Rotverschiebung - Ria Klug - E-Book

Rotverschiebung E-Book

Ria Klug

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der vier Bände umfassende Gesamtausgabe "Rotverschiebung" beginnt in Brasilien, wo die Transfrau Nel Arta auf kriminelle Machenschaften stößt, während sie sich in einer Anpassungs-OP unterziehen wollte. Ein deutscher Honorarkonsul ist darin verstrickt. Mehr als einmal kann sie nur knapp ihrem Kopf aus der Schlinge ziehen. Zurück in Deutschland kann sie ihre Verstrickungen nicht loswerden und gerät immer wieder in Konflikt mit der Polizei. Sie muss lernen ihren Jähzorn zu zügeln, Konflikte zu vermeiden und zu vertrauen, was ihr sehr schwer fällt. Im vierten Band sorgt sie in ihrem Heimatort für erheblichen Aufruhr, findet aber auch eine lange vermisste Nähe zu ihrer Mutter wieder. Im flammenden Finale geht es für sie ums Ganze. Die Bände "Kleine Betriebsstörung", "Schnicksenpogo" und "Popelige Mauscheleien" sind vor Jahren schon im Print erschienen. In dieser Gesamtausgabe sind sie gründlich überarbeitet und um den vierten, bislang unveröffentlichten Band "Nachts Zündeln", ergänzt worden.

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Seitenzahl: 1097

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Rotverschiebung

4 x queer crime mit Nel Arta

Texte:© copyright by Ria Klug

Umschlaggestaltung:© copyright by Ria Klug

Verlag:

Ria Klug

Suchlandstraße 9

12167 Berlin

[email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Einführung zum Sammelband Rotverschiebung-4 x queer crime mit Nel Arta

Sorry, das muss sein, aber man kann es auch überspringen.

Als mich 2008 die unüberwindbare Idee, ich könnte einen Krimi schreiben, anfiel, hatte ich noch keine Ahnung, wo die Reise hinführen würde.

Ich schrieb drauflos und je mehr Seiten dazukamen, desto besoffener war ich von meinem eigenen Text.

Auf Einwendungen von Freund:innen, es handele sich um ein Spartenthema, erwiderte ich lapidar, im Fernsehen liefen Krimis, in denen der Kommissar nur einen Arm hat und die meisten Zuschauer:innen dagegen mindestens zwei. Oder in Krimis träten Polizist:innen mit Liebeskummer und Alkoholproblemen auf und das läsen oder schauten auch beziehungsferne Misantrop:innen und überzeugte Abstinenzler:innen.

Aber machen wirs kurz. Erst nachdem ich mir ein Online-Seminar zum Krimischreiben leistete, erkannte ich, dass Schreiben ein zu erlernendes Handwerk ist und ich bis dato keinen erdenklichen Anfänger:innenfehler ausgelassen hatte. So wurde der zweite Roman mit Nel Arta vor dem ersten fertig, viel besser war er aber noch nicht.

Schließlich waren alle drei Nel-Arta-Geschichten in der richtigen Reihenfolge von 2011 bis 2013 erschienen, eine vierte in Teilen geschrieben, aber sie dümpelten unter der Wahrnehmungsschwelle des Buchmarktes.

Eine mutige Neuedition des Debuts Kleine Betriebsstörung von Dead Soft floppte 2016 leider ebenfalls.

Da ich aber stur und immer noch von der Figur und den Stories überzeugt bin, habe ich mich daran gemacht die Reihe nochmal als eBook herauszugeben und um den 2019 fertiggestellten vierten Band Nachts Zündeln zu ergänzen.

Beim neuerlichen Lesen fiel mir auf, wie viel ich inzwischen dazugelernt habe und, peinlicherweise, wie hölzern und ungelenk die Schreibe in Teilen war.

Beim Überarbeiten habe ich mich bemüht den Charakter zu erhalten und trotzdem den Text aufzubrezeln, um so etwas von den dreizehn Jahren Schreiberfahrung einzubringen.

Ganz nebenbei ergab sich dadurch die Gelegenheit dem dritten Band mit Popelige Mauscheleien wieder seinen ursprünglichen Titel zurückzugeben, der vom damaligen Verleger unter tätiger Beihilfe des ehemaligen Chefredakteurs der Leipziger Volkszeitung als »zu ekelhaft« abgelehnt worden war.

Ob ein fünfter und abschließender Band folgen wird, weiß ich nicht. Ideen dazu gibt es, aber die reichen ja bekanntlich nicht.

Nel Arta kann man auch in anderen Geschichten begegnen. Manchmal läuft sie nur wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen durchs Bild. So in Die Zärtlichkeit der Hubschrauber (2013 als EdiLaGurki veröffentlicht) und in Zehntausend Kilometer. In Gefährliche Vergangenheit und Urinstinkt hat sie Co-Hauptrollen. Auch Isabel, ihrer brasilianischen Freundin und Karla, der Berliner Taxifahrerin, kann man da und dort begegnen.

Diese wunderbar inspirierende Idee, die einige meiner Bücher verbindet und sicher noch verbinden wird, habe ich mir von dem südafrikanischen Autor Deon Meyer abgeschaut.

Im ersten Band, Kleine Betriebsstörung, gibt es etliche Passagen mit Einsprengseln in Portugiesisch. Es ist eben so, dass man in einem fremden Land mit fremder Sprache häufig nichts versteht. Man kann also wie Nel durch Brasilien radebrechen und stolpern.

Für diejenigen, die das nicht ertragen, gibt es anhängend ein Glossar, zu dem man über die Endnoten gelangt, wenn man nicht wie Nel rätseln und nach und nach lernen mag, was da gesagt wird.

Wenn sich im vierten Band Nachts Zündeln gelegentlich das Gefühl einschleicht, dieser oder jener Name einer Figur wäre aus einem anderen Zusammenhang bekannt, so ist das kein Zufall, sondern mit einem Augenzwinkern gewollt.

Mehr sei hier nicht verraten.

Geneigte Leserschaft, hier hältst du also die erste und einzige Krimiserie mit einer Transfrau als Hauptfigur in den Händen.

Ich wünsche gute Unterhaltung.

Ria Klug, Dezember 2021

Nel Arta 1

Kleine Betriebsstörung

Oktober 2006

»Du glaubst, du weißt immer alles besser.«

Sabrina beugte sich vor und stellte ihren prallen Busen auf den Tisch. Damit wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen.

Mit der großen Klappe und dem schrillen Getue drängelte sie sich immer in den Mittelpunkt.

Sie quoll fast aus ihren blümeligen Fetzen. Nicht nur mit dem rosa Lippenstift, den sie reichlich über ihre Schlauchbootlippen verteilte, war sie die Karikatur einer Frau.

Alles an ihr wirkte prall. Der Lockenkopf, das üppig bemalte Gesicht, die Fettpolster, die dicken Ringe an dicken Fingern, die Handgelenke mit den unzähligen Armreifen, der fette Hals eingewickelt in kilometerlange Halsketten.

Am prallsten war ihr Arsch, in den ich sie gerne getreten hätte.

Hey, ich konnte sie einfach nicht leiden. Seit ich sie mal auf einer Sexparty bei Pinkelspielen gesehen hatte, nannte ich sie insgeheim Latrina.

Mochte ja sein, dass sie recht hatte und ich eine verflixte Besserwisserin war, aber in diesem Fall hatte ich wirklich recht. Ich fand es unerträglich und falsch, dass Julie ihrer Krankenkasse in diesem jämmerlichen Ton schrieb. Sie sollte ihren Willen kundtun und aufhören so rumzukriechen, erst dann würden die sie ernst nehmen. Sie konnte doch verdammt noch mal verlangen, dass die sie nicht immer mit »Sehr geehrter Herr Tolksdorf …« anschrieben.

Julies Blick irrlichterte eingeschüchtert zwischen mir und Sabrina hin und her. Das war wieder typisch für TransForm, unsere Selbsthilfegruppe. Rat und Tat für Transgender.11

Oder Zank, Zwist und Doofheit für und von Transgendern, ganz wie es beliebt.

Jason zupfte mich am Ärmel.

»Dann schreibts halt so, wie ihr denkt, wenn ihr euch mit dem Gejammere besser fühlt«, sagte ich.

Sabrina verdrehte die Augen und schnaufte. Wenigstens hielt sie jetzt die Klappe.

»Lass die mal machen«, sagte Jason und gurgelte den Rest aus seiner Bierflasche. Er schloss einen dezenten Rülpser an und lehnte sich zurück, weil er etwas aus seiner Hosentasche ziehen wollte. Nicht so leicht, bei seinem Wanst. Er förderte einen verknüllten Wisch hervor und faltete ihn sorgfältig auseinander.

»Das hat Cristina heute Abend gemailt«, sagte er und rieb sich die stoppelige untere Gesichthälfte, dabei starrte er versonnen auf das Papier.

»Ja, was denn? Wie siehts aus? Komm ich auch ran? Gib doch mal her.«

Jason verzog den Mund. »Ich weiß nicht, ob ich dir das wirklich geben soll. Du bist auf einmal so scharf auf dieses Geschnippel. Ich frage mich wirklich, ob du dir das gut überlegt hast.«

»Los, gib her, Blödmann. Ich weiß was ich tue.«

Ich beugte mich zu ihm hinüber und wollte ihm den Zettel wegnehmen. Er hielt ihn blitzschnell weit entfernt von mir. Obwohl ich mich ganz lang machte, fiel ich nur auf ihn drauf. Jason umfasste mich mit dem anderen Arm, rückte mich zurecht und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Ich mache mir halt Sorgen um dich«, sagte er, während er mich losließ und mir den Zettel überreichte. »Du hast so ein Talent Unheil anzuziehen wie Kacke die Fliegen.«

Ich gab keine Antwort, denn Cristinas Mail hatte mich in ihren Bann gezogen.

