Route 66 - Dres Balmer - E-Book

Route 66 E-Book

Dres Balmer

4,9

Beschreibung

"Get Your Kicks On Route 66" - Bobby Troup sang es in den Vierzigerjahren vor, Millionen Automobilisten folgten ihm. Heute wird die legendäre Route 66 quer durch die USA nur noch touristisch genutzt. Dres Balmer hat die rund 3900 Kilometer lange Strecke von Chicago nach Los Angeles mit dem Fahrrad bewältigt und erzählt von euphorisierenden Strapazen, überraschenden Begegnungen und einem Amerika jenseits der Klischees. Ergänzt wird sein Bericht von Hintergrundinformationen, praktischen Tipps und zahlreichen Fotos.

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Dres Balmer

Route 66

Dres Balmer

Route 66

Mit dem Fahrradvon Chicago nach Los Angeles

Vorwort von Pete Mijnssen

Hintergrundtexte vonJessica und Ivo Mijnssen

Fotos von Dres Balmer,Pete, Ivo und Jessica Mijnssen

Herausgeber: velojournal –Magazin für Alltag und Freizeit

Für Meret

© 2012 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Karten: Christian Rolle, Holzkirchen, www.rolle-kartografie.de

Fotos von Dres Balmer, Pete, Ivo und Jessica Mijnssen

978-3-85869-526-0 E-Book

978-3-85869-527-7 Mobi

Inhalt

Auf den Spuren eines Mythos

Route-66-Vademecum von A bis Z

Illinois

Lincoln Highway

Joliet

Chicago hinter sich lassen

Launching Pad Drive-In und Gemini Giant

Route 66 Trail

Springfield (IL)

Mount Olive und »Mutter« Jones

Cahokia Mounds

Missouri/Kansas

St. Louis

Das Ende einer Ortschaft

Jesse James

Lebensmittelwüsten

Zikadenschwärme

Pfad der Tränen

Gay-Parita-Tankstelle

Red Oak II

Die Burma-Shave-Werbungen

Das Tornadojahr 2011

Von Bauern, Soldaten und Cowboys

Oklahoma, der »Früher«-Staat

Oklahoma

»Rote Menschen« und Oklahoma

Der Blauwal am Straßenrand

Die Anfänge der Route 66

Schwarzes Gold

Power unter dem Hintern

»Okies« und rote Erde

Texas

Cars – der Film

Der schiefe Turm von Groom

Mit Gott und Gewehr

Der »Pfannenstiel«: trockenes Land

Rindfleisch, Rohstoffe und verrückte Millionäre

Veloszene Texas-Amarillo

Auf der Suche nach der Mitte

New Mexico

Der Wind, die Prärie und die Energie

Kein Casino, aber ein Hauch von Hollywood

Billy the Kid und Pat Garrett

Pecos und Pueblos

Santa Fe Trail

Boca Negra – der schwarze Mund

Arizona

Die Navajos

Schlafen im steinernen Indianerzelt

Die Landschaft von Flagstaff

Grand Canyon

Seligman und Angel

Der Colorado

Kalifornien

Leben in der Wüste

Der Gesang der Güterzüge

Wüstenregeln

Das Reich im Landesinnern

Stadt der Unterschiede

Anhang

Bildlegenden

Bibliografie

Soundtrack Route 66

Ortsregister

Route 66, »Mutter der Straßen«: Lebenstraum Tausender Radfahrer oder velozipedischer Ödipuskomplex?

Auf den Spuren eines Mythos

Spätestens mit dem Song von Bobby Troup Get Your Kicks On Route 66 schaffte es Amerikas erster Ost-West-Highway in den 1940er-Jahren an die Spitze der automobilen Traumdestinationen. Die Strecke wurde nach dem Krieg zum Synonym für den wirtschaftlichen Aufbruch und zum Inbegriff der mobilen Ferien- und Freizeitgesellschaft. Alle mussten da hin. 1939 hatte John Steinbeck in seinem preisgekrönten Roman Früchte des Zorns zudem die Geschichte erzählt vom Exodus einer verarmten Bauernfamilie aus Oklahoma auf dem Weg ins gelobte Land Kalifornien. Trotz des harten Loses, das sie als Wanderarbeiter erwartete, galt auch für sie der amerikanische Traum. Und die Route 66 war dafür lange ein Sinnbild.

Ab den 1960er-Jahren verlangte die ungebremste Automobilität neue, schnellere Verbindungen. Die ehemalige Traumstrecke war mit Millionen von Fahrzeugen, die sich auf den zwei Spuren wälzten, und mit Tausenden von Verkehrstoten zum Albtraum, zur »blutigen 66«, geworden. Ihr Niedergang war unaufhaltsam, und gleichzeitig entstand die Legende, die sich bis heute gehalten hat. Vor allem bei Motorradfahrern und Harley-Davidson-Fans gilt die Route 66 neben der Pazifik-Küstenroute als die amerikanische Traumstraße schlechthin.

Was aber bringt einen Radfahrer dazu, die knapp viertausend Kilometer von Chicago nach Los Angeles unter die Räder zu nehmen? Die Antriebsfeder ist wohl, diesem Mythos auf die Spur zu kommen. Dazu gehören auch eine gute Portion Mut und eine Prise Verrücktheit sowie die Energie, diese Reise auch durchzuziehen. Amerikas endlos leere Landschaften üben auf Europäer eine ungebrochene Anziehungskraft aus. Bei der Route 66 kommt dazu, dass sie sich wie eine Lebensader in die Leere einbettet und dieser Landschaft etwas von ihrer Unwirtlichkeit und Bedrohlichkeit nimmt. Ist es das, was uns heute noch fasziniert: ein Abenteuer, aber eines mit einem klaren Anfang und Ende?

Bis wir das Zielbild in Santa Monica machen können, dauert es noch ein Weilchen.

Wenn wir von der Lebensader schreiben, gilt eine große Einschränkung: Die Route 66 ist heute nicht mehr durchgehend, sie muss hier und dort auch gesucht werden. Dabei erweist sich gerade das Velo beziehungsweise das Fahrrad als ideales Verkehrsmittel, weil es uns Zeit lässt, die losen Enden der ehemaligen Traumstraße zu suchen und zu verknüpfen. Dabei entdecken wir vieles, was beim schnellen Fahren im Auto oder auf dem Motorrad übersehen wird.

Auf seiner Reise durch den amerikanischen Kontinent durchquert Dres Balmer im Sommer 2008 (ab New Mexico begleitet vom Autor dieser Zeilen) die Kornkammer von Illinois und die gigantischen Wälder der Ozark Mountains. Ab Oklahoma führt die Straße durch die Steppe, danach durch die Mojave-Wüste und erreicht schließlich den Moloch Los Angeles. Ein harter Kontrast zu den menschenleeren Landschaften in Missouri, Texas, Oklahoma und Arizona.

Dres Balmer beschreibt in seinem Tagebuch die Leute vor Ort, bringt seine Bewunderung für die Menschen zum Ausdruck, die an unwirtlichen Orten unbeirrt an »ihrem« Way of Life festhalten. Und er durchlebt auf vielen Strecken auch die Einsamkeit des Radfahrers. Auf seinem roten Schwinn-Sattel fühlt er sich mal als Lucky Luke, als Don Quijote oder als tapferes Schneiderlein. Daneben plagen ihn immer wieder Albträume, dass er wie im Film No Country for Old Men von einem Killer abgeknallt werden könnte.

Den Spuren der Route 66 zu folgen, heißt auch, dem Zerfall zu folgen. Über weite Strecken treffen wir nur noch auf Geisterstädte, viel früherer Glanz ist verloren gegangen. Motels sind verschwunden oder mussten Neubauten weichen. Einigen aber wurde mit viel Geschick neues Leben eingehaucht. So finden sich entlang der Route 66 neben viel Nostalgiekitsch auch neues Leben und zeitgenössische Kultur, die Zeugnis ablegen von der sprichwörtlichen amerikanischen Innovationskraft.

Die Route 66 ist – das zeigt dieses Buch – neu zu entdecken. Auch und gerade auf dem Fahrrad. Dres Balmers Tagebuch schildert, wie das geht. Angereichert ist der Bericht mit spannenden Hintergrundinformationen des schweizerisch-amerikanischen Paares Ivo und Jessica Mijnssen, welche im Sommer 2011 die Strecke nachrecherchierten. Die Lektüre macht den breiten nordamerikanischen Kontinent Amerika dank schmaler Reifen zu einem intensiven Erlebnis.

