Russland – eine pragmatische Großmacht? - Johann Zajaczkowski - E-Book

Russland – eine pragmatische Großmacht? E-Book

Johann Zajaczkowski

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Beschreibung

Betreibt Russland eine imperialistische Außenpolitik? Oder lässt es sich eher als pragmatische Großmacht beschreiben – und wenn ja, warum? Mit dem Zusammenbruch der UdSSR löste sich der Nexus zwischen der Identität Russlands als Nachfolgestaat der Sowjetunion und seinem außenpolitischen Verhalten. Sicher geglaubte Gewissheiten über die Rolle Russlands in der Welt gingen verloren. Das vorliegende Buch legt mithilfe eines rollentheoretischen Ansatzes den Blick auf das russische Selbstverständnis frei und geht der These nach, dass die unter Putin wiedergewonnene außenpolitische Handlungsfreiheit zur Ausgestaltung eines begrenzten, dafür aber sakrosankten Repertoires an Identitäten genutzt wird. Als empirische Grundlage dienen zwei Fallstudien: Die Kooperation mit den USA im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001 sowie der russisch-georgische Krieg im August 2008. Während der enge Schulterschluss mit Washington als Abkehr vom Imperialismus-Paradigma gedeutet wurde, nährte der Fünftagekrieg in weiten Teilen des westlichen Medienbetriebes den Verdacht, dass russische Entscheidungsträger einem Imperialismus-Syndrom unterworfen sind. Die vorliegende Untersuchung verdeutlicht, dass der Schlüssel zum Verständnis Russlands in seiner Selbstverortung gegenüber dem Westen (in Gestalt der USA als relevantem Alter) liegt. Dadurch sind politische Entscheidungen wie etwa die Anerkennung des Kosovo eng mit Konzepten wie Status und Mitsprache verbunden. Solche Entscheidungen bilden aus Moskauer Sicht häufig einen negativen Referenzpunkt, auf dessen Grundlage Russland einen eigenen Rahmen angemessenen außenpolitischen Verhaltens konstruiert. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis russischer Außenpolitik. Der uneindeutige westliche Diskurs um die sogenannte Ukraine-Krise verdeutlicht die Relevanz der hier angebotenen Perspektive für eine einfühlsamere Interpretation und ein klareres Verständnis russischen außenpolitischen Verhaltens im neuen Jahrhundert.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Abkürzungen
1. Einleitung
1.1 Erkenntnisinteresse
1.2 Relevanz
1.3 Forschungsstand
1.4 Methodik und Aufbau
2. Die Rollentheorie als Instrument der Außenpolitik-analyse
2.1 Herkunft und theoretische Verortung
2.2 Definition und inhaltliche Verortung
2.3 Methodisches Vorgehen und Operationalisierung
2.4 Übertragbarkeit auf die Russische Föderation
3. Das außenpolitische Rollenkonzept der Russischen Föderation
3.1 Ideologie und Weltbild
3.1.1 Aktive Außenpolitik
3.1.2 Kompetitives Weltbild
3.1.3 Kooperatives Weltbild
3.2 Normen und Werte
3.2.1 Unabhängigkeit
3.2.2 Verlässlichkeit und Partnerschaft
3.2.3 Altruismus
3.3 Interessen und Ziele
3.3.1 Gestaltungswille
3.3.2 Status und Prestige
3.3.3 Ökonomischer Aufstieg
3.3.4 Sicherheit
3.4 Strategien
3.4.1 Verrechtlichung
3.4.2 Multivektoralität
3.4.3 Multilateralität
3.4.4 Primat der UN
3.4.5 Integration in die Weltwirtschaft
3.5 Instrumente
3.5.1 Primat des Nichtmilitärischen
3.5.2 Defensive militärische Ausrichtung
3.6 Alterorientierte Rollen
3.6.1 Russland als Teil Europas
3.6.2 Russland als Partner der USA
3.6.3 Russland als imperialistische Macht
3.7 Zwischenfazit – Russland als pragmatische Großmacht
4. Die russische Außen- und Sicherheitspolitik in Zen-tralasien und im Kaukasus
4.1 Russland als selbstgenügsame Macht – 1991 bis 1993
4.2 Russland als Schutzmacht der GUS – 1993 bis 1996
4.3 Russland als wiederkehrende Großmacht – 1996 bis 2001
4.4 Russland als zurückhaltende Großmacht – 2001 bis 2004
4.5 Russland als assertive Großmacht – 2004 bis 2008
5. Zusammenarbeit mit den USA im „Kampf gegen den Terror“ nach 9/11
5.1 Vorkriegsphase – 11. September 2001 bis 7. Oktober 2001
5.1.1 Ideologie und Weltbild
5.1.2 Normen und Werte
5.1.3 Interessen und Ziele
5.1.4 Strategien
5.1.5 Instrumente
5.1.6 Alterorientierte Rollen
5.2 Kriegsphase – 7. Oktober 2001 bis 9. Dezember 2001
5.2.1 Ideologie und Weltbild
5.2.2 Normen und Werte
5.2.3 Interessen und Ziele
5.2.4 Strategien
5.2.5 Instrumente
5.2.6 Alterorientierte Rollen
5.3 Nachkriegsphase – 9. Dezember 2001 bis Februar 2002
5.3.1 Ideologie und Weltbild
5.3.2 Normen und Werte
5.3.3 Interessen und Ziele
5.3.4 Strategien
5.3.5 Instrumente
5.3.6 Alterorientierte Rollen
5.4 Ausklang – Minimalkooperation, Desynchronisierung, Irak-Krieg
6. Der Fünftagekrieg in Georgien
6.1 Vorkriegsphase – 17. Februar 2008 bis 7. August 2008
6.1.1 Ideologie und Weltbild
6.1.2 Normen und Werte
6.1.3 Interessen und Ziele
6.1.4 Strategien
6.1.5 Instrumente
6.1.6 Alterorientierte Rollen
6.2 Kriegsphase – 7. August 2008 bis 16. August 2008
6.2.1 Ideologie und Weltbild
6.2.2 Normen und Werte
6.2.3 Interessen und Ziele
6.2.4 Strategien
6.2.5 Instrumente
6.2.6 Alterorientierte Rollen
6.3 Nachkriegsphase – 16. August 2008 bis 9. Oktober 2008
6.3.1 Ideologie und Weltbild
6.3.2 Normen und Werte
6.3.3 Interessen und Ziele
6.3.4 Strategien
6.3.5 Instrumente
6.3.6 Alterorientierte Rollen
6.4 Ausklang – Reset, Weltbühne, Militärprotektorat
7. Schlussbetrachtung
7.1 Ergebnissicherung
7.2 Kritische Reflexion
7.3 Ausblick – Russland und die Ukraine
Quellen- und Literaturverzeichnis
a) Primärquellen – Rollenkonzept
b) Primärquellen – Fallbeispiele
c) Sekundärquellen
d) Presseerzeugnisse
Anhang
Anmerkungen

Vorwort

Mehr als zwei Dekaden nach dem Zerfall der Sowjetunion sucht Russland immer noch nach seiner Rolle in der Weltpolitik. Gingen die russischen Eliten nach der Implosion der Sowjetunion noch davon aus, Russland könne mit seinem ererbten Nuklearpotential und dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat eine führende Rolle in der Welt spielen, so machte die finanzielle Abhängigkeit Russlands vom Westen – in den 1990er Jahren wurden immerhin rund 50 Milliarden US-Dollar an Finanzhilfen von westlicher Seite bereitgestellt – den Reformern in Moskau schnell klar, wie wenig handlungsfähig Russland dem Ausland erschien. Weder die NATO-freundliche Politik in der ersten Hälfte der 1990er Jahre unter dem damaligen Außenminister Andrej W. Kosyrew noch die realistisch-pragmatische und an Russlands ökonomischer und politischer Stärkung ausgerichtete Außenpolitik der Nachfolgerregierungen verschafften dem Kreml außen- und sicherheitspolitisches Gewicht, um die NATO-Intervention im Kosovo 1999 zu verhindern. Erst der wirtschaftliche Aufschwung im Gefolge steigender Energiepreise sowie die Konsolidierung staatlicher Macht in der Amtszeit von Präsident Wladimir Putin schufen nach 1999 für Russland die Voraussetzungen, um außenpolitisch selbstbewusster aufzutreten. Gleichwohl blieb auch die Außen- und Sicherheitspolitik unter Putin nicht ohne Schwankungen und Widersprüche, wie die vorliegende Studie zeigt. Bewegte sich Russland nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf den Westen zu, so versuchte Putin im Kontext des Irakkriegs 2003 europäische Irritationen über das Verhalten der US-Administration von George W. Bush in eine festere Verbindung zwischen Frankreich, Deutschland und Russland umzumünzen, um nur wenige Jahre später in Reaktion auf die „farbigen“ Revolutionen in Georgien und der Ukraine wieder auf Distanz zum Westen zu gehen. Seitdem hat sich das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen nicht nur weiter abgekühlt, sondern mit der Einverleibung der Krim in die Russische Föderation im März 2014 und der Destabilisierung der Ostukraine hat die russische Politik wichtige Grundlagen der bisher geltenden gesamteuropäischen Ordnung von 1990 zerstört.