Ihr putziges Deutsch war schwer zu verstehen, aber ich entdeckte sofort, was ich wissen wollte. Am neunten November konnte ich drankommen. Einen Tag nach ihr.

Mir wurde ein bisschen flau. Wie immer, wenn es ernst zu werden drohte.

Ich blickte zu den anderen rüber, die sich um Sabrina und Julie klumpten und die Köpfe zusammensteckten. Ein richtiger Haarauflauf, in allen Schattierungen. Einiges davon Horn, anderes Kunststoff. Von denen hatten das schon einige hinter sich und hockten trotzdem hier, um ihre Weisheiten zum Besten zu geben. Wieder mal fühlte ich mich fremd und fragte mich, ob die OP daran etwas ändern könnte.

Von Ärzten und Krankenhäusern bekam ich Panik. Mein ganzes Geld würde für die Aktion draufgehen. Vielleicht machten die mich dafür zum Krüppel. Ein Sozialfall war ich schon.

»Angst?« fragte Jason.

»Nö«, sagte ich, »oder vielleicht ein bisschen. Was willst du eigentlich? Du hast dir auch die Möpse absäbeln und die Quarktasche leermachen lassen.«

»Aber hier und nicht sonstwo. Casa da Beleza heißt der Laden. Ich habs nachgeschlagen. Das heißt Haus der Schönheit. Klingt nach Seifenoper«, sagte Jason.

Amanda-Chantal und Ronja kamen zu uns rüber. Sie schienen mit ihrem Getratsche und Geschmiere fertig zu sein, aber die Neugier lebte noch.

»Am Siebten flieg ich nach Brasilien und lass mich operieren«, sagte ich, als ich merkte, dass sie sich nicht abwimmeln ließen.

»Oktober?«, fragte Ronja.

Gott, die war ja fast so bescheuert wie Sabrinalatrina. Sah so aus, als fing auch bei ihr das Transen an, indem das Hirn auf die Hälfte eingedampft und mit rosa Watte aufgefüllt würde. Damit nicht so viel Gewicht auf die Stilettos drückte. Ich hatte mich sowieso schon gefragt, warum eine mit so einer Möbelpackerfigur sich so einen Mädchennamen aussuchte.

»Das war vor zwei Wochen, Herzchen, liest du denn wirklich nie Zeitung?« Ich seufzte.

»Ist das nicht gefährlich?« Amanda-Chantal kräuselte die Oberlippe, soweit es die Lippenstiftbeschichtung zuließ. Ihr gab ich auch noch einen mit.

»Zeitung lesen?«

»Nein, die OP22 in Brasilien natürlich.«

»Für euch ist doch alles gefährlich, was nicht mit Schminken und Klamotten zu tun hat.«

Amanda-Chantal wirkte eher besorgt als sauer. »Warum bist du in letzter Zeit so aggressiv? Mit dir ist ja kaum noch zu reden.«

»Bestimmt vergisst Nel dauernd die Hormone.«

Das sagte Sabrina, die sich ein neues Betätigungsfeld suchte. Mir blieb an dem Abend einfach nichts erspart. Dann fingen sie alle an zu quasseln, jede wusste natürlich was.

»… hab ich neulich gelesen über so eine Klinik in … glaube Costa Rica oder wo … so ein Pfusch, aber ganz billig … Straßenräuber … im Flughafen das ganze Geld weg … Hygienestandards einfach schlechter …«

Ich schaltete ab, nur ein paar Fetzen nahm ich sozusagen vegetativ wahr.

Auf einmal würde es ganz still. Alle gafften mich an. Ich suchte nach dem Echo der Frage.

»Ist doch kein Geheimnis, oder? Ich möchte schon gerne mal wissen, was das kostet.«

Ronja hatte sich offenbar ganz gut erholt.

Ich sah mich um und fühlte mich zurAuskunft genötigt.

»Viertausendfünfhundert …«

»Etwa Euro? Oder das brasilianische, wie heißt das noch …?«

»Dollar, Schätzchen. Cash Kralle.«

Für einen Moment blieben die Mäuler offen stehen, ungläubige Mienen, rundum. Ich wollte gerne über was anderes reden. Natürlich keine Chance.

»Bist du sicher? Das gibts doch nicht, das ist doch viel zu billig. Selbst in Thailand zahlst du mindestens zehntausend Euro. Viertausendfünfhundert, da stimmt doch was nicht. Warum lässt du es nicht hier machen?«

»Meinst du ich habe Lust in der Charité aufm Klo zu vergammeln?«

»Du übertreibst. Nel, überleg doch mal, Viertausendfünfhundert, das kann doch nur Metzgerei sein. Du bist verrückt.«

Sabrina trug die geballten Bedenken vor. Dahinter schnatterten die anderen durcheinander.

»Das sind ja in Euro … was für ein Zimmer … wie lange … aber der Flug noch … aber in Thailand … hör mir auf mit Thailand … würd ich nie … die Kasse … hör bloß auf mit der Kasse.«

»Ich hab da neulich son Bericht im Fernsehen gesehen, wie die in Brasilien Leute entführen und Nieren oder so klauen, manchmal Kinder, die verschwinden …« Julie hing eindeutig zu viel vor der Glotze.

Ronja fiel ihr ins Wort. »Ja, das hab ich auch gesehen, gruselig, da machen ganz renommierte Ärzte und Kliniken mit.«

»Habt ihr turistas gesehen?«, fragte Amanda-Chantal. »Der lief doch neulich in der Brauerei. Da wird in Brasilien sone Gruppe Rucksacktouristen erst ausgeraubt, dann schnappt sie son Menschenhändler und sperrt sie ein, wie so Stalltiere. Der will die Organe verkaufen. Ey, das war voll eklig.«

Ich wollte das nicht ernst nehmen. Davon habe ich auch gelesen. Beim googeln nach Brasilien fand sich ja praktisch nichts anderes als Korruption und Gewaltverbrechen. Und uns gruselte es ja gerne, wenn wir etwas über fremde Länder hörten. Dann konnten wir uns in der Sessel kuscheln und denken, ach haben wirs in Deutschland gut. Aber turistas war doch nur ein scheißverdammter Film, oder?

Dass an den billigen Preis Bedingungen geknüpft waren, verriet ich nicht. Ich hatte keine Lust, darüber auch noch zu diskutieren.

Cristina hatte mir diese Gelegenheit vermittelt. Sie wollte sich auch dort operieren lassen. Wir würden uns ein Zimmer teilen. Die brasilianische Klinik bildete Ärzte in den gängigen OP–Methoden aus, weil sich ab zweitausendzehn transsexuelle Brasilianerinnen auf Kosten der Gesundheitsfürsorge operieren lassen könnten.

Natürlich erst nach dem ganzen Psychobrimborium, fast wie bei uns.

Die verbilligten OPs dienten als Lehrmaterial. Zuschauer würden dabei sein, dazu musste ich meine Einwilligung geben. Wenn ich genug Knete gehabt hätte, wäre mir das im Traum nicht eingefallen. Aber für umgerechnet achttausend Euro fing selbst ich an Kompromisse zu machen.

Eigentlich glaubte ich, die Mädels waren nur neidisch, weil ich eine Abkürzung nahm und dem sogenannten Transsexuellengesetz33 und der Krankenkasse eine Nase drehte. Das Geld dafür hatte ich noch von dem Anteil über, den mir meine Mama aus der Lebensversicherung meines Papas gegeben hatte. Wenn er geahnt hätte, was ich mit der Kohle machen würde, wäre er bestimmt am Leben geblieben, aus reinem Starrsinn.

Die Mädels übten sich immer noch im Rumunken, aber nur weil Jason ihnen den Gefallen tat und zuhörte. Da störte es nicht, dass ich den Wisch las, den Julie vom Medizinischen Dienst ihrer Krankenkasse bekommen hatte.

»Sehr geehrter Herr Tolksdorf … Sie haben beantragt, dass … Ihrem Wunsch können wir daher nicht entsprechen, solange die Gutachten …«

Vielleicht hätte ich Gutachterin werden sollen, dann hätte ich mich jedes Jahr zweimal operieren lassen können. Beim Begutachten würde das nicht stören, die Textbausteine lagen ja gemütlich auf dem Rechner. Ich müsste jedes Mal nur ein paar neue Namen und Daten eingeben. Solange die Hand die Maus bewegen konnte, würde das Geld niemals knapp werden.

Sabrinas Handy schmetterte die Ode an die Freude. Das passte wie Arsch auf Eimer. Gerettet, der Redeschwall versiegte.

Ich sah auf die Uhr. Wir konnten langsam nach Hause gehen, statt uns gegenseitig zu nerven.

Unser Treffpunkt war ein Nebenzimmer der Kultur- und Bildungsinitiative Kuhle Wampe. Insgesamt eine höchst linke Angelegenheit. Deren stinklangweilige Abendveranstaltung war vorbeit und wir konnten durch den Saal ins Freie.

Es standen noch mehrere Grüppchen herum, die sich noch nicht genug über die herrschenden Verhältnisse ausgekotzt hatten. Die sahen immer gleich aus: Kleine, dicke Frauen in Bequemschuhen, die Baskenmützen keck auf die burschikosen Frisuren geschoben, Männer mit Hängebäuchen in karierten Hemden und Bundfaltenjeans.

Klar, da gabs auch Jüngere dabei, die waren aber auf dem Weg genauso zu werden. Weltverbesserer eben.

