Rückkehr der Wölfe - Eckhard Fuhr - E-Book

Rückkehr der Wölfe E-Book

Eckhard Fuhr

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  • Herausgeber: Riemann
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Wie der mythische Heimkehrer Ängste und Hoffnungen auslöst

150 Jahre lang waren Wölfe in Mitteleuropa ausgerottet. Doch seit der Jahrtausendwende ist Deutschland wieder Wolfsland, und in ganz Europa erobern Wölfe mit stürmischem Elan angestammte Lebensräume zurück. Der Wolf ist zum politischen und medialen Mega-Star geworden.

Eckhard Fuhr berichtet über die neue Konkurrenz für die Jäger und die Not der Schäfer, ihre Herde zu schützen, ebenso wie über das mythologisch gegründete Bild des Wolfs in der Volksseele. So entsteht ein umfassendes Bild des Problems, und es wird deutlich, dass wir uns nicht nur mit der physischen Präsenz der Wölfe auseinandersetzen müssen. Die größere Herausforderung ist die mentale: zuzulassen, dass in unserem durchorganisierten und gut kontrollierten mitteleuropäischen Biotop die wilde Natur immer noch mächtig ist.

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Seitenzahl: 214

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Eckhard Fuhr

Rückkehr der Wölfe

Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert

Bildnachweis für die Fotos im Bildteil

Sebastian Koerner/NDR –Naturfilm: 1, 3, 7, 11, 13

Sebastian Koerner/NDR: 2, 5, 6, 10, 12, 14

Sebastian Koerner/lupovision.de: 4, 8, 9

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2014 Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Bildredaktion: Dietlinde Orendi

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-14343-5

www.riemann-verlag.de

Für Julia, Jakob und Luise.

Inhalt

Prolog: Auf den Wolf gekommen

Letzte Wölfe

Rückkehr eines Superjägers

Forscher und Manager

Wölfe und Schafe

Wölfe und Jäger

Wolfsküsse: Wölfe und Frauen

Wolfsbisse: Gefährliche Wölfe

Wolf und Hund

Wolfsbusiness: Abschied vom Alpha-Wolf

Mit Wölfen leben

Dank

Literatur

Bildteil

Prolog: Auf den Wolf gekommen

Die Herbstsonne stand schon am Himmel. Der Hirsch, der im Morgengrauen auf der Lichtung geäst hatte, war längst in den Wald gezogen. Seit Stunden saßen wir regungslos in unserem Versteck, eingepackt in zottelige Tarnanzüge, in denen es uns jetzt mehr als wohlig warm wurde. Meinen ersten Wolf sah ich, als ich mir hinter der Gesichtsmaske den Schweiß aus den Augen gerieben hatte. Die Nase am Boden, kam er genau dort aus dem Wald, wo vor einer Stunde der Hirsch verschwunden war. Er hatte es nicht eilig, und er überquerte die Wiese auch nicht besonders zielstrebig. Wie ein schlechtgelaunter Teenager trödelte er in den Tag hinein. Etwa ein halbes Jahr alt musste der im Frühjahr geborene Jungwolf sein. Der dunkle, graubraune Winterbalg, den er früh angelegt hatte, ließ ihn älter erscheinen. Das Wölfchen wirkte schon wie ein Wolf. Nach einigen Minuten folgte ihm ein zweiter.

Als die Bühne leer war, löste sich meine Benommenheit, Zivilisationsgeräusche drangen an mein Ohr. Wir waren im Lausitzer Braunkohlerevier auf die Wolfspirsch gegangen, nicht weit vom Kraftwerk »Schwarze Pumpe«. Mein Begleiter, der Biologe und Tierfilmer Sebastian Koerner, packte Kamera und Stativ zusammen. Für ihn sind solche Wolfsbeobachtungen nichts Spektakuläres. Hundertmal hatte er solches erlebt. Ein Großteil der Filmaufnahmen, die es von wildlebenden Wölfen in Deutschland gibt, stammt von ihm. Für mich war der Anblick der Wölfe im Morgenlicht der Anstoß, die Arbeit an diesem Buch endlich zu beginnen.

Ich wollte deutsche Wölfe mit eigenen Augen gesehen haben, bevor ich über sie schreibe. Nicht dass ich an ihrer Existenz gezweifelt hätte. Aber ich dachte mir, dass man sich mit einem eigenen Bild im Kopf sicherer in einem Gebiet bewegt, wo Zerrbilder, Wunschbilder oder Phantombilder besonders üppig gedeihen. Und ich wollte natürlich auch wissen, ob eine Begegnung mit Wölfen tatsächlich ein so aufwühlendes, ja erschütterndes Erlebnis ist, wie es vielfach geschildert wird.