»Aber warum tut man sich so etwas an?«, fragt sich Dres Balmer mehr als einmal. »Weil es so wunderbar ist«, gibt er zur Antwort.

Pete Mijnssen

Chefredaktor des velojournal – Magazin für Alltag und Freizeit

Der einzige Gebirgsübergang ist der Sitgreaves Pass an der Grenze zu Kalifornien.

Route-66-Vademecum von A bis Z

Abenteuer: Ist die Route 66 per Fahrrad ein Abenteuer? Ja, weil die Tour rund 2400 Meilen oder 3900 Kilometer lang, hügelig, windig und ziemlich anstrengend ist. Nein, weil die Route 66 uns zwischen den Wildnissen immer wieder in die Zivilisation bringt. Wir halten uns an diese Faustregel von Blaise Cendrars: »L’aventure c’est du boulot« (Abenteuer ist viel Arbeit). Außerdem wird, wer auf der Route 66 mit dem Fahrrad unterwegs ist, von Tag zu Tag stärker.

Anreise: Das Flugangebot aus Europa nach Chicago, von Los Angeles zurück nach Europa ist reich und verwirrend. Sobald der Passagier ein Velo mittransportieren will, wird es schon übersichtlicher. Wir sind die Sache beizeiten und mithilfe eines Reisebüros angegangen und haben das keinen Moment bereut.

Autofahrerinnen, Autofahrer: Schon nach wenigen Tagen in den USA glauben wir Radler zu träumen. Die Leute, welche mit dem Auto unterwegs sind, verhalten sich uns gegenüber sehr rücksichtsvoll, auch auf der Autobahn. Die europäische Autofahrerei ist im Vergleich dazu die reine Barbarei.

Diners: So heißen die kleinen, oft sehr gemütlichen und preisgünstigen family restaurants. Sie sind für Radler neben den Tankstellen wichtige Stützpunkte.

Etappen: Wie lang sollen sie sein? Sportliche Fahrer auf einem Halbrenner planen für eine Tagesetappe 80 Meilen oder 129 Kilometer ein, für Reisevelofahrer sind 62 Meilen oder 100 Kilometer ein vernünftiges durchschnittliches Tagespensum. So schaffen sie die Route 66 ohne Ruhetage in 30 bis 40 Tagesetappen.

Fahrrad: Das Nächstliegende sind Velos (siehe auch »Velo«, S. 18), welche unter der Bezeichnung Reiserad gehandelt werden. Etwas anderes ist schwer zu finden. Vorteil: Sie sind solide. Nachteile: Sie sind schwer, haben Überflüssiges wie Winterreifen, Schutzbleche, Federgabeln, Festschlösser, Lichtanlagen und Lenkertaschen montiert. All das verleitet dazu, überflüssiges Gepäck aufzuladen. Für eine sportliche Fahrweise sind sie nicht geeignet. Mit den handelsüblichen Lenkern ist die aufrechte Sitzposition im Gegenwind ungünstig. Für unsere Fahrt entschieden wir uns für einen leichteren Halbrenner und ein Trekkingrad. Auf beiden Typen mit glatten Reifen fährt man, mit Klickpedalen, wie auf einem Rennrad, was sich im Gegenwind bewährt. Ein modernes Velo nach gutem Service übersteht die 2400 Meilen. Als Ersatzmaterial reichen in der Regel zwei Ersatzschläuche, ein Faltreifen, eine gute Pumpe und das Flickzeug.

Fahrstil: Je nach persönlichem Stil wählt man zwischen sportlich oder gemächlich, sechs Stunden mit Schwung oder zehn Stunden Spazierfahrt, was sich auf die gesamte Rhythmusbilanz auswirkt, und da sind die Menschen verschieden. Für uns unverzichtbar ist das Handwerk des Windschattenfahrens, der regelmäßigen Ablösung. Wen das interessiert, der lernt es vorher.

Gepäck: Die Faustregel, dass das Volumen der Packtaschen 40 Liter nicht überschreiten soll, bewährt sich. Vier kleine Taschen sind uns lieber als zwei große, auf den Gepäckträger kommt nichts. Ein Trick beim Packen: Dinge, an deren Notwendigkeit der kleinste Zweifel besteht, bleiben zu Hause. Man hat unterwegs lieber etwas zu wenig als etwas zu viel. Was ist nötig? Kombinierte Velo- und Freizeitbekleidung, kleines Zelt, Liegematte, dünner Schlafsack, Kulturbeutel für Schreibzeug und Papiere, Necessaire für die Hygieneartikel, Verbandszeug, Flickzeug. Aber kein Kocher.

Hunde: Die Wahrscheinlichkeit, unterwegs von Hunden belästigt zu werden, ist groß. Diese Tiere nerven mehr, als dass sie gefährlich sind. Ruhig im Rhythmus weiterradeln und nicht hinschauen ist die beste Methode. Wer in der Tricottasche am Rücken einen Stein mitführt, sollte dann aber auch treffen.

Hygiene: Toilettenutensilien, insbesondere Haut- und Sonnencrème, alles in kleinem Necessaire.

Karten: Wir haben aus dem Straßenatlas von MapArt die entsprechenden Seiten fotokopiert, dann unterwegs in Tankstellen hie und da, aber nicht immer, die ungenauen Staatenkarten gekauft und sind so durchgekommen. Gelegentliche Irrfahrten sind nicht auszuschließen. Wer eine genauere Karte der Route 66 sucht, dem sei der EZ66 Guide for Travelers von Jerry McClanahan empfohlen, der auf Englisch die Route erstmals Abzweigung für Abzweigung beschreibt. Dessen Ringbindung macht den Führer auch recht handlich. Die gleichen Informationen sind auch auf www.historic66.com/description verfügbar. Zudem gibt es für die Route 66 eine GPS-Applikation, die der Strecke Abzweigung für Abzweigung folgt und zahlreiche Hinweise auf Attraktionen enthält (http://shop.spotitout.com/products/route66-garmin).

Schweres Gepäck hat Harry aus Graz.

Kleider: Velokleidung: Träger-Rennvelohose, Schwitzleibchen, Rennfahrertricot mit drei Rückentaschen, Socken, Ärmlinge, Velohandschuhe, Helm. Im Gepäck: eine Rennhose, ein Tricot und zwei Paar Socken, auch als Zivil-Ersatz, ein langarmiges Fleece-Tricot, auch für den Ausgang, dazu eine Regenjacke. Freizeitbekleidung: eine Unterhose, dünne Jeans, ein Leibchen.

Klima: Unsere Straße durchquert mehrere Zeit- und Klimazonen. Zu keiner Jahreszeit sind die Temperaturen durchgehend gleichmäßig. Im Frühsommer und Herbst schwanken sie von Ost nach West zwischen 10 und 50 Grad Celsius.

Motels: Manche berühmte Motels sind geschlossen, neue sind entstanden, aber noch in keinem Führer zu finden. Über ihren aktuellen Zustand geben unsere Informationsseiten, unterwegs und an Tankstellen Einheimische Auskunft.

Museen: Zahlreich sind die Route-66-Museen am Weg. Sie gleichen sich alle stark, und doch ist es gut für die Moral, hie und da eines anzuschauen.

Panne: Mehrere platte Reifen unterwegs sind wahrscheinlich. Wer auf die Route 66 fährt, sollte einen, sollte zehn Platte flicken können. Wer es noch nicht kann, lernt es vor der Abreise – oder halt unterwegs.

Motel, eine Form der Erlösung.

Proviant: Wir haben für unterwegs nur selten Proviant eingekauft und uns meistens an Tankstellen mit den nötigen Kalorien versorgt. Wer weniger asketisch reisen möchte, findet in jedem Info-Teil Hinweise auf Wochenmärkte und Bioläden in und um alle größeren Städte.

Plattfuß, leicht zu finden.

Reiseführer: Im Gepäck hatten wir Conrad und Ingrid Steins und Horst Schmidt-Brümmers Route-66-Führer. Ersterer ist für unterwegs hilfreich und handlich und wiegt 120 Gramm, Letzterer ist 1200 Gramm schwer und hat gute Kapitel zu Geschichte und Kultur der Route 66.