Es zeugt von einer gewissen Weitsicht des Verfassers, der die vorliegende Arbeit unter dem ursprünglichen Titel „Das russische Imperium schlägt zurück? Eine rollentheoretische Untersuchung zentraler außen- und sicherheitspolitischer Krisen während der ersten beiden Amtszeiten Putins“ als Qualifikationsarbeit an der Universität Trier im Jahr 2013 anfertigte. Zum damaligen Zeitpunkt konnte kaum jemand erahnen, dass das Jahr 2014 die westliche Politik mit einer qualitativ neuen Situation konfrontiert und in Europa erstmals seit langer Zeit wieder ein innerstaatlich überformter zwischenstaatlicher Konflikt militärisch ausgetragen wird. Dabei hätte es aus rollentheoretischer Perspektive durchaus Anzeichen dafür gegeben, dass Russland die wiedergewonnene außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit zur rollenkonzeptionellen Ausgestaltung jener dauerhaften Einstellungen und Verhaltensmuster nutzt, die tief in den identitären Code Russlands eingewoben sind. Als ein Analyseinstrument von Außenpolitik vermag die Rollentheorie zwar keine Prognosen über das künftige Verhalten von außenpolitischen Entscheidungsträgern abzugeben. Dies gilt vor allem dann, wenn Rollenkonzepte im Wandel begriffen bzw. nur schwach oder vage ausgeprägt sind. Dennoch geht die Rollentheorie davon aus, dass Vorstellungen über Rollen – verstanden als geplante (d.h. kollektiv normierte und individuell konzipierte) und von Repräsentanten realisierte Einstellungs- und Verhaltensmuster von Staaten im internationalen System – über das nationale Rollenkonzept gefasst werden. Staaten verfolgen demnach in ihrer Außenpolitik über längere Zeiträume hinweg weitgehend unveränderliche (oder nur geringfügig modifizierte) Leitlinien, die ihrerseits wiederum durch die außenpolitische Identität (also das Selbstverständnis eines Staates) geprägt sind. Wie die vorliegende Studie der russischen Außen- und Sicherheitspolitik am Beispiel der Zusammenarbeit mit den USA nach dem 11. September 2001 und des Georgienkrieges zeigt, stecken außenpolitische Rollenkonzepte den Handlungsrahmen ab, innerhalb dessen außenpolitisches Verhalten zu erwarten ist.

Der bemerkenswerte Ertrag der vorliegenden Studie betrifft zum einen die Rekonstruktion des russischen Rollenkonzeptes während der ersten beiden Amtszeiten Putins, das sowohl an den Grundkonstanten russischer Außenpolitik als auch an der konzeptionellen Neuausrichtung unter Michail Gorbatschow anknüpft. Damit betritt die vorliegende Studie Neuland, denn bislang liegen kaum rollentheoretische Analysen zur russischen Außen- und Sicherheitspolitik vor. Zum anderen wird aber auch empirisch nachgezeichnet, dass das Verhalten Russlands sich in außen- und sicherheitspolitischen Krisen zu keinem Zeitpunkt außerhalb des vorgegebenen Rollenkonzeptes bewegte. Johann Zajaczkowski konstatiert für das russische Rollenkonzept zwar eine gewisse Ambivalenz, die sich aber auflöst, sobald man sich vom statischen Charakter von Rollenkonzepten löst und Elemente des Wandels einbezieht. Trotz der Tatsache, dass das russische Rollenkonzept unter den außenpolitischen Entscheidungsträgern zunehmend verinnerlicht wurde und seit Anfang der 1990er Jahre an Kohärenz gewonnen hat, macht der Verfasser in mehrfacher Hinsicht Rollenkonflikte in der Außen- und Sicherheitspolitik aus. Einerseits wird der russischen Außenpolitik eine gewisse „weltanschauliche Schizophrenie“ attestiert, die in der Unterscheidung zwischen einer kompetitiven und einer kooperativen Sichtweise auf die internationale Ordnung zum Ausdruck kommt. Beispielhaft dafür ist die ambivalente russische Attitüde gegenüber dem Konzept der Multipolarität, das unter den russischen Eilten sowohl positiv als auch negativ besetzt ist. Andererseits kollidiert mitunter die Rolle des „Unabhängigen“, der dem Souveränitätsprinzip weltweit Geltung verleiht, mit der Fremdwahrnehmung von Russland als „imperiale Macht“ im GUS-Raum.

Noch gewichtiger als die Erhebung des russischen Rollenkonzeptes sind die Erträge der Untersuchung für das Rollenverhalten im Afghanistan- und Kaukasuskrieg. Insgesamt ergibt sich dabei für die russische Außen- und Sicherheitspolitik in Zentralasien und im Kaukasus ein bemerkenswert differenziertes Bild, das Grosso Modo den auf der Analyse des allgemeinen Rollenkonzeptes aufbauend formulierten Erwartungen entspricht. Es entsteht das Bild einer Großmacht, die eine hohe Statusorientierung aufweist und deren Rollensegmente im Rollenkonzept globalen Maßstäben verpflichtet sind. Gleichzeitig ist diese Großmacht – wie der Krieg in Georgien und die Kooperation mit den USA in Afghanistan gegen den internationalen Terrorismus zeigen – aber auch von der Einsicht getrieben, von einer „Großmachtorthodoxie“ abzulassen, nach den Regeln der interdependenten Politik des 21. Jahrhunderts zu spielen und eine am nationalen Interesse orientierte Kooperationsflexibilität zu pflegen. Die Charakterisierung des russischen Rollenkonzeptes als „pragmatische Großmacht“, mit der sich die Ergebnisse der vorliegenden Studie resümieren lassen, erscheint damit mehr als plausibel. Darin spiegeln sich nicht zuletzt die Ambivalenzen des russischen Selbstverständnisses zwischen einer aktiv-kooperativen und kompetitiven Macht, zwischen Souveränitätsfixierung und Kooperationsoffenheit und zwischen Anspruch und Wirklichkeit des neurussischen Status- und Großmachtstrebens wider.

Mit der vorliegenden Studie, die als Magisterarbeit an der Universität Trier entstanden ist, leistet Johann Zajaczkowski nicht nur einen eigenständigen Forschungsbeitrag zur russischen Außen- und Sicherheitspolitik, die Studie relativiert auch die bislang vorherrschenden theoretischen Befunde, wonach sich die außenpolitische Rollentheorie primär – und vielleicht ausschließlich – zur Analyse der Rollenbeziehungen zwischen demokratisch verfassten Staaten eigne.

Siegfried Schieder

Abkürzungen

ABM-TreatyAnti-Ballistic-Missile-Vertrag1

AIAmnesty International

ATZAntiterrorismus-Zentrum

BBSRBaltic-Black Sea Region

BIOstBundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien

BIPBruttoinlandsprodukt

CFRCouncil on Foreign Relations

EUMMEuropean Union Monitoring Mission

FSBFöderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation

G8Gruppe der Acht

GISGemeinschaft Integrierter Staaten

GUSGemeinschaft Unabhängiger Staaten

IBInternationale Beziehungen

IBUIslamistische Bewegung Usbekistans

ICGInternational Crisis Group

IFSHInstitut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg

IGHInternationaler Gerichtshof in Den Haag

IIFFMCGIndependent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia

INTERFETInternational Force East Timor

IPAInternational Political Anthropology

ISAFInternational Security and Assistance Force

KPdSUKommunistische Partei der Sowjetunion

KSZEKonferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

MAPMembership Action Plan

MGIMOStaatliches Moskauer Institut für Internationale Beziehungen

NANordallianz

NGONichtregierungsorganisation

NRCNational Role Concept

1. Einleitung

„Our foreign policy as it formed by the beginning of the 21stcentury is an alloy of the legacy of pre-revolutionary Russia and of the Soviet Union and, of course, the basically new approaches that were conditioned by the radical changes in our country and in the international area over the last decade“(I. Iwanow2002b: 1).