Nahe war ich den Wölfen schon öfter gekommen. Doch gezeigt hatten sie sich mir noch nie. Bei einer winterlichen Jagd auf dem niedersächsischen Truppenübungsplatz Munster, wo 2012 ein Wolfspaar Junge aufzog und damit ein Rudel begründete, liefen die Wölfe durchs Treiben. Von vielen Jagdteilnehmern wurden sie gesehen. Bei mir kamen sie nicht vorbei, obwohl ich auf dem Weg zu meinem Stand zahlreiche Wolfsfährten im Schnee gefunden hatte. Sollte mein Stöberhund Kontakt zu den Wölfen gehabt haben, war der friedlich verlaufen, denn Viko fand sich wohlbehalten bei mir ein, wenn auch erst Stunden nach Ende der Jagd.

Bei einer sommerlichen Wolfspirsch auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow in Sachsen-Anhalt kam ich immerhin in Hörweite der Wölfe. Klaus Puffer, Förster und Wolfsbeauftragter des für den Wald auf dem Militärgelände zuständigen Bundesforstbetriebs, hatte mir eine Ansitzleiter in der Nähe eines kleinen Tümpels zugewiesen, wo er oft schon spielende Welpen beobachtet hatte. In den langen Stunden bis Sonnenuntergang zeigte sich noch nicht einmal ein Wildschwein. Gerade wollte ich mich zu dem vereinbarten Treffpunkt auf den Weg machen, als mich ein dumpfes, dann schnell anschwellendes Heulen erstarren ließ. Ein zweiter Wolf fiel ein. Zweistimmig schraubte sich das Heulen des Paares in die Höhe. Drei-, viermal wiederholte sich das, bis ein vielstimmiges gellendes Winseln den Wolfschor vervollständigte. Die Familie absolvierte ihr Begrüßungsritual, gleich nebenan, so kam es mir vor. Aber mit den Augen erwischte ich nicht einmal die Schwanzspitze eines Wolfes. In der Lausitz erst, wo das deutsche Wolfswunder um die Jahrtausendwende herum seinen Anfang nahm, sollte es so weit sein. Am meisten beeindruckte mich die Gelassenheit der Wölfe. Die Begegnung mit ihnen war kein Erweckungserlebnis, sondern eine Ernüchterung im besten Sinne: Die Wölfe selbst sind das klare Kontrastprogramm zu den Hysterien, die sie bei ihren menschlichen Zeitgenossen mitunter entfachen.

Es ist allerdings schwer, nüchtern zu bleiben bei der Beschäftigung mit Wölfen. Wie kein anderes Tier findet der Stammvater unserer Hunde direkten Zugang zu unseren Emotionen. Menschen und Wölfe waren, seit sie sich in den eiszeitlichen Steppen Eurasiens begegneten, aufeinander bezogen. Sie teilten denselben Lebensraum, jagten dieselben Beutetiere, wendeten gleiche Jagdstrategien an, ähnelten sich in ihrem Sozialverhalten und entwickelten deshalb ein »Verständnis« füreinander, das es so in keiner anderen Mensch-Tier-Beziehung gibt. Wir werden uns noch ausführlich mit der Frage befassen, was das für die menschliche Kulturentwicklung bedeutet. Offensichtlich ist jedenfalls, dass es um Elementares geht, wenn der Wolf wiederauftaucht. Er lässt niemanden gleichgültig. Die Zehntausende von Jahren währende Sonderbeziehung zwischen Mensch und Wolf erklärt die gewaltige Resonanz, die seine Rückkehr in die mitteleuropäische Kulturlandschaft findet. Es gibt noch andere solcher Rückkehrer, etwa den Biber, den Seeadler, den Luchs, die Wildkatze oder die Kegelrobbe, deren Anwesenheit nicht folgenlos bleibt für Landwirtschaft, Jagd oder Fischerei. Aber keiner polarisiert so wie der Wolf, um keinen gibt es ein solches Geschrei. Der Wolf ist zum medialen Megastar geworden. Naturnutzer wie Schafhalter oder Jäger stellt er vor manchmal schwer lösbare Probleme. Naturschützer feiern seine Rückkehr als Erfolg des Artenschutzes und können doch ihre Verblüffung über die stürmische Wiederausbreitung dieser in den meisten Ländern Europas offiziell immer noch vom Aussterben bedrohten Art nicht verbergen. Naturromantiker begrüßen den Wolf als Boten angeblich unberührter Wildnis und übersehen dabei gern, dass es nicht die bei uns ohnehin nicht mehr vorhandene Wildnis ist, die den Wolf anlockt, sondern die durch intensive Landwirtschaft auf einen historischen Höchststand gefütterten Populationen seiner Beutetiere, vornehmlich Reh, Rothirsch und Wildschwein. Städter lieben den Wolf mehr, als das die Landbevölkerung tut, die ihn zum direkten Nachbarn hat. Ältere hegen ihm gegenüber größere Bedenken als Jüngere. Der Osten Deutschlands – Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern – wird in wenigen Jahren flächendeckend vom Wolf besiedelt sein. Im Süden und Westen ist er bislang nur zeitweiliger Gast, das aber immer öfter. Die westlichsten Rudelterritorien liegen – Stand 2014 – in der Lüneburger Heide.