Reisezeit: April bis Juni oder September bis November.

Richtung: Ost–West oder West–Ost? Technisch wäre West–Ost vermutlich einfacher, weil man so vielleicht mehr Rückenwind hätte. Doch kulturell wäre es ein Irrtum, denn die Route 66 war und ist die Straße all jener, die vom Gelobten Land träumen und von Osten nach Westen fahren.

Schuhe: Die modernen Mountainbike-Schuhe, zum Beispiel von Sidi, sind rund um die Uhr bequem. Ihr Sohlenring um die Klickplatte herum macht sie auch für den Spaziergang bequem. Bei Regen sind sie schnell nass, am nächsten Morgen aber schon wieder trocken. Auf unserer Fahrt hatten wir außer diesen keine anderen Schuhe dabei.

San Gabriel Mountains, California: An dieser Baustelle ist heute für Zyklisten kein Durchkommen.

Straßentypen: Die Route 66 ist eine Landstraße, die zum Teil aufgegangen ist in Interstate Highways. So heißen die großen, meist vierspurigen Verbindungsstraßen, welche unseren Autobahnen gleichen. Die Interstates haben über weite Strecken parallele Servicestraßen, sogenannte frontage roads, oft Stücke der alten Route 66, welche parallel, mehr oder weniger nahe an der Interstate-Autobahn verlaufen. Für Radler sind sie auf drei Vierteln der Strecke ein Geschenk, auch wenn sie auf manchen Straßenkarten fehlen, oft in Schotterpisten übergehen oder im Nichts enden. Bis zur Transitstraße ist es aber nie weit. Wo die Interstate der einzige Weg ist, dürfen auch die Velos auf ihr fahren, und das stört niemanden. Rund 10 Prozent der Route 66 sind auf Interstates zurückzulegen.

Tagesablauf: Möglichst früh starten, lieber am Nachmittag als am Abend ankommen und dann das Velo bis zum nächsten Morgen nicht mehr berühren. Die alltäglichen Erholungsstunden ohne Velo sind wesentlich für das Gelingen der langen Reise.

Tankstellen: Was der Radler zuerst als etwas Minderes belächelt, mausert sich rasant zu kleinen paradiesischen Inseln. Hier ist die Luft gekühlt, es gibt Speise, Trank und Auskunft, man kann mit freundlichen Menschen schwatzen. Tankstellen werden zu Überlebensoasen. Außerdem zeigen sie auf elektronischen Informationstafeln die Uhrzeit und die Temperatur an.

Telefonieren: An jeder Tankstelle, in jedem Motel, an mancher Straßenecke sind öffentliche Telefonapparate. Die US-Telefonmethode hat man bald begriffen. Europäische Handybenutzer machen sich vor der Reise bei ihrem Anbieter kundig.

Topografie: Liest man die gängigen Automobilbücher, könnte man glauben, die Route 66 sei flach. Dem ist nicht so, denn auf der ganzen Reise geht es rund 18 000 Höhenmeter bergauf und etwa gleich viele abwärts. Außer auf gewissen Abschnitten in Illinois, Texas und in der Mojave-Wüste ist die Straße hügelig. Wir liefern auf den Informationsseiten von Staat zu Staat die Zahl der Höhenmeter bergauf und bergab.

Leergesogen und ausgetrocknet sind die legendären Tanksäulen am Straßenrand.

Das Blue Swallow Motel in Tucumcari (NM).

Unterkunft: Da ist ein wichtiges Kriterium, ob man allein oder in einer Gruppe reist. Für den Soloradler sind Motels teuer, ab zwei Personen mäßigen sich die Preise deutlich. Ein budgetbewusster Soloradler nimmt ein Zelt mit. Gruppen, die ohne Zelt reisen wollen, müssen auf Etappen über 100 Meilen gefasst sein. Auf der Webseite www.warm-shower.org finden Radfahrer bei Radfahrern kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten. Alle Abschnitte über 50 Kilometer ohne Unterkunft sind auf unseren Serviceseiten vermerkt.

Velo: In der Schweiz bezeichnet man das Fahrrad als Velo, das kommt vom französischen vélocipède, Schnellfuß.

Wasser: Wir waren mit zwei 7,5-dl-Bidons pro Velo unterwegs, und das bewährte sich. An wenigen Tagen kauften wir in Tankstellen eine zusätzliche Flasche Wasser und nahmen sie mit. Unterwegs schenkten uns ab und zu auch Autofahrer Wasser – eisgekühltes.

Zelten: Auf den RV-Parks (recreational vehicle), auch auf manchen Campgrounds gibt es Tarife ausschließlich für automobile Camper. Da nimmt der Radler die Chance wahr, einen fairen Preis auszuhandeln, und hat meistens Erfolg. Mit der nötigen Vorsicht ist wildes Zelten an der Route 66 problemlos.

Mit ein bisschen Vorsicht ist wildes Zelten in den USA problemlos.

Illinois

Art Institute of Chicago.

Wandbild in Dwight.

Das Ariston Cafe in Litchfield.

Route: Chicago–Romeoville–Joliet–Pontiac–Bloomington–Springfield (IL)–Litchfield–St. Louis (MO).

Distanz: 277 Meilen (446 Kilometer), davon 18 Meilen (29 Kilometer) auf der Interstate-Autobahn.

Höhendifferenz: 656 m, 723 m

Straßenzustand: Zuerst sind die Straßen mittelmäßig. Besondere Vorsicht ist geboten bei Abflussdeckeln am Straßenrand und bei den Übergangsnähten zu Brücken. Dann bessert sich die Straßen-Qualität, auch auf den Pflastersteinstücken. Der Pannenstreifen der Autobahn ist auf weiten Strecken eine Abfallhalde.

Unterwegs: Die Strecke verläuft meist flach, zeigt gut ausgeschildert den Weg aus der Agglomeration Chicago, führt dann durch unendliche Getreidefelder in die Weite. Es sind Teile der alten Pflastersteinstraße zu entdecken und 18 Meilen auf der Interstate-Autobahn zurückzulegen. Auf unserer Reise hatten wir damit kein Problem, obwohl es in Illinois offiziell verboten ist, mit dem Velo auf Autobahnen zu fahren. Der Route 66 Trail (siehe dazu S. 50) bietet Ausweichmöglichkeiten. Gegen die Staatengrenze hin geht es in die Hügel und hinunter zum Mississippi. Über die Chain of Rocks Bridge gelangen wir ans rechte Mississippi-Ufer und auf einer luxuriösen Velopiste in den ältesten Stadtteil von St. Louis.

Sehenswürdigkeiten

Chicago: Art Institute of Chicago, 111 S Michigan Ave., Tel. 312 443 3600, www.artic.edu; Grant Park und die Strände des Michigansees, Millennium Park mit »Bohnen«-Skulptur.

Dwight: Ab hier gut restaurierte Stücke der alten Route 66 mit Kopfsteinpflaster. Manche abgesperrte Teile sind mit dem Velo befahrbar.

Pontiac: Route 66 Association Hall of Fame and Museum, 110 W Howard St., www.il66assoc.org.

Immer wieder am Straßenrand: Die witzig-lyrischen Rasier-Werbeschilder von »Burma Shave«.

Kost und Logis: Der erste Teil der Route 66 durchquert ziemlich dicht besiedeltes Gebiet, die Distanzen zwischen Kneipen und Motels sind nirgends groß.

Besonders zu empfehlen

Mc Cook: JCs Ristorante, an der Route 66, Tel. 708 387 0030.

Braidwood: Polk-a-Dot Drive In, an der Route 66, Tel. 815 458 3377, www.polk-a-dot.com.

Bloomington: Rosie’s Pub, 106 E Front St., Tel. 309 827 7019, www.rosiesbloomington.com.

Springfield: Cozy Dog Drive In, 2935 S Sixth St., Tel. 217 525 1992, www.cozydogdrivein.com.

Litchfield: Ariston Cafe, an der Route 66, Tel. 217 324 2023, www.ariston-cafe.com.

Zeltplätze

Rochester (bei Springfield): Springfield KOA, 4320 KOA Rd., Tel. 217 498 7002, http://koa.com/campgrounds/springfield.

Chatham: Double J Campground & RV Park, 9683 Palm Rd., Tel. 217 483 9998, www.doublejcampground.com.

