Rückkehr nach Rogenau - Christine Rummel - E-Book

Rückkehr nach Rogenau E-Book

Christine Rummel

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Beschreibung

Iris und Pippa kehren für die Herbstferien zurück nach Rogenau auf den Oswaldhof. Ihre Pläne könnten nicht unterschiedlicher sein. Iris will die knapp bemessene Zeit mit ihrem Freund genießen. Pippa hingegen stürzt sich für einen Modelauftrag in ein turbulentes Abenteuer voller Gefahren. Währenddessen erfahren Iris und Flori von zwei Kabardinerstuten, die ein neues Zuhause suchen. Ein klarer Fall für den Oswaldhof, so scheint es. Doch dafür müssen unvorhergesehene Hindernisse überwunden werden.

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Iris & Pippa

Band 1: Abenteuer am Alpenrand

Band 2: Rückkehr nach Rogenau

Für Dominik

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 IRIS

2 PIPPA

3 IRIS

4 PIPPA

5 IRIS

6 PIPPA

7 IRIS

8 PIPPA

9 IRIS

10 PIPPA

11 IRIS

12 PIPPA

13 IRIS

14 PIPPA

15 IRIS

16 PIPPA

17 IRIS

18 PIPPA

19 IRIS

20 PIPPA

21 IRIS

22 PIPPA

23 IRIS

24 PIPPA

25 IRIS

26 PIPPA

27 IRIS

28 PIPPA

29 IRIS

30 PIPPA

31 IRIS

32 PIPPA

33 IRIS

34 PIPPA

35 IRIS

36 PIPPA

37 IRIS

38 PIPPA

39 IRIS

40 PIPPA

EPILOG

PROLOG

Pippa stürmte aus dem elterlichen Büro und verschanzte sich in ihrem Dachzimmer. Sie suchte Zuflucht auf dem breiten Fensterbrett und lehnte den Kopf an die kühle Scheibe. Mit starrem Blick zerknüllte Pippa den Schein, den ihr Vater ihr soeben überreicht hatte. Einmal mehr lediglich die Hälfte der vereinbarten Summe. Du musst diese Erziehungsmaßnahme verstehen, hallten seine Worte in ihr nach. „Ach ja?“, murmelte sie bitter. Mit der Taschengeldkürzung erreichte er nichts Positives, sondern machte im Gegenteil seine Tochter zur Außenseiterin.

Sie strich den Schein glatt, steckte ihn ein und rief den Gruppenchat ihrer einst heißgeliebten Clique auf. Pippas Augen brannten. Die so-genannten Freunde überschlugen sich mit Ideen für die Nachmittage und Wochenenden. Kino, Starbucks, Escape Rooms: als ob das alles nichts kostete. Pippas Vorschläge, gemeinsam zu kochen oder auf dem Sofa einen Film zu schauen, ernteten auslachende Smileys und gedankenlose Kommentare. Welche Jugendlichen wollten sich selbst in die Küche stellen, obwohl sie es sich leisten konnten, in angesagten Bist-ros bedient zu werden? Sicher existierten sie, allerdings nicht in Pippas Umfeld.

Da ploppte auf dem Bildschirm die Meldung auf, dass Pippas Instagram-Account einen neuen Follower gewonnen hatte. „Interessierst du dich für mich oder willst du nur meine Aufmerksamkeit für dich wecken?“, fragte sie leise. Das Social-Media-Portal hatte sie in letzter Zeit zu oft enttäuscht. Follow-Unfollow: der Klassiker.

Sobald Pippa jedoch den Profilnamen ihres neuen Abonnenten las, stutzte sie. Er hieß beim_alpenfranz. Sie spürte eine jähe Sehnsucht nach den Bergen. Erinnerungen an Rogenau, dem Dorf am Alpenrand, wo sie den Sommer verbracht hatte, stiegen auf. Sie ließ den Blick über das Dächermeer hinter der Fensterscheibe schweifen und ihr wurde eng ums Herz.

Wenn einem das Budget und die richtigen Freunde fehlten, verlor die Stadt schnell den Reiz. Sogar ihre Follower waren gelangweilt. Sie verlangten nach Inhalten wie in den großen Ferien: Renovierungsarbeiten und Tiere, insbesondere Pferde. In der jüngsten Umfrage war sogar der Ruf laut geworden, Pippa solle sich als Reiterin präsentieren. Ob die Leute, die so etwas schrieben, ahnten, welchen Druck sie damit erzeugten? Pippa wollte liefern. Aber wie? Sie fühlte sich gefangen in einer Falle aus unerfüllbaren Erwartungen.

Da traf eine Nachricht von beim_alpenfranz ein. Mit wachsender Erregung überflog Pippa die Zeilen.

Hi Pippa,

ich manage das Social-Media-Marketing einer neuen Reitanlage in Oberbayern. Bei einer Recherche zum Online-Auftritt von Ställen in der Region bin ich auf den Oswaldhof aufmerksam geworden. Du hast den Account ossis_oswaldhof aufgebaut und groß gemacht, nicht? Ich bin tief beeindruckt. Lass uns über Kooperationsmöglichkeiten sprechen.

Liebe Grüße

Ben

Pippa presste das Handy gegen ihre Brust. Dann las sie sich einzelne Passagen laut vor, um sie wie Musik in den Ohren zu genießen. Dieser Ben liebte ihre Arbeit und hatte sich die Mühe gemacht, ihren Account power_pippa ausfindig zu machen. Vermutlich über die Markierungen in den Posts von ossis_oswaldhof. Ob der Typ den Hauch einer Ahnung hatte, wie gut ihr seine Wertschätzung tat? Eigentlich gruselig, wie nah ihr die Anerkennung eines Wildfremden ging, aber Pippa nahm, was sie bekam.

Sie wollte anfangen, sich über Bens Arbeitgeber schlau zu machen, als ein weiterer neuer Follower angezeigt wurde. Wenn’s läuft, dann läuft’s, dachte sie. Doch als sie begriff, um wen es sich handelte, setzte ihr Herz einen Schlag aus.

Marcel! Sie hatte ihn im Sommer auf einem Fest in Rogenau kennengelernt. Warum interessierte er sich plötzlich für ihren Account? Konnte es Zufall sein, dass an ein und demselben Tag gleich zwei Leute aus der Gegend des Oswaldhofes ihrem schwächelnden Instagram-Profil folgen wollten? Pippa glaubte an Zeichen. Obwohl Marcel bei Weitem nicht nur schöne Erinnerungen in ihr weckte, begannen ihre Finger zu kribbeln.

Innerhalb von Sekunden überrollte ihr kreatives Gehirn sie mit Einfällen und formte einen Plan daraus. Sie konnte nicht mehr stillsitzen, sprang von der Fensterbank und lief zum Zimmer ihres kleinen Bruders. Dort stand die Tür offen. Open doors, open mind, lautete einer seiner altklugen Sprüche. Wollen wir mal sehen, ob Offenheit auch für Mama gilt, dachte Pippa.