Ost und West, Stadt und Land, Schützen und Nutzen, Natur und Kultur – man muss diese Polaritäten nur aufrufen, um zu verstehen, was einen Journalisten, der sich seit Jahrzehnten vornehmlich mit Politik und Kultur in Deutschland befasst, am Wolf interessiert. Wenn man dann noch bedenkt, dass dieser Journalist ebenfalls seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Jäger und Hundefreund ist, dann wird man sich nicht mehr darüber wundern, dass am Wolf für ihn kein Weg vorbeiführt.

Wir leben nicht mehr wie unsere steinzeitlichen Vorfahren in einer animistisch belebten Natur. Unsere Beziehungen zu Tieren sind oft eher sentimental als spirituell. Der Wolf aber, dieses uralte Gegenüber, stellt uns auch heute noch die Frage, wer wir sind und welche Rolle wir beanspruchen in dem, was die einen Schöpfung, die anderen Natur und wieder andere Biosphäre nennen. Die Wölfe eröffnen uns die Chance, in unserem Naturverständnis klüger, ehrlicher und realistischer zu werden.

Aufmerksam auf die Wölfe wurde ich bald nach der deutschen Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt meiner journalistischen Arbeit standen zwar die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen dieser Zeitenwende. Aber gewissermaßen aus dem Augenwinkel nahm ich doch wahr, dass sich auch in der Natur so etwas wie eine Wende anbahnte. Anfang der Neunzigerjahre häuften sich die Berichte über Wölfe, die aus Polen kommend bis in die Nähe der alten und neuen Hauptstadt Berlin vordrangen und auf dem Autobahnring zu Tode kamen. Auch geschossen wurden zuwandernde Wölfe immer wieder, obwohl seit dem 3. Oktober 1990 in der ehemaligen DDR das deutsche und europäische Naturschutzrecht galt, nach dem der Wolf eine streng geschützte Art ist, für deren Erhaltung und Förderung sich die Politik aktiv einsetzen muss. Als ich damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meinen ersten Artikel über die Rückkehr der Wölfe schrieb – Überschrift: »Die Wölfe kommen« –, erklärte mich mancher Leserbriefschreiber zum Spinner. Genauso gut hätte man behaupten können, die Deutschen wollten die Monarchie wieder einführen oder bekämen ihre Kolonien zurück.

Für die große Mehrheit der Deutschen war vor zwanzig Jahren die Vorstellung, ihr Land könnte wieder von Wölfen besiedelt werden, schlicht abwegig. Man stand doch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert und erlebte gerade die Anfänge einer digitalen Revolution. Wölfe gab es seit mehr als hundert Jahren in Deutschland nicht mehr. Die letzten ihrer Art in den Vogesen, in der Eifel oder in Sachsen wurden um 1900 erlegt. Schon das waren nur noch versprengte Einzeltiere und Durchwanderer. Gut, in Ostpreußen waren sie nie gänzlich verschwunden. Aber wie lange schon war das alte Ostpreußen versunken? Nein, Wölfe passten einfach nicht in die Zeit.