Ein paar von denen hefteten ihre Stielaugen auf mich. Ich wackelte ein bisschen mit dem Arsch, dann drehte ich mich um.

»Maul zu, der Sabber läuft raus.«

Natürlich hatte das den gegenteiligen Effekt. Ich verkrümelte mich, bevor die Pfütze zu groß wurde.

Draußen holte mich Sabrina ein.

»Wenn die uns den Raum wegnehmen, bist du schuld. Das war doch jetzt völlig unnötig.«

»Ich habe einfach die Schnauze voll davon so bescheuert angestiert zu werden. Du kannst ja wieder reingehen und brav Pfötchen geben.«

Sabrina holte tief Luft, aber Julie zog sie am Ärmel.

»Ich habe noch mal überlegt, ob ich nicht lieber doch so schreiben …«

Ich hakte mich schnell bei Jason ein. Wir schlenderten ein paar Schritte die Kopenhagener entlang, natürlich immer mit Hundescheißesonar auf voller Leistung. Die Stadt sparte am Licht.

Jason stoppte. Ich blendete noch mal voll auf, ob ich was übersehen hatte. »Na, war bei dir mal wieder Rotverschiebung angesagt?«, fragte er. So bezeichnete Jason meine unkontrollierten Wutanfälle, es war ein Begriff aus der Astronomie. Rotverschiebung oder Redshift, bei mir blitzartiges Anschwellen von negativer Schwingung.

»Was soll ich machen? Die nerven alle ohne Ende.«

»Kommst du mit ins Kings&Queens? Wird gut für deine Laune sein. Ich bin verabredet. Nick hat gesagt, ich soll dich mitbringen«, erwiderte er.

Das war eine heftige Versuchung für mich. Dann spürte ich aber, dass ich nicht die Kraft aufbrachte, ihr nachzugeben.

»Ach Jason, du weißt doch wies läuft. Ich saufe Schampus bis ich rausgekehrt werde und versuche in jeden Ausschnitt zu krabbeln, der mir zu nahe kommt. Für die OP muss ich mein Sparschwein killen. Ich gehe besser nach Hause und suche nochmal nach billigen Flügen.«

Das war fast schon ein Zipfelchen Weisheit.

Jason schnallte es nicht. »Wenigstens passt Cristina auf dich auf. Wenn ich dich schon nicht davon abbringen kann.«

Manchmal ist er ne echte Nervensäge.

2

Ich schluckte und schluckte. Der Druck ließ nicht nach. Langsam musste die Kiste doch endlich oben sein. Soviel geschluckt hatte ich seit dem Folsom Europe44 im September nicht mehr. Da gings mir aber bedeutend besser.

Fliegen fand ich schon immer ätzend. Erstens machte ich mir ins Höschen vor Angst und zweitens hatte ich kein Sitzfleisch. Ich musste stets mit dem Leben vorläufig abgeschlossen haben, sonst hielt ich sicher nicht durch.

Es gab Seminare von den Fluggesellschaften zur Bekämpfung der Flugangst. Aber da war doch was faul, wenn Firmen extra Aufwand trieben, damit ihr Krempel verdaulich wurde.

Elf Stunden Rumhocken und Grübeln, das war Vorhölle. Mit Umsteigen in Amsterdam summierte es sich sogar auf fünfzehn Stunden. Zum Glück hatte die Passkontrolle keine Zicken gemacht, konnte sein, die gewöhnten sich langsam an Trans.

Zu Hause hatte ich alles geregelt. Jason versprach das Backoffice zu machen. Ab Ankunft in Sorocaba jeden Tag Mailkontakt zwischen halb sechs und sechs, es sei denn eine meldete sich ab. Direkt nach der OP konnte ich vom Mailen sicher nur träumen.

Jason dachte auch daran, dass halb sechs in Sorocaba im Winter halb neun in Berlin ist. Auf ihn konnte ich mich eigentlich immer verlassen. Er war Handelsklasse A. Wenn ich hetero gewesen wäre. Und Jason nicht schwul.

Er hatte Cristina geheiratet und ihr den Aufenthalt legalisiert, damit sie zurückkommen konnte nach ihrem Besuch in der alten Heimat.

Die Hochzeit war mein persönlicher Höhepunkt des Sommers gewesen. Die Tante vom Standesamt verhaspelte sich dauernd.

»Und Sie Herr äh Fenner … äh FrauähHerr Ribeiro …«

Sie wusste auch nicht, welche wem den Ring anstecken sollte.

Mir tat die Seite weh vor unterdrücktem Lachen. Ich sah schon die MoPo-Schlagzeile vor mir.

VERKEHRTE WELT! TRANSVESTITEN BEI DER TRAUUNG!

So weit ist es schon gekommen: Jose Luis Ribeiro, 28, Transvestit aus Brasilien, der sich Cristina nennt und Jana Fenner, 31, Mannweib aus Schwerin, das sich Jason nennt, gaben sich auf dem Standesamt F'hain–Kreuzberg das Jawort.

So etwas habe ich noch nicht erlebt, sagte die Standesbeamtin Frauke B., 43 …

Mein Sitznachbar kickte mich ständig mit Ellenbogen und Schulter an. Er war der breitbeinige Teil eines Heteroehepaars neben mir. Ich fragte mich, ob er Anschluss suchte oder nur um die Armlehne kämpfen wollte. Beim Einsteigen hatten sie mich neugierig gemustert. Jedes Mal, wenn ich nach rechts blickte, ertappte ich sie, wie sie mich beobachteten.

Sie waren im sogenannten besten Alter. Ihn hinderte das nicht am Zappen nach Cartoons.

Ab und zu rempelte mich die Flugbegleiterin mit dem Serviercontainer an. Während ich ihre bestrumpften Waden anhimmelte, vergaß ich für Momente wo ich war. Ich hatte Lust ihr ein Bein zu stellen. Vielleicht hätte ich unter ihren Rock linsen können, wenn sie strauchelte.

Sie musste es gespürt haben, denn als sie wieder vorbei kam, platzierte sie den Container so, dass ich höchstens gegen das Blech treten konnte. Sie fragte, was ich zum Essen trinken wollte. Dabei kräuselte sie die Nasenflügel. Ein schmales Gesicht mit breitem Mund und vollen Lippen, fast schon ein wenig herb.

Ich orderte einen Rotwein und ein Mineralwasser. Beides wurde in einer Art Zahnputzbecher serviert. Der Fingerkontakt klappte nicht.

Zum Abräumen kam schließlich eine andere.

Mein Nachbar zappte immer noch. Bugs Bunny schob sich eine Riesenmöhre rein.

»Darf ich Sie mal was fragen?«

Ich zuckte zusammen. Mein Nachbar trank Bier, das verlieh ihm offenbar Mut.

»Nein.«

Es half nicht. Seine Frau lachte und sagte: »Na Udo, hast du kein Glück?«

Er lachte ebenfalls und setzte nach. »Meine Frau und ich, also wir haben uns gefragt … Also ich bin der Udo und das ist Gerlinde, meine Frau. Wir sind aus Köln.«

Ich merkte schon, dass er nicht locker lassen würde.

»Wenns sein muss, fragen Sie schon.«

»Ach, eigentlich nur … ob Sie schon mal im Fernsehen waren. Gerlinde meint, sie hätte Sie schon mal …«

»Nein.«

Da griff Gerlinde ein. Sie streckte ihre Hand aus.

»Wie war noch mal ihr Name?«

»Nel.« Die Hand übersah ich einfach.

»Aha. Angenehm. Als wir eingestiegen sind, sagt mein Mann, willst du dich neben die Frau setzen? Und ich sag zu Udo, das ist doch ein Mann. Und dann haben wir gewettet. Ich hab doch Recht nicht wahr? Mein Mann guckt nicht so genau hin.«

Eigentlich hatte ich nur Angst vor Abstürzen oder Bomben gehabt. Doch es gab andere Arten von Terrorismus.

»Wahrscheinlich hat ihr Mann auf meinen Busen gestiert.«

Damit beeindruckte ich Gerlinde nicht.

»Ja, das macht der dauernd. Ich sag immer, Udo, das gehört sich nicht, aber er ist halt ein Mann. Der kann nicht anders. Aber er meints nicht böse. Nicht wahr, Udo?«

Udo trank einen großen Schluck. »Siehst du? Ich hab Recht«, sagte er dann zu seiner Frau.

»Aber Ihre Stimme«, sagte Gerlinde zu mir, »und Ihre Hände. Und wenn ich die Augen zumache und Sie reden …«

»Genau«, meinte Udo, »wie Lilo Wanders. Die kennen Sie doch, die von Wa(h)re Liebe.«55

Da wollten sie also hin. Womit hatte ich das verdient?

»Uns stört das ja gar nicht«, sagte Udo.

»Wir fahren ja öfter mal nach Thailand«, sagte Gerlinde, »da haben wir mal eine Show gesehen. Zuerst wussten wir nicht, das das Transvestiten sind. Erst als die sich ausgezogen haben. Naja, und natürlich die Stimmen.«

»Und die sind ganz nah rangekommen und haben uns alles gezeigt«, sagte Udo, »und dann haben sie sich gegenseitig …«

Aus Bugs Bunny hing inzwischen nur noch der grüne Püschel raus.

