Ruf der Drachen - Yalda Lewin - E-Book

Ruf der Drachen E-Book

Yalda Lewin

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Beschreibung

Er hat eine besondere Gabe. Und er weiß nichts davon … Als der eigenbrötlerische Student Jakob Roth 1988 nach Westberlin kommt, hat der Kalte Krieg die Stadt noch fest im Griff. Während er versucht, als Klarinettenlehrer seinen Lebensunterhalt aufzubessern, entdeckt Jakob eines Tages einen merkwürdigen Wasserspeier mit einem Drachenkopf – und findet sich unversehens in einem Rätsel wieder, das ihn sofort gefangen nimmt. Steht wirklich eine Revolution bevor? Warum wird er plötzlich verfolgt? Und was hat es mit der mysteriösen Maren auf sich, die Jakobs Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellt? Jakob muss einsehen, dass er niemandem trauen kann. Vielleicht nicht einmal der eigenen Intuition … - Ruf der Drachen - Prequel zu „Die dunkle Seite des Weiß“ -

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Ruf der Drachen

Yalda Lewin

Für Markus

The very first time I saw your face I thought of a song and quickly changed the tune. The very first time I touched your skin I thought of a story and rushed to reach the answers soon. Remember – please don’t change.

(The Cure – Primary)

KAPITEL I

Es begann nicht einmal zwei Monate nach meinem Umzug nach Westberlin. Hätte ich geahnt, dass sich mein ganzes Leben verändern würde – vielleicht hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, was sich längst Wege gebahnt hatte. Doch sieht man nicht immer erst im Nachhinein, worin Sinn liegt und worin nicht?

Vergessen die Jahre zuvor, das Suchen, das Warten, die merkwürdige Ungeduld in einem Gefühl von permanentem Halbdunkel. In diesem Moment, am Abend des 6. Oktober 1988, beginnt die Geschichte von Jakob Roth, zwanzig, Student der Musik und Judaistik, Nichtraucher, Schlafgestörter und Zweifler. Meine Geschichte …

***

Als ich aus der kleinen Stadtvilla kam, hatte sich die blaue Dämmerung schon über das Viertel gelegt wie ein Nachtfalter die samtigen Flügel. Es war kühl geworden in den letzten Tagen. Die Bäume in den Straßen von Berlin-Friedenau trugen ihre gelb-grün gesprenkelten Blätter noch wie zum Trotz hoch erhoben, doch in der Luft lag schon eine deutliche Vorahnung des Winters. Ich hängte mir meinen Klarinettenkoffer über die Schulter und wollte gerade die wenigen Stufen des Hauses hinunter und durch den kleinen Vorgarten zur Straße gehen, als ein Geräusch meine Aufmerksamkeit erregte. Ein feines Plätschern, kaum wahrnehmbar, das nach wenigen Sekunden wieder verstummte. Ich wandte den Kopf und erblickte an der Regenrinne des alten Hauses einen merkwürdigen Umriss. Im Halbdunkel konnte ich ihn nicht richtig erkennen, trat näher – und zuckte zurück. Ein silbrig schimmernder Drache starrte mit weit aufgerissenem Maul zu mir herunter.

Fasziniert betrachtete ich den stummen Wasserspeier. Er wirkte merkwürdig deplatziert an diesem Haus, wie ein verrückter Auswuchs einer ganz normalen Regenrinne. Der Drache war nicht besonders groß, aber jetzt, da ich nah genug war, sah ich die fein gearbeiteten Strukturen. Schimmernde Schuppen bedeckten den Hals bis zu dem Punkt, an dem er in die Regenrinne des Hauses überging, und die Augen waren mit je einem funkelnd blauen Stein verziert, in dem sich das Licht der Gaslaternen brach.

Mein Blick wanderte zum Hals des Drachen zurück und ein Symbol, das sich nur schemenhaft abzeichnete, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich trat noch näher heran. Tatsächlich, da war etwas in das Metall eingraviert. Es sah aus wie eine kleine Sonne. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte die Hand aus. Als meine Finger die Gravur berührten, zuckte ich zurück, als wäre elektrischer Strom durch mich hindurchgejagt. Ein heftiger Schauer lief mir über den Rücken.