Diese vom Außenminister der Russischen Föderation aufgestellte Behauptung enthält Elemente des Wandels und der Kontinuität. Dabei reicht schon ein flüchtiger Blick auf die sprunghafte und reaktive (vgl. Putin 2004a: 1) Außen- und Sicherheitspolitik Russlands in den 1990er Jahren aus, um der „Wandelhypothese“ einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzusprechen: So basierte die Formulierung der außenpolitischen Ziele, Strategien und Instrumente entweder auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der um die außenpolitische Deutungshoheit konkurrierenden Denkschulen,2 oder aber sie beruhte auf der Durchsetzung einer bestimmten Denkschule (vgl. Lo 2002: 7f., 21). Während die erste Hälfte der 1990er Jahre unter Präsident Boris Jelzin und seinem atlantisch denkenden Außenminister Andrei Kosyrew3 (vgl. Grossmann 2005: 335) als prowestliche und marktliberale Phase bezeichnet wird (vgl. Heikka 1999: 60), versuchte der nachfolgende, einer eurasischen Denkschule verhaftete Außenminister Jewgeni Primakow ab 1996 den Großmachtstatus Russlands wiederherzustellen (vgl. Müller 2012: 46).

Die „Kontinuitätshypothese“ ist schwerer zu durchdringen. Dazu braucht es eine Theorie, die in der Lage ist, die großen Grundkonstanten außenpolitischer Verhaltensmuster nachzuzeichnen. Hierbei könnte sich die Rollentheorie, die aus der Soziologie adaptiert und politikwissenschaftlich fruchtbar gemacht wurde, als geeignetes Analysewerkzeug erweisen. Sie fußt auf der zentralen Annahme, dass die

„Außenpolitik eines Staates dauerhafte Einstellungen und Verhaltensmuster aufweist, die die Summe der geographischen, historischen und situativen Einflüsse und Erfahrungen einer Gesellschaft gewissermaßen in geronnener und verfestigter Form wiederspiegeln“ (Kirste/Maull 1997: 1).

Die dauerhaften Einstellungen und Verhaltensmuster manifestieren sich in nationalen Rollenkonzepten, die von den nationalen Entscheidungsträgern internalisiert werden und den Orientierungsrahmen für angemessenes außenpolitisches Verhalten abstecken.

Eine Annäherung an die oben beschriebene Thematik aus einer rollentheoretischen Perspektive führt zu folgender Lesart: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging eine tiefgreifende Identitätskrise (bzw. eine Auflösung des kollektiv geteilten Selbstverständnisses) Russlands als faktischen Nachfolgestaat4 einher. Der ko-konstitutive Nexus zwischen der Identität des Staates und seinem außenpolitischen Verhalten (vgl. Aggestam 1999: 1) war nicht länger wirkmächtig, da für sicher geglaubte Gewissheiten über die Rolle Russlands in der Welt verlorengingen (vgl. Prizel 1998: 10). Gleichzeitig erwiesen sich die tiefliegenden Quellen der Identität als äußerst wandlungsresistent, da sich Staaten nicht einfach davon lösen können (vgl. Richter 1992: 274). Diese Beobachtung trifft auch auf Russland zu, welches aus einem zwar begrenzten, dafür aber sakrosankten Repertoire an identitären Quellen schöpft (vgl. Heinemann-Grüder 2001: 328).

Mit dem Beginn der ersten Amtszeit Putins ist Russland wieder als handelndes Subjekt auf die politische Weltbühne zurückgekehrt (vgl. Lo 2002: 8; Lynch 2012: 7) und scheint dabei eine feste Vorstellung von seinem Platz und seiner Rolle in der Welt zu haben (vgl. Haas 2009: 82; Müller 2012: 47). Für diesen Befund spricht auch die Tatsache, dass das Jahr 2000 – also dasJahr der Wahl Putins zum Präsidenten derRussischen Föderation (RF)5–„could be considered as the year of completion of the process towards an integrated and comprehensive Russian security policy, after the ‚roaring‘1990s“(Haas 2010:16). Fast zeitgleich mit der Machtübernahme Putins stiegen die Einnahmen aus dem Energie- und Rohstoffsektor massiv – beflügelt durch einen Anstieg des Ölpreises von rund 30 Dollar auf 145 Dollar kurz vor dem Ausbruch der Finanzmarktkrise 2008 (vgl. Lynch 2012: 3) – und bescherten Russland einen Zuwachs an außenpolitischer Handlungsfreiheit. Die vorliegende Arbeit gründet auf der These, dass die unter Putin wiedergewonnene außenpolitische Handlungsfreiheit zur rollenkonzeptionellen Ausgestaltung jener dauerhaften Einstellungen und Verhaltensmuster genutzt wird, die tief in den identitären Code Russlands eingewoben sind.

1.1 Erkenntnisinteresse

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit: Wie nehmen die maßgeblichen außenpolitischen Entscheidungsträger das Rollenkonzept der russischen Föderation wahr und inwieweit orientieren sich die Entscheidungsträger in ihrem außenpolitischen Verhalten an diesem Rollenkonzept? Die Fragestellung beinhaltet die zwei wesentlichen Elemente der Arbeit: Zum einen wird untersucht, wie die Entscheidungsträger das Rollenkonzept ihres Landes selbst wahrnehmen und wie sie dieses sprachlich vermitteln. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Rollenkonzeptes für das konkrete außenpolitische Handeln. Stellt das Handeln eine sehr genaue Übersetzung des Rollenkonzeptes dar? Dient das Rollenkonzept lediglich als grober Orientierungsrahmen? Oder hat es überhaupt keinen Einfluss auf das Handeln und ist damit als rhetorische Augenwischerei komplett zu vernachlässigen?

Nicht untersucht wird der Umwandlungsprozess der der historischen Erfahrungen und Sedimente in einzelne Rollensegmente.6

1.2 Relevanz

Russland erlitt – bedingt durch das Ende des Kalten Krieges – einen politischen Bedeutungsverlust, der sich nicht zuletzt im abflachenden akademischen Interesse widerspiegelte. Bis heute ist daher festzustellen, dass sich die deutsche Russlandexpertise in einer Krise befindet (vgl. Sapper 2012: 505).7 Die Untersuchung grundlegender Handlungsaxiome hoher Kontinuität könnte Rückschlüsse auf das zukünftige Verhalten Russlands ermöglichen (vgl. Chafetz 1996: 661). Zumindest ist jedoch ein besseres Verständnis für die Denkmuster russischer Entscheidungsträger zu erwarten – ein Mehrwert, der sich angesichts der stagnierenden Differenziertheit des öffentlichen Diskurses gegenüber der russischen Politik auszahlen (vgl. etwa Sapper/Weichsel 2008: 2) und zur besseren Erklärbarkeit russischen Verhaltens beitragen könnte. Aus theoretischer Sicht ist die vorliegende Arbeit in dreierlei Hinsicht relevant:

Erstens handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine Pilotstudie, da bislang noch kein induktives außenpolitisches Rollenkonzept für Russland entwickelt wurde – nicht zuletzt aufgrund einer Vielzahl von rollentheoretischen Annahmen, die den Kreis infrage kommender Untersuchungsobjekte a priori stark begrenzen (vgl. Gaupp 1983: 165f.) und kritisch hinterfragt werden sollen. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, das Rollenkonzept mithilfe von ausgewählten Primärquellen zu erstellen.

Zweitens soll der Versuch einer engeren Verzahnung von Identitäts- und Rollentheorie unternommen werden, einem Vorschlag, der seit geraumer Zeit in der wissenschaftlichen Debatte kursiert. Der Mehrwert wird dabei insbesondere bei der Untersuchung der Quellen einzelner Rollen gesehen (vgl. Kaarbo 2003: 160).

Drittens haben Rollentheoretiker die Existenz von multiplen Rollen zwar konstatiert,8 doch sind diese bisher kaum auf ihr geographisches oder politikbereichsspezifisches Auftreten hin untersucht worden (vgl. Breuning 2012: 32f.; Holsti 1970: 298f.). Aus dem auf Kontinuität angelegten Wesen außenpolitischer Verhaltensmuster ergibt sich darüber hinaus die Notwendigkeit der Untersuchung längerfristiger Prozesse (vgl. Folz 2013: 75). Vor diesem Hintergrund wird das Falldesign so zugeschnitten, dass die Bedeutung des russischen Rollenkonzepts für das außenpolitische Verhalten im zeitlichen, räumlichen und sachlichen Wirkungszusammenhang überprüft werden kann.