Mutter und Sohn saßen am Schreibtisch, auf dem eine Chemie-Versuchsstation aufgebaut war. Gerade kippte Mama den Inhalt zweier Reagenzgläser in einen Erlenmeyer-Kolben. Paul machte eifrig Notizen. Beide trugen Schutzbrillen und Laborkittel. Pippa stöhnte innerlich. Wie konnte sie ein blutsverwandter Teil dieser Familie sein?

Als Paul seine Schwester bemerkte, runzelte er die Stirn. „Welch seltener Besuch in meinem bescheidenen Domizil.“

„Rede normal!“ Pippas Geduldsfaden war bei niemandem kürzer als bei ihrem kleinen Bruder. Doch sie besann sich auf ihre neuesten Pläne und rang sich ein Lächeln für Mama ab. „Ich muss mit dir sprechen.“

Anita Heinze setzte die Brille ab und warf einen bedeutsamen Blick auf die Füße ihrer Tochter. Sofort hörte Pippa auf, ungeduldig von den Zehen auf die Fersen zu wippen.

„Unter vier Augen?“, fragte die Mutter. Sie hatte eine Kindheit an der Armutsgrenze erlebt. Durch Disziplin und Fleiß in Schule und Studium führte sie nun ein komfortables Leben mit finanzieller Sicherheit. Diese Geschichte erzählte sie allzu gerne und scheute keine Mühe, ihren Kindern den Wert von Bildung und Selbstbeherrschung zu vermitteln. Pippa fand, letzteres verschwamm leicht mit Selbstverleugnung und die wollte sie für sich selbst nicht zulassen. „Paul kann ruhig zuhören“, sagte sie. „Ihr wolltet doch in den Herbstferien zu irgendeiner mehrtägigen Wissenschaftsveranstaltung. Seien wir ehrlich, ich habe dort nichts zu suchen.“

Die Mutter setzte zum Protest an, schien dann jedoch einzusehen, dass die Tochter recht hatte, und schwieg.

„Findest du nicht, dass ich im Sommer einen großen Entwicklungssprung gemacht habe?“, fragte Pippa. „Ich habe Verantwortung übernommen, meine Talente zugunsten des Oswaldhofes eingesetzt ...“

„Musstest du das nicht deshalb, weil du zuvor so viel Chaos gestiftet hast?“, hakte Paul nach.

Pippa bestrafte ihn mit einem giftigen Blick, den er geflissentlich ignorierte. Weshalb machte er es ihr so schwer, ihn zu mögen? Sie straffte die Schultern. „Ich bin für meine Fehler geradegestanden und wer will denn bitte nachtragend sein? Das ist eine hässliche Charaktereigenschaft.“ Das saß. Ihr Bruder wandte sich kleinlaut ab und widmete sich wieder seinen Notizen.

Anita Heinze ging über die Spitzen hinweg, mit denen sich die Geschwister attackierten, und betrachtete ihre Tochter nachdenklich. „Worauf willst du hinaus?“

„Die Wochen am Fuße der Berge hatten einen positiven Einfluss auf mich, nicht? Wie bodenständig, arbeitsam und ehrlich die Leute ...“ Angesichts der hochgezogenen Brauen ihrer Mutter hielt sie inne.

„Rede bitte nicht um den heißen Brei herum. Es ist offensichtlich, dass du auf etwas Konkretes hinaus möchtest.“

Pippa meinte, eine Spur von Wärme in Mamas Stimme zu erkennen und fühlte sich ermutigt. „Lasst mich die Herbstferien in Rogenau verbringen!“, bat sie.

Der Mund ihres Bruders klappte auf. „Im Sommer hast du dich beschwert, an den, entschuldigt die Ausdrucksweise, Arsch der Welt geschickt zu werden.“

„Misch dich nicht ständig ein!“, zischte Pippa. „Damals wusste ich noch nicht, dass ich dort Iris, Kathi und Flori kennenlernen würde.“

„Uh, Flori ...“, neckte Paul.

Pippa wollte ihm an die Gurgel springen. „Du hast überhaupt keine Ahnung, du weltfremder ...“

Die Mutter hob entschlossen die Hände. „Genug. Pippa, lass uns in dein Zimmer gehen. Paul, du setzt dein Experiment für den Schülerwettbewerb selbstständig fort.“

Kurz darauf betraten Mutter und Tochter das Dachzimmer, das Pippa mit wenig Budget und umso mehr Kreativität von einem Raum in ein Zuhause verwandelt hatte. Anita wirkte darin wie ein Fremdkörper. Sie trug lockere Kleidung in dunklen Farben und verzichtete auf Make-Up und Schmuck. Die schönste Dekoration eines Menschen ist seine Bildung, pflegte sie zu sagen. Sie strich über die auf die Wandfarbe abgestimmte Tagesdecke und ließ den Blick schweifen. „Schön hast du es hier. Ich komme viel zu selten herein.“

Weil wir uns so wenig zu sagen haben, dachte Pippa. Aber jetzt brauche ich deine Unterstützung! Sie hatte einen Gedankenblitz und zog ein Fotobuch aus der Nachttischschublade. „Das habe ich nach den Sommerferien drucken lassen“, verriet sie und reichte es ihrer Mutter.

Anita nahm es mit einem Ausdruck freudiger Verwunderung entgegen und blätterte durch die Seiten. Allmählich legte sich ein fast schüchternes Lächeln auf ihre Lippen. Sie deutete auf eines der Bilder, das mehrere fröhliche Jugendliche beim Streichen eines Zaunes zeigte. Auf ihren Köpfen thronten selbstgebastelte Malerhüte aus Zeitungspapier. Die Aufnahme vermittelte perfekt den Elan, mit dem die Gruppe die Pinsel schwang. „Beeindruckend, dass du diese Aktion initiiert hast“, sagte Anita.

Pippa schluckte angesichts des unerwarteten Kompliments.

„Danke.“ Sie strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr.

Behutsam blätterte Anita durch die Seiten und schien bei jedem Foto gedanklich zu verweilen. „Ist das deine Gastmutter?“, fragte sie.

„Ja, Eva Wagner.“ Auf dem Foto lag eine Hand der Frau auf Pippas Schulter. Mit der anderen prostete sie den Helfern zu, die Pippa für die Verschönerung des Oswaldhofes zusammengetrommelt hatte. Pippa erinnerte sich genau an den Stolz und an das Glück, das sie in jenem Moment empfunden hatte. Es brannte ihr auf den Nägeln, ihre Bitte von vorhin zu wiederholen. Doch sie spürte, dass sie besser das Album für sich arbeiten ließ.