»Na, das hätte ich nicht unbedingt sehen müssen«, sagte Gerlinde, »aber wir sind ja aus Köln und da ist jedes Jahr die Parade und da gehen wir gerne hin, nicht wahr, Udo?«

»Ja«, sagte Udo, »soll jeder machen wie er will.«

»Ja«, fiel Gerlinde ein, »und da kann ich richtig neidisch werden, wie sich manche zurecht machen können. Zum Beispiel Mary und Gordy, also so was. Sie machen das gar nicht, oder?«

»Nein.«

»Aber dann würde sich niemand fragen, was Sie sind. Für ihre Eltern war dat sicher schwer?«

Einmal jammerte mir meine Mama vor »Wenn ich das gewusst hätt, dann hätt ich das doch nich zugelassen, du zu Fasching als Rotkäppchen. Aber ich konnts ja nicht wissen und der Vati hat sich nich drum gekümmert und das hab ich jetzt davon.«

Musste mich diese blöde Kuh daran erinnern? Leider war sie mit dem Ausgießen von Mitgefühl noch nicht fertig.

»Unsere Kinder, die sind ja schon groß, aber alle ganz normal. Aber wenn ich mir vorstelle …, das wär schon schwer.«

»Sind nicht alle so frei wie wir. Was sagen denn ihre Eltern dazu?«, fragte Udo.

Vor dem Abflug hatte ich meine Mutter angerufen. Das tat ich nur selten, denn vorher musste ich viel Kraft sammeln. Es kribbelte mich schon, wenn Mama in diesem Jammerton »Artmann« in den Hörer knödelte, gerade so, als erwartete sie, dass irgendein Nachbar ihr Vorhaltungen machen wollte, weil ihr Junge eine Tunte war.

Jedenfalls damals war es so, dass sie mir immer das Gefühl gab, ich tue ihr etwas an. Dass ich nach Brasilien gehen würde wegen der OP, kommentierte sie mit »Bin ich froh, dass Vati das nicht mehr erleben muss.«

»Die frage ich nicht danach …«

Gerlinde kroch fast über Udo drüber und senkte die Stimme.

»Mütter machen sich schon Gedanken, ob die Kinder glücklich sind. Ist für Sie bestimmt nicht einfach einen Freund zu finden, nicht wahr?«

»Ich bin Lesbe.«

Beide rissen die Augen auf. Udo fingt sich zuerst wieder. Er zwinkerte mir zu.

»Ich auch.«

»Udo, lass doch mal die dummen Witze«, sagte Gerlinde, »du machst ihn doch ganz verlegen.« Sie robbte noch näher an mich ran. »Das ist doch bestimmt nicht einfach, so mit dem Körper. Und Kinder können Sie ja auch nie kriegen. Sind Sie denn noch … Ich meine, haben Sie schon …, ist da schon alles weg?«

»Der Verstand ist noch da.«

Der Rest auch. Vielleicht sollte ich es lassen, dachte ich. Vor solchen Situationen würde mich die OP nicht schützen.

Aber war ist wie eine hässliche Warze im Dekolleté, tat nicht weh und verbarg sich unterm Pullover. Aber wenn ich eine abgeschleppt hatte und wir uns auszogen, dann wurde sie mir wieder bewusst und ich schämte mich, fühle mich ungepflegt und dachte, die musste da doch dauernd draufstarren.

Noch schlimmer war, dass sich manche Lesben regelrecht vor dem Gemächt fürchteten, da half auch alles umdeuten nicht. Eine beschissene Ausgangslage, wenn man auf der Suche nach Sex und Liebe war und dafür eigentlich nur Lesben in Frage kamen. Dazu waberten dann stets die Grundsatzfragen ob hetero, schwul, lesbisch oder sonstwas durch die Hirne.

»Wollen Sie auch eins?«, fragte Udo. Gerlinde wedelte die Flugbegleiterin herbei und bestellte Bier. Dadurch ließen sie vorerst von mir ab. Aber zu spät.

Ich musste an Sabrinas Frage denken, warum ich wegen der OP nach Brasilien fliegen wollte. Das könnte ich auch in Deutschland haben. Das stimmte schon, es würde auch nichts kosten, aber dafür musste es bei der Krankenkasse beantragt werden. Die wollte dafür Gutachten sehen, welche bestätigten, dass dieser Wunsch nicht wegtherapiert werden konnte. Die Gutachter waren Psychologen und die wollten einen Praxistest haben. Dafür hätte ich so rumlaufen und mit Fistelstimme Unsinn reden müssen wie Sabrina.

Einen Transweglebenslauf wollten die sehen. Mit dusseligen Fragen wollten die prüfen, ob mir das Frausein überhaupt zustünde und ob ich das richtig könnte. Aber nicht mit mir, auf so was hättte ich kotzen können.

Ehrlich, ich hatte es probiert. Ich hätte vielleicht den Gutachter nicht fragen sollen, wie er an sein Diplom gekommen war, das an der Wand hing. Aber ich wusste doch genau wie leicht es war, sich irgendeinen Wisch zu besorgen. Da brauchte er nur Beziehungen zu haben und schwupps, hatte er ein Diplom und ne Couch und bohrte sich in der Nase, wenn eine da lag und ihm was vorheulte.

Auf den Transweglebenslauf hätte er sich anschließend noch einen runtergeholt. Die sollten sich den Finger ins eigene Arschloch stecken, das war meine Haltung dazu.

Der Heini hatte mich rausgeschmissen und bei der Kasse verpetzt. Bei meiner Sachbearbeiterin musste ich dann antichambrieren. Die hatte mir klipp und klar gesagt, dass ich vor Allem nen Irrenarzt brauchte und keine OP, zumindest solange sie den Fall bearbeiten würde und sie sei ja noch jung und habe nicht vor den Job zu wechseln.

Garantiert hatte die am meisten gestört, dass ich keine Schleimspur auf ihrem Teppich hinterlassen hatte.

Udo und Gerlinde diskutierten über die Qualität des Bieres im Vergleich zu Kölsch. Diese Gelegenheit nutzte ich. Außerdem hatte ich die schnuckelige Stewardess länger nicht mehr gesehen.

Ich entdeckte sie in der Bordküche. Mit müden Augen räumte sie an einem Container mit Softdrinks zur Selbstbedienung. Ich mixte mir was zurecht. Dabei ließ ich mir viel Zeit und beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

Danach trank langsam, bis sich ein anderer Passagier näherte. Es war weder genug Platz, noch mochte ich Publikum bei meinen Bemühungen.

Fraglich, ob ich mich getraut hätte. Hinterher dachte ich meistens, ich hätte es getan, wenn noch Gelegenheit gewesen wäre.

Auf dem Sitz wickelte ich mich in den Lappen, der dort als Kuscheldecke bereit lag.

»Schon schlafen?«, fragte Udo. Er verbreitete eine Bierfahne.

»Ja, wenns geht.«

»Machen Sie denn auch mit bei der Parade? Aber Sie sind nicht aus Köln, was?«

»Udo, lass ihn mal in Ruhe. Du siehst doch, dass er schlafen will.« Zu mir sagte Gerlinde: »Mein Mann ist manchmal schrecklich.«

Ich drehte mich weg. Zum Kotzen, alle wollten nur helfen. Als ob das helfen würde. Außerdem wehte auch ihre Fahne. Bier im Flugzeug, einfach ekelhaft.

Das Nervpotenzial meiner Mutter war auch nicht kleiner.

Ich lud sie nicht zu mir nach Berlin ein. Sie würde den ganzen Tag in der Kittelschürze mit einem Wischlappen rumhampeln und auf mich einreden.

»Corni, bei dir muss aber mal sauber gemacht werden. Du hast ja gar keinen Kleiderschrank, ach, wenn die ganzen Sachen so offen hängen, das staubt doch so ein. Na, ich wasch dir das mal. Ich hab doch noch den Kleiderschrank von Onkel Fritz und Tante Elfi. Der ist noch wie neu. Den kannste doch haben. Ich frag mal den Henner Albrecht, der fährt doch Spedition bei Wilkens, der kann dir den bestimmt mal mitbringen. Ich bezahl das auch, du hast ja kein Geld. Musst dann nur mal helfen hochtragen.«

Sie würde es nur gut meinen, aber nicht locker lassen.

»Ach Corni, was ist denn das? Ziehst du das wirklich an? Du gehst doch so nich raus, oder? Ach, bin ich froh, dass Vati das nicht mehr erleben muss, der würd sich zu Tode schämen. Du kannst doch auch maln schönes Hemd anziehn und nen Anzug, dann würdste auch wieder Arbeit kriegen. Vom Vati sind noch zwei schöne Anzüge da, die sind wie neu. Ihr habt doch die gleiche Figur. Die schick ich dir mal.«

Irgendwann würde sie schluchzen und sagen »Ich meins doch nur gut. Aber du bist ja unbelehrbar. Warste früher schon. Dass ich mir Sorgen mach, ist dir ja egal. Hauptsache, du hast deinen Willen. An uns denkst du ja nich. Überall heißts die arme Frau, mit dem Sohn, die hat schon Last. Wenn ich erst im Grab bin, dann tuts dir noch mal Leid, aber dann isses zu spät …«

Die fünfzig Euro, die sie mir beim Abschied geben würde, hätte ich schon am gleichen Abend versoffen. Dazu müsste ich sicher noch ein paar mal in den Quälgeist66 und mich ordentlich versohlen lassen.

Hatte ich wirklich die gleiche Figur wie mein Vater? Dann wäre die OP Geldverschwendung. Über diesen Gedanken döste ich doch tatsächlich ein.

3

Die Unruhe im Flieger weckte mich. Horden strebten zu den Bordtoiletten und bildeten dort hampelige Schlangen. Ich musste auch mal dahin, mein Kinn war kratzig, unter meiner Perücke juckte es und ich wäre gerne einen Moment alleine gewesen. Es hatte wenig Sinn sich anzustellen, also schaltete ich den Bildschirm ein und sah nach, wo wir waren. Halb sechs, nur noch zwei Stunden. Ich überlegte, wo ich das Geld sicher verstauen sollte. Schließlich hatte ich sechseinhalbtausend Euro dabei, das meiste davon in Dollar für die Klinik.