Dementsprechend wird zunächst ein größeres Narrativ entwickelt, in welchem die Rollenwahrnehmung und das Rollenverhalten in der Außen- und Sicherheitspolitik der RF in Zentralasien bzw. im Kaukasus (räumlicher Zusammenhang) seit der Auflösung der Sowjetunion (zeitlicher Zusammenhang) skizziert werden. Damit lässt sich die eingangs erwähnte Wandelhypothese rollentheoretisch durchdringen. Dies geschieht stets in Hinblick auf die konkrete Bedeutung dieser Politik für zwei sicherheitspolitische Krisensituationen (sachlicher Zusammenhang), die sich während der ersten langen Amtszeit Putins (2000-2008) ereignet haben und den Schwerpunkt des empirischen Teils bilden: Es handelt sich um die Kooperation mit den USA im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nach den Anschlägen auf das Word-Trade-Center am 11. September 2001 sowie den russisch-georgischen Krieg (Fünftagekrieg) im August 2008.9 Sicherheitspolitik gilt traditionell als „hartes“ und von nationalen Interessen dominiertes Politikfeld (vgl. Folz 2013: 73), weshalb eine Bezugnahme auf das Rollenkonzept zu erwarten ist. Darüber hinaus konstatieren Rollentheoretiker, dass Rollenkonzepte „insbesondere in außenpolitischen Krisensituationen […] eine wichtige Orientierungshilfe dar[stellen]“ (Folz 2013: 43). Der Fünftagekrieg als zwischenstaatlicher regionaler Konflikt stellt zweifellos eine solche Krisensituation dar und firmierte ganz oben auf der sicherheitspolitischen Agenda Russlands (vgl. Haas 2010: 8). Auch die Anschläge am 11. September erschütterten die internationale Staatengemeinschaft tiefgehend und wurden weithin als globale Krise wahrgenommen.

Die Leistung der Rollentheorie besteht darin, die russischen Verhaltensmuster in den beiden Krisen, die unterschiedlicher kaum gewertet werden können, unter das Rollenkonzept der Russischen Föderation zu subsumieren: Während die russische Unterstützung der US-Amerikaner als „profound reappraisal of Russia’s national interests, reversing centuries-old imperial paradigms“ (S. Medwedew 2004: v) gedeutet wurde, nährte der Fünftagekrieg in weiten Teilen des westlichen Medienbetriebes (vgl. Müller 2012: 5) den Verdacht, dass „an ,imperial syndrome‘ remains explicit in many elite attitudes toward the CIS and more generally in the belief in Russia’s global mission“ (Lo 2002: 20).

1.3 Forschungsstand

Im ersten Jahrzehnt nach der Auflösung der UdSSR überwogen in der Literatur zur russischen Außenpolitik liberale Forschungsansätze, die außenpolitische Orientierungsmuster auf die Durchsetzungsfähigkeit von bestimmten weltanschaulichen Gruppen zurückführten und dem mangelnden gesellschaftlichen Konsens über den zukünftigen Kurs des Landes geschuldet waren (vgl. Tsygankow 2006b: 11). Daneben führte die durch das Ende des Systemgegensatzes zwischen Ost und West begünstigte Ausdifferenzierung und sogenannte interpretative Wende10 der Außenpolitikforschung zu einem Bedeutungszuwachs sozialkonstruktivistisch orientierter Forschung (vgl. Harnisch 2003: 319),11 gleichzeitig kam es infolge der Öffnung des Landes zu einer Integration der Russlandforschung in bestehende Forschungsstränge und -paradigmen (vgl. Gelman 2011: 3f.). Daher arbeitete sich die Wissenschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends insbesondere an konstruktivistischen Identitäts- und Diskurskonzepten ab (vgl. Hernández 2006: 2). Im Falle Russlands sind Ted Hopf und Andrei Tsygankow die exponiertesten Köpfe der konstruktivistischen Identitätsforschung. In zahlreichen Werken weisen sie einen Zusammenhang zwischen Identität und Außenpolitik Russlands nach. Während Hopf (1999; 2002; 2005) dabei einem breiten Identitätsbegriff verpflichtet ist, beleuchtet Tsygankow (2005; 2006a; 2006b; 2006c; 2007; 2009) insbesondere die unterschiedlichen Denkschulen der Elite. Auch „radikalere“ poststrukturalistische Ansätze, etwa die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe finden Anwendung. In dieser Hinsicht sind die Arbeiten Makaritschews (2005; 2008; 2009) für die Russlandforschung von großer Bedeutung.

In jüngster Zeit führt die anhaltende Enttäuschung über die ausbleibende Modernisierung und Demokratisierung Russlands sowie weiterer post-sowjetischer Staaten zu einer (Re)naissance von „neo-Kremlinological studies of the minutiae of leadership politics“ (Sakwa 2011: 5) und begünstigt das Aufkommen neuer Forschungsansätze wie der „International Political Anthropology (IPA)“, da „the micropolitical approach suggests that the study of the capillaries of power at the meso-level can provide important insights“ (ebd.: 7).12

Insgesamt ist die russische Außenpolitik durch eine Fülle an Publikationen13 gut erschlossen, wobei englischsprachige Werke mit einem sicherheitspolitischen Fokus dominieren. Der Sammelband „Russia as a Great Power“ (Hedenskog et al. 2005) stellt ein gutes konstruktivistisch orientiertes Standardwerk dar, das auch alternierenden (realistischen, institutionalistischen) Erklärungsansätzen Raum gibt. Für den deutschsprachigen Raum ist insbesondere der 2003 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) publizierte umfassende Sammelband zur russischen Außenpolitik im postsowjetischen Raum (Alexandrova et al. 2003) zu nennen. Das erste Fallbeispiel stützt sich maßgeblich auf die Monographie „Air Power Against Terror“ von Lebath (2005), die minutiöse Informationen über den Ablauf des Afghanistankrieges bereithält. Der Georgienkrieg stößt in der Forschung bis heute auf reges Interesse und ist Gegenstand zahlreicher Zeitschriftenartikel. Darüber hinaus beschäftigten sich mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) wie etwa die International Crisis Group (ICG) oder auch staatliche Akteure wie die Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG) der Europäischen Union (EU) mit der Krise und veröffentlichten umfassende Publikationen dazu.

Auch die Rollentheorie ist gut erschlossen und wurde stetig weiterentwickelt, darunter von Walker (1979; 1987) und Gaupp (1983) im deutschsprachigen Bereich. Im Rahmen der konstruktivistischen Rollentheorie sticht insbesondere die Trierer Schule hervor: Während die Rollentheorie von Kirste (1998), Maull (1997), Frank (2007; 2011) und nicht zuletzt Folz (2013) mit vergleichenden Außenpolitikanalysen der Länder Deutschland, USA, Polen und Schweden zusammengebracht wurde, beschäftigte sich Harnisch (2009; 2011) insbesondere mit dem Wandel von Rollenkonzepten und nationalen außenpolitischen Identitäten.

Rollentheoretische Arbeiten mit Russlandbezug sind indes rar gesät. Holsti (1970) nennt in seiner quantitativen Arbeit mehrere Rollenkonzepte, die sich die Entscheidungsträger der Sowjetunion während seines Untersuchungszeitraumes (1962-67) zu Eigen gemacht haben. Chafetz (1996) zeichnet die divergierenden Rollenkonzeptionen der Machthaber der postsowjetischen Ära nach. Thibault und Lévesque (1997) zeigen mithilfe der Rollentheorie den Zusammenhang zwischen Status, Identität und Rolle auf. Grossman (2005) argumentiert, dass sich mit der Rollentheorie Wandel vorhersagen lasse. In seiner Untersuchung deckt er den Zusammenhang zwischen dem Wandel des russischen Abstimmungsverhaltens im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) und dem Wandel des russischen Rollenkonzeptes in den 1990ern auf. Erst 2013 beschäftigte sich ein großes Projekt am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) unter dem Titel „Das Streben nach Respekt. Eine Untersuchung der sozio-emotionalen Dimension in Russlands Beziehungen zum Westen“ ausführlicher mit diesem Thema (vgl. Heller 2013).

1.4 Methodik und Aufbau

Die Arbeit ist angelegt als vergleichende Außenpolitikanalyse. Aus dem nationalen Rollenkonzept Russlands ergeben sich die Spielräume angemessenen Verhaltens, die mit dem konkreten außenpolitischen Verhalten Russlands abgeglichen werden. Dadurch lässt sich die Übereinstimmung zwischen Rhetorik und Verhalten untersuchen (vgl. Hudson 1999: 769). Die Erstellung des Rollenkonzeptes erfolgt über eine qualitative Inhaltsanalyse außenpolitischer Texte (Reden, Interviews, Zeitschriftenartikel) und Schlüsseldokumente (Sicherheitsstrategien, Weißbücher etc.). Das Vorgehen ist induktiv, so dass die relevanten Elemente des nationalen Rollenkonzeptes erst im Laufe des Forschungsprozesses identifiziert werden.14 Das methodische Vorgehen wird in Kapitel 2.3 eingehend erläutert.