Die Wölfe sahen das anders. Als hätten sie einen Sinn für historische Dramaturgie, begannen sie ihre Landnahme westlich von Oder und Neiße just in dem Moment, in dem Parlament und Regierung ihre Arbeit in Berlin aufnahmen und sich der Fokus politischer und kultureller Öffentlichkeit vom Rhein an die Spree verschob. Die Veröstlichung Deutschlands und die Verwestlichung der Wölfe trafen zusammen, als ein Wolfspaar auf dem Truppenübungsplatz Muskauer Heide in der sächsischen Oberlausitz im Frühjahr 2000 Welpen großzog, nach mehr als einem Jahrhundert die ersten in Deutschland geborenen Wölfe. Und die ersten Wölfe überhaupt, die offiziell willkommen waren. Nicht mehr ihre Ausrottung, sondern die Aussöhnung mit ihnen stand plötzlich auf der politischen Agenda. Hundertfünfzig Jahre lang hatte kein Wolf eine Überlebenschance in Deutschland. Nun warteten überall Empfangskomitees auf ihn. Kein Umweltminister kann es sich leisten, nichts für den Wolf zu tun. Bundesländer, in denen Wölfe noch nicht regelmäßig vorkommen, werden zu Wolfserwartungsländern erklärt, damit an Runden Tischen und auf Bürgerversammlungen Wolfsmanagementpläne verhandelt werden können. Wem es gelingt, Naturschutzverbände und Jäger, Tierschützer und Landwirte im Wolfsmanagement zusammenzuspannen, der hat sein artenschutzpolitisches Meisterstück geliefert. Jeder zuständige Minister möchte diese Urkunde im Amtszimmer hängen haben.

Verwunderlich ist das alles nur auf den ersten Blick. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, wird einem schnell klar, dass der Wolf immer für Haupt- und Staatsaktionen gut war. Er war, bei Römern und Türken etwa, in die Gründungsmythen großer Reiche eingeschrieben. Im christlichen Abendland aber diente er, wenn Hunnen, Muselmanen, Ungarn oder Slawen gerade nicht zur Hand waren, als Feind, gegen den kirchliche und weltliche Herren die göttliche Ordnung oder die moderne Zivilisation verteidigten. Wir werden noch sehen, wie sich von Karl dem Großen bis Napoleon dieses Motiv des Krieges gegen die Wölfe als Mittel der imperialen Durchdringung Europas spannte. Vor allem nach großen Verheerungen wie dem Dreißigjährigen Krieg oder den napoleonischen Kriegen, in Zeiten also, in denen die Wölfe sich verbreiten konnten, weil die Menschen damit beschäftigt waren, sich gegenseitig umzubringen, ging die Wiederherstellung staatlicher Ordnung einher mit Vernichtungsfeldzügen gegen die Wölfe. Noch nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zeigte sich dieses Muster, auch wenn die Jagden nur noch einzelnen Tieren galten.

Heute haben sich diese Verhältnisse umgekehrt. Funktionierende Staatlichkeit erweist sich nicht mehr in der Fähigkeit, den Wolf zu vernichten. Im Gegenteil: Der Staat muss beweisen, dass er den Wolf schützen, dass er gesellschaftliche Akzeptanz für ihn schaffen und widerstreitende Interessengruppen auf dem Weg des Kompromisses zusammenführen kann. Überall in Europa erobern Wölfe mit stürmischem Elan angestammte Lebensräume zurück. Zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit unternehmen die Europäer nichts dagegen. Das ist für beide Seiten etwas völlig Neues. Was daraus wird, ist offen. Ich halte mich selbst nicht für einen Wolfsromantiker. Aber ich muss zugeben, dass mich Weniges so sehr fasziniert wie dieses Experiment. Der Nachbar Wolf ist für mich Teil jenes europäischen Traums, der seit 1989 mühsam und mit Rückschlägen, aber eben doch Stück für Stück Wirklichkeit wird. Ohne den Wolf wäre Europa ärmer.

Letzte Wölfe

»Seine Vorsicht und Schnelligkeit spotteten allen Nachstellungen«, heißt es in einem Zeitungsbericht über die Erlegung des »Tigers von Sabrodt« vom 28. Februar 1904. Jahrelang hatte dieser Wolf in der Lausitz seine Verfolger genarrt. Doch nun zog sich die Schlinge zu: »Nachdem er in letzter Zeit wiederholt gespürt worden war«, fährt der Bericht fort, »meldete am Sonnabend Herr Revierförster Dommel in Neustadt der Königlichen Oberförsterei sichere Anzeichen seiner Anwesenheit, worauf sofort eine große polizeiliche Jagd veranstaltet wurde. Der frisch gefallene Spurschnee ermöglichte es, der Fährte des Tieres zu folgen, zahlreiche aufgebotene Wagen brachten Schützen und Treiber schnell der Spur nach, sodass es am Nachmittag gelang, das Raubtier auf Revier Tschelln einzukreisen. Herr Oberförster Dutmer-Bohla kam zum Schuss und verwundete es, jedoch wohl nicht tödlich, weil er auf eine große Entfernung schoss. Die verwundete Bestie wandte sich nach einer offenen Fläche, wo Herr Förster Brehmer-Weißkollm auf etwa 30 Meter sie glücklich traf. Das Tier flüchtete noch bis zu einem nahen Dickicht, wo man es bald verendet fand.« Die Jagdzeitschrift Wild und Hund kommentierte diese erfolgreiche Wolfsjagd mit Genugtuung: »Seit nunmehr 100 Jahren ist in der Lausitz im Herzen Deutschlands kein Wolf mehr geschossen worden, und heute, oder vielmehr am 27.2.1904, wird eine solche Bestie, die nachweislich fünf Jahre ihr Dasein gestiftet hat, ebendort zur Strecke gebracht. Dass vier Jahre vergehen mussten, ehe man dem Satan das Handwerk legte, das ist unverzeihlich. Nun ist Gott sei Dank Ruhe, und den Erfolg werden wir recht bald an unserem Wildstand merken.«