Ich atmete tief durch. Da war es wieder, dieses Gefühl, das ich seit meiner Kindheit kannte. Es trat immer dann auf, wenn an einem Ort irgendetwas Außergewöhnliches in der Luft lag. Etwas jenseits der Norm. Ich konnte nie genau sagen, wodurch ich diese Phänomene wahrnahm. War es das Prickeln, das sich auf meine Haut legte wie feinste Eiskristalle? Die Tatsache, dass ein Vibrieren durch mein Nervensystem lief und mich oft genug irritiert zurückließ? Was auch immer, eins stand für mich innerhalb von Sekunden fest: Mit diesem Wasserspeier stimmte etwas nicht.

Ich machte einen Schritt zurück und blickte mich um, doch da war nichts als Stille und das leise Rascheln des Herbstwindes in den Bäumen.

Dann, ganz plötzlich, setzte das Plätschern des Wasserspeiers wieder ein. Ein rhythmisches Tropfen für einige Sekunden – und dann, als hätte jemand einen Hahn zugedreht, erneute Stille.

Ein Gedanke durchzuckte mich: Der Herbst war in diesem Jahr ungewöhnlich trocken. Es hatte seit Tagen nicht geregnet und die gesamte erste Oktoberwoche war von strahlendem Sonnenschein erfüllt gewesen. Woher bezog der Wasserspeier an der Dachrinne also sein Wasser? Und wieso nur in so unregelmäßigen Abständen?

In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Christiane Meinert, die Mutter meines Klarinettenschülers, trat in den Lichtkegel, den die Flurlampe auf die Treppe warf. Als sie mich sah, zuckte sie zusammen. »Herr Roth? Was tun Sie denn noch hier? Haben Sie etwas vergessen?«

Ich trat hastig einige Schritte zurück und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein. Ich habe nur …« Ich wollte auf den Wasserspeier deuten, doch im letzten Moment überlegte ich es mir aus unerfindlichen Gründen anders. Stattdessen machte ich eine fahrige Handbewegung. »… nur Ihren Vorgarten bewundert. Ja … den Garten.«

Christiane Meinert runzelte die Stirn und blickte sich irritiert um. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Vorgarten alles andere als eine Augenweide war: Die Gehwegplatten waren überwuchert von Löwenzahn, die Beete allesamt ungepflegt.

Ich räusperte mich.

»Ich bewundere Ihren Einsatz für die unverfälschte Natur. Ja. Ich denke, es gehört Mut dazu, es wachsen zu lassen, wie es eben will.«

»Und ich denke, Sie gehen jetzt besser.«

Christiane Meinerts Gesicht hatte sich während ich sprach so zunehmend verfinstert, dass ich um die Fortsetzung der Klarinettenstunden für ihren Sohn zu bangen begann. Es war an der Zeit, zu gehen.

»Einen schönen Abend!«, wünschte ich und lächelte der Mutter meines Schülers zu.

Sie zwang sich ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht, doch die Art, wie sie mich musterte, blieb kühl und misstrauisch. »Ebenso.«

Den ganzen Weg die Straße hinunter bis zur U-Bahn-Station konnte ich Christiane Meinerts Blick auf mir spüren. Offensichtlich wollte sie sichergehen, dass ich auch tatsächlich verschwand und mich nicht heimlich im Dunkeln wieder in den Garten zurückschlich.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Idiot!

Ich brauchte den Job dringend. Erst vor wenigen Wochen war ich in Berlin angekommen und studierte jetzt im ersten Semester an der Freien Universität. Berlin war meine Wunschstadt gewesen, mein Sehnsuchtsort – zum einen, weil man hier das Gefühl hatte, auf einer abgeschotteten Insel zu leben. Und dem Wehrdienst entging. Doch es war nicht nur das. Ich hatte nach Berlin gewollt, weil meine Vorfahren hier gelebt hatten, vor dem Holocaust. Sie hatten sich rechtzeitig ins Ausland retten können, dadurch aber so gut wie alles verloren. Jetzt nach Berlin zu gehen und hier zu leben, fühlte sich für mich an, als würde ich an ihrer Stelle die Stadt zurückerobern.