Zunächst werden die Grundlagen der Rollentheorie als Instrument der Außenpolitikanalyse skizziert und das methodische Vorgehen offengelegt (Abschnitt 2). Anschließend wird das Rollenkonzept für die Russische Föderation erarbeitet (Abschnitt 3) und die russische Außen- und Sicherheitspolitik seit der Auflösung der SU im Kaukasus und in Zentralasien skizziert (Abschnitt 4). Auf dieser Grundlage wird anschließend das Verhalten Russlands in den beiden genannten Krisensituationen überprüft (Abschnitte 5 und 6). Im Schlussteil (Abschnitt 7) werden die Ergebnisse zusammengefasst und ei

2. Die Rollentheorie als Instrument der Außenpolitik-analyse

„Und wie lässt sich nachweisen, dass Iwan der Schreckliche (16. Jahrhundert) Verantwortung für Jelzins und Putins Politikstil trägt?“ (Heinemann-Grüder 2001: 328).

2.1 Herkunft und theoretische Verortung

Die Rollentheorie wurde in den späten 1920ern in der Soziologie und benachbarten Disziplinen entwickelt (vgl. Adigbuo 2007: 88), um das Verhalten von Individuen und Gruppen (oder auch weiter gefassten sozialen Strukturen) im Rahmen sozialer Beziehungen (vgl. Kirste/Maull 1997: 4) zu erklären (vgl. Gaupp 1983: 21). Der Begriff „Rolle“ wurde verstanden als „Verhalten, das vom Inhaber einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung […] im Umgang mit anderen allgemein erwartet wird“ (ebd.). Deutlich wird hier der Einfluss von George Herbert Mead als einem der Pioniere der Rollentheorie, der zwischen dem Self – also den eigenen Rollenzuschreibungen – und dem Alter, also den Fremdzuschreibungen bzw. Verhaltenserwartungen anderer Personen unterschied (vgl. Holsti 1970: 237). Soziologen maßen den an den Inhaber einer Rolle herangetragenen Verhaltenserwartungen die größere Bedeutung bei, da Individuen in ein dichtes soziales Beziehungsgeflecht eingebettet sind, das vielfältige und unmittelbare Sanktionsformen kennt und dadurch Verhaltensdisziplinierend wirken kann (vgl. Kirste/Maull 1997: 4f.).

Ab 1970 wurde die Rollentheorie von der Außenpolitikforschung adaptiert und zur Außenpolitikanalyse herangezogen.15 Der frühe, in den USA entwickelte Zweig der Rollentheorie richtete sein Augenmerk nun vornehmlich auf den Self- bzw. Ego-part einer Rolle16 (vgl. Folz 2013: 35) und sah in den Rollenvorstellungen individueller Entscheidungsträger den Schlüssel zum Verständnis außenpolitischen Verhaltens. Die Rollenvorstellungen wurden dabei über das nationale Rollenkonzept analytisch gefasst. Dieses

„includes the policymakers’own definitions of the general kinds of decisions, commitments, rules and actions suitable to their state, and of the functions, if any, their state should perform on a continuing basis in the international system or in subordinate regional systems. It is their ‚image’ of the appropriate orientations or functions of their state toward, or in, the external environment“(Holsti 1970: 245f.).

Auffallend hierbei ist der Widerspruch zwischen dem dieser Definition inhärenten Akteurbild des Homo Sociologicus, der nach der Logik der Angemessenheit handelt (vgl. Folz 2013: 41) und somit eher einem konstruktivistischen Weltbild entspricht,17 und dem Vorrang systemischer (insb. neorealistischer) Erklärungsmuster in jener Zeit, die den Schwerpunkt legten auf „decision makers‘ perceptions of the constraints and opportunities presented by the international environment rather than on domestic sources of role conceptions“ (Breuning 2011: 17).

Im Zuge der interpretativen Wende18 in den 90er-Jahren wurde die Rollentheorie zum programmatischen Bestandteil des konstruktivistischen Forschungsparadigmas und konnte sich dadurch von ihren „realistischen Altlasten“ lösen. Damit ging eine Übernahme der konstruktivistischen Grundannahmen einher (vgl. Folz 2013: 40), außerdem kam es – bedingt durch die Unzulänglichkeiten systemischer Faktoren bei der Erklärung des Ende des Kalten Krieges – zu einer Rückbesinnung auf die Akteursebene (vgl. Harnisch 2003: 319). Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Ausprägung der Rollentheorie fußt auf folgenden metatheoretischen Grundannahmen:

(1) Konstruktivistische Ansätze fußen auf den Prämissen einer ideellen Ontologie. Die Beschaffenheit der Welt basiert folglich auf ideellen, d.h. intersubjektiv geteilten Strukturen, die erst durch den ihnen zugewiesenen Bedeutungsinhalt zu objektiven Tatsachen werden. Dasselbe gilt auch für materielle Faktoren und Strukturen (vgl. Ulbert 2005: 5). In dieser Hinsicht ergibt sich die Bedeutung eines Rollenkonzeptes aus dem intersubjektiv geteilten Bedeutungsinhalt, den außenpolitische Entscheidungsträger diesem zuweisen.

(2) Das Akteurskonzept basiert auf dem Homo Sociologicus, der nach der Logik der Angemessenheit handelt und in ein Netz von Normen und Werten eingebunden ist (vgl. Kirste/Maull 1997: 2). Die Akteure „unterscheiden sich im Hinblick auf kognitive Variablen […] qualitativ und grundsätzlich“ (Kirste 1998: 27) voneinander. Damit verbunden ist die Art der Präferenzbildung. Diese unterliegt nicht den systemischen Zwängen einer anarchischen internationalen Staatenwelt (vgl. Hernández 2006: 4), sondern findet endogen statt. Die Ziele und Interessen von Staaten sind damit wandelbar (vgl. Ulbert 2006: 412) und entstehen „vor dem Hintergrund subjektiver Faktoren, historisch-kultureller Erfahrungen und institutioneller Einbindungen“ (Schaber/Ulbert 1994: 142).

(3) Die dritte große Theoriedebatte in den Internationalen Beziehungen (IB) kreist um das Akteur-Struktur-Problem. Dieses beschäftigt sich mit der Frage, wie sich soziale Phänomene erklären lassen: Mithilfe individualistischer Erklärungsmuster auf der Ebene der Akteure oder über strukturalistische Erklärungsmuster auf systemischer Ebene (vgl. Ulbert 2006: 416). Die Rollentheorie stellt einen Mittelweg zwischen der holistischen und der individualistischen Position dar (vgl. Beneš 2011: 13).19

(4) Die Epistemologie konstruktivistischer Ansätze geht davon aus, dass Wissen über die Welt nur über kollektiv geteilte Zeichensysteme wie Sprache und Symbole erschlossen werden kann und diese sowie andere soziale Praktiken (wie etwa der Diskurs) die Welt als solche erst konstruieren (vgl. Ulbert 2005: 10). Die Wissensgenerierung erfolgt dabei über verstehende Interpretation. Die Rollentheorie „produces interpretative knowledge rather than causal explanations“ (Beneš 2011: 7). Damit richten sich der Konstruktivismus und die Rollentheorie gegen ein positivistisches Wissenschaftsverständnis (vgl. Harnisch 2003: 330).

Zusammenfassend kann man die hier praktizierte Spielart der Rollentheorie als konstruktivistischen, reflexiv-interpretativen Ansatz (vgl. Schaber/Ulbert 1994: 140) kategorisieren, der an der Schnittstelle zwischen Außenpolitikanalyse und Konstruktivismustheorie ansetzt (vgl. Beneš 2011: 12).

2.2 Definition und inhaltliche Verortung

Um aus der Mittlerposition der Rollentheorie den größten Mehrwert ziehen zu können, muss der Rollenbegriff sowohl systemische als auch staatliche Einflüsse integrieren (vgl. Kirste/Maull 1997: 8). Daher sollen Rollen verstanden werden als „geplante – d.h. kollektiv normierte und individuell konzipierte – und von Repräsentanten realisierte Einstellungs- und Verhaltensmuster von Staaten […] in internationalen Systemen“ (Gaupp 1983: 109).

Die kollektive Normierung erfolgt durch den Ego- und den Alter-part einer Rolle, also die Eigen- und die Fremderwartungen. Während sich erstere auf das kollektive Selbstverständnis eines Akteurs bzw. die Selbstwahrnehmung beziehen, die dieser von seiner eigenen Rolle hat, geht es bei letzteren um die Erwartungen anderer Akteure bzw. systemische Einflüsse (vgl. Kirste/Maull 1997: 9). Das Gros der rollentheoretischen Arbeiten geht davon aus, dass die Eigenerwartungen der Akteure die Außenpolitik stärker beeinflussen als die Fremderwartungen. Nicht so der Einfluss des signifikanten Alter: Dieser übt einen signifikanten Einfluss auf den Ego-part einer Rolle aus und kann sogar einen Rollenwandel auslösen (vgl. Folz 2013: 46). Die Bezugnahme auf einen signifikanten Alter basiert häufig auf den historischen Erfahrungen des Rollenträgers (vgl. Harnisch 2011: 12).

