Saaternte - Sandra Pfändler - E-Book

Saaternte E-Book

Sandra Pfändler

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Beschreibung

Im malerischen Stein am Rhein, am nördlichen Rand der Schweiz, ermittelt der eigenwillige Oberleutnant Alberto Brambilla von der Schaffhauser Polizei. Gewaltdelikte sind sein Spezialgebiet, Intuition ist sein Ratgeber, stilvoller Genuss sein Lebensmotto. Als der Journalist Liun Adank hinter den Mauern des alten Klosters ermordet aufgefunden wird, beginnt für Alberto Brambilla die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Denn Adank, ein scharfsinniger Kritiker, der sich mit seinen Leserbriefen zahlreiche Feinde in der Umgebung gemacht hat, hinterlässt eine Vielzahl an Verdächtigen. Hat tatsächlich jemand Rache an dem Journalisten genommen?

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Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

1

Dienstag, 26. April

2

Montag, 18. Juli

3

4

5

Dienstag, 19. Juli

6

7

8

Mittwoch, 20. Juli

9

Donnerstag, 21. Juli

10

Freitag, 22. Juli

11

12

Montag, 25. Juli

13

14

Dienstag, 26. Juli

15

16

17

18

Mittwoch, 27. Juli

19

20

Montag, 1. August

21

22

Mittwoch, 3. August

23

Freitag, 5. August

24

Montag, 8. August

25

Mittwoch, 10. August

26

27

28

Donnerstag, 11. August

29

Über die Autorin

Über das Buch

Sandra Pfändler

Saaternte

Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍nem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

© 2025 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Alisa ChartéKorrektorat: Anna Katharina MüllerUmschlaggestaltung: Hug & Eberlein, LeipzigeBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

Herstellerinformation: Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG,Grellingerstrasse 21, CH-4052 Basel, [email protected] Person gem. Art. 16 GPSR: Schwabe Verlag GmbH,Marienstraße 28, D-10117 Berlin,

Sandra Pfändler

Saaternte

Kriminalroman

Jeder erntet, was er sät.

1

Dienstag, 26. April

Kolkrabe statt Nachtigall

Wer sich für einen Singvogel hält, sollte sich vor einem Auftritt dem Spiegel der Realität stellen. Mitunter erkennt selbst der unaufmerksame Betrachter darin eine allumfassende Abscheulichkeit, die mit einem krächzenden Organ kaum zu verzaubern vermag.

Doch damit nicht genug!

Neuerdings bedienen sich Veranstalter einer geheimen Sprache, um «massige» Argumente zu vertuschen, die in der Entscheidungsfindung eines ahnungslosen Festivalbesuchers, ob er Augen und Ohren solch Grausamkeiten aussetzen will, ins Gewicht fallen müssten. Richtig! Überdimensionierte Gitarren und Noten auf dem Werbematerial hätten scheinbar auf die voluminöse Zoe Schneider hinweisen sollen. Manch einer begriff diese Botschaft jedoch erst im Verlauf des Abends. Kein Wunder also, dass der Eintrittspreis ebenfalls üppiger ausfiel als sonst, denn derart schwerfällige Kunst und umfangreicher Größenwahn wollen schließlich ordentlich finanziert sein.

Wir dürfen uns auf künftige Kulturveranstaltungen in Stein am Rhein freuen und gespannt bleiben, mit welchen vollleibigen Darbietungen der Veranstalter uns aufs Neue erdrücken will!

2

Montag, 18. Juli

Bequem zurückgelehnt, mit weit ausgestreckten Beinen saß Oberleutnant Alberto Brambilla auf der Holzterrasse der Schurken-Taverne. Vor ihm stand ein halb volles Glas Rotwein, in seinem linken Mundwinkel hing lässig die geschwungene Pfeife, deren leicht ovale Kopfform nach oben hin schmaler verlief und an ein aufgeschlagenes Frühstücksei erinnerte. Genüsslich gab er sich den dynamischen Aromen des mit Bourbon Whiskey angereicherten Tabaks hin, während er das muntere Treiben bei der Schiffsanlegestelle verfolgte.

Neben ihm saß sein einziger und bester Freund Sergio Castelli. Sergio machte sich wieder einmal zum Affen, um Balous Aufmerksamkeit zu erhaschen, doch der selbstsichere und kräftige Berner Sennenhund dachte nicht daran, sich zu regen. Er lag im Schatten eines Sonnensegels und tat so, als ginge ihn die Welt ringsumher nichts an.

