer Mutter zu rächen. Den Meuchler würde sie wohl nie finden und der Tod ihrer Mutter bliebe ungesühnt. Aber sie konnte etwas dazu beitragen, dass niemand mehr sterben und dieselbe emotionale Talfahrt durchleben müsste wie sie.
War das etwa der Plan meines Vaters? Ist das der große Plan für mich? Eine Separatistin?
Was auch immer Reys Vater gedacht oder geplant hatte, sie hingegen hatte Klarheit; das war ihre Bestimmung. Seit dem Mord an ihrer Mutter bestand die Idee, sich zu rächen und jetzt erkannte sie, dass dies der Weg war.
Wilbur holte Rey aus der Gruppe und führte sie zu Will, der immer noch begeistert an den Apparaturen stand. „Ich möchte das auch können, Wilbur“, schoss es enthusiastisch aus ihm heraus, als er ihn in seiner Nähe wähnte.
„Dann bist auch du in unserer Mitte willkommen, Will. Aber jetzt ist es Zeit zu gehen. Jennifer wartet bereits auf euch. Kommt!“
Auf dem Weg zu dem kleinen Gewölbe mit dem Sofa hegten beide ihre Gedanken und Wünsche, ganz gleich, ob sie erfüllt werden würden oder nicht.
Tante Em erwartete die Kinder bereits auf dem Sofa, mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Obwohl Rey sich nicht sicher war, was sie nun erwartete, schaute sie verlegen auf Tante Ems Knie, um ihrem Blick auszuweichen.
„Tante Em“, stotterte sie und zupfte sich nervös an den Fingern, „es tut mir leid, dass wir deine Regeln nicht befolgt haben.“
Doch Jennifer lachte nur herzhaft und das so glockenhell, dass sich ihr dabei der Busen hob. Sie winkte Rey mit der Hand zu sich. Rey folgte der Aufforderung und wurde von ihrer Tante auf den Schoß gezogen.
„Ach, Sternchen. Ich habe nicht einen Moment lang darauf vertraut, dass du auf meine Regeln hörst.“
Sie lachte wieder und Rey klappte der Kiefer hinunter.
„Dann wolltest du also, dass wir nicht auf dich hören?“, fragte Rey verunsichert.
„Doch, doch. Hören sollt ihr schon. Aber ich hätte es euch einfach erzählen können, was hier vor sich geht. Erfahren hättet ihr es ohnehin. Aber es hat euch einen Heidenspaß gemacht und den habe ich euch von Herzen gegönnt. Und mir auch.“ Sie zuckte mit den Schultern.
Rey stellte die Augen eng.
„Also hast du uns veräppelt?“
„Ein bisschen“, meinte sie belustigt und zeigte eine winzige Spanne mit ihrem Zeigefinger und Daumen.
„Ihr hattet euren Spaß und ich meinen und ab sofort gibt es keine Verbote mehr.“
Dafür gab Rey ihrer Tante einen dicken Kuss auf die Wange. Vor Freude und vor Glück, in vielerlei Hinsicht.
Tante Em führte Rey und Will durch einen Tunnel zum Haus. Der Weg war viel kürzer und endete an einem Felsvorsprung nahe dem Ausgang.
Doch Rey dachte nur an die gewonnenen Eindrücke und wie es ihr damit erging. Die Menschenmenge, die eine neue Zukunft anstrebte, beeindruckte sie. Hand in Hand planten sie die nächsten Schritte, ohne Zwist und aus freien Stücken. Unwillkürlich dachte sie an die vielen Frauen, von denen sie gelesen hatte, die an eine bessere Zukunft geglaubt hatten. Jetzt sah sie sich selbst in solch einer Situation. Ein Lächeln strich über ihr Gesicht.
Zum ersten Mal fühlte sich Rey frei und unbefangen. Sie musste nicht mehr lügen oder Halbwahrheiten erfinden und sie konnte einfach sie selbst sein, ihre Gedanken ungehindert teilen. Es war leicht und so einfach.
Der Widerstand für eine neue Ära war ein großes Unterfangen. Doch mit so vielen Beteiligten wie auch ihrem Vater musste sich alles einfach zum Guten wenden. Vielleicht waren hier nur ein paar Dutzend, doch anderswo gab es sicher mehr. Es musste richtig sein. Sie war ein kleines Zahnrad in diesem großen Uhrwerk, aber sie war eines.