Die Gesamtheit aller Rollen stellt ein komplexes Rollenbündel dar (vgl. Kirste/Maull 1997: 10) und soll im Folgenden als Rollenkonzept verstanden werden. Dieses umfasstsämtliche „general kinds of decisions, commitments, rules and actions suitable to their state“(Holsti 1970: 245f.). Ein einzelnes Rollenkonzept kann mehrere Rollen umfassen, die sich wiederum aus einzelnen Rollensegmenten20 zusammensetzen, in verschiedenen Kontexten handlungsleitend werden und in Widerspruch zueinander stehen können, ohne dadurch das ganze Rollenkonzept in Frage zu stellen (vgl. Kirste/Maull 1997: 9). Dabei unterscheidet man zwischen inter- und intra-Rollenkonflikten. Erstere entstehen durch widersprüchliche Anforderungen unterschiedlicher Rollen eines Rollenkonzeptes, letztere durch divergierende Eigen- und Fremderwartungen.

Rollenkonzepte sind Produkt und Bestandteil der außenpolitischen Kultur eines Staates. Diese lässt sich in einem umfassenden Sinne definieren als

„Summe der in einer Gesellschaft vorherrschenden Einstellungen und Wertvorstellungen zur Außenpolitik, die sich – mit ihren wesentlichen, breit geteilten und gesamtgesellschaftlich verankerten Elementen – zu außenpolitischen Identitäten bzw. zu umfassenden nationalstaatlichen Rollenkonzepten verdichten [können]“ (Maull 2001: 4).21

Vor diesem Hintergrund sollen außenpolitische Rollenkonzepte als handlungsanleitende und sprachlich vermittelte Verfestigungen einer außenpolitischen Kultur verstanden werden.

Ähnliches gilt für die Identität eines Staates. Aufgrund der inhaltlichen Nähe von identitäts- und rollentheoretischen Ansätzen22 und begrifflichen Überschneidungen (vgl. Breuning 2011: 22) ist eine Abgrenzung der Konzepte angebracht. Beide Ansätze befassen sich im weitesten Sinne mit ideellen Erscheinungsformen, doch während die Identität ausschließlich auf die „Idee von sich selbst“ beschränkt bleibt, kommt einer Rolle – wie schon die Abgrenzung zur außenpolitischen Kultur gezeigt hat – eine handlungsanleitende Funktion zu (vgl. Harnisch 2003: 331ff.). Darüber hinaus sind Identitäten als kollektiv geteilte Ideen in und von der Gesellschaft zwangsläufig breit angelegt und weisen einen „more amorphous and more deeply psychological“ (Breuning 2012: 21) Charakter auf als soziale Rollen. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich eine Reihe gewichtiger methodischer Probleme.23 Um identitätstheoretische Zugänge dennoch für die vorliegende Arbeit fruchtbar zu machen, soll Identität verstanden werden als „not in an abstract sense, as part of the broader cultural system, but how decision-makers and those with an influence on them view that political project“ (Hernández 2006: 13f.). Indem außenpolitische Entscheidungsträger die Bezugspunkte versprachlichen, machen sie deutlich, welche identitären Elemente sie als handlungsanleitende Bestandteile des nationalen Rollenkonzeptes ansehen (vgl. Kirste/Maull 1997: 26).

Diese Überlegungen dienen der Nutzbarmachung der Quellen nationaler Rollenkonzepte. Diese basieren auf einer komplexen Mischung nationaler und internationaler ideeller und materieller Faktoren, die jegliche analytische Trennschärfe vermissen lassen und alles und nichts umfassen.24 In dieser Hinsicht trägt der konstruktivistische Entstehungsmechanismus der nationalen Rollenkonzepte maßgeblich zu einer Reduktion bei: Da Rollenkonzepte als „intersubjective products of history, memory, and socialization“ (Krotz 2002: 9) entstehen, lassen sich die möglichen Faktoren auf solche eingrenzen, denen vonseiten der Entscheidungsträger ein bestimmter Bedeutungsinhalt beigemessen wird.

Rollenkonzepte beeinflussen das Rollenverhalten, also das „tatsächliche Verhalten eines staatlichen Rolleninhabers in konkreten Situationen außenpolitischer Interaktion“ (Kirste/Maull 1997: 10), auf drei Ebenen: „NRCs […] prescribe, proscribe, and induce preferences regarding process and style of policy- and decision-making“ (Krotz 2002: 9). Rollenkonzepte sind also keine verhaltensdeterminierenden Variablen, sondern konstituieren lediglich den Rahmen, in dem sich außenpolitisches Verhalten abspielen kann (vgl. Kirste/Maull 1997: 8). „Roles are neither deterministic nor infinitely elastic“ (Chafetz 1996: 664).

Damit ist die Frage verknüpft, wer genau als Rollenträger fungiert und damit innerhalb dieses Rahmens als Akteur in Erscheinung tritt. Anders als in der soziologischen Rollentheorie, in der das Individuum gleichzeitig Positionsinhaber und Rollenträger ist, geht man in der reflexiv-interpretativen Rollentheorie von einer Trennung zwischen dem Staat als dem Positionsinhaber und den staatlichen Repräsentanten als den Rollenträgern aus (vgl. Gaupp 1983: 158). Dies impliziert aus forschungslogischer Sicht einen Vorrang der staatlichen gegenüber der individuellen Analyseebene, denn während die Repräsentanten eines Staates etwa aufgrund zeitlich begrenzter Amtsperioden einem Wandel unterworfen sind, ist die Existenz von Staaten in der Regel von einer stärkeren Kontinuität geprägt. Insofern stellt „individuelles Verhalten staatlicher Repräsentanten also eine Ableitung des außenpolitischen Rollenkonzeptes einer Nation dar […]“ (Kirste/Maull 1997: 5f.). Somit weisen Rollenkonzepte einen längerfristigen, statischen Charakter auf. Sie werden über Sozialisations- und Lernprozesse internalisiert.25 Je stärker ein Rollenkonzept in der außenpolitischen Kultur verankert ist, desto deutlicher wird es die Bandbreite außenpolitisch angemessener Entscheidungen vorzeichnen (vgl. Holsti 1070: 298). Im Gegensatz dazu verliert ein Rollenkonzept insbesondere dann an analytischem Wert, wenn es im Kreis der Repräsentanten umstritten oder undeutlich und vage ausformuliert ist (vgl. Krotz 2002: 7).

2.3 Methodisches Vorgehen und Operationalisierung

Bislang findet die Rollentheorie in der Politikwissenschaft nur in beschränktem Maße Anwendung, obwohl zu ihren Vorzügen „conceptual rigor, methodological openness and rich empirical applications“ (Beneš 2011: 1) gehören. Auf der anderen Seite der Medaille steht der Vorwurf der Methodenarmut (vgl. Walker 1979: 176), der eine konsequente Fortentwicklung und kontinuierliche Handhabung der Theorie erschwert (vgl. Folz 2013: 38). Daher ist es sinnvoll, bei der Methodik besondere Sorgfalt walten zu lassen26 und auf bewährte rollentheoretische Methoden zurückzugreifen (vgl. Thies 2009: 32).

Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen ist die Verankerung der Rollentheorie im konstruktivistischen Zweig der IB: Dieser hebt die zentrale Bedeutung der Sprache „als Mittel des Denkens und Erkennens“ (Ulbert 2006: 427) hervor.27 Dabei wird im Sinne des Repräsentationsmodells von Osgood davon ausgegangen, dass die Analyse von Texten Rückschlüsse auf die Einstellung und Intention des Sprechers ermöglicht (vgl. Merten 1995: 112).

Vor diesem Hintergrund bietet sich die qualitative Inhaltsanalyse als geeignete Methode zur Erhebung der sprachlich konstruierten Wirklichkeit an (vgl. Wagner 2006: 171). Mit ihr sollen verschriftlichte Sprechakte relevanter außenpolitischer Entscheidungsträger untersucht werden. Da sich das Regierungssystem Russlands als präsidentiell-parlamentarisches Mischsystem bezeichnen lässt – dem Semipräsidentialismus Frankreichs nicht unähnlich –, kommt dem Präsidenten formal und de facto die größte Machfülle zu (vgl. Mommsen 2010: 423).28 Diese reicht insoweit in die außenpolitische Sphäre hinein, als der Präsident den „maßgeblichen Kurs der Außenpolitik“ [основные направления […] внешней политики государства] (Russische Verfassung 1993: Art. 80 Abs. 4) bestimmt.29 Somit muss der Untersuchungsfokus insbesondere auf den Sprechakten des Präsidenten als dem maßgeblichen außenpolitischen Entscheidungsträger liegen.30 Weitere relevante Entscheidungsträger sind die jeweiligen Außenminister und ihre Stellvertreter. Diese zeichnen sich durch eine hohe Redenfrequenz aus. Als weitere staatliche Rollenträger werden angesehen: Ministerpräsidenten, Pressesprecher und Botschafter sowie deren offizielle Stellvertreter.