Endlich sah Anita auf. „Danke, dass du mir dieses Buch gezeigt hast.“ Sie berührte den Arm ihrer Tochter. „Ich möchte nicht mit deinem Vater streiten, was dein Taschengeld betrifft. Er muss selbst einsehen, dass er in der Angelegenheit über das Ziel hinausschießt.“

Pippa hatte weder mit dem Themenwechsel gerechnet noch damit, dass ein Elternteil die Entscheidung des anderen auch nur im Mindesten kritisierte. Was war das für ein verschwörerisches Glitzern in Mamas Augen? Pippa konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren so von ihr angesehen worden zu sein.

Anita wiegte harmlos den Kopf und fuhr fort: „Sollte ich dir jedoch einen Urlaub buchen, gilt das streng genommen nicht als Taschengeld. Und ein paar zugesteckte Scheine wären lediglich Reisebudget.“

Pippa traute ihren Ohren nicht. Ihre Mutter hatte ein Schlupfloch gefunden, mit dem sie der Tochter half, ohne den Ehemann zu brüskieren. „Du unterstützt mich? Einfach so?“

Ein Schatten huschte über Anitas Gesicht. Sie streckte eine Hand nach Pippas Wange aus und ließ sie nach kurzem Zögern wieder sinken. „Ein Kind sollte davon nicht dermaßen überrascht sein“, sagte sie so leise, dass Pippa sie kaum verstand.

Mit plötzlicher Entschlossenheit legte Anita das Album zur Seite und stand auf. „Auf geht’s! Lass uns sehen, ob auf dem Oswaldhof ein Ferienzimmer für dich frei ist!“

1 IRIS

Ein rot gefärbtes Blatt kreiselte vom Baum herunter und landete auf Iris‘ Wange. Flori drehte sich zu ihr hinüber, schob es mit seiner Nasenspitze von ihrer Haut und suchte mit seinen Lippen die ihrigen. Iris durchfuhr ein Schauer und sie räkelte sich glücklich im Gras. „Frierst du?“, missinterpretierte Flori ihr Zittern. „Dann lass uns aufbrechen.“

Kälte war selbst Anfang November das Letzte, was sie in Gegenwart ihres Freundes spürte. Zärtlich strich sie ihm seine kupferroten Haare aus der Stirn.

„Wirst du je müde werden, das zu tun?“ Er stand lächelnd auf.

Iris wälzte sich auf die Seite und folgte ihm mit dem Blick. Er setzte seinen Helm auf, zog Horsts Nase aus dem Gras und hakte die Trense im Wanderreithalfter ein. Der Wallach ließ es willig geschehen und bekam eine Streicheleinheit.

„Wie brav die Kabardiner sind“, stellte Iris fest und stemmte sich hoch. Die Halbbrüder Horst und Pippin gehörten einer robusten, ausgeglichenen Gebirgspferderasse aus dem Kaukasus an.

„Das müssen sie sein“, entgegnete Flori. „Manchmal tragen sie blutige Anfänger durch die Reitbahn.“

Iris entwirrte die Zügel und Riemen und schob Pippin das Gebiss ins Maul. „Haben die beiden inzwischen nicht viel zu viel Arbeit? Ich meine, nachdem Pippa im Sommer in den sozialen Medien Werbung für den Hof gemacht hat, und ihr so viele Anfragen für eure Ferienzimmer und für Reitstunden bekommen habt?“

„Ich musste viele Schüler auf die Warteliste setzen. Weder die Tiere noch ich können alle Anfragen bewältigen.“

Sie schwangen sich in die Sättel und Iris‘ Blick schweifte über das Tal. Bäche mäanderten an bunt gefärbten Wäldern vorbei und Holz beschalte Bauernhäuser schmückten wie hineingewürfelt die Landschaft. Wenige Traktoren zogen ihre Bahnen auf den brachen Äckern, um sie für das kommende Jahr zu bestellen. Iris hielt die Zügel in einer Hand und machte mit der anderen eine weitläufige Geste. „Angesichts dieses Geländes müsstest du mehr Ausritte statt Unterricht anbieten.“

„Er ist die Basis für alles andere!“

Sie seufzte. In seinen reiterlichen Ansichten erwies sich ihr ansonsten so umgänglicher Freund unerbittlich. Zwar stimmte sie ihm inzwischen in vielem zu, aber sie sah die Dinge lockerer. „Für mich bedeutet Zeit auf dem Pferderücken in erster Linie Freiheit!“, verkündete sie. „Wiesen, Wälder, Wind in den Haaren – zumindest in denen, die unter dem Helm rausschauen …“

„Ich weiß, dass du am liebsten im gestreckten Galopp davonsprengen würdest. Lass uns damit bis zum Stoppelfeld warten.“

In ihrem alten Leben in der sibirischen Weite hatte sie ihrem Lieblingspferd die Zügel gegeben und es laufen lassen. Im deutlich dichter besiedelten Bayern hingegen musste man immer bereit zum Bremsen sein; selbst hier in Rogenau, das Pippa im Sommer geringschätzig als Niemandsland bezeichnet hatte.

„Verstehst du eigentlich, warum Pippa die Herbstferien abermals auf dem Oswaldhof verbringen will?“, fragte sie. „Wohl kaum, um zu reiten.“ Bei der Vorstellung lachte sie leise. Pippa auf einem Pferd: Das passte so gut zusammen wie Iris und Make-up oder Glätteisen: theoretisch umsetzbar, aber praktisch undenkbar.

„Sie vermisst dich. Weshalb hätte sie dich sonst gefragt, ob sie sich in deinem Zimmer mit einbuchen darf?“

„Ha ha. Weil euer zweites Ferienzimmer belegt ist.“ Am Stoppelfeld angekommen nahmen sie die Zügel kurz und trieben die Kabardiner an. Iris ging in den leichten Sitz und rief über die Mähne gebeugt:

„Wettrennen?“

„Wir sind doch nicht Bibi und Tina!“

Lachend trieben sie die Wallache an, die sogleich Seite an Seite über die Stoppeln galoppierten. Iris fühlte sich federleicht und lebendig.

Erst als sich Fußgänger näherten, parierten sie durch. Die Pferde streckten die Hälse durch und marschierten im flotten Schritt an der kleinen Gruppe vorbei. Dampf stieg aus den braunen Fellen auf. „Ich hätte ewig weiter galoppieren können“, sagte Iris.

„In deinem Sibirien ginge das wahrscheinlich.“

Ein wohliges Gefühl erfüllte Iris. Immer öfter teilte er ihre Assoziationen und reagierte darauf, ohne dass sie etwas erklären musste. Sie wollte ihm nahe sein und lenkte ihr Pferd an seines heran, bis sich ihre Steigbügel beinahe berührten.

„Spielst du Autoscooter und willst mich rammen?“, fragte er gespielt empört.