Wenn alles gut ging, stünde ihr Name wieder in der Datenbank – in der Datenbank eines besseren Morgens. Dann wäre sie wieder ein Jemand und kein Niemand.
Die Vergangenheit war geschehen, aber die Zukunft war nicht in Stein gemeißelt.
Rey saß nun völlig von der Nacht ummantelt unter dem sternenüberfluteten Himmel, der wie ein Fließ aus kleinen Diamanten nur so blinkte. Das Flackern der Sterne deutete sie als ein stummes Gespräch, das ihr zeigen sollte, wie schön das Leben sein konnte und ihren Groll auf Will vertreiben sollte. Sie konnte sich nur bedingt an ihrer Schönheit erfreuen, dennoch umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen.
Seufzend stützte Rey ihre Hände auf die Oberschenkel und erhob sich. Ihr Ziel war ihr Zimmer, ohne Will über den Weg zu laufen. Ein Blick auf die Rückseite des Hauses verriet ihr, dass Will entweder schon schlief oder wieder bei seiner Nelli war, wie Rey Melanie vorzugsweise nannte. Bei dem Gedanken daran, dass er zu ihr gegangen sein könnte, verzog sie das Gesicht und sog die Luft tief ein, um der Enge in ihrem Herzen etwas Luft zu geben.
Es hämmerte an Gregs Bürotür. Ohne dass er wusste, wie ihm geschah, standen ihm die altbekannten Gesichter der Brigade gegenüber.
„Aufstehen und mitkommen!“, befahl Chester mit grober Stimme, aber Greg meinte, in seinen Augen einen mitleidigen Blick zu erkennen.
Schnaubend und mit einem mühevollen Augenaufschlag erhob sich Greg schwerfällig.
„Was ist denn jetzt schon wieder, Chester?“
Umständlich legte Chester ihm elektronische Handfesseln vor dem Bauch an und ließ sie zusurren.
Greg erhob keinen Einspruch. Selbst wenn er sich dazu entschieden hätte, hätte es zu demselben Ergebnis geführt. Also schwieg er. Welche der vielen Gründe, die er stumm aufzählte, für die Festnahme infrage kamen, konnte er nicht sagen.
„Das klärt sich schon, Mr. Wood“, hörte er Chester sagen. Mit einem etwas freundlicherem Gesicht gestikulierte der Brigadeführer auffordernd in Gregs Richtung, ihm entgegenzukommen, und schob ihn zwischen sich und seine Leute. „Ich weiß, Sie haben viel durchgemacht, Mr. Wood und es tut mir schrecklich leid. Aber ich muss Sie mitnehmen. Befehl ist Befehl.“
Das dachte ich mir bereits. Es ist klüger, zu schweigen.
Unter den neugierigen Blicken der Magistratsmitarbeiter wurde Greg abgeführt und vor dem Gebäude in ein schwer gepanzertes Fahrzeug gebracht. Wie ein Schwerverbrecher wurde er mit den Handfesseln in einen Sitz gedrückt, der ihn mit selbsttätigen, unnachgiebigen Gurten ummantelte. Die Türen des Wagens schlossen sich und das Fahrzeug setzte sich unmittelbar in Bewegung.
In Gedanken ging Greg jeden einzelnen Schritt, den er gegen die Erste Neue Ordnung unternommen hatte, durch und konnte sich keinen Reim darauf machen, wie er in diese Lage gekommen war. Er war vorsichtig, mehr als vorsichtig gewesen. Inzwischen glaubte er bereits an einen Verrat aus den eigenen Reihen, da die Festnahme keinen Sinn für ihn ergab. Doch wenn er verraten worden wäre, bliebe es nicht bei seiner Verhaftung. Dann müssten noch mehr aus dem Magistrat verhaftet worden sein. Er sah niemanden, der festgenommen worden war, aber das hieß nichts. Er musste die Ruhe bewahren und abwarten. So blieb er grüblerisch auf seinem Platz und wurde durch die unsanfte Fahrweise durchgeschüttelt.
Nach gut einer Stunde erreichten sie ein hermetisch abgeriegeltes Gelände, das einsam innerhalb hoher Mauern sein Dasein fristete.