Ich hatte cash dabei, weil es Swift gab. Mit dieser fiesen Einrichtung wurde jeder Geldtransfer aktenkundig und ich konnte wetten, dass deutsche Behörden darauf zugreifen. Immerhin vegetierte ich von Hartz 4 und die kontrollierten bekanntlich alles. Deswegen lagerte ich den Schotter auch nicht auf der Bank. So bescheuert war ich nicht.

Am besten sollte ich die Scheine am Körper verteilen, nicht alles an eine Stelle, dachte ich.

Die Schlange auf meiner Seite war viel kürzer geworden, ich schnellte hoch und schloss mich an. Direkt vor mir stand ein älterer Typ. Während ich die Haare betrachtete, die aus seinem Hemdkragen rausquollen, stellte ich mir unwillkürlich vor, wie er sich vor die Schüssel postieren würde und den Rand bepinkelte, weil seine Prostata nur noch Getröpfel zuließ. Wenn ich nicht so dringend gemusst hätte, wäre ich woanders hingegangen.

»Gut geschlafen?« Gerlinde erschreckte mich. Sie drängte sich dicht hinter mich. »Ich wollt Sie noch mal was fragen: Wie machen Sie …«

Endlich kam der ältere Typ raus, mit nassen Händen und zwei offenen Knöpfen am Hosenstall.

»Gehen Sie doch vor, ich habs nicht eilig«, sagte ich zu Gerlinde und schob sie an mir vorbei. Sie war irritiert, aber folgsam. Während sie die Tür schloss, hastete ich in den anderen Gang und stellte mich dort an, wo sie mich nicht sehen konnte.

Als ich zurückkam, wurde Frühstück serviert. Meine Stewardess erschien wie aus dem Ei gepellt, keine Spur von einer langen Schicht. Leider war ich nervös und fand keine Stelle, an der ich die Baggerschaufel ansetzen konnte. Meine Unruhe wollte ich dann mit Kaffee begießen, aber sie hielt einfach nicht still.

»Das ist ja interessant.« Gerlinde wedelte mit einer Illustrierten zu mir herüber. »Hier steht was über diese Hochspringerin, die ein Mann sein will. Die sagt, von den Hormonen denkt sie wie ein Mann. Ist das bei Ihnen auch so?Wollen Sie mal lesen?«

Ich nahm die Illustrierte und tat so, als ob ich das las. Vielleicht hatte sie soviel Einfühlungsvermögen, dass sie mich dabei nicht störte.

»Wo der Busen war, sieht man aber noch«, sagte Udo und tippte auf das Foto. »Da sind die Narben.«

Zum Glück schlossen die Flugbegleiterinnen wenig später die Gepäckfächer und scheuchten alle auf die Sitze. Wir sollten uns anschnallen, der Abstieg begann. Kurz danach setzten wir auf dem Rollfeld auf. Blitzschnell schnappte ich mein Zeug und ging stiften.

»Machense et joot«, rief Udo hinter mir her.

Ich konnte nicht sagen, ob mir warm oder kalt war. Der Himmel zeigte sich grau und verhangen, Frühling in São Paulo.

Vor der Passkontrolle stauten sich die Massen. Nur langsam bewegte sich die Schlange durch den Irrgarten der Absperrungen.

Irgendwann drängelte ich mich dann doch an die Transportbänder und wartete auf meinen Rucksack. Das hatte was von Lotterie, es liefen drei Bänder, auf den das Gepäck kreiselte und nur eins konnte ich im Auge behalten.

Endlich erreichte ich die Ankunftshalle. Auf der Suche nach einem Hinweis für die Busstation fand ich eine Wechselstube und tauschte alles, was ich nicht für die Klinik brauchte, in Reais77. Das war ein ganzer Haufen lappige Scheine. Den Packen verstaute ich erst im Rausgehen. Ein arge Unvorsichtigkeit. Das wurde mir sofort klar, deshalb prägte ich mir ein, wer mich beobachtet haben könnte. Dann schlenderte ich wieder durch die Halle mit ihren braunen Fliesen, ockerfarbenen Anstrichen und diesem ganzen Siebzigerjahre-Charme.

Vor ein paar Schaukästen mit indigenem Kunsthandwerksgelumpe blieb ich stehen und schaute mich nach jemandem um, den ich nach dem Weg zum Bus fragen könnte. Ein jüngerer, pickliger Typ in Jeansjacke tauchte neben mir auf und fragte »Hi, do you have dollars? Ich brauche zehn, ich kann wechseln.«

Er war einen halben Kopf kleiner als ich. Ich ließ mich trotzdem auf nichts ein.

»Meinst du wirklich, dass ich so bescheuert aussehe und dein blöder Trick funktioniert? Allein dafür sollte ich dir in die Eier treten.«

Er grinste unsicher. Kein Wunder, ich hatte Deutsch gesprochen. Ich wechselte ins Englische.

»Nein, ich habe nur Traveler Checks, nichts Bares.«

Er stutzte und überlegte. Es schien so, als wollte er noch was sagen, wusste aber nicht was. Zögernd wandte er sich ab. Er schlenderte direkt hinaus. Langsam folgte ich ihm. Ich war gespannt, ob der andere Typ, der zuvor die Halle betreten hatte und in einen der Schaukästen starrte, mir folgte.

Auf dem breiten Gehweg unter dem überkragenden Betondach standen kreuz und quer Gepäckwagen herum, dazwischen Leute. Taxen und Privatwagen wuselten davor. Über mir der diesige Himmel wie eine dreckige Fensterscheibe und es stank nach Abgasen. Die Luft war erfüllt vom Klappen der Türen und Kofferraumdeckel, dann und wann überlagert vom Dröhnen der Flugzeugtriebwerke.

Jeansjäckchen war irgendwo im Gewimmel verschwunden. Der Schaukastengucker folgte mir, blieb stehen und steckte sich eine Kippe in den Schnabel. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich ihn. Er war hemdsärmelig und stand gut im Futter. Wirkte eigentlich ganz harmlos. Dann steuerte er mich an. Ich hastete sofort zum nächsten Taxi. Der Fahrer lud gerade ein paar Koffer und Taschen ein.

»Por favor, autobus a Barra Funda, donde?«88

Er glotzte mich einen Moment an, als ob ich ihn getreten hätte, dann machte er eine unwirsche Armbewegung.

Ich drehte den Kopf in diese Richtung, aber der Hemdsärmlige war schon auf zwei Meter rangekommen. Ohne weitere Fragen zischte ich ab.

Da stand tatsächlich ein Bus, vielleicht hundert Meter entfernt. Mein Blick saugte sich an ihm fest und zog mich dort hin. Ich geriet ins Keuchen.

»Er ist dick und langsam«, sagte ich mir ein paar Mal vor und schaltete runter.

Beim Slalom um die Trolleys sah ich mich um. Niemand verfolgte mich. Ich seufzte erleichtert auf und begnügte mich mit Schneckentempo, schließlich war der Rucksack ganz schön schwer.

Vielleicht sollte ich ein wenig Portugiesisch lernen, mit dem bisschen Spanisch könnte ich ganz schön daneben liegen, dachte ich.

Ich stieg vorne zum Fahrer ein, einem Schwarzen ohne Kopfhaare, dafür mit Ray-Ban-Sonnenbrille.

»Ticket donde?«

Er hob den Kopf von seiner Illustrierten und sagte »Biljeetschiaki«99, wobei er mit dem Zeigefinger aufs Lenkrad tippte.

»A Barra Funda?«

Er nickte.

»Quanto?«1010 Er sagte was Unverständliches. Dann grinste er, holte einen Fahrschein aus seiner Mappe und zeigte ihn mir. Ich zählte ihm umständlich das fremde Geld ab, nahm das Ticket und suchte mir einen Platz.

Die Sitze erwiesen sich abgeschabt und fleckig, aber die Kiste musste früher ziemlich komfortabel gewesen sein, das konnte man noch erahnen.

Etwa zehn Minuten später war der Bus leidlich voll und es ging los. Wir umkurvten einen gigantischen Parkplatz, dann bogen wir in eine Zufahrt auf eine vielspurige Schnellstraße. Ab da war nur noch Schritttempo möglich. Massen von Lastwagen stießen dröhnend schwarze Wolken aus. Der Verkehr wurde immer dichter. Mit lautem Gehupe zwängten sich kleine Motorräder zwischen den Schlangen durch. Beim ersten Mal zuckte ich vom Fenster zurück, weil direkt unter mir ein behelmter Schädel vorbei sauste. Unwillkürlich rückte ich weg und wartete auf einen Aufprall.

Immerhin kamen die voran.

Langsam passierten wir ausgedehnte Industrieanlagen, dann Häuser, dann wieder Industrieanlagen.

Von links, wo vorher Gegenverkehr war, tauchte eine Art Fluss auf. Es war eine breite, jämmerliche Betonrinne, in der eine viskose Masse dahin zog. Auf ihrem Rücken trieb allerlei Unrat.

Zwischen Fahrbahn und Rinne gab es hinter Betonabsperrungen sogar einen Grünstreifen. Dort standen ein paar kümmerliche Stängel mit Blättern, aber vor allem lag dort der Müll, der in der Rinne keinen Platz mehr gefunen hatte.