Sie machte ein unschuldiges Gesicht, beugte sich zu ihm und erwischte mit ihren Lippen kurz seine Wange für einen Kuss.

„Viel zu schnell vorbei!“, fand Flori. Er nahm die Zügel in eine Hand und lockte mit der anderen Iris näher zu sich. Sie streckten sich einander entgegen, bis sich ihre Lippen berührten.

Glücklicherweise waren die Kabardiner schmale Tiere. Auf zwei wuchtigen Kaltblütern wäre das Manöver wohl misslungen.

2 PIPPA

Pippa saß im Regionalzug und fotografierte den kalt gewordenen Rest ihres Chai Latte. Das Bild postete sie mit den Hashtags: #lieblingsgetränk #oswaldhof #ichbinzurück

Als die Bahn abbremste, kämpfte sich ein großer, bärtiger Kerl zu den Türen durch. Pippa erkannte ihn sofort. „Grüß dich, Sepp“.

Seine Augen weiteten sich. „Hey, die Bergsteigerin traut sich nochmal hierher.“

Sie zuckte zusammen bei der Anspielung auf ihr sommerliches Fotoshooting in den Alpen, das einen Bergwachteinsatz samt Notarzt und Veterinärin ausgelöst hatte.

Sepp lachte. „Ich zwick‘ dich nur auf. Respekt, wie du dich reingehängt hast, um einen Teil der Kosten für den Rettungshubschrauber wieder einzuspielen.“

„Danke, dass du das sagst.“ Sie dachte an ihre Versuche zur Wiedergutmachung: Nicht nur, dass der Oswaldhof durch ihre Arbeit und Initiative in neuem Glanz erstrahlte. Außerdem sorgte sie für Werbung in den sozialen Medien. Manche Follower übernahmen sogar Patenschaften für Hoftiere.

„Dieses Mal fahre ich leider nicht bis Rogenau“, meinte er. „Kommst du allein mit deinem Gepäck klar?“

Sie ahnte, dass er nicht spottete, sondern sich aufrichtig fragte, wie sie mit einem Pulk an schweren Koffern und Taschen wie im Sommer zurechtkommen würde. Stolz wies sie auf ihren Trolley. „Ein einziges größeres Gepäckstück und meine Handtasche. Ich lerne zwar langsam, aber ich lerne!“

„Ein Glück für das Pferd, falls du wieder mit der Kutsche abgeholt wirst. Was verschlägt dich hierher? Hoffentlich brauchst du dieses Mal keine Fotos für einen Modelwettbewerb.“ Er zwinkerte ihr gutmütig zu. Als sie schwieg, runzelte er die Stirn. „Etwa doch?“

„Nein, nein“, erklärte sie schnell und rang sich ein harmloses Lächeln ab. Wenn du wüsstest.

Die Bahn fuhr in die Station ein. „Ich muss hier aussteigen. Gute Weiterfahrt und schöne Herbstferien!“

„Danke, man sieht sich.“ Überrascht merkte sie, dass sie sich gerne weiter mit ihm unterhalten hätte. Er verkörperte die unprätentiöse Bodenständigkeit und Zuverlässigkeit, die sie am Alpenrand schätzen gelernt hatte. Andererseits wollte sie vorerst niemandem ihre wahren Gründe für diese Reise verraten, und Sepp hätte sie mit seinen Fragen beinahe aufs Glatteis geführt.

Als die Bahn anfuhr und er aus ihrem Sichtfeld verschwand, öffnete Pippa erneut Instagram. Auf ihrem Account zeigte sie in Kooperation mit Baumärkten, wie sich mit etwas Einsatz und Sinn für Ästhetik mehr aus einem Zuhause herausholen ließ. Leider durfte sie ihre Ideen selten im eigenen Elternhaus anwenden. Die Kassettendecke im Wohnzimmer weiß streichen für eine edle Stuck-Optik? Wo gibt’s denn so etwas? Nicht einmal den Boden im Flur durfte sie abschleifen. Entsprechend mangelte es ihr an relevantem Content und ewig würden sich ihre Follower nicht mit Bildern von erkalteten Heißgetränken abspeisen lassen. Immerhin nahm ihre Mutter in Bezug auf die Kooperationen alles in die Hand, wozu man volljährig sein musste.

Da traf der erste Kommentar zu ihrem neuen Post ein. Im Zug nach Rogenau? Ich will Bilder von den Pferden und Katern.☺

Pippa antwortete: Ja, ich bin unterwegs. Auf ossis_oswaldhof gibt es übrigens reichlich Fotos von den Tieren.☺

Sie hätte gerne etwas Eleganteres gewählt als die Kombination aus dem Hofnamen und Floris Spitznamen, der sich aus ebendem ableitete. Aber Flori, seine Mutter Eva und seine Schwester Kathi hatten Pippa überstimmt.

Der Kommentator von vorhin schrieb: Ich weiß, aber der Hof ist mit dir viel spannender!☺

Seufzend scrollte Pippa durch ihren Feed. Eine kurze Zeit hatte sie gedacht, die Leute interessierten sich für ihre Arbeit mit Geräten aus dem Baumarkt. In Wirklichkeit jedoch waren mit Abstand die Bilder und Videos am erfolgreichsten, auf denen sie sich selbst zeigte. Dein Aussehen ist dein Kapital!, hatte ein männlicher Follower ihr geschrieben. Pippa nahm es mit ebenso gemischten Gefühlen hin, wie wenn junge Mädchen kommentierten, wie hübsch sie sei.

Sie richtete minutenlang die Augen auf den Bildschirm, bis sie realisierte, dass dabei nichts in ihr Gehirn vordrang. Denn etwas beschäftigte sie seit der Begegnung mit Sepp: Er bildete üblicherweise ein Doppelpack mit seinem Bruder Hans. Sie erinnerte sich an dessen ruppige Art, aber ebenso daran, wie er sich in Bergwachtuniform durch einen Wasserfall zu ihr gekämpft hatte. Sobald ich Hans für etwas Wichtigeres als Kofferschleppen brauchte, stand er mir ohne Wenn und Aber bei.

„Nächster Halt: Rogenau“, erklang die Durchsage. „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“

Pippa fand sich damit ab, dass sie dieses Mal nur den freundlicheren der Brüder getroffen hatte. Auf mich warten der gesamte Oswaldhof und ein Shooting für den Alpenfranz samt einer Überraschung für Iris und Flori! Voller Vorfreude stand sie auf und griff nach ihrem Gepäck. Im selben Abteil trat ein großgewachsener, kräftiger Mann auf den Gang. Hans! Also doch! Er sah aus wie Sepp, nur trug er seine dunkelblonden Haare kürzer. Ohne nachzudenken, reckte Pippa eine Hand in die Höhe und winkte eifrig. „Lange nicht gesehen!“, rief sie.