Obwohl die Sonne hoch stand und Greg blendete, erkannte er, dass er sich außerhalb von London, aber noch innerhalb des Sperrgürtels und somit in der Schutzzone befand.
Mächtig erhob sich ein gigantischer Wall, so weit das Auge reichte. Er schützte die Zivilisation vor den unzugänglichen, längst verwüsteten oder überschwemmten Gebieten; darüber ein technologisches Netz weit in den Himmel gespannt und für gewöhnlich unsichtbar, einst entworfen und errichtet, um den schlimmsten Aufruhr der Elemente abzuhalten. Nach und nach waren die Schutzzonen jedoch zusammengelegt worden und sogar eine breite Passage zu den westlichen Kontinenten war errichtet worden. Greg erinnerte sich, dass der Bau der Passage fast zehn Jahre gedauert und viele Menschenleben gekostet hatte.
Obwohl die Gewalten jenseits der Schutzzone sich mäßigten, schaffte es die neue Weltordnung nicht, die extremen Wetterbedingungen vollständig auszuschließen. Die Winter brachen oft früher herein und an manchen Tagen wurde es im Sommer unerträglich kalt oder die Sonne versengte alles unter ihr.
Innerhalb einsamer Mauern, weit genug entfernt von dem Schutzwall, am Rande der Neuen Welt, lag ein kleines graues Gebäude. Davor erstreckte sich ein eintönig betonierter Platz, durchbrochen von zwei Betonbarrieren.
Die Umzäunung des Geländes mit aufgesetzten Metallstacheln und Flutlichtern erinnerte an ein Hochsicherheitsgefängnis, doch das Gebäude war zu klein und schien keine Sicherheitsvorkehrungen zu haben. Nur entlang der breiten Zufahrt bauten sich mächtige, bauchig gewölbte Betonklötze auf.
Lediglich in Schwarz gekleidete Milizen standen an den Eingängen vor dem Gelände und an dem Gebäude. Die Farbe, die Kleidungsform, die Abzeichen und auch ihre Bewaffnung waren ihm unbekannt. Zwar hatte er bereits vor über einem Jahr von diesen neuartigen Milizen gehört, es aber als Ammenmärchen abgetan.
Zu verworren, zu vage und zu neu.
Den Gerüchten nach gehörten sie zu den Spezialbrigaden der Miliz und waren definitiv gefährlicher und brutaler als die Grauen.
Unsanft von zwei Schwarzgewandeten untergehakt, wurde er schroff zum Eingang gedrängt.
Als er an den Klötzen aus Beton entlangging, sah er bläuliche Lichtstreifen in den übermannshohen Auswuchtungen. Er schätzte sie auf fünf Meter Höhe und fand sie einschüchternd. Die Lichtstreifen dienten wohl nicht der Beleuchtung und er erahnte den Zweck. Kurz vor der Tür erhaschte er noch einen Blick auf die Mauern, die das Gelände umgaben, mit ähnlichen Auswuchtungen, was die Metallstacheln überflüssig machte – sofern sie nicht noch einer anderen Funktion dienten. Es brauchte einen Moment, bis er endgültig begriff, diese Lichtfäden in den Außenmauern waren todbringende Laser. Auch über sie hatte er so seine Geschichten gehört. Jeder, der ihr Licht streifte, starb unter erbärmlichen Qualen.
Deswegen gibt es auch nur eine Handvoll Wachen. Verständlich, erklärte er sich den Umstand selbst.
Den anderen Quatsch hätten sie sich aber sparen können,meinte er sarkastisch zu sich selbst und ergab sich in sorgenvollen Gedanken, was ihm bevorstünde.
In dem neonhellen Eingangsbereich erschienen die aluminiumverkleideten Wände steril und kalt. Nur eine Konsole für einen Handabdruck und ein Irisscanner ermöglichten in Kombination den Zugang zu dem dahinterliegenden Raum – die Implantate an dieser Stelle bedeutungslos.
Einer der Wächter blieb zurück und Greg wurde unsanft durch die Tür geschubst. Er taumelte, fing sich aber wieder. Der Raum dahinter unterschied sich kaum von dem davor, nur dass es keinen weiteren dahinter geben konnte. Das gaben die Abmessungen des Gebäudes seines Erachtens einfach nicht her.