Etliche mächtige Rohrleitungen führten hinüber, wo sich die Häuser türmten und der Gegenverkehr kroch. Sie waren alle vergittert und mit Stacheln bewehrt wie stählerne Raupen. Trotzdem waren sie über und über mit Graffiti bedeckt.

»Lula Presidente« konnte ich entziffern. Mir wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie das da hin gekommen sein musste.

Endlich bemerkte ich, dass sich der Bus seinen Weg in eine Ausfahrt ertrotzte. Jenseits der Fahrbahn eröffnete sich ein Blick auf eine Reihe mehrstöckiger Bretterbuden, die sich an eine hohe Betonwand lehnten.

Schwer zu glauben, dass dort wirklich Menschen wohnten. Dort hing aber Wäsche und Kinder liefen herum.

Nach weiteren verwirrenden Wendungen bog der Bus in einen riesigen Busbahnhof ein.

Ich stieg aus und folgte der Menge in eine ausgedehnte, unübersichtliche Halle voller hastender Menschen.

An einem Fressstand versorgte ich mich. Damit postierte ich mich an einen Stehtisch, schluckte, kaute und sah mich um. Nach einer Weile erkannte ich, dass die Reihen verglaster Schalter den verschiedenen Busgesellschaften gehörten, die unterschiedliche Strecken bedienten.

Etwas später stand ich vor einem Schalter und erstotterte mir eine Karte nach Sorocaba. Die Angestellte erklärte mir geduldig die Angaben auf dem Fahrschein. Schließlich verstand ich, dass der Bus um halb zwölf vom Bussteig vierzehn losfahren würde und drei Stunden später in Sorocaba ankommen sollte.

Noch eine Stunde also.

Ich setzte mich in einen Wartebereich und beobachtete weiter. Ein Haufen Bedienstete, meistens Frauen, schoben Wägelchen mit Reinigungskrempel herum und verhinderten, dass Krümel, die Leute fallen ließen, auf dem Boden aufschlugen.

Ich holte den Sprachführer raus. Nach einer Weile dämmerte mir, warum die mich dort nicht verstanden. Die geforderte Aussprache klang verteufelt nach Reden mit vollem Mund.

Ich gab auf und suchte den Bussteig.

Der Bus wartete schon da. Ein uniformierter Fahrer stand wie ein Zerberus davor und kontrollierte die Fahrscheine. Mein Rucksack musste ins Gepäckfach.

Das Wageninnere war blitzsauber und gepflegt, die plüschigen Sitze luden zum Flegeln ein. Ich hatte einen Fensterplatz in einer freien Bank.

Schließlich schwang sich der Zerberus auf seinen Thron, startete den Motor an und die Tür zischten zu.

Danach wühlten wir uns wieder durch den Verkehr und erreichten allmählich die Außenbezirke.

Immer wieder stiegen Leute ein und aus, der Fahrer hielt auch, wenn man ihm zwischen den Haltestellen winkte.

Wir erreichten wieder eine Schnellstraße. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernten, um so schneller ging es voran. Die Straße allerdings war ein Albtraum in Beton. Stellenweise war sie mit brutaler Gewalt durch Siedlungen getrieben worden. Überall abweisende, hohe Stützwände und Häuser, die sich mit letzter Kraft über den Steilhängen hielten. Ständig tauchten neue Elendsquartiere auf, die sich in unwirtlichen Ecken ausbreiteten. Ob es Slums oder Dörfer waren, konnte ich nicht unterscheiden. Oft sahen die Häuser aus, als wären sie aus einem Sack hingeschüttet worden. Stockwerke wurden begonnen, aber nicht beendet, manche schienen verlassen und verfallen. Verputzt war kaum eines. Allmählich tauchte mehr und mehr Grün entlang der Straße auf. Passend dazu zeigte sich die Sonne. Ich wurde schläfrig. Nicht lange und ich schlief ein.

4

Jemand wollte mir meinen Rucksack wegnehmen, den kleinen mit den Papieren und den wichtigen Sachen. Ich hielt ihn fest, aber der Dieb zog so kräftig, dass ich mitgezogen wurde. Dann ließ er los und ich fiel zurück, mein Kopf schlug gegen etwas Hartes. Das weckte mich.

Wir fuhren wieder in einem Stadtverkehr, der Bus kurvte durch eine Zufahrt auf einen breiten Boulevard, neben dem sich ein Fluss mit grünen Ufern erstreckte.

Noch ein paar Kurven, dann rollten wir in den Busbahnhof von Sorocaba.

Ich fragte mich durch zu den Stadtbussen und der passenden Linie. Mit meinem Gestotter und der miesen Aussprache war das alles andere als leicht.

Der richtige Bus kam und stoppte knirschend am Bussteig.

Nachdem die meisten Passagiere raus waren, konnte ich einsteigen und dem Fahrer erzählen, wohin ich wollte. Den Straßennamen verstand er, die Nummer musste ich aufschreiben.

»Ah, Casa da Beleza, sim«, sagte er dann und musterte mich eingehend. Meine Stimme oder meine Bartstoppeln, damit fiel ich immer auf.

»Ticket?« fragte ich ihn, damit er mit dem Glotzen aufhörte.

Er zeigte zum Busbahnhof rüber und sagte etwas. Als ich wieder aussteigen wollte, winkte er mich generös zu den Sitzen.

Wir fuhren durch die grün und gepflegt wirkende Stadt. Wohltuend, nach dem brüllenden São Paulo. Nach etwa einem Kilometer hielten wir und der Fahrer bedeutete mir, ich solle aussteigen.

Kurz danach stand ich alleine an der Straße.

Die Klinik erwies sich als flacher Neubau. Höchstens drei Stockwerke, zurückgesetzt, davor ein paar Parkplätze und Grün. Mit zaghaften Schritten bewegte ich mich auf die Eingangstüren zu, passend dazu schoben sich Wolken vor die Sonne.

Die gläsernen Türen mit der Aufschrift Clinica Casa daBeleza schlossen sich automatisch hinter mir und sperrten den Straßenlärm aus. Es war still und kühl, der Steinfußboden wirkte unglaublich sauber. Nach einer weiteren Flügeltür kam ich in ein Foyer mit Theke, flankiert von Palmenhainen in Kübeln. Die Wände waren da und dort mit Indiokitsch verhübscht.

Hinter der Theke residierte ein schmächtiger Typ in einem uniformähnlichen Sakko. Ein kleines Schild verriet mir, dass er mit Senhor Vargas anzureden wäre. Er nahm mich ins Visier.

»Boahtardschisenjorapoßoaschudah?«1111

Verstand ich nicht, deshalb produzierte ich meinen ersten ganzen portugiesischer Satz: »Você fala inglês?«1212

Er nickte.

»Ich bin Nel Arta und habe einen OP-Termin.«

Er blätterte in einer Mappe. Dann nickte er wieder.

»Miss Arta, ja, ich rufe Senhora Sotelo.«

Während er telefonierte schaute ich mich um. Geradeaus ging es in einen Aufzug mit sehr breiter Tür. Daneben gab es eine Treppe. Nach beiden Seiten schlossen sich Flure an. Aus einem näherte sich eine junge, schlanke Blondine im Kostüm. Sie steuerte mit ausgestreckter Hand und fröhlichem Lächeln auf mich zu.

»Frau Arta, wie schön Sie zu sehen. Hatten Sie eine angenehme Reise?«

Ihr Englisch war ausgezeichnet, viel besser als meins.

»Ich bin Tania Sotelo. Bitte folgen Sie mir in mein Büro. Ihren Rucksack können Sie gerne bei Senhor Vargas lassen.«

Sie klackerte geschäftig vor mir her.

Sie bat mich Platz zu nehmen und schlug eine Mappe auf.

Geschäftsmäßig fuhr sie fort: »Ich benötige persönliche Angaben von Ihnen. Haben Sie die Bescheinigung über den Aidstest mitgebracht?«

Ich zog ein Blatt aus meinen Unterlagen und reichte es ihr.

»Hier ist auch das psychologische Gutachten. Ich habe beides übersetzen lassen.«

Das hatte mich vielleicht Nerven gekostet davon zertifizierte Übersetzungen ins Portugiesische zu bekommen. Die Dokumente anzufertigen war dagegen ein Klacks gewesen.

Sie überflog sie, nickte und legte sie in ihre Mappe. Immer wenn sie sich bewegte, klimperten viele Armreifen an ihren schlanken Handgelenken. Die Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengesteckt. Überall, wo der Haaransatz sichtbar wurde, wuchs es dunkel nach.

Sie stellte mir Fragen zu den Geburtsdaten, Wohnort, Vorerkrankungen und Ähnlichem. Meine Angaben tippte sie in einen Rechner.

Schließlich druckte sie mir eine Rechnung aus und fragte, ob ich das Geld dabei hatte.

Ich musste mich ziemlich entblößen, um da ranzukommen. Also fragte ich nach einer Toilette und ließ mir zeigen, wo ich hingehen musste.

Das gab mir die Gelegenheit noch mal das Bündel Banknoten in der Hand zu wiegen. Aber ein Rückzieher hätte keinen Sinn mehr gemacht, nachdem ich für das Ticket schon viel ausgespuckt hatte.

Tania Sotelo schloss das Geld in einen kleinen Tresor unter dem Schreibtisch ein und reichte mir die Quittung.

Ich unterschrieb eine mehrseitige Erklärung, in der ich alle Verantwortung für die Behandlung auf mich nahm und mit Filmaufnahmen und Untersuchungen fremder Ärzte zu Lehrzwecken einverstanden war. Dann erläuterte sie mir den Ablauf.