Seit Tagen hatte der Hochsommer weite Teile der Schweiz fest im Griff. Unerbittlich dorrte die Julisonne Pflanzen, Menschen und Tiere aus, und auch nachts war weder an Abkühlung noch Entspannung zu denken. Brambilla standen rund um die Uhr kleine, glitzernde Schweißperlen auf der Stirn, Jeans und Hemd klebten an seiner Haut.

Die Sommer der Neuzeit waren geprägt von langen Durststrecken. Auch heuer hatte es seit Wochen nicht geregnet. Der Pegel des Rheins, der im Bereich der Schifflände gemütlich in seinem Bett lag und auf dessen Wasser sich Schwäne und Enten tummelten, war weiter gesunken. Mittlerweile verkehrten auf der Teilstrecke zwischen Diessenhofen und Stein am Rhein anstelle der Kursschiffe Ersatzbusse.

Auf dem großen asphaltierten Platz vor der Schurken-Taverne wuselten die Menschen wild durcheinander. Leicht bekleidete Frauen, halb nackte Männer und Eis schleckende Kinder strömten auf der Suche nach etwas Abkühlung aus den Gassen und jedem Winkel der Stadt dem Fluss zu. Manche trugen zum Schutz vor der Sonne Kopfbedeckungen, andere stellten ihre hell- bis dunkelrot leuchtenden Gesichter öffentlich zur Schau. Sonnenbrillen unterschieden sich in Größe, Form und Farbe, und manch einer hätte besser daran getan, sich ein erfrischendes Deodorant anstelle einer gegrillten Bratwurst zu kaufen. Die exorbitanten Düfte, die sich einen Weg zwischen den vielen Menschen hindurch bis zu Brambillas Nase suchten, waren kaum mit Genuss und Verführung gleichzusetzen und konnten es genauso wenig mit dem betörenden Nebel seines Pfeifentabaks aufnehmen. Stattdessen spiegelten sie schlicht und ergreifend das natürliche Wesen des Sommers wider, der eine Utopie von grenzenloser Freiheit, Sinnlichkeit und Dolce Vita suggerierte.

Brambillas Nase reagierte hochsensibel auf schiefe Ausdünstungen, umso entspannter fühlte sie sich, wenn sie sich den Wohlgerüchen des Lebens widmen durfte. Im Zeitlupentempo richtete er sich auf, langte nach dem Glas und schnupperte an dem Wein, bevor er sich einen kräftigen Schluck gönnte. Die Hitze hatte ihn aufgewärmt, was dem komplexen Aroma von Brombeere und Kirsche keinen Abbruch tat. Selbst die verhaltenen Holznoten im Gaumen harmonierten gut mit der Wärme.

«Kein Mensch nimmt uns ab, dass wir gebürtige Sizilianer sind», stöhnte Sergio auf.

«Kein Mensch erwartet, dass sie das tun», stellte Brambilla nüchtern fest. «Wir sind hier aufgewachsen.»

«In unseren Adern fließt trotzdem italienisches Blut», trotzte Sergio.

«Was soll das heißen? Dass wir nicht schwitzen dürfen, oder was?»

Sein Kumpel zuckte mit den Schultern.

«Eine Dusche ab und zu würde übrigens auch dir nicht schaden», nutzte Brambilla die kleine Pause.

«Ich habe geduscht», verteidigte sich Sergio und gestikulierte wild mit den Händen.

«Wann?»

«Heute Morgen.»

Brambilla warf einen Blick auf die überdimensionale Uhr bei der Schiffsanlegestelle. Auf ihrem weißen Zifferblatt prangten ein kurzer und ein langer Zeiger, außerdem ein roter Sekundenzeiger mit einem Punkt an dessen Spitze. Sie war kaum zu übersehen, und doch schaffte er es immer wieder, sie zu ignorieren. Heute hingegen sorgte sie dafür, dass es ihm nicht gelang. Er saß ihr praktisch gegenüber.

Fünfzehn Uhr zwanzig. Inmitten der Schulferien, an unerträglich heißen Tagen wie diesen, dürften diese Zahlen gut und gerne das Einläuten des Dienstschlusses zur Folge haben. In den vergangenen Wochen war es ruhig wie nie gewesen. Das Böse hatte eine Sommerpause eingelegt, wie es schien, und dies eröffnete ihm ungeahnte Möglichkeiten. Gemeinsame Zeit mit seinem Hund zu genießen war eine davon, untätig am Rhein zu sitzen eine andere. Sich dem Müßiggang hinzugeben, bevor der Teufel die Hölle wieder verließ, um die Seelen der Menschen einzufordern, dünkte ihn das einzig Sinnvolle zu sein. Vorsichtig kratzte er den mittlerweile kalten Tabak aus der Pfeife und legte sie auf das schwarze Lederetui.