Der als »Tiger von Sabrodt« berühmt und berüchtigt gewordene Wolf war eine Wölfin, eine recht kräftige, wenn man den zeitgenössischen Berichten glaubt. Ihre Körperlänge betrug 160 Zentimeter, die Schulterhöhe 80 Zentimeter. Sie wog 41 Kilogramm. Ihr Kadaver wurde im Schützenhaus von Hoyerswerda ausgestellt. Förster Brehmer aus Weißkollm erhielt eine Abschussprämie von 100 Mark. Über das Revier Tschelln, in dem dieser – vorerst – letzte deutsche Wolf zur Strecke kam, ist der Nochtener Braunkohletagebau hinweggegangen, in dessen Nachfolgelandschaften längst wieder Wölfe heimisch sind. Der »Tiger« steht heute noch ausgestopft im Stadtmuseum von Hoyerswerda, das im Schloss untergebracht ist. Das etwas abgenutzt wirkende Präparat tritt dem auf Wolfsspuren Reisenden – die Lausitz erhofft sich manches von solchem Tourismus – heute als eine Art Memento Lupi entgegen. »Bedenke, Mensch«, sagt es, »dass auf die letzten Wölfe die ersten Wölfe folgen, die wiederkommen.« Hundert Jahre Abwesenheit sind nichts in der langen gemeinsamen Geschichte von Mensch und Wolf.

Weil die Wiederbesiedlung Deutschlands durch die Wölfe in der Lausitz begann, gewann die 1904 dort erlegte Wölfin als »letzter deutscher Wolf« einen etwas überhöhten Status. Es war eben eine zufällige symbolische Fügung, dass die wölfische Renaissance genau dort ihren Ausgang nahm, wo der Ausrottungsschlusspunkt gesetzt worden war. In der Sache muss man die Aussage, bei Hoyerswerda sei 1904 der letzte deutsche Wolf geschossen worden, jedoch relativieren. Sie trifft nur für das Territorium der heutigen Bundesrepublik zu. Im Elsass, damals dem Deutschen Reich zugehörig, wurden 1911 die letzten Wölfe geschossen. Und aus Ostpreußen konnten sie wie gesagt trotz heftigster Bekämpfung nie völlig verdrängt werden.

Die zweite Einschränkung, die gemacht werden muss, ist zeitlicher Natur. Das heutige Deutschland war nach den Schüssen des Försters Brehmer im Revier Tschelln nur bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wolfsfrei. Nachkriegszeiten waren immer Wolfszeiten. Und so tauchten nach 1945 Wölfe, wenn auch nur vereinzelt, in Deutschland westlich von Oder und Neiße auf. Sie wurden alle erlegt. Die Szenen wiederholen sich. Wie ein halbes Jahrhundert zuvor in der Lausitz versetzen einzelne Tiere ganze Regionen in Aufregung. Wilde Spekulationen und martialische Namen für die »Untiere« machen die Runde. Dass ein umherziehender Wolf etwas Normales ist, passt nicht in die Vorstellungswelt der Deutschen im 20. Jahrhundert. Auf groß angelegten Jagden rückt man den Wanderwölfen aus dem Osten zu Leibe. Mit dem Tod des Wolfes sind Ordnung und Normalität wiederhergestellt. Aufbewahrt sind die Erinnerungen an solche Ereignisse in Heimatmuseen und den Schriften von Lokalhistorikern. Oft künden auch Erinnerungssteine von diesen Wolfsjagden.