»Nicole wird Sie gleich holen und Ihnen Blut abnehmen. Danach können Sie ihr Zimmer beziehen und zu Abend essen. Haben Sie jetzt schon Hunger? Abendessen wird um sieben serviert. Morgen früh um neun möchten Sie dann Dr. Cavalcani und Dr. Andrade sehen und die OP besprechen. Allerdings werden wir wohl morgen noch nicht operieren können, die Zeit ist zu kurz um alles vorbereiten zu können.«

»Frau Sotelo, ist Cristina Ribeiro schon hier? Hat sie Ihnen gesagt, dass wir uns ein Zimmer teilen wollen? Ist das möglich? Wie geht es ihr? Ist sie schon operiert?«

Tania Sotelos muntere Fröhlichkeit war schlagartig wie weggeblasen.

»Oh, daran dachte ich nicht mehr. Bitte, es tut mir schrecklich leid. Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist. Cristina ist während der OP verstorben. Es tut mir sehr leid.«

Ihre Lippen zitterten ein wenig und ihr Blick ging durch mich durch.

»Tot? Aber …, warum …?

Ich stotterte und spürte, wie mir die Angst in den Leib fuhr.

Cristina tot? Die immer fröhlich lachende, beneidenswert schöne Cristina tot? Mir blieb die Luft weg.

»Frau Sotelo, warum, was ist passiert?«

»Bitte, Sie müssen mich Tania nennen. Wir wissen es noch nicht, die Untersuchungen laufen. Wir vermuten Drogen. Der Kreislauf und das Herz. Es tut mir so Leid. Cristina war so optimistisch, sie hat sich so auf ihr neues Leben gefreut. Wir sind alle sehr erschüttert. Kennen Sie die Familie, Nel? Hat sie überhaupt Angehörige?«

»Sie …, sie ist mit Jason verheiratet …«

Ich konnte nicht reden, nur hilflos den Kopf schütteln.

»Wer ist das, Jason? Wie können wir ihn erreichen?«

»In Berlin …«

Tania Sotelo zog kurz die Augenbrauen zusammen.

»Sie kennen ihn? Ist sie etwa mit einem Deutschen verheiratet?«

»Ja, schon, aber …«

Ich konnte weder reden, noch einen klaren Gedanken fassen.

Tania Sotelo seufzte.

»Wir werden später darüber reden. Beruhigen Sie sich erst mal. Nicole wird sich um sie kümmern. Entschuldigen Sie mich, ich habe noch furchtbar viel zu tun.«

Sie telefonierte kurz.

Eine Krankenschwester, die sie mir als Nicole vorstellte, holte mich ab. Wie betäubt trottete ich hinter ihr her.

Wir fuhren ins Untergeschoss.

Dort führte sie mich einen breiten Flur entlang, der vor einer doppelflügeligen Tür mit der Aufschrift »Patologia«1313 endete. Eine Tür rechts davor führte in das Labor.

Nicole dirigierte mich auf einen Stuhl und holte dann ihre Utensilien hervor. Mir war flau, mein Kreislauf machte mir zu schaffen. Sie musterte mich besorgt.

»Okay? Möchten Sie was trinken?«

Ich ließ mir einen Becher Wasser geben, trank ein paar Schlucke und atmete ganz ruhig. Nicole wartete geduldig, bis ich soweit war. Sie lächelte mich aufmunternd an, bevor sie ihr blutiges Werk begann. Da konnte ich nur aus den Augenwinkeln hinschauen, aber sie machte das sehr routiniert, es war kaum was zu spüren. Nach einer Weile zog sie die Nadel raus und ließ mich ein Stück Mull in der Armbeuge einklemmen. Auf der Arbeitsfläche stand nun ein Ständer mit drei großen Röhrchen voll mit dunkelrotem Blut. Ich wusste, dass es meins war, bloß da nicht mehr.

Ich schaute zur Decke, schloss die Augen und wartete, dass es mir besser ging.

»Okay?«, fragte Nicole wieder.

Ich nickte und sagte: »Ich bin geschockt wegen Cristina.«

Dann verlor ich ein paar Tränen. Peinlich.

Sie sah mich mitfühlend an und fragte »Ihre Freundin?«

»Ja.«

Mehr mochte ich nicht erklären.

»Pobrezinha«1414, sagte sie.

Mir war nicht klar, welche sie meinte. Mit einer Kopfbewegung zu einer schmalen Tür neben dem großen Kühlschrank in der Ecke sagte sie »Es tut mir sehr leid. Sie war so fröhlich und lebendig. Nun steckt sie da in drin, das ist schwer zu glauben …«

Sie schien kurz vorm Weinen. Ich nahm ihre Hand und hielt sie einen Moment, bis es uns beiden damit spürbar unbehaglich wurde.

Nicole brachte mich nach oben und zeigte mir die cantina. Es war ein gemütlicher Raum mit etwa dreißig Stühlen und blütenweißen Tischdecken. An einem Platz wartete ein großer Teller mit belegten Broten, eine Kanne Kaffee, Zucker, Milch sowie Fruchtsaft und Wasser in Karaffen. Es gab sogar eine Serviette.

Aufseufzend sank ich davor auf den Stuhl. Ich fragte mich, ob ich das, was ich hier vorhatte, nicht besser lassen sollte.

Hensel beim Mästen, so kam mir das vor.

Die Uhr an der Stirnwand zeigte mir, dass ich mich ums mailen mit Jason kümmern sollte.

Ich ging zum Tresen und fragte nach einem Internetcafé. Vargas telefonierte mit Tania Sotelo. Eine Minute später stand sie vor mir und ich trug ihr meine Bitte vor.

»Oh«, erwiderte sie, »das ist kein Problem. Wir haben im Salon einen Computer für unsere Gäste bereit. Geht es Ihnen besser? Schön. Dann möchte ich Ihnen zuerst Ihr Zimmer zeigen. Senhor Vargas hat Ihren Rucksack schon hinauf gebracht.«

Ein paar Minuten später saß ich vor einem Monitor in einem Nebenraum der Kantine. Er war mit Polstermöbeln, Büchern, und Fernseher vollgestopft.

Während sich Windows aufbaute, zappelte ich hin und her. Halb sechs durch, höchste Zeit. Minuten später war ich auf meiner Mailseite bei Genderguide.1515

@Jason:

»cristina ist tot. sie sei bei der op gestorben wegen drogen. irgendwas mit herz und kreislauf. Ich kann das einfach nicht glauben. was soll ich machen?«

@Nel:

»Cristina tot? Bin völlig geschockt. Drogen kann nicht sein. So ein Quatsch. Dazu war sie viel zu sparsam. Sie hat die Familie unterstützt, obwohl die nichts von ihr wissen wollten. Bist du sicher mit den Drogen?«

@Jason:

»scheisse, wenn ich nicht sicher waere wuerde ichs nicht mailen. englisch genug kann ich. die sekretaerin sagt, sie vermuten also wissen sies nicht genau. oder sie luegen. was soll ich jetzt machen? vielleicht verhunzen die mich auch. danuta und julie haben erzählt, dass es hier kliniken gibt, die leute abnippeln lassen, um an die organe zu kommen. haben sie im tv gesehen. und von dem film haben die erzählt, turistas, ist auch son ekliger kram. wuerde auch den guenstigen preis hier erklaeren.«

@Nel:

»Die Transformtanten haben einen Haufen Scheiß erzählt. Manchmal sterben Leute in der Narkose, kommt vor. Wir wissen nichts. Du hast eine logische Erklärung für den billigen Preis. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht? Kannst du was rausfinden? Wenn du lieber gehen willst, machs. Dann vier Wochen Copacabana, sich die Sonne aufn Wanst knallen lassen! Könnte mir auch gefallen. Dann kommst du aber mit schniepel wieder. Wann wärst du dran?«

@Jason:

»weiss nicht. uebermorgen wahrscheinlich. hast du keinen vorschlag was ich tun soll? ich weiss es echt nicht. oh scheisse. weisst du, wo cristinas familie steckt?«

@Nel:

»Die sind irgendwo in Sao Paulo. Früher hat sie im Amorosa Louca angeschafft. Rua Bandeirantes (hoffentlich richtig geschrieben), das ist irgendwo in der Nähe vom Flughafen. Vielleicht wissen die was. Ich rufe morgen in der Deutschen Vertretung in Sao Paulo an, schließlich bin ich der Ehemann.

Frank Maurer schalte ich nachher auch noch ein. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Pass bloß auf dich auf und sei vorsichtig. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.

Bei begründetem Verdacht mach dich dünne. Okay?«

@Jason:

»ja ist gut. ich hoere mich mal um. Melde mich morgen wieder. Bussi.«

Was, wenn sie wirklich Organe klauten? Erst die Blutuntersuchung, dann würden sie sehen, ob was passt und rufen nen reichen Sack an, der aufm letzten Loch pfeift und seine Säuferleber tauschen wollte. Der wurde fünfzehntausend Eier bieten und ich geh hops. Wenn eine Transfrau bei der OP abnibbelt, wen wurde es stören? Dass die Polizei, gar die deutsche, rumsuchte ob dort alles mit rechten Dingen zuging und Nel vielleicht einem Verbrechen zum Opfer fiel, brauchten die kaum zu befürchten. Die könnten hier ohne Risiko einen Haufen Schotter machen. So dachte ich mir das in einem sehr düsteren Moment.

An der Leiche müsste es eigentlich zu sehen sein, ob die was geklaut hatten. Dann würden sie dort rumgeschnippelt haben, wo es für die Transistion nicht nötig war.

Damit musste ich jetzt alleine zurecht kommen.

Seufzend loggte ich mich aus und fuhr den Rechner runter.