Um mein Studium zu finanzieren, unterrichtete ich Klarinettenschüler, und davon hatte ich im Moment noch zu wenige. Etwas anderes hatte sich allerdings auf die Schnelle auch nicht auftreiben lassen, und zudem war es die beste Tätigkeit, die ich mir vorstellen konnte. Außer vielleicht, mich den ganzen Tag in Archiven in historische Dokumente zu vergraben, wofür mich aber wohl niemand freiwillig bezahlen würde. Nein, momentan war jeder einzelne Klarinettenschüler überlebenswichtig für mich. Und ich konnte nur hoffen, dass ich es mir durch die intensive Auseinandersetzung mit dem seltsamen Wasserspeier nicht mit den Meinerts verdorben hatte.

Noch während ich mit der U-Bahn zurück nach Kreuzberg fuhr, hallte die Neugier in mir nach. Der Wasserspeier war irgendwie merkwürdig gewesen. Doch wie merkwürdig er wirklich war, das konnte ich damals noch nicht ahnen.

***

Ich schlief wenig in der folgenden Nacht, was zum einen an den Erschütterungen lag, die die nahegelegene Hochbahn in der Altbauwohnung auslöste, die ich mit einem Philosophiestudenten teilte, aber mindestens ebenso sehr an der Tatsache, dass der Wasserspeier sich in meinen Gedanken eingenistet hatte. Immer wieder tauchte der Drachenkopf in meinen Träumen auf. In seine blau funkelnden Steinaugen trat wildes Leben, der Wasserspeier reckte sich, wuchs und wuchs, wurde zu einem riesigen, das gesamte Haus überragenden Drachen, der finster auf mich hinabstarrte, als wäre ich sein nächstes Opfer.

Morgens um vier schließlich, nachdem der Drache in meinem Traum damit begonnen hatte, Feuer statt Wasser zu speien, hatte ich es satt, mich herumzuwälzen. Wie gerädert schlurfte ich hinüber in die Küche und traf dort – wie erwartet – auf Max. Mein Mitbewohner hockte im Schneidersitz auf der breiten Fensterbank, den verstaubten Ficus benjamini neben sich, und tat so, als meditiere er. Unbeeindruckt ging ich zum Kühlschrank und zog die Tür auf. Ich kannte das Szenario schon. Max meditierte nie. Und deshalb war es auch nicht nötig, besonders rücksichtsvoll zu sein.

In der Kühlschranktür klirrten einige Bierflaschen aneinander und sofort riss Max ein Auge auf und musterte mich finster.

»Geht das auch weniger laut?«

»Wieso? Hast du geschlafen?«

»Nein«, antwortete Max betont würdevoll, schälte die Beine aus der unbequemen Haltung und sprang mit einem Seufzen von der Fensterbank. »Ich suche Erleuchtung, Jakob. Erleuchtung. Würde dir auch guttun.«

»Die muss ich nicht suchen«, antwortete ich trocken, während ich ein Bier öffnete. »Die findet mich schon ganz von allein, wenn sie möchte. Willst du?«

Als Max nickte, drückte ich auch ihm eine Flasche in die Hand und ließ mich anschließend auf einen der knarzenden Küchenstühle fallen.

Max hob eine Augenbraue. »Schlaflos?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist nichts Neues. Der Schlaf und ich stehen auf Kriegsfuß.«

Ich verschwieg, dass Träume von Drachen nichts Neues für mich waren. Seit meiner Kindheit waren sie immer wieder aufgetreten, in unterschiedlichsten Varianten, und dann manchmal auch für Jahre wieder verschwunden. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass der Drachentraum in dieser Nacht etwas damit zu tun hatte. Es war einfach nur mein Unterbewusstsein, das die Eindrücke des Tages verarbeitete.

»Ich sage doch, du brauchst Erleuchtung«, sagte Max und kletterte auf die Fensterbank zurück. Hinter ihm lag die Nacht tiefschwarz über den Straßen und für einen Moment konnte man das Gefühl bekommen, wir wären die einzig wachen Menschen in der Stadt. Was definitiv Unsinn war. Berlin schlief nie.

»Was macht die Uni?«, fragte ich, während Max gewollt meditativ auf seine Bierflasche starrte.