Granite City: St. Louis (MO) NE I-270/Granite City, 3157 W Chain of Rocks Rd., Tel. 618 931 5160, http://koa.com/camp-grounds/st-louis-ne.

Fahrradläden

Chicago: Kozy’s Cyclery, 811 S Desplaines St., Tel. 312 360 0020; Carmen Schwinn, 6519 W Archer Ave., Tel. 773 586 3247.

Joliet: Dave’s Bikes etc., 1416 N Broadway St., Tel. 815 723 2204, www.davesbikes.com.

Normal: Main Street Bicycle, 1601 N Main St., Tel. 309 826 1111, www.mainstreetbicycle.com; Vitesse Cycle Shop, 206 S Linden St., Tel. 309 454 1541, http://vitessecycle.com.

Bloomington: Bloomington Cycle and Fitness, 712 E Empire St., Tel. 309 820 8036, www.bloomingtoncycleandfitness.com.

Lincoln: Back Alley Bikes, 113 Willard Ave., Tel. 217 735 9787.

Springfield: R & M Cyclery, 832 W Washington St., Tel. 217 544 9550, http://rmcyclery.com; Ace Bicycle Shop, 2500 S MacArthur Blvd., Tel. 217 523 0188, http://acebicycleshop.com.

Chatham: Wheel Fast Bicycle Co, 20 Cottonwood Dr., Tel. 217 483 7807, http://wheelfast.com.

Edwardsville: Cyclery & Fitness Center, 2472 Troy Rd., Tel. 618 656 0070, http://thecyclerys.com.

Es gilt ernst: Das Wegschild kündigt das Programm für die nächsten Wochen an.

Lokale/biologische Lebensmittel

Joliet: Joliet City Center Farmers Market, Ecke W Van Buren und N Chicago Sts., 5. Juni bis 25. August: freitags von 8 bis 14 Uhr, www.jolietdowntown.com.

Dwight: Dwight Main Street Farmers Market, 132 E Main St., 6. Juni bis 3. Oktober: samstags von 8 bis 12 Uhr, www.agr.state.il.us/agrihappenings/farmlist.php.

Pontiac: Pontiac Farmers Market, Courthouse Square an der Washington St., 5. Juni bis 30. Oktober: samstags von 7 bis 12 Uhr, www.agfun.com/central_farmersmarkets.html.

Bloomington: Downtown Bloomington Farmers Market, N Main St. bei E Jefferson St., 16. Mai bis 31. Oktober: samstags von 7.30 bis 12 Uhr, www.downtownbloomington.org/farmersmarket; Common Ground Grocery, 516 N Main St., Tel. 309 829 2621, www.agfun.com/central_farmersmarkets.html.

Normal: The Fresh Market, 200 N Greenbriar Dr., Tel. 309 888 4192, www.thefreshmarket.com/stores/store_locationsDetail.aspx?StoreId=101.

Atlanta: PrairiErth Farm, 2047 County Rd. 2100 N, Tel. 217 871 2164, www.prairierthfarm.com/PrairiErth_Farm/Homepage.html.

Springfield: County Market (2 Filialen), 1903 West Monroe St., Tel. 217 546 8671; 2777 S 6th St., Tel. 217 744 2290; Cub Foods, 3001 S Veterans Parkway, Tel. 217 793 3773. Die Öffnungszeiten der Bauernmärkte können sich ändern, weshalb es sich lohnt, diese auf dem Internet oder telefonisch zu überprüfen.

Öffentlicher Verkehr: Eisenbahn- und Buslinien erschließen die ganze Strecke.

Amtrak: Chicago (IL) nach St. Louis (MO) mit dem Lincoln Service und dem Texas Eagle: Fünfmal pro Tag, Dauer ca. 5 h 30. Preis variiert je nach Zeitpunkt der Buchung. Velomitnahme ist erlaubt, eine Reservation im Vorfeld aber notwendig, da der Platz sehr beschränkt ist. Kosten: 5–10 Dollar, je nach Destination. Haltestellen an der Route 66: Joliet; Dwight; Pontiac; Bloomington-Normal; Lincoln; Springfield (IL); St. Louis (MO). Die Abfahrtszeiten können sich ändern und sollten auf jeden Fall unter www.amtrak.com oder telefonisch (Tel. 800 872 7245) überprüft werden.

Chicago Transit Authority (CTA): Velomitnahme ist kostenlos auf dem ganzen Streckennetz möglich. Gerade für die wenig charmante Strecke vom Flughafen O’Hare in die Chicagoer Innenstadt bietet sich die U-Bahn als billige und schnelle Alternative zum Velo an. Wer das Fahrrad dabeihat, macht die Bähnler auf sich aufmerksam, damit diese einen Durchgang öffnen. Pro U-Bahn-Wagen sind zwei Velos erlaubt, wobei man während der ganzen Fahrt das Fahrrad halten muss. Auf der Blauen Linie (u.a. Flughafen) haben die Velowagen grüne Velo-Piktogramme, www.transitchicago.com.

Auskunft vor Ort

Chicago: Visitor Information Center, 78 E Washington St., Tel. 312 744 2400.

Joliet: Joliet Historical Museum and Route 66 Welcome Center, 204 N Ottawa St., Tel. 815 723 5201.

Auskunft im Netz

Tourismusbüro Illinois:www.enjoyillinois.com.

Verkehrsbüro Chicago:www.chicagotraveler.com/chicago_tourism.htm.

Verkehrsbüro Springfield:www.visit-springfieldillinois.com.

Chicago Bike Guide:www.ridethecity.com.

League of Illinois Bicyclists:www.bikelib.org.

Route 66 Association Illinois:www.il66assoc.org.

Eisenbahnzüge sind beruhigend.

Henry’s Rabbit Ranch in Staunton.

Ahornsirup in Funks Grove.

1. Tag Donnerstag, 8. Mai. Flughafen O’Hare, Chicago–Chicago, Stadtzentrum. 24 Meilen (39 Kilometer)

Ich fahre los. Ha, dieses Gefühl: am Flughafen O’Hare Chicago losfahren. Es ist Anfang Mai, es ist kühl und windig. Ich finde die Mannheim Road, deren Verlauf ich auf einer Karte ohne Maßstabangabe studiert habe. Es gibt aber nicht viel zu studieren, denn die Mannheim Road, eine Stadtautobahn, führt lange Zeit einfach geradeaus bis zur Roosevelt Road, und dort biege ich links ab. Die Mannheim Road ist fürchterlich. Der Belag ist löcherig und mit Abfall übersät, der Verkehr dicht. Alle Nahtstellen an den Brückenlagern sind wahre Velofallen, bei denen man jedes Mal stark abbremsen muss. Wo ist die Stadt? Was ist eine Stadt? Irgendwo muss doch eine Stadt sein, irgendeine Stadt. Links und rechts ist zwar alles überbaut mit Fabriken, Lagerhallen, mit Gartenzentren, Autotempeln und Sportplätzen, doch man hat kein Stadtgefühl, und das passiert einem ausgerechnet in einer der größten Städte der USA. Ich sehe nirgends Trottoirs. Wozu auch? Es gibt ja keine Fußgänger.

Später erreiche ich Viertel, wo es anders ist. Es sind schäbige Wohnviertel mit breiten Trottoirs. Auf ihnen sind nun plötzlich Fußgänger, die aber nicht gehen. Diese Fußgänger wollen nirgendwo hingehen. Sie sind nicht Fußgänger, sie sind Fußsteher. Sie stehen vor verlotterten Fassaden herum, sie haben kein Ziel, sie haben nichts zu tun. Alle die Fußsteher sind ausschließlich armselig gekleidete Schwarze. Ich scheine der erste Velofahrer zu sein, den sie sehen, und dann bin ich erst noch ein Weißer. Dass ich hier Stadtviertel mit hohen Kriminalitätsraten durchfahre, lese ich erst später.