Einer der jüngsten steht nahe bei dem Fläming-Ort Mehlsdorf im südlichen Brandenburg. Hier erlegte am 24. März 1961 der Genossenschaftsbauer Werner Schmidt, Mitglied des Jagdkollektivs, den »Würger von Ihlow«, benannt nach einer benachbarten Ortschaft. Ausführlich geschildert werden diese und andere Wolfsjagden in der vom brandenburgischen Umweltministerium herausgegebenen Broschüre Wölfe in Brandenburg – Spuren im märkischen Sand. Der »Würger« hatte im Winter 1960/61 die ländliche Bevölkerung in den Kreisen Herzberg, Jessen, Luckau, Liebenwerda und Jüterbog beunruhigt. Es machte das Gerücht die Runde, ein entlaufener Zirkuslöwe vergreife sich am Weidevieh. Man zog Professor Wolfgang Ullrich, den prominenten Direktor des Dresdner Zoos, zurate, der die Spuren und Risse einem Wolf oder wildernden Hund zuordnete. Am 24. März schließlich wurde das Tier im Mehlsdorfer Busch gesichtet. Jäger, Volkspolizisten und Treiber umstellten das mit viel Schilf bewachsene Gebiet. Werner Schmidt traf auf den Wolf und tötete ihn mit mehreren Schüssen aus seiner Schrotflinte, einen stattlichen Rüden von 85 Zentimeter Schulterhöhe und 70 Kilogramm Gewicht. Kaum passte er in den Kofferraum des Trabis. Die Bevölkerung feierte den Jagderfolg. In Ihlow wurde ein Wolfsball gegeben. Der »Würger« kam ausgestopft ins Heimatmuseum von Jüterbog.

Nicht nur der Osten, auch der Westen hatte nach dem Zweiten Weltkrieg seine Wolfsgeschichten. Die bekannteste ist die des »Würgers vom Lichtenmoor«, der 1947/48 in der Lüneburger Heide um Fallingbostel hundert Schafe und 58 Rinder riss, wobei nicht ganz klar ist, ob die wirklich alle auf sein Konto gingen. Es könnte sich zum Teil auch um makabre Formen von Schwarzschlachtung gehandelt haben, wie Utz Anhalt in seinem Buch Wolf und Mensch andeutet. Auch hier dachte man zunächst nicht an einen Wolf. Ein Bauer wollte einen Löwen gesehen haben, worauf der Tierpark Hagenbeck einen erfahrenen Großwildjäger in die Heide schickte, was im besetzten Deutschland so kurz nach dem Krieg ein durchaus bizarrer Vorgang gewesen sein muss. In der von dem Großwildjäger gestellten Falle fing sich allerdings nur ein Dachs, was die Gemüter nicht beruhigen konnte. Eine Lokalzeitung schrieb: »Der Würger ist überall. Mägde weigern sich, allein auf die Weiden zu gehen, die Bauern bewaffnen sich mit Knüppeln.« Schließlich ordnete die britische Militärregierung eine Treibjagd an, für die deutschen Jägern drei Jahre nach Kriegsende sogar wieder Schusswaffen ausgehändigt wurden. Das Aufgebot von 1500 Treibern war gewaltig. In einem Getreidefeld trafen britische Soldaten auf das Untier und eröffneten das Feuer. Obwohl von Kugeln durchsiebt, brach es nicht zusammen.

Es handelte sich um einen ausgestopften Löwen, den zwei Reporter aus Hannover aufgestellt hatten. Die niedersächsische Landeshauptstadt war damals eine deutsche Zeitungsmetropole. Die neu gegründeten Magazine Spiegel und Stern hatten hier ihren Sitz. Aggressiven Boulevardjournalismus bot das Wochenblatt Die Straße. Man war nicht zimperlich, wenn es darum ging, die britische Militärregierung vorzuführen. Das für die Briten peinliche Detail mit dem ausgestopften Zirkuslöwen wurde damals in der umfangreichen Berichterstattung über die größte Treibjagd, die Niedersachsen bis heute erlebt hat, jedoch nicht erwähnt. So weit reichte der Journalistenmut vor Besatzerthronen denn doch nicht. Erst die Wochenzeitung Die Zeit deckte den bösen Löwenscherz sechzig Jahre nach dem Geschehen auf. Am 27. August 1948 schoss dann ein Jäger ganz unspektakulär vom Hochsitz aus einen großen Wolfsrüden. Danach hörten die Viehrisse auf. Sie hatten allerdings schon nach der Währungsreform nachgelassen, als man Fleisch wieder kaufen konnte. Möglicherweise richtete der Wolf, der zwanzig Jahre später einmal für kurze Zeit durch die Lüneburger Heide streifte, größeren Schaden an. Wie Wolf Herre im Wolfskapitel von Grzimeks Tierleben berichtet, hatte die Nachricht vom Auftauchen dieses Wolfes gravierende Folgen für das Gastgewerbe. Tausende Feriengäste bestellten ihre Zimmer ab.