Das Ziel der qualitativen Inhaltsanalyse ist die systematische, das heißt regel- und theoriegeleitete Interpretation von sprachlich fixierter Kommunikation, die nicht nur den Kommunikationsinhalt, sondern auch den – weiter gefassten – Kommunikationsgehalt im Blick hat (vgl. Mayring 2008: 11f.). Für eine gute Inhaltsanalyse sind drei Punkte wesentlich:

- Die Entstehungsbedingungen des ausgewählten Materials müssen reflektiert und das Material in den Kommunikationszusammenhang eingebettet werden.
- Das theoretische und implizite Vorverständnis muss dargelegt werden.
- Der latente und tiefgehende Sinngehalt muss erfasst werden (vgl. Mayring 2008: 29; 42).

Wenn die Inhaltsanalyse diesen Kriterien gerecht wird, stellt sie eine geeignete Methode dar, um den Forschungsprozess ganz im Sinne des interpretierenden, auf das Verstehen ausgelegten Erkenntnisinteresses zu leiten.31 In diesem Sinne erschließt sich der ganze Sinngehalt der einzelnen Texte erst dadurch, dass man sie in ein Verhältnis zum Rollenkonzept als dem größeren Sinnzusammenhang setzt und überdies die historischen Wurzeln und Narrative ihrer Entstehung bloßlegt.

Zentral für ein systematisches Vorgehen ist die Bildung eines an der Fragestellung orientierten Kategoriensystems (vgl. Mayring 2008: 82; siehe auch Tabelle 1). Die Darstellung bzw. Wahrnehmung der außenpolitischen Entscheidungsträger soll die Oberkategorie bilden, welche weiter in drei Unterkategorien aufgeteilt wird: Diese umfassen Textpassagen, in denen die Sprecher (1) einen direkten Bezug zu den Rollen bzw. Rollensegmenten ihres Landes herstellen, (2) die sich auf die Quellen, Narrative und historischen Sedimente der Rollen(segmente) beziehen, oder (3) solche, in denen ein Bezug zu den Erwartungen anderer Staaten zu erkennen ist.

Die Zugehörigkeit zu einer Unterkategorie lässt sich mithilfe von bestimmten Signalwörtern feststellen. Im Laufe des Forschungsprozesses können weitere bzw. andere Signalwörter und Unterkategorien erkannt und modifiziert werden (vgl. Wagner 2006: 173), sodass die Liste nicht abschließend zu verstehen ist. Um aus den relevanten Textpassagen das übergeordnete Rollenkonzept erstellen zu können, wird gleichzeitig eine Kategorisierung vorgenommen, die sich auf die Kategorien Werte – Interessen – Strategien – Instrumente stützt.32 Zusätzlich werden zwei weitere Kategorien hinzugefügt, mit denen Fremderwartungen bei gleichzeitiger Unterscheidung zwischen systemischen Einflüssen und Erwartungen anderer Akteure untersucht33 werden können: Es ist dies zum einen die Kategorie Ideologie und Weltbild, worunter die grundlegende Wahrnehmung oder Sinngebung der systemischen Außenwelt verstanden werden soll. Zum anderen wird die Kategorie der alterorientierten Rollen hinzugefügt. Darunter soll die Gesamtheit an Rollen im russischen Rollenkonzept verstanden werden, die ihr Selbstverständnis nicht aus intrinsischen Quellen, sondern durch einen wie auch immer gearteten Alter beziehen.

Als verschriftlichte Sprechakte werdeninsbesondere außenpolitische Reden angesehen, da sie als „expressions of identity […] often reveal subjective we-feelings of a cultural group that are related to specific customs, institutions, territory, myths and rituals“(Aggestam 1999: 4). Die notwendige Datengrundlage liefern die Internetseiten des Kremls und des Außenministeriums, die ein umfassendes Archiv außenpolitischer Reden bereitstellen, das bis 1999 zurückreicht und somit die gesamten ersten beiden Amtszeiten Putins als Präsident abdeckt.34

Tabelle 1: Vorgehen bei der Materialauswahl

Oberkategorie

Wahrnehmung außenpolitischer Entscheidungsträger

Unterkategorien

Direkter Bezug zu den Rollen bzw. Rollensegmenten Russlands

Bezug auf die Quellen des Rollenkonzeptes

Bezug auf alterorientiertes Selbstverständnis / systemische Außenwelt

Signalwörter

We/us/our Role; Russia; Position; State; Nation; Country; Interest; Status; …

Historical experience;

Past; Ties; Values; Commonalities; Identity; Explain; Tradition; Continuity; …

Expectations; Demands;

International environment; World; Developments; …

Verwendete Literatur

Primärquellen (Reden, Interviews, Zeitschriftenartikel, Schlüsseldokumente)

Primärquellen (Reden, Interviews, Schlüsseldokumente); Sekundärliteratur (Identitätstheorie)

Primärquellen (Reden, Interviews, Schlüsseldokumente); Sekundärliteratur (Identitätstheorie)

Kategorisierung

Kategoriensystem

Werte

Ziele

Strategien

Instrumente

Ideologie / Weltbild

Alterorientierung

Quelle: eigene Darstellung

Besonderes Augenmerk liegt auf den Reden Putins vor der Föderationsversammlung.35 Der Präsident ist qua Verfassung dazu verpflichtet, einmal im Jahr diese Rede zu halten. Sie wird aufmerksam im ganzen Land verfolgt und steht in einem latenten Widerspruch zwischen stark verallgemeinerten und präzisen Aussagen (vgl. Władimirowicz et al. 2005: 5). Inhaltlich beschäftigen sich die Reden mit Fragen der internationalen Politik und beleuchten dabei insbesondere auch die Position Russlands in der Welt. Daneben existiert eine ganze Reihe von Interviews, Pressekonferenzen, Zeitungsartikeln und programmatischen Reden nachgeordneter Entscheidungsträger, aus denen die Wahrnehmung des eigenen Rollenkonzeptes ersichtlich wird.36 Ergänzt wird das Material durch außen- und sicherheitspolitische Schlüsseldokumente,37 die während des Untersuchungszeitraums publiziert wurden (vgl. Haas 2010: 15).38 Das Material für den empirischen Teil besteht aus Primärliteratur (fallbezogene Reden und offizielle Pressemitteilungen) sowie Sekundärliteratur und Presseerzeugnissen.39

Tabelle 2: Übersicht über den Textkorpus

Entscheidungsträger

Amt

Art und Anzahl der Texte

Außenministerium

-

Pressemitteilung (2)

Iwanow, Igor

Außenminister

Artikel (1)

Interview (1)

Rede (2)

Iwanow, Sergej

Verteidigungsminister

Artikel (1)

Rede (4)

Lawrow, Sergej

Außenminister

Artikel (3)

Pressekonferenz (1)

Rede (8)

Strategiepapier (1)

Medwedew, Dimitri

Präsident

Rede (1)

Meschkow, Alexej

Stellvertretender Außenminister

Artikel (1)

Interview (1)

Mitrowanowa, Eleonora

Stellvertretende Außenministerin

Interview (1)

Putin, Wladimir

Präsident

Interview (4)

Pressekonferenz (2)

Rede (11)

Strategiepapier (3)

Gesamt nach Textarten

Artikel (6)

Interview (7)

Pressekonferenz (3)

Pressemitteilung (2)

Rede (26)

Strategiepapier (4)

Gesamt

48

Quelle: eigene Darstellung

Das Vorgehen im empirischen Teil organisiert sich wie folgt: Zunächst wird in einem Längsschnitt die russische Außen- und Sicherheitspolitik in Zentralasien sowie im Kaukasus von der Auflösung der Sowjetunion bis zum Ende von Putins zweiter Amtszeit in Form eines rollentheoretischen Narratives darstellt. Dies ist für ein tieferes Verständnis russischen Handelns in den jeweiligen Krisensituationen von Bedeutung. Anschließend wird jede Krisensituation als Querschnitt in einem gesonderten Kapitel behandelt. Hier ist eine feinere analytische Trennschärfe geboten, sodass jede Krisensituation in drei Phasen unterteilt wird: Vorkriegsphase, Kriegsphase und Nachkriegsphase. Jede einzelne Phase orientiert sich an der Kategorisierung aus Abschnitt 3 und nimmt sowohl die Rollenwahrnehmung als auch das Rollenverhalten in den Blick.