Er verzog die Mundwinkel. »Ich denke, der geht’s gut. Ich war länger nicht mehr da. Maren war interessanter.«

»Hieß die nicht Tanja?«

»Das war die davor.«

Ich schüttelte lachend den Kopf. Keine Ahnung, warum, aber Max hatte extrem gute Karten bei den Frauen. Er schien ohnehin alles und jeden zu kennen und sich trotzdem so gut wie nichts aus den Kontakten zu machen. Warum er mich nur einige Monate zuvor als Mitbewohner ausgesucht hatte, obwohl eine ganze Horde von Interessenten das WG-Zimmer hatte haben wollen, war mir noch immer ein Rätsel. Aber es war verflucht schwer, eine Wohnung oder auch nur ein Zimmer in Westberlin zu bekommen. Da fragte man nicht weiter nach.

In diesem Moment lösten sich einige Tropfen aus dem Wasserhahn und schlugen hart in der Spüle auf. Sofort war die Erinnerung an den Wasserspeier wieder da. An diesen Drachen, der mich bis in meine Träume verfolgte.

»Du, Jakob?«

»Hm?«, brummte ich, von Max aus den Gedanken gerissen. Ich blickte zu meinem Mitbewohner hinüber. Max hatte die Augen theatralisch geschlossen.

»Hast du morgen früh schon was vor?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, da ist in der Uni nichts los. Ich muss allerdings Klarinette üben.«

»Ach, das musst du doch eh immer.« Max machte eine wegwischende Handbewegung. »Findest du nicht auch, du könntest deinem wunderbar großzügigen Mitbewohner, der dir diese formidable Bleibe inmitten des völlig übervölkerten Westberlins überlassen hat, einen kleinen Gefallen tun?«

»Ich schätze, mir wird gar nichts anderes übrig bleiben, oder?«, murmelte ich, während sich ein flaues Gefühl in mir ausbreitete. Was immer Max vorhatte, es klang heikel. Und ich war nicht gerade versessen auf heikle Situationen.

Max schlug die Augen auf und verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Möglich …« Er setzte sich zurecht. »Pass auf, es geht um Maren. Ich glaube, sie ist eher so der romantische Typ. Nur eben gut versteckt unter diesem ganzen Feminismus-Aktivismus-Zeugs. Kurz gesagt: Ich brauche jemanden, der ihr Blumen vorbeibringt.«

»Aha. Macht man so etwas nicht selber? Als romantischer Typ, unbeeindruckt von diesem ganzen Feminismus-Aktivismus-Zeugs?«

Max verdrehte die Augen. »Man muss ja nicht gleich so offensiv werden, oder? Außerdem, wenn sie es blöd findet, dann hole ich mir wenigstens nicht persönlich eine Abfuhr.«

»Alles klar, verstehe.« Ich hob eine Augenbraue. »Und warum muss das so früh am Morgen sein?«

»Weil Maren dann ganz sicher zu Hause ist. Sonst ist sie den ganzen Tag in der Uni, danach wahrscheinlich arbeiten. Und ich will das mit den Blumen vor Beginn des Wochenendes erledigt haben.«

»Erledigt?«

Max seufzte dramatisch. »Ja, Herrgott! Also, machst du’s?«

Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier. »Klar. Wenn’s sein muss. Besondere Wünsche, was die Blumen angeht?«

Max sprang vom Fensterbrett und hastete aus der Küche.

»Moment!«

Ich hörte, wie er in seinem Zimmer eine Schublade aufzog. Papier raschelte und nur Sekunden später stand Max wieder im Türrahmen. Vor sich einen riesigen Blumenstrauß.

Ich hob erneut die Brauen. Dieses Mal beide.

»Rosen?«

»Selbstverständlich!« Max musterte mich entrüstet und zupfte an den Blumen herum. »Denkst du, ich mache halbe Sachen?«

Ich griff mir seufzend an die Stirn.

»Max, ganz ehrlich, ich sehe das Problem nicht. Ihr beide hattet was miteinander, richtig?«

Max druckste ein wenig herum. »So würde ich das nicht unbedingt nennen.«

»Ihr hattet also nichts miteinander, aber du würdest das gerne ändern.«

Er legte bedächtig den Kopf schief. »Könnte man so sagen. Wobei es nicht mal eine Beziehung sein müsste …«

Ich unterdrückte ein Lachen.