Im Jargon der Mediengesellschaft könnte man sagen, dass die Zeugen solcher Wolfsepisoden des 20. Jahrhunderts sich vorkamen, als seien sie »im falschen Film«. Diese späten Wolfsjagden waren gewissermaßen Nachhutgefechte eines Krieges, der eigentlich schon seit einem Jahrhundert beendet war. Den Zeitgenossen war der Zusammenhang mit diesem Hauptgeschehen nur noch schemenhaft klar. Sie empfanden das Auftauchen von Wölfen ganz einfach als unzeitgemäß, als einen Rückfall in eine längst überwundene Vergangenheit, an die es im kollektiven Bewusstsein höchstens noch undeutliche Erinnerungen gab. Dass Wölfe zum harten Alltag des bäuerlichen Lebens gehörten, war seit drei, vier Generationen vergessen. Denn der finale Ausrottungskrieg gegen die Wölfe in Mitteleuropa war letztlich schon durch die Französische Revolution eingeläutet worden. Die in ihrem Gefolge entstehenden modernen Staaten verfügten zum ersten Mal in der Geschichte über die technischen und administrativen Mittel, den Wölfen wirklich nachhaltig zu Leibe zu rücken. Der französische Kaiser Napoleon modernisierte die mit tausendjähriger Geschichte auf Karl den Großen zurückgehende Institution der louveterie, eines flächendeckenden Netzes von Wolfsjägern. Der fränkisch-römische Kaiser hatte im Jahre 813 seine Grafen angewiesen, Wolfsjäger, luparii, zu bestellen, um die Wölfe systematisch zu bekämpfen. Die louveterie hatte unter den französischen Königen jahrhundertelang Bestand und entwickelte sich zu einer Art Orden. Napoleon erneuerte nach tausend Jahren ihren operativen Auftrag und wies die Präfekten an, in jedem Département zwei professionelle Wolfsjäger zu ernennen. Wenige Jahre später, Napoleon war geschlagen, setzte auch Preußen zum Vernichtungsschlag gegen die Wölfe an. Den aus Russland zurückflutenden napoleonischen Truppen waren Wölfe gefolgt, und in deutschen Landen hatten sich in einem kriegerischen Jahrzehnt die Wölfe kräftig vermehrt, sodass, ein letztes Mal in der mitteleuropäischen Geschichte, von einer »Wolfsplage« die Rede war. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erhob mit dem Jagdregal vom 4. Januar 1814 die Wolfsjagd zur Staatsbürgerpflicht: »Wir geben kund: Es sollen alle ackerbautreibenden Einsassen, desgleichen diejenigen, welche gar keinen Acker besitzen, jedoch Pferde, Rindvieh und Schafe halten, zu den Wolfsjagden Hülfe leisten, und die davon nach Provinzial-Verfassungen statt gehabten Befreiungen gänzlich aufhören.«

Dreißig Jahre später war es in Deutschland mit den Wölfen im Großen und Ganzen vorbei. Die meisten Gedenksteine, die an letzte erlegte Wölfe erinnern, wurden zwischen 1840 und 1850 gesetzt. 1841 fiel der letzte Wolf im Taunus bei Camberg, 1845 im Westerwald, 1847 im Bayerischen Wald. In der Schorfheide, einem der Hofjagdreviere der Hohenzollern, war der »letzte Wolf« schon 1809 erlegt worden. Im märkischen Blumenthalwald bei Prötzel kam 1823 Bürgermeister Fubel erfolgreich zu Schuss, und im südbrandenburgischen Doberluger Forst brachten der Jägerbursche Schumann, Bäckermeister Berger und Stadtbrauer Kother 1846 einen letzten Wolf zur Strecke, wie der Inschrift einer Gedenksäule zu entnehmen ist, die vom Heimatverein Doberlug-Kirchhain 1995 erneuert wurde, nachdem die Originalsäule längst verrottet war.