Der schwarze Miliz ließ einen Scan über sich ergehen und gab neben seinem Handabdruck einen Code auf der elektronischen Tafel ein. Ein Fahrstuhl öffnete sich und setzte sich mit seinen Insassen in Bewegung. Es ging nicht wie erwartet ein Stockwerk aufwärts, sondern abwärts. Die Fahrt zog sich in die Länge. Wie tief sie in die Erde fuhren, konnte Greg nicht bestimmen, aber es mussten etliche Etagen gewesen sein.
Auf der Zielebene wurde Greg an zwei andere Milizen übergeben. Mit finsterer und starrer Miene trieben sie ihn über unzählige Flure und passierten mindestens sieben weitere Sicherheitsportale, die ebenfalls durch Laser, nur in roten, dickeren Strahlen, gesichert waren und einem Scan des Implantats unterlagen.
Diese Laserstrahlen kannte er bereits. Sie waren auch seit einigen Jahren in allen Regierungsgebäuden integriert. Eine Barriere, die unüberwindbar war, aber nicht tödlich.
Im letzten Gang bestanden die Türen nur noch aus Glas. Hinter jeder dieser Türen befand sich ein Mensch – oder das, was von der menschlichen Hülle noch übrig war. Jeder von ihnen war augenscheinlich misshandelt worden, manch einer war mehr tot als lebendig und nahm noch nicht einmal mehr Notiz von ihm.
Vor solch einer Zelle blieben sie stehen. Greg musste sich mit dem Gesicht zur Tür stellen und ihm wurden die Handfesseln abgenommen. Ehe er sich versah, schubste ihn einer der beiden in die Zelle und ließ die Tür zufallen.
Greg fiel von der Wucht des Stoßes auf die Knie und stützte sich gerade noch auf die Hände, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu schlagen. Er richtete sich wieder auf und blickte sich um. Der Trost, er könne von Zeit zu Zeit jemanden an seinem neuen Quartier vorbeilaufen sehen, verflog schnell, da er nur auf schwarzsilbriges Metall blickte.
„Willkommen, Insasse 6-1-7-9-8-8. Um Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen, weise ich Sie in die Annehmlichkeiten Ihrer Unterkunft ein.“
Während Greg versuchte, die angenehme weibliche Stimme ausfindig zu machen, fuhr diese ohne jegliche dramatische Pause fort.
„Ihr Bett finden Sie zu Ihrer linken Seite, die Toilette zu Ihrer rechten Seite und darüber können Sie das Trinkwasser aktivieren.“
Hilfesuchend schaute er sich um. Der Raum war leer.
Das ist ein schlechter Witz.
Kein Bett, keine Toilette und auch kein Wasser. Verzweifelt setzte er sich auf den Boden in der Ecke, die als Schlafstelle angepriesen worden war.
Zu seiner Verwunderung erhob sich der Boden und passte sich seiner Körperform an. Befremdlich drehte er sich und legte sich vorsichtig auf den Rücken. Die Partikel, die aus dem Boden herauswuchsen, passten sich erneut seinem Habitus an.
So funktioniert das also! Das kann ja noch heiter werden. Das ist also das Loch. Leben im absoluten Luxus! Wer hätte gedacht, dass es hier unten so einladend sein könnte?, spottete Greg, obwohl ihm die Insassen, an denen er vorbeigetrieben worden war, ganz und gar nicht wie willkommene Hotelgäste vorgekommen waren und eher Versuchskaninchen glichen.
Die Fläche, auf der Greg lag, war kalt, glatt und unangenehm hart. Es fühlte sich wie Metall an, konnte es aber nicht sein.
Ein Netz aus feinen, komplexen Linien zog sich durch den Raum und hielt Gregs Blick einen Augenblick stumpfsinnig gefangen. Schließlich brachte er die Willenskraft auf, seine Aufmerksamkeit davon zu lösen. Die Schatten klebten in den Ecken wie dunkle Schwaden. Nur die rot blinkenden Lichter aus den oberen Ecken durchbrachen sie für den Hauch einer Sekunde. Am liebsten wäre Greg aufgesprungen, um zu kämpfen oder zu fliehen, doch seine gewonnenen Eindrücke geboten ihm, Ruhe zu bewahren, zumal er auch davon ausging, dass er nicht nur via Kamera überwacht wurde.