»Prima. Du willst mit ihr in die Kiste. Das schaffst du doch bei anderen Frauen üblicherweise spielend. Wieso also dieser Aufstand? Was ist bei Maren anders?«

Max presste die Lippen aufeinander und starrte aus dem Fenster in die Nacht hinaus, als überlege er, mir tatsächlich zu erzählen, was los war. Dann schnaubte er nur leise, schlang das Blumenpapier wieder um den Strauß und drückte ihn mir in die Hand. »Mach es einfach!«

Ich verkniff mir ein Grinsen, holte ein großes Bierglas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser, das wieder einmal merkwürdig rostrot aus den alten Rohren floss, und stellte die Blumen vorsichtig hinein.

»Also gut. Wo wohnt diese Maren?«

»In Neukölln.«

Max verriet mir Straße und Hausnummer, verlor aber sonst kein Wort mehr über die ominösen Gründe der Blumenaktion. Ich sah ein, dass aus ihm nicht mehr herauszuholen war, und schlurfte, nachdem ich mir die Adresse aufgeschrieben hatte, mit Blumen und Notiz zurück in mein Zimmer. Ein Blick auf den Stadtplan zeigte, Marens Wohnung war nicht weit entfernt. Vielleicht zwanzig Minuten Fußweg.

Ich betrachtete die Blumen, die nun in dem Bierglas auf meinem Schreibtisch am Fenster thronten, und unterdrückte ein Seufzen. Ganz sicher würde diese Maren nicht begeistert sein, vor einem langen Uni- und Arbeitstag mit einem pseudo-romantischen Blumengruß überfallen zu werden. Aber gut. Max hatte diesen Plan gefasst, ich war nur der Bote. Dass man früher mit Vorliebe die Boten köpfte, verdrängte ich lieber. Stattdessen blickte ich auf den Wecker. Mir blieb noch eine Dreiviertelstunde für ein wenig Schlaf. Ich zog mir die Decke über den Kopf und sank erneut in einen unruhigen Schlummer.

Hätte ich auch nur im Geringsten geahnt, was dieser Botengang auslösen würde, ich wäre nicht vor die Tür gegangen. Doch als ich endlich bemerkte, wie tief ich in Dinge hineingeraten war, die mich nichts angingen, war es schon längst zu spät …

KAPITEL II

Der Morgen war trüb. Die Koronen der alten Gaslaternen schwebten wie erstarrte Irrlichter im Nebel und der rußige Geruch der Kohleöfen, um die sich die Berliner bei Kälteeinbruch kümmerten wie um träge Haustiere, stach mir beißend in die Nase. Ich ging durch die Straßen Kreuzbergs zum Kanal hinunter und dann weiter, immer am Ufer entlang, Richtung Neukölln. Das Wasser glitzerte dunkel und jenseits des Nebels tauchte wie ein Trugbild das Grau der Mauer auf, die die Stadt durchschnitt. Hier war nicht nur die Grenze zwischen den Stadtteilen Kreuzberg, Neukölln und Treptow – hier verlief eine Grenze zwischen Welten, und die Häuser direkt hinter der Mauer schienen Galaxien entfernt zu sein.

Wie immer, wenn ich an der Mauer entlangkam, spürte ich die wachsame Beobachtung als Prickeln im Nacken. Die Wachtürme düstere Kuben. Verborgene Blicke, die einem wie misstrauische Dämonen folgten. Und in der Ferne aufragend der Fernsehturm, der im frühen Herbstnebel wie eine Illusion über der Stadt zu schweben schien. Ich ließ die Brücke an der Lohmühle links liegen und tauchte ein in die diesigen Schatten alter Platanen, bis ich die gesuchte Straße erreichte. Innerhalb weniger Minuten war ich an dem Haus angelangt, in dem Maren lebte. Ich suchte nach dem Klingelschild mit ihrem Nachnamen und fand es nach wenigen Sekunden. Maren Unger. Ein Blick auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Meine Kehle war plötzlich merkwürdig trocken, aber ich stand ja auch nicht jeden Tag mit einem Strauß roter Rosen bei einer wildfremden Frau vor der Tür. Sollte ich vielleicht einfach warten, bis sie runterkam? Aber ich wusste ja nicht einmal, wie sie aussah …

Das Tor war nicht verschlossen und so gelangte ich ohne Probleme in den Innenhof. Ich durchquerte ihn, ohne mich genauer umzusehen. Zu sehr beschäftigte mich die bevorstehende Aufgabe. Und insgeheim verfluchte ich Max und seine verrückten Ideen.