Die Tür zum Sekretariat stand einen winzigen Spalt offen, durch den ich Tania Sotelo reden hörte. Sie telefonierte, denn es war nur ihre Stimme zu hören, während sie hin und her lief. Unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen, ich wollte sie nicht stören, aber dringend sprechen. Ohne es zu gewollt zu haben verstand ich, was sie sagte, denn sie redete Englisch.

» … das sieht alles sehr gut aus, wenn sie wollen, können Sie sofort kommen - Nein, es müsste bald sein, je früher desto besser - Da muss ich nochmal Dr. Cavalcani fragen - Morgen früh um acht müssten wir es dann schon wissen - Gut, ich sage Bescheid, damit wir alles vorbereiten können - Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen - Nein, keine Sorge, davon haben wir nichts gefunden, wirkt clean - Moment, da muss ich eben nachschauen - Hier, zweiunddreißig – gut - Morgen dann, Sie kennen sich ja aus – Abgemacht – Danke – Grüßen Sie Senhor Cleancomer von uns - Bis Morgen - Auf Wiederhören.«

Was hatte ich denn da gehört? Ich war zweiunddreißig. Ging es etwa um mich? Ein Gedanke, der mir nicht schmeckte.

Tania redete wieder, schnell und Portugiesisch. Dann legte sie auf.

Ich klopfte und rief sie. »Tania?«

»Come in«, antwortete sie, aber Zeit für mich hatte sie nicht. Sie zog schon den Mantel über.

»Kann ich Cristina mal sehen? Zum Abschied nehmen.«

»Bitte, Nel, lassen sie uns morgen darüber reden, ich muss jetzt gehen und bin schon spät. Tschau.«

Sie hatte mich schon sanft nach draußen geschoben, als ihr beim Abschließen noch etwas einfiel.

»Wie ist das mit ihrem Mann? Wohnt der in Berlin? Ist das ein Deutscher?«

»Ja. Ich habe eben mit ihm gemailt. Er kümmert sich schon. Er wird die Deutsche Botschaft einschalten. Kann ich Cristina nicht heute noch sehen? Ich bin so traurig, das würde mir helfen.«

»Es tut mir leid, aber das verstößt gegen unsere Regeln. Morgen rede ich mit Dr. Cavalcani darüber, vielleicht können wir in diesem Fall eine Ausnahme machen. Wirklich, Nel, ich habe es eilig, wir klären das morgen, okay? Dont worry.«

»Und wenn ich Angst habe und nicht mehr zur OP will, kriege ich dann mein Geld zurück?«

Sie stutzte, dann verzog sie ihr Gesicht.

»Ja, wenn Sie wirklich nicht mehr wollen. Bitte, wir reden Morgen nochmal darüber.«

Damit sauste sie davon, stopfte im Gehen noch die Schlüssel in ihre Handtasche.

Unschlüssig blieb ich im Gang stehen.

Komisch, außer Personal hatte ich niemand getroffen. Das Haus wirkte wie ausgestorben.

In der leeren Kantine roch es nach Essen, hinter einer Mattglasscheibe sah ich jemanden herumwuseln. Also ins Zimmer.

Im Aufzug stockte ich, als ich die Zwei drücken wollte. Ich ließ den Finger hinunter wandern und drückte nach kurzem Zaudern auf den untersten Knopf. Es gab Regeln, die ich scheiße fand.

Wenig später betrat ich den von Notbeleuchtungen erhellten Gang. Den Aufzug schickte ich sofort wieder nach oben. Es brauchte niemand zu wissen, dass ich dort unten war.

Die Tür mit der Aufschrift »Patologia« war abgeschlossen. Hinter den Fenstern war es stockfinster. In das Labor konnte ich hinein. Tür zu und Licht an war eins. Die schmale Tür hinten ließ sich ebenfalls nicht öffnen, hatte aber nur ein simples Schloss. Ich blickte mich um. Schubladen auf.

Nichts. Oben auf dem hohen Kühlschrank auch nichts. Im Kühlschrank Medikamente in den Türfächern. Auf den Rosten ein paar Körbchen mit beschrifteten Blutproben und ein paar beschriftete Kunststoffboxen.

Auf der obersten stand »Ribeiro C figado«.

Auf den beiden darunter las ich »Ribeiro C rim e« und »Ribeiro C rim d«.

Ich stöhnte und musste mich setzen. Zufällig wusste ich genau, was das bedeutete. Im Sprachführer hatte ich die Seiten, auf denen es um Medizin, Ärzte und Krankenhaus ging gründlich studiert. Was machten Cristinas Leber und Nieren dort? Was in den anderen Boxen steckte, verstand ich nicht, aber überall fand ich Ribeiro C, also Cristinas Namen darauf.

Ich hatte einen fetten Kloß im Hals. Aber jetzt erst recht. Der beschissene Schlüssel lag bestimmt irgendwo, so was wollte doch niemand am Schlüsselbund rumtragen. Ich kippte die Kiste mit den Pflastern aus und es machte »pling«. Na also.

Mit zitternder Hand fummelte ich den Schlüssel ins Schloss.

Ein kühler, dunkler Raum mit Fliesen erwartete mich. Die Tür ließ ich auf, damit ich ein bisschen Licht hatte und es nicht hell in den Flur scheinen würde. In der Mitte ein Tisch mit Stahlplatte, an den Wänden ein Stahlschrank und ein Waschbecken. Eine Ecke füllte ein Stahlklotz mit Klappen, Bedienfeld, Thermometer und Laschen an der Front, in die Kärtchen rein gesteckt werden konnten. In einer davon steckte was Helles. »Ribeiro C« konnte ich entziffern.

Ich zog am Griff und die Lade kam raus.

In Filmen waren Tote immer zugedeckt. Pustekuchen, bleich wie ein ersoffener Regenwurm lag da was im Halbdunkel.

Wo war mehr Licht? Ich fand einen Schalter und über dem Waschbecken flackerte eine Neonröhre.

Die Leiche hatte ich in bequemer Höhe vor mir. Es war Cristina.

Zwischen ihren Schenkeln ein Schrumpelschwänzchen auf Schrumpelhoden. Alles fein rasiert und unversehrt. Dafür hatte sie Schnitte über Brust und Bauch. In meinem Schädel fuhren die Gedanken Achterbahn. Ich berührte Cristinas Hand. Sie fühlte sich an wie ein Kotelett aus dem Kühlschrank.

»Was haben die mit dir gemacht?«, flüsterte ich.

Bevor Cristina antworten konnte, klimperte es an der Tür und die Deckenbeleuchtung flammte auf. Ich drehte mich um und blinzelte gegen die Helligkeit an.

»Que fazes aqui?«1616

Ein Typ wie Maradona in weißem Kittel stand vor mir. Wegen des Brummens der Kühlanlage hatte ich ihn nicht kommen hören. Sein Ton war nicht gerade salonfähig.

»Musst du mich so erschrecken?« schrie ich ihn an.

Mein Herz klopfte so laut, dass ich nicht verstehen konnte, was er erwiderte.

Er schob die Lade zu, schloss die Tür zum Labor, löschte die Lichter und drängte mich in den Flur. Dort verriegelte er aufreizend bedächtig die Türen. Dann drehte er sich zu mir und fixierte mich mit seinen vorquellenden Augen.

»Miss Arta? Die Ärzte suchen Sie. Mitkommen.«

Er fasste mich am Ellenbogen und bugsierte mich in den Aufzug. Ich war so geplättet, dass ich mich nicht wehren konnte.

Wir fuhren nach oben. Er öffnete den Aufzug mit einem Spezialschlüssel auf der anderen Seite und schleppte mich in den Medizintrakt. Inzwischen hatte ich mich soweit gefangen, dass ich seine Hand abschüttelte.

»Fass mich nicht an.«

Mein Bewacher machte wieder eine auffordernde Handbewegung. »Mitkommen.«

Was sollte ich sonst schon tun? Es ging in ein Sprechzimmer. Riesenschreibtisch, Bücherschrank mit Folianten, Liege. An den Wänden Öl auf Leinwand, bombastisch gerahmt. Niemand da. Er öffnete eine gepolsterte Verbindungstür. Zu irgendwem sagte er irgendwas. Dann zu mir »Okay, warten.«

Er verschwand im Nebenzimmer. Dafür erschien von dort eine Frau um die Vierzig, klein und drahtig. Sie trug einen weißen Kittel.

»Guten Abend, ich bin Dr. Andrade. Wir möchten Sie untersuchen und über die Operation mit Ihnen sprechen.«

Sie reichte mir ihre kräftige Hand und nahm mich gründlich in Augenschein. Währenddessen hörte ich, wie mein Bewacher im Nebenzimmer mit jemandem diskutierte. Schließlich kam er zurück, dahinter ein Mann mit schütterem Haar, Brille mit Goldrand, ebenfalls im weißen Kittel. Maradona erhielt noch ein paar Anweisungen, dann machte er sich dünne. Im Vorbeigehen sah er mich nochmal wütend an.

Die Goldrandbrille stellte sich als Dr. Cavalcani vor. Er forderte mich zum Ausziehen und zum Hinlegen auf die Untersuchungsliege auf. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl dabei, aber in dem Augenblick spielte ich lieber mit.

Während ich hinter einem Paravent strippte, sagt Dr. Cavalcani »Giulio hat Sie überall gesucht und schließlich in der Pathologie gefunden. Was haben Sie dort gesucht? Es ist unseren Gästen nicht gestattet, sich dort aufzuhalten. Wir dachten, dass sei selbstverständlich. Natürlich sollten die Türen immer verschlossen sein.«