Die Ampeln an den Kreuzungen haben hier lange Phasen. Was machen die weißen Autofahrer? Bei Rot gehen sie schon lange vorher, auf Distanz, vom Gas. Dann rollen sie langsam auf das Signal zu, sodass sie, wenn es grün wird, durchfahren können, ohne stoppen zu müssen. Die weißen Autofahrer halten hier nicht gerne an. Und was mache ich weißer Velofahrer? Bei Rot halte ich, wie üblich, mitten in der rechten Fahrbahn an, stelle den linken Fuß auf das Pflaster und warte. Ich warte eine Minute, ich warte zwei Minuten. Die Blicke aus zwanzig Augenpaaren sind auf mich gerichtet, und ich bin froh, wenn die Ampel auf Grün wechselt. Dann fahre ich wieder. Ich fahre und fahre mit dem Gefühl, nicht voranzukommen. In der Distanz verschätze ich mich zum ersten Mal, und es wird nicht das einzige Mal sein. Vom Flughafen ins Zentrum ist es viel weiter, als ich dachte. Ich werde mich noch oft verrechnen, denn ich habe keine Ahnung, wie groß Amerika ist.

Wrigley Building und Chicago Tribune Tower. 1925 fertig gebaut, gehören sie zu Chicagos »Wundermeile«.

Als ich in der Abenddämmerung beim Hostel mitten im Zentrum ankomme, habe ich 24 Meilen auf dem Zähler. Zum Glück ist ein Bett reserviert. Das Zimmer teile ich mit zwei polnischen Reisenden. Ich würde gerne schön essen gehen, frage den Mann an der Réception, wo man schön essen kann. Er sagt: »Nirgends«, und er lacht. Die Stadt scheint mir gespenstisch und ungemütlich. Es zieht eisig um die Hausecken, die Hochbahn verursacht auf den ausgeleierten Gleisen einen Höllenlärm. Ich lande in einem leicht schmuddeligen Thai-Restaurant. Es heißt Hotspoon. Deutsche Gäste am Nebentisch suchen das Gespräch mit mir. Sie fragen mich ziemlich aufsässig aus, was ich vorhabe. Sie rufen »Ooh!?« und »Echt!?«, voller Bewunderung tun sie’s, doch es gibt da nichts zu bewundern, weil ich noch nichts gemacht habe außer die lange und schlechte Mannheim Road. Ich habe noch nichts zu erzählen, weil ich noch nichts erlebt habe, weil noch alles vor mir liegt. Das ist mir ein wenig peinlich, denn ich würde ihnen gerne etwas erzählen, sie könnten wieder »Ooh!?« und »Echt!?« rufen, und diesmal könnten sie es mit gutem Grund tun, weil ja schon etwas hinter mir läge, das ich erzählen könnte. Dass ich aber jetzt etwas erzählen würde, was nicht aus Amerika stammt, ist für mich unmöglich, und weil ich von Amerika nichts weiß, habe ich von ihm auch nichts zu erzählen.

Marina City ragt 60 Stockwerke hoch über den Chicago River und wird auch »Maiskolben« genannt.

Es ist schön, von Amerika nichts zu wissen und deshalb auch nichts erzählen zu können, weil ich nicht die geringste amerikanische Vergangenheit, wohl aber hoffentlich eine kleine amerikanische Zukunft habe, die noch schön leer und duftig feucht wie das leere Notizbuch vor mir liegt. Dieser Gedanke macht mich glücklich, und da habe ich dieses Reise-Kribbeln im Bauch. Amerika liegt vor mir. Ich bin müde, kehre zurück ins Hostel. Samt dem amerikanischen Reise-Kribbeln schlafe ich ein.

Genau hier beginnt die Route 66.

2. Tag Freitag, 9. Mai. Chicago–Joliet. 50 Meilen (80 Kilometer)

Am Morgen fahre ich zuerst in den Grant Park am Michigansee. Dort würde ich gerne jemanden bitten, von mir zu Beginn und am Startpunkt der Reise eine Foto zu machen. Ich würde mich vor die Buckingham Fountain hinstellen und das Velo am Vorbau neben mir festhalten. Doch außer mir ist kein Mensch im Park, auch nicht beim Brunnen und am Wasser. Ich habe kein Stativ dabei. So mache ich Fotos von dem Velo, das ich hingestellt habe, als Hauptakteur vor dem Horizont, der aus einem Gebirge von Wolkenkratzern besteht. Schon zum Anfang befällt mich die Einsamkeit des Radlers. Ich sollte hier ein Fläschchen mit dem Seewasser füllen, das ich dann drüben, auf der anderen Seite des Kontinents, in den Pazifik gießen könnte, so ginge ein bisschen des Sees auf dem Fahrrad zum Meer, und das wäre sinnig. Aber die Idee kommt mir leider zu spät, als ich schon unterwegs bin, und jetzt will ich nicht mehr zurück an den Michigansee.

Die Route 66 beginnt an der Ecke Michigan Avenue/Adams Street, bei den beiden Grünspanlöwen, die vor dem Eingang zum Art Institute of Chicago stehen. Morgen wird hier eine Edward-Hopper-Ausstellung eröffnet. Aha, das ist dieser Edward Hopper, der Menschen malt, die in den Bars stehen, elegant, cool und alle ein wenig einsam und traurig. Wenn man Hoppers Bilder anschaut, spürt man, wie einem aus ihnen die Sehnsucht sanft ins eigene Herz herüberfließt. Soll ich die Eröffnung der Ausstellung abwarten und einen Tag später radeln? Da blicke ich wieder zu den Grünspanlöwen. Sie stellen unternehmungslustig ihre Schwänze in die Luft, und sie blicken grimmig nach Westen. Der eine hat mir zugeblinzelt, ich habe es genau gesehen. Nach Westen, dorthin will auch ich. Gegenüber entdecke ich das erste Hinweisschild auf die Historic Route 66. Jetzt hält mich nichts mehr, auch wenn mir mulmig ist in der Magengegend. Ich mache mir Mut. Ich flüstere mir selber tapfere Sätzlein zu, so, wie man im dunklen Wald pfeift, um die eigene Angst zu übertönen. Ich murmle: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Ich flüstere: Der Starke ist am mächtigsten allein. Ich rufe: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Die Straße ist voller grausamer Schlaglöcher und mörderischer Abflussgitter, die mich verschlingen wollen. Links und rechts türmen sich die Hochhäuser, in deren Fenstern sich die Morgensonne spiegelt.

Straßenschluchten, denke ich. Genau das ist die passende Bezeichnung: Straßenschluchten. Unten ist es dunkel, links und rechts ragen die Felswände aus Beton und Glas in die Höhe und lassen darüber nur einen schmalen Streifen Himmel schimmern. Immer habe ich mich lustig gemacht über dieses Wort: Straßenschluchten, weil wir in den Alpen die Gletscherschlucht haben, die Aareschlucht und die Massaschlucht. Jetzt bin ich mitten in den Straßenschluchten von Chicago unterwegs, ich durchradle Hunderte von Straßenschluchten. Sie sind gigantisch, und plötzlich finde ich sie schön. Ich bin hingerissen. Die Autofahrer sind anständig mit mir. Es rollt gut hinaus durch die Viertel der Vorstädte. Die sind so gespenstisch, weil man wieder keinen einzigen Menschen auf seinen Füßen sieht, weder Fußgänger noch Fußsteher, auch nicht eine einzige Person, die gerade aus dem offenen Fenster eines Hauses auf die Straße schaut. Warum gibt es auch nirgends eine Kneipe am Straßenrand? Ich habe guten Rückenwind, doch entspannt fahren kann ich nicht, weil die Straße weiterhin schlecht und der Verkehr intensiv ist. Ich muss mich konzentrieren. Ich umfahre ein Stück der Interstate 55, was mit etwas Aufwand gelingt. Hier glaube ich zu verstehen: Interstate heißt Autobahn.

JC’s Pub, eine kleine Lebensmittel-Oase im Industriegebiet außerhalb von Chicago.

Die wichtigen Straßen sind auf großen Namensschildern gut sichtbar angeschrieben, doch Wegweiser zu den Städten im Südwesten, die ich anpeile, gibt es keine. Das System ist anders als bei uns. West–östliche Highways und Autobahnen haben gerade Nummern, nord–südliche ungerade. Eine Ausnahme bildet da der erste Teil der Route 66, die von Illinois bis Oklahoma diagonal Richtung Südwesten verläuft. Die Zahl 66 gab man ihr, weil man fand, die Sechsundsechzig klinge nett im Ohr und bleibe leicht im Gedächtnis. Außerdem nannte man die Sache nicht Highway, also Landstraße, sondern Route, Route 66, und in dem Wort »Route 66« schlummert seit achtzig Jahren eine Vorstellung, eine Route-66-Vorstellung eben. Nach ein, zwei Tagen hat man begriffen, wie das Straßensystem in den USA aufgebaut ist, und kommt damit zurecht. Das amerikanische Prinzip ist einfacher als das unsere, und es ist ökonomischer. Nordamerikas Distanzen sind so groß, dass man nicht wie in Europa an jeder Ecke alles anschreiben kann. Es kommt mir vor, als wären wir auf dem Alten Kontinent wohlbehütete Kinder, die der Staat an der Hand nimmt und denen er alle paar Hundert Meter ein Schild aufstellt, damit die europäischen Kinderchen wissen, wo der Weg durchgeht.