Mehrere Leute drehten sich zu ihr um. Ohne Pippa zu beachten, drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Er nahm den Ausgang, der für ihn näher lag und für den er nicht an ihr vorbeigehen musste. Ihr Lächeln gefror. Wie kann er mich übersehen, während so ziemlich jeder andere hier drinnen mich anstarrt, weil ich mit der Hand wedele wie eine Verrückte? Er ignoriert mich absichtlich. Peinlich berührt und beleidigt ließ sie den Arm sinken.

Ein paar Leute kicherten. Lässt der mich in einem vollbesetzen Abteil blöd dastehen! Gut, dass ich hier aussteige. Sie verließ mit ihrem Gepäck den Zug und überlegte, ob sie Hans auf dem Bahnsteig einholen und ihn zur Rede stellen sollte.

Da erkannte sie Eva in einigen Metern Entfernung und hörte, wie die drahtige Frau und Hans sich beiläufig grüßten. Aha, mit ihr kannst du sprechen, dachte Pippa missmutig. Er ging weiter und Eva rief laut: „Grüß dich!“

Pippas Ärger verflog. Sie mochte Eva und rechnete ihr hoch an, wie pragmatisch sie mit dem Drama umgegangen war, das Pippa im Sommer ausgelöst hatte.

„Grüß dich! Schön, dich wiederzusehen“, erwiderte Pippa. Mühelos zog sie den Trolley zum Ende des Bahnsteigs und reichte ihrer Gastgeberin die Hand.

„Leichtes Gepäck dieses Mal?“, fragte Eva. „Wenn ich das gewusst hätte, hätten dich meine Kinder mit der Kutsche abgeholt, statt dass ich ganz schnöde mit dem Auto komme.“

Im Hintergrund radelte Hans davon, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

„Du wirkst enttäuscht“, bemerkte Eva. „Oh, wolltest du Aufnahmen von der Kutschfahrt für unsere Instagram-Seite verwenden? Daran habe ich nicht gedacht.“

Sie überquerten den Parkplatz. Pippa verdrängte den Ärger auf Hans und konzentrierte sich auf ihre Gesprächspartnerin. „Ach, Material zum Posten finde ich in den Ferien bestimmt genug.“ Soll ich sie einweihen, dass ich außerdem Aufnahmen für den Alpenfranz brauche und was ich mit Ben als Gegenleistung verhandelt habe?, fragte sie sich. Nein, je weniger Mitwisser, desto größer die Überraschung. Sie strich eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

Eva musterte Pippa mit nachdenklichem Blick und fragte: „Etwas ist neu, oder?“ Sie öffnete den Kofferraum ihres Kombis.

„Sieht nur so aus“, entgegnete Pippa. Ihre Markenklamotten kaufte sie secondhand in einem Vintage-Laden.

„Jetzt weiß ich es: Ich habe dich im Sommer ausschließlich mit offenen Haaren gesehen. Ein Zopf ist auf jeden Fall praktischer.“

Pippa blickte über die Schulter bis zum Ende ihrer fast hüftlangen Frisur und meinte: „Ja, sieht sportlich aus, nicht?“ Sie verzichtete auf den Hinweis, dass sie ebenso ihre Kleidungsstücke anhand funktionalerer Gesichtspunkte als in den großen Ferien gewählt hatte. Alle bis auf eines. Platzsparend gefaltet lagerte es im Koffer, wo man das wahre Volumen des feuerroten Stoffs nicht ahnte. Ausgeschüttelt würde er seine volle Wirkung entfalten. So wie von Ben, dem Marketing Manager des Alpenfranz, gewünscht.

Die Fahrt verlief für Pippa unerwartet emotional. Sie verrenkte sich den Hals, um alles sehen zu können.

„Sind die abgeernteten Felder so interessant?“, fragte Eva überrascht.

Bilder von jungen Menschen in Dirndlkleidern und Lederhosen huschten durch Pippas Erinnerungen. Sie glaubte, wieder die flotte Tanzmusik im Ohr zu haben, vermischt mit Gläserklingen beim Zuprosten und einem fröhlichen Stimmengewirr. „Ich denke an das Dorf-fest, das Iris, Flori und ich im August besucht haben“, verriet sie. „Da drüben stand das Zelt.“

Sie durchquerten Rogenau und Pippa sank in den Sitz zurück. Auf dem Fest hatte sie Marcel kennengelernt, der ihr wie ein rettender Anker vorgekommen war: kultiviert, wohlhabend, charmant, attraktiv und sicher im Umgang mit der Kamera. An jenem Abend hatte er sie behandelt wie eine Königin und versprochen, ihr den Himmel zu Füßen zu legen. In Pippas Fall hatte der Himmel aus Fotos und Clips für ihre Social-Media-Kanäle bestanden. Doch dann war alles anders gekommen.

Glücklicherweise fuhren sie genau in diesem Augenblick in den Hof ein, sodass sich ihre Erinnerungen just in dem Moment zerstreuten, in dem sie unschön geworden wären.

Eva strahlte sie von der Seite an. „Da staunst du, was? Kathi hat alles so weitergeführt, wie du es angefangen hast.“

Pippa stieg aus. Stolz und Glück durchströmten sie. Evas zehnjährige Tochter schickte ihr seit Wochen Bilder und Videos, damit Pippa sie auf ossis_oswaldhof postete. Doch nichts davon ersetzte, das Zuhause der Wagners live zu erleben. Den Zäunen, Schalungen und dem Hühnerstall sah man an, dass das große Streichen nicht lange zurücklag. Und in den Pflanzenkästen, die Pippa montiert hatte, blühten inzwischen Herbst- statt Sommerblumen. „Wie schön!“, sagte sie aufrichtig und hielt mit dem Handy die ersten Eindrücke für die Follower fest.

Da trafen Flori und Iris auf den Pferden ein. Sofort richtete Pippa die Kamera auf sie. „Meine Lieben, hier kommt extra für euch das Traumpaar des Jahres. Pippin und Horst, zwei Halbbrüder wie sie im Buche stehen. Echt kaka … kakao … Gebirgspferde von weit weg halt.“

„Kaukasisch, also aus dem Kaukasus?“, schlug Eva vor.

Pippa schwenkte die Kamera zu ihr und Eva duckte sich schnell weg. „Unsere kamerascheue Hofchefin wusste die Lösung“, erklärte Pippa ungerührt. „Aber es war ohnehin nur ein Scherz. Denn das wahre Traumpaar sind natürlich …“ Sie sprach wie eine Zirkusdirektorin, die die nächste Attraktion ankündigte. „Iris und Flori! Unsere beiden frischverliebten Pferdenarren, äh, Pferdefans.“

Eva runzelte die Stirn. „Ist das eigentlich live?“

Pippa steckte das Handy weg. „Glücklicherweise nicht. Ich bearbeite die Aufnahme nachher oder erstelle eine neue.“

Flori und Iris stiegen ab und Pippa umarmte sie zur Begrüßung.