Maren Unger wohnte im Seitenflügel, Aufgang III, erster Stock. Mit wild pochendem Herzen betrat ich den Flur und stieg die Treppe hinauf. Es war düster wie in den meisten Berliner Altbauten, die Stufen ächzten unter jeder Bewegung und der unverkennbare Geruch von Staub und Bohnerwachs lag in der Luft.

Vor Marens Tür angekommen, blieb ich stehen, streckte die Hand aus, hielt aber kurz vor Berühren der Klingel inne. Vielleicht lieber doch nicht? Es war so verdammt früh … Max tat sich damit ganz sicher keinen Gefallen!

Jakob, darüber hast du nicht zu entscheiden.

Nein. Am besten brachte ich diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich! Ich atmete tief durch und drückte dann beherzt auf die Klingel. Einmal. Zweimal. Das Geräusch schrillte erschreckend laut durch die Morgenstille.

Einen Moment blieb es ruhig in der Wohnung und ich wollte schon aufatmen, da polterte es. Das Knarren von Dielen unter schnellen Schritten und nur Sekunden später wurde die Tür aufgerissen.

»Was soll der Scheiß?«

Ich fuhr zusammen. Vor mir stand eine junge Frau, mit nichts weiter als einem weiten Kimono bekleidet, den sie nachlässig mit einem Seidenband an der Hüfte zusammengeschlungen hatte. Ihr Haar, dessen Farbe und Frisur mich an Mireille Matthieu erinnerten – nur dass es bei diesem Mädchen erstaunlich gut aussah! – war noch verstrubbelt vom Schlaf. Ganz offensichtlich hatte ich Maren Unger gerade direkt aus dem Bett geklingelt.

Doch nicht das hatte mich zusammenzucken lassen. Es war ihr Gesicht, das mir merkwürdig bekannt vorkam. Und die Art, wie Maren mich ansah. Erst wütend, dann zunehmend ungläubig.

»Jakob?«, sagte sie irritiert und blickte zwischen mir und den Rosen hin und her.

Ich straffte die Schultern.

»Blumen … für … Sie«, stotterte ich den Satz heraus, den ich mir zurechtgelegt hatte, und suchte in Gedanken zugleich fieberhaft nach einer Erklärung dafür, dass Maren Unger mir so bekannt vorkam.

Sie schien es zu spüren, denn sie lächelte.

»Wir kennen uns aus der Uni. Das Seminar für mittelalterliche Notation. Ich bin Maren – das Klavier.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Besser gesagt: Maren mit dem Hauptfach Klavier.«

Natürlich! Es durchschoss mich wie ein Blitz. Maren saß schräg vor mir, meistens sah ich nur ihren Hinterkopf. Einen ausnehmend hübschen Hinterkopf, wie mir nicht entgangen war. Doch bis heute hatte ich nie Gelegenheit bekommen, sie anzusprechen. Geschweige denn gewusst, dass sie Maren hieß.

Maren musterte mich für einen Augenblick mit ihren dunkelbraunen Mandelaugen. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Morgens um sieben mit Rosen vor meiner Tür stehen … DAS hat bisher tatsächlich noch keiner gemacht. Süß von dir. Und mutig.«

Mein Herz machte einen Sprung. »Was? Oh … nein, die sind nicht von mir.« Hastig reichte ich Maren den Strauß.

Sie hob irritiert die Augenbrauen. »Wie bitte?«

Ich schluckte schwer.

»Max. Die Blumen sind von Max. Mein Mitbewohner. Ich bin nur der …«

… Bote, der gleich einen Kopf kürzer gemacht wird, schoss es mir durch die Gedanken.

Marens Miene änderte sich schlagartig. Statt des Lächelns legte sich ein Schatten über ihr Gesicht.

»Max? Ach so.«

Sie musterte die Blumen in ihrer Hand und blickte dann zurück zu mir. Eine steile Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet.

»Egal. Willst du einen Kaffee?«

Ich zögerte einen Moment. Dann – ich weiß nicht genau, warum – nickte ich.

»Aber nur, wenn ich nicht störe.«

»Ach was. Wie könntest du stören, mitten in der Nacht?«

Maren drehte sich um und ging den für Berliner Altbauten so typischen langen und schmalen Flur entlang. Ich trat ein und schloss behutsam die Tür hinter mir. Jede einzelne der morschen Dielen schien unter meinen Schritten zu knarren.