Er atmete aus, verlangsamte seinen Atem, versuchte sich zu entspannen und starrte wieder zur Decke. Trotzdem dröhnte sein Herzschlag wie Paukenschläge in seinen Ohren, Hitze durchflutete ihn und seine Wangen glühten.
So sterbe ich also, als eine kleine weiße Maus im Experimentierhotel. Dieser Luxus hat seinen Preis – und der ist nicht ganz billig, stellte er nüchtern fest. Doch die Frage drängte sich ihm auf, welche Art von Daten hier gesammelt würden und was die Milizen hier, versteckt vor aller Augen, an ihren kleinen weißen Kaninchen ausprobierten.
Für einen Moment verfiel Greg in Verzweiflung und gefälliges Selbstmitleid. Mit so vielen verpassten Möglichkeiten würde es bald enden. Er hätte noch so vieles tun können und wollen, hatte er doch so etliches versäumt.
Mit tiefer Traurigkeit dachte er an Elma. Er hätte auf sie hören sollen, als sie gesagt hatte, dass sie zu Jennifer gehen sollten, als sie noch eine Familie waren. Elmas Tod hatte er bis heute nicht überwunden und würde es wohl auch nie, ganz gleich, dass er bei Margret Trost gefunden hatte. Sie konnte die Leerstelle in seinem Leben nicht füllen, aber sie machte es ihm in manchen Momenten erträglicher. Er beklagte, dass er Elma kein Gehör geschenkt hatte. Beklagte, dass er ihre Aussagen heruntergespielt, kleingeredet und als Spinnerei abgetan hatte, obwohl ihn sein innerstes Ich immer wieder gewarnt hatte.
Der Geschmack der Verbitterung gesellte sich dazu, da er sich schalt, Rey nicht begleitet zu haben. Es wäre für ihn einfach gewesen, alles hinter sich zu lassen. Ohne seine Tochter war sein Leben in Dartford bedeutungslos geworden. Auch Margret hätte er zum Aufbruch bewegen können, es ihr ermöglichen können und sie hätten ein beschauliches, aber erfülltes Leben führen können. Doch für diese Erkenntnis benötigte er Jahre. Stand jetzt war es zu spät.
Jetzt sah er seinem Ende entgegen und hatte nicht im Ansatz erreicht, was er ursprünglich hatte erreichen wollen. Nicht im Leben, nicht in der Liebe – obwohl er Elma so, so geliebt hatte, konnte er ihr Schicksal nicht ändern – und nicht für den Widerstand.
Nur eines hatte Greg vollbracht. Er hatte sein einziges Kind in die sicheren Arme von Jennifer und Pater Elias geschickt. Doch von beiden hatte er seit einigen Jahren nichts mehr gehört und auch nicht, wie es seinem Sternchen ergangen war. Elias hatte ihm nur mitgeteilt, dass sie und Will heil angekommen waren.
Wie Rey sich entwickelt hatte und ob sie, wie er hoffte, zu einer klugen Frau heranwuchs, darüber konnte er nur spekulieren. Obwohl es ihn aufwühlte und er zum ersten Mal schwach lächelte, fühlte er sich niedergeschlagen und unerfüllt. Das Einzige, was ihm blieb, war der Tod seiner Frau, ausgelöschte Existenzen und elternlose Kinder.
Es tut mir leid. So unendlich leid.
Noch Stunden zuvor hatte Greg in Margrets Armen gelegen, hatte Trost gesucht, weil sich Reys Geburtstag jährte und er sein Kind nicht sehen konnte, überhaupt nicht sehen konnte und das seit Jahren. Bildlich stellte er sich vor, wie sie mit Will und all den Freunden, die sie inzwischen gewonnen haben musste, gemeinsam feierte, obwohl er sich nicht entscheiden konnte, wie sie ihren besonderen Tag nach seinem Geschmack verbringen sollte. Dann tauchte wieder vor seinem inneren Auge das Kindergesicht seiner Tochter in all seinen Facetten auf – vorzugsweise lächelnd und beschwingt und wie sie sich in diesem roten Samtkleid gedreht hatte.
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