„Was führt dich zurück nach Rogenau?“, fragte Iris.

„Alles! Der Hof, die Tiere und meine Freunde!“

Flori lachte. „Immer für eine Überraschung gut. Die Frisur steht dir übrigens. So sieht man mehr von deinem Gesicht.“

Iris‘ Miene verdunkelte sich ebenso, wie sich Pippas erhellte. „Vielen Dank, du hast ein gutes Auge.“ Sie drückte ihm ihr Handy in die Hand. „Fotografier mich mal mit den Jungs hier, ja?“

Während sie nach einer vorteilhaften Position zwischen den Kabardinern suchte, stupste einer sie an. Pippa quiekte und starrte den grünen Schaum an, den das Pferdemaul auf ihrer Jacke hinterlassen hatte.

Flori grinste. „Du kannst Werbung für grünen Smoothie machen. Weiß ja keiner, dass es nur zerkautes Weidegras ist.“

Das zweite Pferd rempelte sie an und hinterließ etwas Braunes auf ihrer weißen Hose. Erschrocken zog Pippa das Bein weg. „Hat der, der Dings, etwa mit der Nase in seinen eigenen Äpfeln gewühlt?“

„Das ist Pippin“, erwiderte Iris. „Den kennst du doch. Und an deiner Hose ist nur Erde. Wieso überhaupt weiß?“

„Die Farbe steht mir, also trage ich sie.“ Reichte es nicht, dass sie all ihre hohen Schuhe und die meisten stylischen Accessoires daheim gelassen hatte? Sie streichelte mit den Fingerrücken das Fell und zeigte ein 32-Zähne-Lächeln Richtung Kamera. Flori drückte ab. „Natürlich kenne ich Pippin und Horst“, versicherte Pippa. „Nur auseinanderhalten kann ich sie nicht. Wie denn auch? Außerdem schauen sie beide nicht aus wie beim letzten Mal.“

Flori und Iris führten die Tiere zur Anbindestange und er erklärte: „Das ist wie bei Menschen, deren Haare im Sommer ausbleichen. Das Winterfell hingegen ist dunkler. Unterscheiden kannst du die Wallache zum Beispiel anhand Pippins weißer Kronen.“

Pippa suchte sein Fell um die Ohren herum ab, ohne eine zu finden.

„Flori meinte das Abzeichen direkt über den Hufen“, erklärte Iris.

Pippa hob die Brauen. Jeder wusste, dass Kronen auf den Kopf gehörten. Argwöhnisch beugte sie sich hinab und entdeckte die vier hellen Ränder über Pippins Hufen. „Tatsächlich. Wieder was gelernt“, räumte sie ein und richtete sich auf. „Kurz dachte ich, ihr macht euch über eine arme Laiin lustig.“

„Wieso sollten wir?“, fragte Iris.

Ja, warum eigentlich? Das Gute an den beiden war ja gerade, dass sie anständig mit ihr umgingen. Sie lächelte das Pärchen an. Wenn ihr wüsstet, was mir Ben versprochen hat und dass es am Ende für euch bestimmt ist.

3 IRIS

Während der vergangenen Wochen hatte Iris sich gefreut, ab und an Nachrichten von Pippa zu erhalten. Das Ferienzimmer miteinander zu teilen, schien ihr eine vernünftige Idee. Doch nun fühlte sie sich seltsam angespannt und wusste nicht, warum. Vermochte Pippas strahlende Präsenz immer noch, sie zu verunsichern? Da sollte sie inzwischen wirklich darüberstehen. Nachdenklich trenste und sattelte sie ab. Flori hingegen plauderte bei seinen Aufgaben mit Pippa. Bei ihm gab es keine Auftauphase, sondern sofortige und anhaltende Ansprechbarkeit. Eine Eigenschaft, die Iris zwar bewunderte und schätzte, aber nicht nachvollziehen konnte.

Sie räumte die Ausrüstung in die Sattelkammer und blieb länger dort als nötig. Mehrmals prüfte sie, ob Pippins und Horsts Sättel exakt ausbalanciert auf ihren Haltern lagen. Danach nahm sie die Zaumzeuge vom Haken und schrubbte die Trensen. Von draußen erklang Pippas helles Lachen. Iris drückte die Bürste härter gegen das Gebiss und sah durch die offene Tür. Flori kontrollierte die Hufe, während Pippa von neuen Followern erzählte. Jähe Traurigkeit befiel Iris. Was, wenn die Ferien sich nun vorrangig um Social Media und Marketing drehen würden, statt um freie Natur, endlose Ausritte und Zweisamkeit?

Pippa streckte ihren Kopf durch die Tür. „Flori und ich bringen die Pferde zurück auf die Koppel. Magst du uns dabei filmen?“

Ich hab’s geahnt, dachte Iris bitter.

„Die sozialen Medien leben von Interaktion“, referierte Pippa. „Ich lasse die Follower teilhaben an den Wundern von Rogenau!“

„Im Sommer klang Rogenau für dich nach Fischeiern und Autsch“, erinnerte sie Iris.

Pippa winkte ab. „Schnee von gestern. Die Leute verlangen nach dem Oswaldhof und Pferden, also liefere ich. Vertrau mir; schließlich ist durch mich eine hervorragende Marketingkampagne angelaufen.“

Pippa, wie sie leibt und lebt. Iris trocknete sich die Hände, nahm das Handy ihrer temporären Mitbewohnerin und folgte ihr nach draußen. Dort startete Iris die Aufnahme und sah auf dem Handybildschirm zu, wie Flori und Pippa flankiert von Horst und Pippin den kurzen Weg zur Koppel zurücklegten. Pippas blonder Zopf bewegte sich rhythmisch im Takt ihrer Schritte und von weitem hätte ihre figurbetonte weiße Hose als Turniermode durchgehen können. Unwillkürlich stellte sich Iris eine Fotostrecke für einen Reitsportkatalog mit Pippa und Flori als Models vor. Sie warf einen kritischen Blick an sich selbst hinab. Keine Chance, optisch mit Pippa mitzuhalten. Hoffentlich würde es Flori entweder nie auffallen oder ihm egal sein. Da drehte er sich um und rief: „Jetzt Bilder von uns beiden. Gib Pippa die Kamera.“

„Ach, lass mal. Ihr beide seid viel fotogener“, entgegnete sie und freute sich dennoch, dass er versuchte, sie einzubeziehen.

„Kein Foto von mir ist perfekt, wenn nicht du neben mir bist“, versicherte er mit einem Augenzwinkern.

Wenn er damit weitermachte, solche Dinge zu sagen, würde sie ihm irgendwann glauben.