2.4 Übertragbarkeit auf die Russische Föderation

Da im Prinzip jeder Staat ein Rollenkonzept besitzt (vgl. Folz 2013: 20), müsste sich dieses im Grunde auch für jeden Staat nachweisen lassen. Folgt man jedoch der Ansicht einiger zentraler Rollentheoretiker, wonach sich die Theorie „besonders – und vielleicht ausschließlich – zur Analyse der Rollenbeziehungen zwischen demokratisch verfassten Staaten […] [sowie] für zahlreiche kleinere Industriestaaten“ (Kirste/Maull 1997: 7) eigne, dann wäre eine Übertragung der Rollentheorie auf die Russische Föderation bereits im Rahmen der Vorüberlegungen auszuschließen, da kritische Beobachter seit der zweiten Amtszeit Putins eine Tendenz hin zu einem autoritären Regierungssystem sehen.40 Russlands soll daher als Hard Case für die Rollentheorie behandelt werden. Gaupp (vgl. 1983: 165f.) nennt in Anlehnung an Holsti fünf wesentliche Hürden, die gegen die Geeignetheit eines Untersuchungsgegenstandes sprechen:

(1) Die Präzision bzw. Stringenz des russischen Rollenkonzeptes. Diese kann jedoch erst im Laufe des Forschungsprozesses untersucht werden. Allerdings werden Rollenkonzepte nur selten die Präzision einer konkreten Handlungsanweisung erreichen, da sie als sprachlich vermittelte Konstrukte immer auch politischen Einschränkungen beim Zeitpunkt ihrer Entstehung unterworfen sind. Dies zeigt sich bereits bei einer kursorischen Durchsicht der Datengrundlage: Ähnlich wie die Reden Putins vor der Föderationsversammlung weisen auch die außen- und sicherheitspolitischen Schlüsseldokumente einen hohen Generalisierungsgrad auf: „They deal for the most part in generalities that allow ample scope for subjective and selective interpretation“ (Lo 2002: 68). Dies ist jedoch keine genuin russische Eigenheit, sondern betrifft im Kern sämtliche außenpolitischen Konzepte (vgl. ebd.: 66, 69). Darauf gründet die Beobachtung, dass der Zusammenhang zwischen Reden und Handeln generell nur schwach ausgeprägt ist (Kirste/Maull 1997: 17) und in dem Maße sinkt, in dem das Rollenkonzept in einer universalistischen Rhetorik (z.B. proklamierte universelle Werte) verschriftlicht ist (vgl. Wish 1980: 539).

(2) Kirste und Maull präzisieren den von Gaupp verwendeten Begriff der mangelnden systemischen Integration und setzen eine „ausreichend arbeitsteilige internationale Gesellschaft voraus, die durch ein hohes Maß sozialer und zwischenstaatlicher Interaktion gekennzeichnet ist“ (Kirste/Maull 1997: 7). Diese Bedingung sehen sie insbesondere im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als erfüllt an (vgl. ebd.). Da die Vollmitgliedschaft in der OECD im Falle Russlands noch nicht gegeben ist, müssen vergleichbare Indikatoren für den internationalen Verflechtungsgrad herangezogen werden. Hierbei kommt insbesondere die Einbindung in den Welthandel (mittels der Außenhandelsquote41) sowie die Höhe der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen (mittels der Investitionsquote42) infrage (vgl. Taube 2003: 10).43 Die Außenhandelsquote Russlands betrug 2012 41,6 Prozent44 bei einem Außenhandelsüberschuss von 208,6 Milliarden Dollar (vgl. Germany Trade & Invest 2013: 3). Die Investitionsquote lag zuletzt nur bei rund 18 Prozent – und damit im internationalen Vergleich im unteren Drittel. Seit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs 2006 steigt der Zufluss von spekulativem Kapital jedoch allmählich wieder an (vgl. Götz 2008: 5f.), zuletzt auf 19,7 Prozent im vergangenen Jahr (vgl. Central Intelligence Agency 2012). Russland lässt sich also durchaus als Staat mit einer hohen internationalen Interaktionsdichte bezeichnen (vgl. auch S. Medwedew 2004: 36).

(3) Bei autokratischen Regierungssystemen45 treten die Rollenkonzepte Gaupp (1983: 166) zufolge zugunsten der individuellen Ausgestaltung durch den Machthaber in den Hintergrund. Singer und Hudson bestätigen in ihrer Untersuchung diese Vermutung. Sie weisen nach, dass sich außenpolitisches Verhalten in einigen afrikanischen Staaten auf die autokratischen Entscheidungsträger zurückführen lassen kann (vgl. Thies 2009: 17). Für das Festhalten an der staatlichen Analyseebene in autokratischen Regimen lassen sich zwei Argumente anführen:

So schwingt bei autokratischen Herrschern implizit die Annahme mit, dass sie gewissermaßen im wertfreien Raum agieren, norm- und erfahrungsresistent sind und ihr Handeln somit in letzter Konsequenz auf die individuelle Nutzenmaximierung ausgelegt ist. Folgt man dieser Sichtweise, hat man rollentheoretisches Terrain bereits verlassen. Es mag zwar – zumal in totalitären Regierungssystemen – vorkommen, dass „the preferences of the top leader matter much more than they do in well-institutionalized political systems“ (Lynch 2012: xiv),46 doch dies rechtfertigt noch keine Abkehr vom nationalen Rollenkonzept per se. Aus rollentheoretischer Sicht handeln selbst Despoten und Tyrannen wertrational, d.h. „[…] im Rahmen einer akteursspezifischen Werteordnung, die es zu verwirklichen gilt“ (Kirste/Maull 1997: 3). Diese kann durchaus in Einklang stehen mit dem nationalen Rollenkonzept. Der erste Schritt muss also darin bestehen, die spezifische Werteordnung des autokratischen Herrschers auf ihren Bezug zum nationalen Rollenkonzept zu überprüfen. Bei einem Blick auf Putins Biographie zeigt sich, dass seine individuelle Werteordnung eine förderliche Grundkompatibilität in Hinblick auf das Rollenkonzept Russlands aufweist: „Among Putin’s character traits are devotion to the state, pride in country, a fierce sense of personal honor and loyalty […] as well as a profound fear of disorder“ (Lynch 2012: xiv). Ungeachtet des faktischen Inhalts des nationalen Rollenkonzeptes wird Putin in seiner Funktion als oberster Machthaber also versuchen, außenpolitische Entscheidungen in Einklang mit diesem zu treffen.47 Zusätzliches Gewicht erhält das Argument durch die uniforme Sozialisation der Regierungsclique im Kreml. Da außenpolitische Verhaltensmuster durch Sozialisationsprozesse weitergegeben werden und der Verwaltungsapparat unter Putin umfassend mit Vertrauten aus seiner Zeit als Jurist und Vizebürgermeister von St. Petersburg sowie mit Bekannten aus dem Geheimdienst besetzt wurde (vgl. Urban 2010: 51), ist davon auszugehen, dass die Eliten ähnliche Vorstellungen über das außenpolitische Rollenkonzept teilen.

Das zweite Argument bezieht sich auf die formellen Aspekte der Entscheidungsfindung in einem autoritären und damit zentralisierten Regierungssystem, die Grossman sogar als gewinnbringend für die Rollentheorie erachtet:

„In a more decentralized system the role-theoretic approach does not work as well since in these cases, the group of people involved in the foreign policy-making process is considerably larger. Therefore, the views and beliefsof a small foreign policy eliteare lessened as foreign policies are mediated through a complex process of institutional, societal, and bureaucratic bargaining“(Grossman 2005: 359).

Da in Demokratien mehr Institutionen in den Entscheidungsfindungsprozess eingebunden sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie unterschiedliche Rollen wahrnehmen und damit den Konsens über das Rollenkonzept negativ beeinflussen (vgl. Harnisch 2011: 14).48 Darüber hinaus müssen autoritäre Regierungen tendenziell weniger Rücksicht auf die Meinung des Staatsvolkes nehmen, da sie von dieser Seite keine Sanktionen (etwa durch Abwahl) zu erwarten haben (vgl. Aggestam 1999: 9). „If the audience accepts the role enactment as appropriate then they serve as confirmation of the reality of the role“(Thies 2009: 11). Somit wird die Erwartungshaltung, die sich aus dem gesprochenen Wort in Hinblick auf konkrete Handlungen ergibt, in autoritären Regimen weniger stark ins Gewicht fallen.49

(4) Die Abwesenheit widersprüchlicher Rollenkonzepte stellt bei den Ausgangsüberlegungen eine wesentliche Bedingung dar. So wurde in der Einleitung argumentiert, dass sich mit dem Amtsantritt Putins im Jahre 2000 zunehmend eine einheitliche Betrachtungsweise des nationalen Rollenkonzeptes durchgesetzt hat und eine rollentheoretische Betrachtung ab diesem Zeitpunkt als lohnenswertes Unterfangen betrachtet wird.