Auch wenn die Straße manchmal abrupt endet: Einen Weg findet man immer.

Bei Romeoville habe ich ein Problem: Im Hinterrad ist eine Acht. Die letzte Acht im Rad hatte ich vor etwa zehn Jahren, und jetzt habe ich eine am zweiten Tag einer größeren Reise. Ich kann mir die Acht nicht erklären. Das Rad hat nie einen starken Schlag erhalten. Mehrmals halte ich an und verstelle die Hinterbremse so, dass sie die Felge am Punkt, wo sie ausschlägt, nicht mehr berührt. An das Herumdrehen am Speichennippel mache ich mich nicht mehr, denn ich bin ein schlechter Radzentrierer, und nach meiner Speichenoperation ist es meistens noch schlimmer als vorher. Die Sache macht mir Sorgen. Zum Teil gibt es hübsche Streckenabschnitte mit Wäldern und Parks links und rechts, hie und da durchfahre ich sogar dorfähnliche Gebilde und vergesse die Acht während ein paar Minuten. Um die Mittagszeit sehe ich vor Joliet linker Hand das Schild »Dave’s Bikes etc.«, das zu einem kleinen Veloladen weist. Da kommt mir die Acht wieder in den Sinn. Ich fahre zu Dave und frage ihn, ob er mir das Rad zentrieren könne. Er sagt, Douglas, sein Angestellter, komme um dreizehn Uhr zurück. Ich sage, ich ginge in den McDonald’s schräg gegenüber und käme um dreizehn Uhr wieder.

Im McDonald’s stelle ich mich nicht viel geschickter an als beim Radzentrieren. Ich habe eine amerikanische Bildungslücke und weiß nicht, wie das hier, im McDonald’s, zu und her geht. Dass man zuerst bestellt und zahlt und dann auf die Lieferung wartet, sie am Tresen in Empfang nimmt und an einen der Tische trägt. Ich bitte die Frau an der Kasse, mir zu erklären, wie sich das abspielt, was sie mit Vergnügen und der größten Höflichkeit tut. Sie kümmert sich um mich wie um einen Behinderten. Die anderen Kunden stehen mitfühlend um mich herum, der eine reicht mir eine Papierserviette, der andere ein kleines Beutelchen mit Ketchup, und alle wundern sich, dass ich nicht weiß, wie es im McDonald’s abläuft, denn jeder moderne Mensch weiß, wie McDonald’s funktioniert.

Nach dem Hamburger radle ich zu Daves Veloladen zurück. Sein Angestellter, Douglas, ist jetzt auch gekommen. Sie finden beide toll, was ich mache. Dabei bin ich bloß vom Flughafen via Chicago hierhergeradelt, und sonst habe ich noch gar nichts gemacht. Was ich im Sinn habe, was ich machen möchte, präzisiere ich jedes Mal und füge hinzu: Aber ach, ich bin ja noch nirgends. Die Acht ist am französischen Zentrierbock, auf dem »Précisraye, modèle breveté« eingraviert steht, bald behoben. Dann entdecken sie, dass die Ritzel-Kassette wackelt. Sie wackelt wie ein Milchzahn, der bald herausfällt. Die Kassette hat Spiel. Es fehlt ihr auf der Innenseite ein Zwischenring, und natürlich nicht irgendeiner, sondern ein ganz bestimmter Zwischenring. Der Bruno, mein letzter Mechaniker in der Schweiz, hat einfach vergessen, diesen besagten Zwischenring einzusetzen. Der Bruno ist ein Trottel, ein A…, ein verdammtes A…, entfährt es mir in Gedanken. Der Bruno ist ein blöder Bastler, und das hat man davon, wenn man ein guter Mensch sein und einheimisches Gewerbe in seinem Wohnviertel unterstützen will.

In Daves Werkstatt zu Joliet liegen haufenweise Rahmen, Lenker, Gabeln und vollständige Veloleichen aufeinandergeschichtet, an den Wänden türmen sich in Schieflage aufgerissene Kartonschachteln. An Haken hängen ganze Trauben von gebrauchten, kaputten und neuen Radschläuchen herunter bis zum Boden der Werkstatt. Der ist versehen mit einem Spannteppich, der nur noch an den Rändern die ursprüngliche blaue Farbe ahnen lässt. Sonst ist er bedeckt mit einer schwarzen, fettigen Schicht. Zwischen all dem Gerümpel hängen und stehen aber auch neue Artikel, die Dave zum Kauf anbietet. Wohin man blickt, sind Dutzende von Marienbildern aufgehängt, auch der Gekreuzigte blickt mehrfach aus allen Himmelsrichtungen herunter auf das Treiben im Raum. Dave hat ein Puff, Dave ist fröhlich, Dave ist fromm, und Dave hat ein Herz aus Gold. Jetzt suchen er und Douglas für mein Velo den passenden Ring, man wühlt in Schubladen, man reißt Packungen auf, man demontiert Kassetten von Velos, die in und neben der Werkstatt auf rostigen Haufen liegen, doch man findet den Ring für mein krankes Velo nicht.

Velo-Engel Dave mit Anhang.

Dave sagt, er müsse wohl die Nabe ersetzen, und dann sagt er: »Jetzt brauche ich George.« George ist Italiener, und er ist Radbauer, wheelbuilder. Jetzt treten zwei Nuancen in die Geschichte ein. Die erste Nuance ist, dass mein Tourenvelo Räder mit 36 Speichen hat. Das sind mehr Speichen als normal. Die zweite Nuance ist die, dass Veloradbauer, wie auch in Europa, in den USA etwa so häufig sind wie Albinos, und, wenn überhaupt vorhanden, dann am ehesten an den Küsten in Ost und West. Im Mittleren Westen – ich glaube, hier sind wir im Mittleren Westen – sind sie noch rarer. Ausgerechnet eine solche Perle wohnt aber in einem Nachbardorf, ein paar Meilen von hier entfernt. Das ist wie ein Sechser im Lotto.

Dave telefoniert mit George. George kommt mit dem Auto, steht zehn Minuten später im Laden. Er hat zwar verschiedene Naben mitgebracht, nimmt dann aber das Rad mit. Heute noch will er mir das Hinterrad neu bauen. Später gibt es mehrere Telefonate zwischen Dave und George. Sie bewundern mich. Dabei gibt es noch überhaupt nichts zu bewundern. Ich bin bloß vom Flughafen über Chicago hierhergeradelt und habe schon eine ernsthafte Panne eingefangen. Sonst habe ich rein gar nichts getan, was es zu bewundern gäbe, ich sage es erneut. Ich bin nicht nur ein schlechter Velomechaniker, ich bin gar kein Velomechaniker, ich habe von der Velomechanik keine Ahnung. Ich habe aber auch nie behauptet, ich verstehe etwas von Velomechanik, und dennoch schäme ich mich ein wenig für mich selber. Noch mehr, nämlich ganz fest schäme ich mich für diesen Menschen in der Schweiz, den Bruno, diese Niete, der von sich behauptet, ein Velomechaniker zu sein.

Stress scheint es hier nicht zu geben. Da kommt irgendein Schweizer angeradelt, der keine Ahnung hat von Technik, und hat ein Problem mit seinem Velo. Augenblicklich ist der Mechaniker zu seinen Diensten, ruft sogar eine Perle von Radbauer, und die Perle steht kurze Zeit später auch da. Man muss sich das einmal ausmalen. Man kann sich so etwas gar nicht vorstellen, wenn man aus der gestressten Schweiz kommt, wo man mit dem Velomechaniker einen Termin abmachen muss wie mit dem Zahnarzt, dem Psychoanalytiker oder dem Schönheitschirurgen. Während Dave mit anderen Kunden zu tun hat und bis das frisch gebaute Rad kommt, hänge ich herum und habe ein wenig Teil an dem Familienleben.