Beim Blick auf dieses kurze und heftige Finale der Ausrottungsgeschichte darf man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass sich Wolfspopulationen an der westlichen und östlichen Peripherie des preußisch-deutschen Reiches hartnäckig noch über Jahrzehnte hielten. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Grenzen ihres Lebensraums stark davon bestimmt waren, wie weit die Staatsmacht reichte. Noch 1871 wurden von der linksrheinischen preußischen Provinzregierung in Koblenz 23 Schussgelder für erlegte Wölfe ausgezahlt. In der Eifel kam der letzte Wolf erst 1888 zur Strecke, im Saarland 1891.

Ambivalent ist denn auch die Bilanz, die in der 1890 erschienenen Ausgabe von Brehms Tierleben gezogen wird. Die Passage sei etwas ausführlicher zitiert, weil sie viele interessante Details enthält, aber auch einen Eindruck von dem »Sound« des Wolfsdiskurses an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gibt. Der Verweis auf menschliche Todesopfer gehört selbstverständlich dazu. Auf dieses Thema werden wir noch gesondert eingehen. Nun also Brehm, 1890:

»Der Wolf wird zwar allmählich mehr und mehr zurückgedrängt; doch ist der letzte Tag seines Auftretens im gesitteten Europa anscheinend noch fern. Im vorigen Jahrhunderte fehlte das schädliche Raubtier keinem größeren Waldgebiete unseres Vaterlandes, und auch in diesem Jahrhunderte sind hier nach amtlichen Angaben immerhin noch Tausende erlegt worden. Innerhalb der Grenzen Preußens wurden im Jahre 1817 noch 1080 Stück geschossen. In Pommern allein wurden erlegt im Jahre 1800: 118, 1801: 109, 1802: 102, 1803: 186, 1804: 112, 1805: 85, 1806: 76, 1807: 12, 1808: 37, 1809: 43 Stück. Dann wurden sie seltener, kamen aber wieder in großer Menge mit dem aus Russland fliehenden französischen Heere, das ihnen Leichen genug zum Fraße lieferte, ins Land. Im Posenschen wurden von ihnen 1814–15 wieder 28 Kinder und 1820 noch 19 Kinder und Erwachsene zerrissen. Gegenwärtig sind Wölfe in unserem Vaterlande sehr selten geworden; doch verlaufen sich alljährlich noch welche aus Russland, Frankreich und Belgien nach Ost- und Westpreußen, Posen, den Rheinlanden, in strengen Wintern auch nach Oberschlesien, unter Umständen bis tief in das Land … In den elf Jahren 1872–82 wurden in den Reichslanden [Elsass und Lothringen] 459 Wölfe getötet, und noch 1885–86 wurden in Lothringen 32, im Elsass 7, in den Rheinlanden 2, in Ostpreußen und Brandenburg je 1 Stück zur Strecke gebracht, und Ende 1886 trieb sich an der Seester Höhe in Ostpreußen (bei Goldap) ein sehr starkes Rudel Wölfe umher.«

Die »letzten Wölfe« Deutschlands kamen mit Pulver und Blei zur Strecke. Zur staatlichen Organisation der Wolfsjagd trat im 19. Jahrhundert die rasante technische Verbesserung der Feuerwaffen und ihre breitere Verfügbarkeit in der Bevölkerung. Im Zuge der Französischen Revolution wurden die adeligen Jagdprivilegien mehr und mehr aufgeweicht und in den deutschen Staaten von der Frankfurter Nationalversammlung 1848 gänzlich aufgehoben, ein revolutionärer Schritt der bürgerlichen Revolution, der im Gegensatz zu vielen anderen Errungenschaften bei politischen und wirtschaftlichen Freiheiten nie revidiert wurde. Die bürgerliche und bäuerliche Jagd hat die Effizienz der Wolfsbekämpfung sicherlich gesteigert. In feudalen Zeiten dagegen war die als Fron erzwungene Beteiligung an der Wolfsjagd, das sogenannte »Wolfslaufen«, eine Pflicht, die Bürger- und Bauersleute am liebsten umgingen, obwohl diese Jagd auch in ihrem und nicht nur im Interesse des fürstlichen Jagdherren lag. Solche Jagden, meist im tiefen Winter abgehalten, dauerten tage-, manchmal wochenlang. Riesige Gebiete wurden »eingelappt«; das heißt, es wurden Schnüre, an denen Stofffetzen befestigt waren, von Baum zu Baum gespannt. »Durch die Lappen« gehen Wölfe nur sehr ungern. Ein Riesenaufgebot an Treibern hatte sie dann in dem eingelappten Gebiet aufzuscheuchen und in Netze zu treiben. Hatten sie sich dort gefangen, wurden sie mit Spießen, Knüppeln und Äxten getötet.