Als ich in die Küche kam, klappte Maren gerade den Mülleimer auf und ließ den Blumenstrauß hineinfallen.

»Den Kaffee schwarz oder mit Zucker?«, fragte sie ungerührt. »Milch ist aus.«

Ich starrte auf den Deckel des Mülleimers, der beim Zufallen gnadenlos die Rosen geköpft hatte. Maren folgte meinem Blick, zuckte dann mit den Schultern und seufzte leise.

»Max gibt einfach nicht auf. Manchmal glaube ich, er ist irre.« Sie legte den Kopf schief. »Weißt du, genau deshalb fange ich nie in der ersten Nacht etwas mit einem Typen an. Man weiß einfach nicht, als was der sich dann entpuppt.«

Ich nickte stumm. Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte antworten können. Außer, dass mich diese Aussage auf eine völlig verdrehte Art irgendwie enttäuschte.

Jakob, was ist los mit dir?

»Setz dich doch.«

Maren deutete zum Küchentisch hinüber und ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. Dann beobachtete ich schweigend, wie sie eine alte silberne Espressokanne mit grobkörnigem Kaffee füllte, Wasser in den unteren Behälter laufen ließ und alles zusammensetzte. Sie entzündete die Flamme am Gasherd, stellte die Kanne auf die gusseiserne Abdeckung und drehte sich schließlich zu mir um.

»Also, dann schieß mal los.«

Ich starrte auf die kleine Grube an ihrem Hals, direkt über dem Brustbein, freigelassen vom seidigen Stoff des taubenblauen Kimonos. Ein kleiner herzförmiger Leberfleck schmiegte sich dort in die Haut und ich konnte nicht anders als mir vorzustellen, mit den Fingerspitzen vorsichtig darüberzustreichen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, während ich es einfach nicht schaffte, meinen Blick von dieser bezaubernden Stelle abzuwenden.

Maren beugte sich vor und wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. »Jakob? Hallo? Hier bin ich. Du darfst mir gerne auch in die Augen sehen. Mein Busen ist nicht besonders gesprächig.«

Ich verschluckte mich und brach in wildes Husten aus.

»Das hast du falsch verstanden, ich habe gar nicht …«

»Wieso machst du so einen Blödsinn?«

Ich spürte einen Druck in der Magengegend. »Was meinst du?«

Maren seufzte und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

»Die Rosen morgens um sieben. Wieso lässt du dich von Max einspannen?«

»Er ist mein Mitbewohner.«

Noch bevor ich den Satz beendet hatte, wurde mir klar, wie dumm sich das anhörte. Als wäre das eine Erklärung!

Maren lächelte matt. »Und? Was soll mir das sagen?«

Ich zuckte mit den Schultern. Offensichtlich hatte ich ohnehin verloren, egal, was ich jetzt sagte oder tat.

»Ja, stimmt, es war eine bescheuerte Idee! Aber Max meinte, du wärst ohnehin wach, und außerdem …«

»Außerdem – was?«

»Außerdem dachte ich, er schmeißt mich aus dem WG-Zimmer, wenn ich ihm den Gefallen nicht tue. Es ist seine Wohnung. Ich bin da nur Untermieter.«

So, jetzt war es raus! Und ich kam mir plötzlich noch erbärmlicher vor. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, für Max den Botenjungen zu spielen? Das war mehr als dämlich.

Maren pfiff beim Ausatmen leise durch die Zähne. Sie hatte eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen und selbst die war irgendwie hinreißend.

Ich riss meinen Blick los und deutete auf die Espressokanne, die hinter ihr inzwischen wild auf dem Herd blubberte. »Der Kaffee …«

Marens Miene war nicht zu deuten. War sie wütend? Oder fand sie mich einfach nur jämmerlich? Schwer zu sagen, denn schon hatte sie sich umgedreht und die Kanne vom Herd genommen.

Ich sprang auf, holte zwei Becher aus einem kleinen Holzschrank mit Glastüren und stellte sie auf den Küchentisch.

»Danke«, murmelte Maren und goss dann schweigend den Kaffee ein.

Ich setzte mich wieder, unschlüssig, wohin mit meinen Händen. Maren ließ sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen, beugte eines ihrer Beine und schob es sich unter den Hintern. Dann umfasste sie den Kaffeebecher mit beiden Händen und betrachtete einen Moment den Dampf, der aus dem Inneren aufstieg. Mir fiel auf, wie feingliedrig ihre Finger waren. Die Hände einer Pianistin.