Dave sagt, wenn ich bis morgen warten müsse, könne ich in seinem Garten neben der Werkstatt zelten. Dann stellt er mir seine Kinder vor. Er und seine Frau haben fünf Nachkommen, und Dave sagt, Kinder seien das schönste Geschenk Gottes. Die Kinder sind alle ein wenig auffällig, entweder sehr fett, oder sie haben einen Tick oder ein Geschwür im Gesicht. Auch seine Frau ist ungeheuer dick und sehr ungepflegt, aber sie hat wunderschöne Augen.

Dave führt mich hinauf in die Wohnung. Er sucht für uns einen Weg zwischen Dutzenden von Kübeln hindurch, die, halb voll mit undefinierbaren Flüssigkeiten, herumstehen. Wo man hinblickt, türmen sich Halden von Tellern und Schüsseln mit angetrockneten Essensresten unter grauem Pelz und Saucen, auf denen sich dicke Haut gebildet hat. In Gläsern mit Limonade schwimmen ertrunkene Fliegen, aus einem Laufgitter strahlt mich ein verdrecktes Kleinkind an. Dave sagt, wenn das Rad nicht fertig werde, dürfe ich zum Nachtessen zu ihnen heraufkommen. Dave ist mein rettender Engel, alle sind extrem fromm, herzlich und lieb mit mir, doch beim Gedanken, hier zu essen, kriege ich das große Würgen. O lieber Gott, mach bitte, dass der andere Engel, George, fertig wird mit dem Bau meines Hinterrads.

Daves Vater ist auch hier. Er ist leicht dement, verbringt den Tag damit, eines der Kinder, das wie ein Pferd eingeschirrt ist, an einer Art Zaumzeug herumzuzerren. Er führt Selbstgespräche. Jetzt sitzt er bei der Schaukel, darauf das eingeschirrte Kind. Der Großvater rupft am Zügel, um die Schaukel in Schwingung zu versetzen, das Kind gibt glucksende Laute von sich. Ein geifernder Langhaardackel, dessen Pelz mit Dreck verklebt ist, wetzt herum. Wenn ich das Gebrabbel des Großvaters richtig verstehe, ist seine Frau vor drei Jahren gestorben. »She passed away«, sagt er immer wieder, und er kann diesen Schicksalsschlag nicht verkraften. Er sagt, er möchte ihr bald folgen.

Wegweiser tragen immer wieder den Namen der verschwundenen Straße. Sie sind dünn gesät und zuweilen wahre Lebensretter.

Da ruft George an und meldet, dass er das Rad noch heute fertigkriege. Ich bin sehr froh. Die Menschen hier sind so gut zu mir. Doch ich möchte nicht mit ihnen essen, nicht bei ihnen zelten, weil ihr Platz mich ekelt. Dave ist wirklich ein sehr frommer Mann. Er hat in der Werkstatt auch Plakate von Abtreibungsgegnern aufgehängt, und sogar draußen im verwilderten Garten steht ein halbes Dutzend Marienstatuen. Douglas und Dave fragen mich aus über die Schweiz und übers Velofahren. Da kommt George und bringt das schöne neue Hinterrad.

Da mein alter Sattel am Ende ist, kaufe ich bei Dave auch noch einen neuen Sattel, einen roten Schwinn. Seine Farbe und darin ein silbernes Glitzern erinnern mich an eine Jukebox aus meiner Kindheit. Der neue Schwinn-Sitz kostet bloß fünfzehn Dollar. Der alten Sitzgelegenheit gebe ich zum Dank für ihre geleisteten Dienste einen Kuss und schmeiße sie in den Kübel. Es ist ein ziemliches Risiko, sich mit einem neuen Sattel, den das Hinterteil noch nicht kennt, auf eine lange Reise zu begeben. Doch ich habe das schon mehrmals gemacht, hatte damit nie Probleme, und Schwinn ist gut. Ein Schwinn-Velo hat mich schon einmal gerettet, damals in der Baja California, vor zwanzig Jahren, als mir mein Super-Tourenrad geklaut wurde und ich auf dem Flohmarkt ein gutes, altes Schwinn fand. Deshalb ist Schwinn gut.

George holt jetzt feierlich das neu gebaute Hinterrad aus dem Kofferraum seines Autos. George spricht Italienisch mit einem stark amerikanischen Akzent. Er ist hier geboren. Seine Familie stammt aus der Gegend von Como. Ich erzähle George von der Radfahrerkirche auf dem Ghisallo-Pässchen, die auch er kennt, weil sie in der Nähe seiner alten Heimatstadt steht. Und ich zeige ihm die Madonna del Ghisallo, die als Maskottchen am Velo hängt. Dann setzen wir das Rad ein.

Das mit dem Rad, mit Dave, Douglas und George, ist das erste Wunder auf dieser Reise. Wie bloß habe ich dieses Wunder verdient? Überhaupt nicht, es ist eine Gnade. Kann man Wunder überhaupt verdienen? Wenn man sie verdient, sind es keine Wunder. Ich soll nicht immer Fragen stellen, sondern das Wunder in Demut geschehen lassen. Also: Ich nehme es dankbar an und werde für einen Moment fromm.

Ich sage, ich möchte weiterfahren. Dave erklärt mir, im Park von Wilmington könne ich zelten. Ich komme aber gar nicht bis Wilmington. Es ist schon achtzehn Uhr. Ich bin wieder auf der Route 66, und Joliet ist eine weitläufige Siedlung. Ein paar Meilen weiter gibt es so etwas wie ein kleines Stadtzentrum, mit einem Hotel Plaza. Die Herberge ist etwas abgeschossen, sie könnte in Kuba stehen. Das Hotel Plaza ist eine grässliche Absteige, und doch ist es mein Palast. Das Zimmer kostet 31 Dollar, und die sind bar zu zahlen. Kreditkarten werden hier nicht akzeptiert. Das gibt es also auch in Amerika. Für den Schlüssel sind fünf Dollar Pfand zu hinterlegen. Ich frage den Mann an der Réception, wo ich mein Velo unterstellen kann. Er sagt, ich solle es aufs Zimmer mitnehmen. Das ist auch mir am liebsten. Ich kann mir nicht erklären, warum sie einem in ganz Amerika, von Alaska über Kuba und die Anden bis hinunter nach Feuerland, in jedem Hotel sagen, man solle das Velo mit aufs Zimmer nehmen. Das sind Las Américas, und so gefallen sie mir. Wenn ich auf einer Velotour in der Schweiz im Hotel Station mache, sage ich an der Réception manchmal: »Also das Velo nehme ich gleich mit ins Zimmer, dann ist es tipptopp«, und dann fällt der Wirt in Ohnmacht. In Amerika, von Nord bis Süd, ist es selbstverständlich, dass man das Rad mit ins Zimmer nimmt.

Das Mobiliar in Zimmer 18 ist von den Jahrzehnten abgewetzt, aber in schönem Stil, alles ist Art nouveau. Nach der Dusche frage ich den Mann an der Réception, ob es hier ein Restaurant gebe. Er sagt, nein, alle Restaurants hätten schließen müssen wegen Harrah’s. Harrah’s, das ist ein Casino mit Hotel und mehreren Bars und Restaurants, mit all dem bunten Lärm eine Art kleines Las Vegas, denkt sich der USA-Anfänger. Einen Teil der Anlage bildet das Restaurant Mosaic, dessen Existenz der Wirt vom Plaza mir gegenüber glatt unterschlagen hat. Durch die verglaste Front hat man einen Ausblick auf den Des Plaines River. Im Restaurant ist so ein Betrieb, dass ich große Augen und Ohren mache.

Lincoln Highway

Genau genommen war nicht die Route 66, sondern der Lincoln Highway die erste transkontinentale Straße der USA. Wer auf der Route 66 noch nicht genug Highway-Geschichte erfährt, kann deshalb in Plainfield (Ecke Division St./ Lockport Rd.) oder Joliet (Ecke Ottawa St./Cass St.) die Kreuzungen der beiden Straßen finden.