Pippa reichte ihm Horsts Führstrick, lief zu Iris und nahm ihr das Handy ab. „Auf wie viele Liebeserklärungen willst du warten? Jetzt geh schon zu ihm!“

Die beiden meinten es ernst. Verlegen trat Iris zwischen die beiden Pferde. Hoffentlich erkannte man auf dem Foto mehr von den Kabardinern als von ihr. Flori gab ihr Horsts Strick. Dann schlang er einen Arm um ihre Taille und flüsterte: „So nah sollten wir jeden einzelnen Tag beieinanderstehen.“

Konjunktiv. Verwendet für Situationen, die nicht real, sondern nur möglich sind, dachte Iris verdrossen. Die Wirklichkeit sah nämlich bisher wie folgt aus: Abgesehen von einem Wochenende, an dem er zu ihr gefahren war, hatten sie sich seit dem Sommer nur per Videochat gesehen. Wie sollte eine winzige Woche Herbstferien das wettmachen?

4 PIPPA

Nach dem Shooting wollte Pippa ins Zimmer hoch, um die schönsten Bilder für Instagram herauszusuchen. Sie scrollte im Gehen durch die Fotos und wäre fast über Floris kleine Schwester gefallen. Im letzten Moment sprang Kathi von einer Treppenstufe auf. „Pippa, endlich bist du da!“ Dann legte sie den Kopf schräg und sagte streng: „Du musst aufpassen, wo du hinläufst, sonst stolperst du!“

Kathi trug ihre roten Haare zu zwei Zöpfen geflochten und erinnerte genauso an Pippi Langstrumpf wie in den großen Ferien. Nur die Sommersprossen waren im Spätherbst blasser. Pippas Herz wurde weich. „Hey, Kathi“, grüßte sie. „Meine Nachwuchsmarketingspezialistin. Du hast einen guten Job gemacht, während ich weg war.“

Kathis braune Augen blitzten vor Stolz und sie nickte eifrig. „Wie findest du die Spätblüher, die ich eingepflanzt habe? Ich habe sie ganz allein der alten Gärtnersfrau im Dorf abgequatscht!“

Pippa lachte. „Verlinkst du sie zum Dank in einem Post?“

Kathi verzog das Gesicht. „Iwo, die Frau ist nicht im Internet. Sie sagt, dass sich das nicht durchsetzen wird.“

„Ach?“

Kathi schüttelte den Kopf und ihre Zöpfe schwangen hin und her.

„Nein, das Internet ist nur ein Modedings, meint sie.“

„Eine Modeerscheinung?“

Kathi nickte. „Es wäre schade, wenn es verschwindet. Mir macht es nämlich Spaß. Viel erlaubt mir Mama online nicht, aber immerhin darf ich mir mit dir neue Posts ausdenken.“ Sie betraten das Zimmer.

„Schau, die Bücher, die du im Sommer nach Farben sortiert hast, stehen nach wie vor als Regenbogen im Regal. Man findet zwar nichts, aber es sieht wirklich hübsch aus.“

Pippa nahm auf der unbenutzten Bettseite Platz. „Willst du sehen, was ebenfalls schön geworden ist?“ Sie lud Kathi ein, sich neben sie zu setzen und zeigte ihr die jüngsten Aufnahmen.

Kathi beugte sich über den Bildschirm und machte große Augen.

„Willst du dich mit meinem Bruder für die Foto-Lovestory in der Wendy-Zeitschrift bewerben? Iris wird dir den Kopf abreißen.“

Pippa zoomte heran. „Man sieht uns von hinten zwischen zwei Pferden. Und um die geht es doch.“

Kathi wirkte nicht überzeugt. „Also ich mag den Michi in meiner Klasse. Und ich sag dir, wenn die Valentina so mit ihm rumspazieren würde, müsste ich mir leider sehr gemeine Dinge für sie ausdenken.“ Die Zehnjährige zuckte nicht mit der Wimper.

Pippa wünschte Iris etwas von Kathis Biss. „Was hältst du davon, wenn wir nur Ausschnitte posten? Sodass entweder Flori und Horst oder Pippin und ich zu sehen sind?“

Kathi legte den Kopf schräg. „Auf den Fotos hältst du Horst. Wie kann man unsere Wallache verwechseln?“

„Sie sind gleich groß und braun. Weiße Kronen hin oder her.“

„Hoffentlich vertauschst du keine Menschen nur wegen gleicher Haarfarbe und Größe“, sagte Kathi verständnislos. „Die Ausstrahlung unserer Kabardiner ist grundverschieden!“

Wer sollte diese Pferdemenschen je verstehen? Nachdenklich betrachtete sie die Kleine. Dann sah sie zum Trolley und dachte an das Kleid, das sie extra für diese Ferien bestellt hatte. Ob Kathi sich nicht viel besser als sie selbst dafür eignete, Pippas Plan in die Tat umzusetzen? Andererseits wünschte sich der Kunde speziell Pippa und im Vergleich zu der Fotoaktion im Sommer mit Marcel musste die bevorstehende ein Klacks werden. Sie spürte eine leichte Unruhe beim Gedanken an ihre Ferienbekanntschaft. Marcel verteilte seit kurzem Herzchen für Pippas Posts. Einmal hatte er sogar kommentiert, dass sie klasse aussehe und er sich freuen würde, wenn man sich mal wieder über den Weg liefe. Hatte er vergessen, dass sie nicht im Guten auseinander gegangen waren?

Kathi unterbrach ihre Überlegungen, indem sie freudig in die Hände klatschte. „Ist in deinem Koffer ein Geschenk für mich?“

„Klar. Aber erst siehst du dir weitere Fotos an.“ Ihr war wichtig, dass die Kleine keinen falschen Eindruck von Pippas Absichten bekam.

Kathi rutschte auf dem Bett hin und her. „Ich soll stillsitzen, obwohl ein Geschenk auf mich wartet? Wie stellst du dir das vor?“

Kommentarlos zeigte ihr Pippa die Bilder von Flori und Iris.

Kathi warf einen Blick darauf und lächelte zufrieden. „Okay, jetzt wissen wir beide, wer sich wirklich für eine Foto-Lovestory eignet. Postest du die Bilder?“

„Unserer medienscheuen Iris würde ich damit keinen Gefallen erweisen. Aber sie bekommt die Fotos, keine Sorge.“ Und Pippa hatte eine genaue Vorstellung davon, auf welchem Weg das geschehen würde.

Erneut wurde Kathi zappelig. „Ich lasse dich nicht länger warten“, versprach Pippa. Sie stand auf und öffnete den Koffer. Sofort quoll feuerroter Stoff hervor.

Pippa zuckte zusammen, als direkt hinter ihr Kathis Stimme erklang. „Hast du so hübsche Kleider wie im Sommer dabei?“

„Nur eines“, erwiderte Pippa kurz angebunden. Sie fischte das Mitbringsel aus dem Trolley und drückte ihn zu. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Hatte Kathi den Tüll bemerkt? Konnte sie sie einweihen, ohne dass sie sich gegenüber Flori oder Iris verplappern würde?