»Und jetzt?«, fragte sie schließlich und nippte an ihrem Kaffee.

Ich zuckte erneut mit den Schultern. »Ich werde Max sagen, dass ich dir die Rosen übergeben habe, und fertig. Was du mit ihnen anstellst, ist deine Sache.«

Damit stand ich auf. Das Gefühl, dass ich hier nichts zu suchen hatte, war in der letzten Minute überdeutlich geworden. Und der Grund dafür war, dass ich es zu sehr wollte. Ich wollte bleiben, wollte unbedingt mehr über Maren erfahren. Wer sie war, was sie tat, wenn sie nicht gerade im Seminar für mittelalterliche Notation saß, wovon sie träumte, was sie liebte. Alles.

Toll, Jakob! Verguckst du dich gerade in die Frau, auf die dein Mitbewohner scharf ist? Klasse!

Maren erhob sich überrascht. »Du gehst?«

Ich nickte. »Ja. Danke für den Kaffee. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich so früh rausgeklingelt habe. Wie gesagt, das war so nicht geplant.« Ich runzelte die Stirn. »Warum habe ich dich eigentlich geweckt? Solltest du nicht schon auf dem Weg in die Uni sein?«

»Das sagt der Richtige«, antwortete Maren trocken. »Und du?«

Ich lächelte matt. »Ich muss nur Klarinette üben. Alleine in meinen vier Wänden.«

Maren grinste schief.

»Und ich habe heute einfach keine Lust. Manchmal gibt es wichtigeres als Pflichten.«

Ich nickte stumm und merkte, dass sie mich prüfend beobachtete.

»Wie siehst du das, Jakob? Bist du einer, der sich immer an die Regeln hält?«

Gute Frage. War ich das? Bisher zumindest war mein Leben eher von möglichst großer Unauffälligkeit geprägt gewesen. Wahrscheinlich ein jüdisches Erbe, das sich unterbewusst weitergab.

»Kommt darauf an, denke ich«, antwortete ich ausweichend.

Maren lachte. »Gut zu wissen.«

Erneut das Knarren der Dielen unter meinen Schuhsohlen, als ich zur Tür ging. Es erschien mir merkwürdigerweise wie eine Flucht. Der Türgriff kühl unter den Fingern.

In diesem Moment spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Maren.

»Jakob?«, fragte sie.

Ich trat auf den Hausflur hinaus und drehte mich mit wild pochendem Herzen um.

»Ja?«

Sie zögerte kurz, dann huschte ein Lächeln über ihr hübsches Gesicht. »Danke für die Blumen.« Sie beugte sich vor und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Dann schloss sich die Wohnungstür.

***

In meinen Knien breitete sich ein Schweben aus, während ich die knarrenden Stufen hinunterging. War das gerade wirklich passiert? Hatte Maren mich geküsst?

Nur auf die Wange, sicher, aber trotzdem …

Das war wohl mehr, als Max jemals von ihr erwarten konnte. Nur – wieso erfüllte mich das mit einem stillen Triumph?

Ich schüttelte heftig den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben, und trat in den Hof hinaus. Mein Blick glitt kurz nach oben zu den Fenstern von Marens Wohnung. Sie war nirgends zu sehen. Doch das hatte ich auch nicht erwartet. Wahrscheinlich war sie sofort wieder unter die Decke gekrochen. Leider ohne mich.

Ich seufzte leise, straffte die Schultern und machte mich auf den Weg zurück zum Tor, zurück über das ausgetretene Kopfsteinpflaster. Jetzt hatte ich auch die Ruhe, mich umzusehen. Es war einer dieser typischen Berliner Hinterhöfe, von allen Seiten durch vierstöckige Häuser aus der Gründerzeit umrahmt. Einige Bäume fristeten im Hof ein eher trauriges Dasein und hatten den Boden schon frühzeitig mit ihren gelben Blättern bedeckt. Das nasse Laub schmiegte sich an meine Schuhe wie feuchtes Papier und der deutlich herbe Geruch der Kohleöfen hatte sich im Kessel des Hofes gesammelt wie die Ankündigung eines bevorstehend harten Winters.