Die Idee für den Lincoln Highway entstand im Jahr 1912. Der Konstrukteur und Unternehmer Carl Fisher (1874–1939) hatte die Vision, eine Straße quer durch die USA zu bauen, wobei er durchaus das Potenzial des Automobils im Auge hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaßen Straßen in den USA zumeist nur lokale Bedeutung und erhielten kein Geld von der Zentralregierung. Im Fernverkehr dominierte die Eisenbahn. Fisher und seine Partner sammelten deshalb durch geschickte PR-Kampagnen zehn Millionen Dollar bei prominenten Spendern: Unter ihnen waren auch US-Präsident Woodrow Wilson und Thomas Edison. Am 31. Oktober 1913 wurde die über 5000 Kilometer lange Schotterpiste von New York nach San Francisco offiziell eröffnet und auf den Namen »Lincoln Highway« getauft.

Obschon es noch Jahre dauern sollte, bis der Highway asphaltiert wurde, erwies er sich als großer Erfolg: Die Zunahme des Autoverkehrs zahlte sich für die Städte am Wegrand zumindest ökonomisch aus. 1916 sprach der US-Kongress zum ersten Mal Mittel für den Straßenbau, von denen der Lincoln Highway profitierte.

Sein Einfluss auf den Straßenbau in den USA war riesig: Dwight Eisenhowers Entscheidung von 1956, ein System von Interstate Highways zu bauen, war stark von seinen Erfahrungen als junger Soldat auf dem Lincoln Highway beeinflusst.

Ironischerweise wurde dem Highway aber gerade sein Erfolg zum Verhängnis: Im Rahmen der Anstrengungen, ein durchgehend nummeriertes Autobahnsystem zu erschaffen, wurde der Lincoln Highway 1926 aufgeteilt – in Illinois zum Beispiel wurde er Teil der heute noch existierenden US Route 30. In den letzten Jahren setzt sich primär die Lincoln Highway Association dafür ein, dass die Geschichte der Straße wiederentdeckt und alte Bauten am Wegrand renoviert werden. Da der Lincoln Highway aber zu einem essenziellen Teil der schnelllebigen amerikanischen Autokultur der Gegenwart geworden ist, dürfte sich dies als schwieriger erweisen als auf der Route 66.

Weitere Informationen

Einführungswebsite zum Lincoln Highway: http://lincolnhighway.jameslin.name.

Land of Lincoln Highway: http://illinoislincolnhighway.tripod.com.

Die meisten Gäste ringsherum an all den Tischen sind schon sehr fett, und doch bestellen sie mehrere Gerichte gleichzeitig. Vor ihnen stehen dann zwei, drei Teller mit großen Haufen darauf, in denen sie abwechslungsweise herumpicken. Die Hälfte der Portionen auf den Tellern bleibt liegen und wird kalt, die Kellnerinnen räumen sie ab, ohne die Gäste zu fragen, ob sie auf ihren Tellern noch weiter herumstochern wollen. Ein großer Teil des Essens landet dann im Schweinekübel. Auch picken und stochern sie hier sehr schnell in ihrem Essen herum. Während ich für eine Mahlzeit am Tisch sitze, wechseln rings um mich herum die Tischbelegschaften drei- oder viermal.

Ich sitze gerne am Tisch. Ich brauche den Tisch zum Essen, aber auch zum Lesen und zum Schreiben. Von zu Hause habe ich bloß einen kleinen Route-66-Führer mitgebracht, wegen der technischen Angaben. Bücher wie John Steinbecks Roman Früchte des Zorns, den man als den Roman der Route 66 betrachten kann, und Franz Kafkas Amerika (Der Verschollene) habe ich vor der Reise gelesen, aus ihnen habe ich bloß die Fotokopien einiger Seiten mitgenommen. Ebenfalls fotokopiert habe ich die Route-66-Seiten aus dem Straßenatlas, auch wenn die schlecht sind und keine Topografie erkennen lassen. Hier im Land unterwegs lese ich alles, was mir in die Finger kommt: Gratisblättchen, Prospekte, die Lokalzeitung. Ich muss mir Disziplin angewöhnen. Jeden Abend vor dem Nachtessen muss ich mein Tagebuch schreiben. Wenn ich es nicht tue, komme ich angesichts der Fülle von Eindrücken unvermeidlich in Verzug.

Manchmal lasse ich mir einen Tisch zuweisen und sage der Kellnerin, ich möchte mit der Bestellung des Essens noch etwas warten, was die Kellnerin jedes Mal verunsichert. Sie kann es nicht glauben, dass da einer eine Stunde oder länger sitzen und in sein Notizbuch schreiben kann. Alle zehn Minuten kommt sie wieder fragen, ob ich bereit sei für die Bestellung. Ich sage: »Not yet, honey«, und wiederhole, dass ich ihr ganz sicher ein Zeichen machen werde, wenn es so weit ist.

Durch die breiten Frontscheiben des Restaurants erblicke ich jetzt zwei Zugbrücken. Ich denke, das sind Museumsstücke, doch jetzt fangen sie sich langsam an zu bewegen, sie gehen auf beiden Seiten des Flusses in die Höhe, und zwei aneinandergedockte Lastkähne fahren vorbei. Ich renne an das Fenster, es ist eine magische Erscheinung, eine Vision in Zeitlupe aus einer anderen Welt und aus einer anderen Epoche. Dabei ist das, was ich sehe, auch Gegenwart. Über Flüsse und Kanäle fahren Kähne vom Michigansee hinüber zum Mississippi und auf diesem nach Süden in den Golf von Mexiko. Diese Kähne sind majestätisch. Ich höre nichts mehr vom Restaurantgeklimper, merke nichts mehr von den Menschen ringsum, bin ein paar Minuten lang in eine andere Welt versunken.

Nach dem Essen gehe ich an die Bar nebenan. Sie heißt Sheer. Am Tresen stehen ein paar Frauen mit schrillen Stimmen. Ungefragt teilen sie mir mit, dass sie gerade ihren Yoga-Abend hatten. Es ist leicht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, weil ja sie angefangen haben. Munter stellen sie mir Fragen, um sich in ihrem Damenturnverein gegenseitig zu zeigen, wie mutig sie sind, doch wenn ich zurückfrage, dann weichen sie aus, werden ganz formell. Durch eine Halle gelangt man hinüber ins Casino. Willkommen in Harrah’s Universum! In einem riesigen Saal stehen Hunderte von Spielautomaten. Fast alle sind besetzt. Den Leuten sieht man an, dass sie eher arm sind und hoffen, hier das große Glück zu machen. Alle paffen sie wie die Irren Zigarette um Zigarette, während doch sonst überall das Nichtrauchen religiöse Formen angenommen hat. Dazwischen gehen Sicherheitsleute, an deren Gürtel Handschellen baumeln, auf und ab. All diese Spielautomaten klingeln, piepsen, summen und glucksen durcheinander, dazu kommt das Stimmengewirr der Menschen, und das ergibt eine starke, seltsame Musik. Es ist vielleicht die Musik des Turmbaus zu Babel oder die Musik des Weltuntergangs. Doch das ist vielleicht bloß ein moralischer Gedanke, eine richtige Nichtraucheridee. Es ist eine schöne, morbide, psychedelische Musik. Man könnte sie mit einem Gerät aufnehmen, später zu Hause abspielen und beim Zuhören von diesem Casino-Amerika träumen. In den Straßen von Joliet bin ich wieder einmal der einzige Fußgänger. Der einzige Fußgänger geht noch in eine abgefuckte Bar auf ein Bier. Dort übertragen sie im Fernsehen einen Boxkampf, der von zwei Frauen ausgetragen wird. Die eine blutet aus der Nase.

Joliet

Joliet, gut sechzig Kilometer von Chicago entfernt, ist eine Stadt mit reicher lokaler Tradition und einem speziellen Platz in der amerikanischen Kultur. Am Illinois & Michigan Canal gelegen, wurde Joliet im 19. Jahrhundert dank der Stahlindustrie als steel town groß. Außerdem sei der Kalkstein aus Joliet in die ganze Welt exportiert worden, erklärt Elaine Stonich vom Joliet Area Historical Museum. Im 20. Jahrhundert führten sowohl der Lincoln Highway als auch die Route 66 durch die Stadt, was Joliet den Namen »Crossroads of America« eintrug. Gerne weist man hier auch darauf hin, dass die Stadt einen entscheidenden Beitrag zur Eroberung des Weltraums geleistet hat: John C. Houbolt, der Entwickler des Moduls, mit dem die NASA auf dem Mond landete, war »a local Joliet boy«, wie Stonich stolz erklärt.