„Du ziehst ein Gesicht wie ich, wenn ich zwar nicht nach dem Versteck für die Weihnachtsgeschenke suchen sollte, es aber trotzdem tun werde“, meinte die Kleine.

„Woher weißt du, welches Gesicht du da machst?“

Kathi zuckte die Schultern. „Ich befehle meinem Spiegelbild, dass wir

nicht nach den Päckchen suchen sollen. Aber es hört nicht auf mich.“

„Das kann ich verstehen.“ Pippa überlegte, was sie zuerst anpacken sollte: den Auftrag im roten Kleid für den Alpenfranz oder den Wunsch ihrer Follower, sie reiten zu sehen. Sie gab sich einen Ruck.

„Sag mal, käme es infrage, dass du mir Pippin ausleihst?“

Kathis Miene gefror. „Nachdem du ihn vor ein paar Wochen in die Berge entführt und in Lebensgefahr gebracht hast?“

Pippa räusperte sich. „Das war ein großer Fehler von mir, den ich sehr bedauere und bereue.“

„Was willst du von meinem Pferd?“ Selbst zusammengekniffen wurden Kathis Kulleraugen nicht wirklich schmal. Ihr Tonfall hingegen drückte pures Misstrauen aus.

„Auf ihm reiten“, verriet Pippa. Na ja, mein eigener Wunsch ist es nicht, aber meine Community wird begeistert sein.

Kathi atmete hörbar erleichtert aus. „Ach so, du möchtest Longen-stunden. Das wird allerdings eng werden. Flori will sicher jede freie Minute mit Iris verbringen und sie wiederum braucht Pippin für Ausritte. Dir fehlen also sowohl Lehrer als auch Pferd.“

„Longenwas?“, fragte Pippa verwirrt.

„Der Anfänger-Unterricht. Dabei führt der Lehrer das Tier an einer Art Leine im Kreis, sodass der Reiter Vertrauen aufbauen und sich auf seinen Sitz konzentrieren kann, bevor er später selbst lenken wird.“

Pippa konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Community so etwas von ihr sehen wollte. „So meinte ich das mit dem Reiten nicht“, sagte sie deshalb. „Es soll hübsch aussehen. Ich dachte an Galopp.“

Kathi runzelte die Stirn. „Ja, sobald der Schüler im Schritt und Trab eine gute Balance zeigt, kann er an der Longe den Galopp probieren.“

„Ich brauche keine Grundausbildung. Schließlich will ich keine Turniere gewinnen, sondern ein schönes Video hochladen. Kannst du mich filmen, während ich über eure Felder galoppiere?“

„Du machst Witze.“

„Weshalb? Funktioniert nicht jeder zweite Pferdefilm so?“

Kathi sah sie sprachlos an.

„Komm schon, galoppieren kann kein Hexenwerk sein“, insistierte Pippa. „Dafür sieht es in all den Reels auf Instagram und TikTok viel zu einfach aus. Die Arbeit erledigt doch eh das Pferd statt des Reiters.“

„Filme sind nicht die Wirklichkeit. Manchmal finde ich mich mit zehn schlauer als dich mit sechzehn.“

„Hey!“, protestierte Pippa. Sie entschied, vorerst zurückzurudern, um die aufsteigende, unsichtbare Mauer zwischen ihnen schleunigst einzureißen. „Lass uns später darüber sprechen. Erst bekommst du mein Mitbringsel.“ Nachher würde sie überlegen, wie sie das Thema geschickter anpacken konnte. Oder hat Kathi recht und ich unterschätze das Reiten ganz gewaltig?, fragte eine leise Stimme in ihr.

Die Kleine schien hin- und hergerissen zwischen Argwohn und Neugierde. Sobald Pippa ihr ein glitzerndes Tütchen reichte, schlug die Waage zugunsten der Vorfreude aus. Strahlend betastete sie die Verpackung, spähte hinein und jubelte: „Lipgloss und Nagellack! Ich liebe die Farben! Du hast einfach Geschmack!“

Pippa schmunzelte erleichtert und dankte der Superkraft von Kindern, angesichts von Geschenken alles andere zu vergessen. Kathi trug etwas von dem rötlich schimmernden Gloss auf und spitzte vergnügt die Lippen. „Das muss ich Barbara zeigen!“

„Wem?“

„Ihre Familie belegt das zweite Ferienzimmer. Leider ist Barbara erst neun, aber ich kann ja nicht nur mit älteren Menschen wie Iris und dir rumhängen.“ Sie legte den Kopf schräg und betrachtete Pippa. „Macht es dir etwas aus, dass Flori Iris hat und ich Barbara?“

Der Gedankengang traf Pippa unvorbereitet. Ihr Inneres zog sich zusammen. Den Außenseiterstatus kannte sie zur Genüge aus ihrer Familie. Die hochgebildeten Eltern mit dem Überfliegersohn, der scheinbar mühelos mit Einsen dekoriert durch die Jahrgangsstufen spazierte. Daneben Pippa, die ein paar Fächer ganz nett fand, aber insgesamt nicht wusste, wozu sie dreizehn Jahre in der Schule absitzen sollte. Am liebsten hätte sie sich beispielsweise als Inneneinrichterin oder Stylistin selbstständig gemacht. Etwas oder jemanden verschönern und damit Geld verdienen: perfekt!

Mama zeigte eine gewisse Empathie gegenüber der Tochter, die so anders tickte als sie selbst. Der Vater hingegen brachte für Pippas so-genannte Hirngespinste nur ein müdes Lächeln auf. Eine Tochter, die zwischen Werkzeug- und Schminkkoffer schwankte, konnte man seiner Ansicht nach nicht ernst nehmen. Weshalb verstand er nicht die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Disziplinen? Man betrachtete einen Raum oder eine Person, erkannte das optische Potenzial und entfaltete es. Leider wohnten sie und ihre Familie diesbezüglich auf verschiedenen Planeten. Pippa ließ den Kopf hängen.

„Ich wollte dich nicht traurig machen“, sagte Kathi betroffen. „Es muss schwierig für dich sein, dass Flori und Iris sich ineinander verliebt haben.“

„Was? Nein! Ich freue mich für die beiden!“

Kathi schien zu überlegen, dann nickte sie mit altkluger Miene. „Wenn du meinst.“ Ihr Interesse verflog so schnell, wie es gekommen war, und sie konzentrierte sich wieder auf ihre Geschenke. „Ich gehe Barbara die Nägel lackieren! Die wird Augen machen“, sagte sie und hüpfte vergnügt aus dem Zimmer. „Tschüss Pippa, und danke nochmal!“