«Bring mir ein Glas Wasser», bat er.

Sergio sah ihn mit fragenden Augen an.

«Was denn? Es ist heiß und ich habe Durst.»

Behäbig stand Sergio auf und schleppte sich über die Terrasse. Brambilla sah ihm nach, bevor er sich wieder dem erstaunlich lebendigen Treiben auf dem großen Platz widmete. Zu den Fußgängern gesellten sich Radfahrer. Jungs in Badehosen befanden sich auf dem Weg zur Straßenbrücke, die den Rhein querte und die nördlich gelegene, sehr gut erhaltene Altstadt mit ihren geschichtsträchtigen Fachwerkhäusern und den imposanten Fassadenmalereien mit Stein am Rheins südlich gelegenem Teil Vor der Brugg und seinem Industriegebiet verband. In Kürze würden sie, begleitet von dem tosenden Applaus zahlreicher Schaulustiger, den spektakulären Sprung vom Brückengeländer in den Fluss wagen. Allein der Gedanke daran ließ Brambilla erschauern. Vor langer Zeit war auch er in ihrem übermütigen Alter gewesen, was jedoch nicht zwingend bedeutete, dass er genauso mutig gewesen war wie sie. Im Gegenteil. Er hatte den tollkühnen Sprung ins Nass liebend gern den anderen überlassen und sich als echter Kerl den schöneren Dingen gewidmet, nämlich den Mädchen, die sich wiederum lediglich für die draufgängerischen Buben interessierten. Heute war das nicht anders als damals.

In der Zwischenzeit war Sergio an seinen Tisch zurückgekehrt. Brambilla beobachtete, wie sein Kumpel nachdenklich die Menschenmassen musterte, während er das Wasser servierte und sich wieder zu ihm setzte. Sergios Augenmerk war auf eine junge Frau gerichtet, die ungewöhnlich groß war, schätzungsweise Schuhgröße sechsundvierzig trug und deutlich an Übergewicht litt.

«Alles okay bei dir?», wollte Brambilla wissen.

Sergio nickte. Brambilla lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

«Was geht bloß in den Köpfen der Menschen vor?», murmelte sein Kumpel nach einer Weile.

«Wie kommst du denn jetzt darauf?»

Sergio war anzusehen, dass er immer noch dieselbe Frau im Visier hatte.

«Hast du es denn nicht gelesen?»

«Was?»

«Stand in der Zeitung.»

«Ich lese keine Zeitung, das weißt du.»

«Ist schon länger her. Aber hier drin», Sergio tippte sich an die Schläfe, «immer noch präsent, als wäre es gestern gewesen.»

«Ich weiß nicht, was du meinst.»

«Im Mai. Oder April?» Sergio dachte angestrengt nach. «Egal. Jedenfalls hat einer die kleine Schneider in einem Leserbrief so richtig zur Schnecke gemacht.»

«Kennt man die?»

«Zoe Schneider.»

Brambilla zuckte mit den Schultern.

«Noch nie gehört?»

Brambilla schüttelte den Kopf.

«Lebt auch hier.»

«Schon möglich. Ich kenne sie trotzdem nicht.»

«Zoe Schneider! Eine junge Frau, Anfang zwanzig vielleicht. Naturtalent, meint ihr Vater. Fast jeden Tag kehrt er nach der Arbeit bei mir ein, trinkt sein Feierabendbier und schwärmt mir von den Liedern seiner Tochter vor, die sie angeblich alle selbst schreibt und komponiert.» Sergio hielt inne, legte seine Stirn in Falten und meinte schließlich: «Gerade fällt mir auf, dass er schon länger nicht mehr da war.» Nach ein paar schweren Atemzügen fügte er hinzu: «Jedenfalls hatte sie im Frühjahr einen Auftritt bei unserem Kulturfestival. Zoe war wohl vom Veranstalter eingeladen worden. Wie es dazu kam, weiß ich nicht. Lukas hat das behauptet.»

«Wer ist Lukas?»

«Hörst du mir nicht zu?», rief Sergio aus. «Lukas ist Zoes Vater. Er und seine Frau haben mich gefragt, ob ich mir ihren Auftritt ansehen möchte. Ich dachte mir: Warum eigentlich nicht? Bin also hingegangen und habe mir das Kleinkonzert angehört. Dafür habe ich extra die Taverne zugesperrt», betonte er mit erhobenem Zeigefinger.

«Das habe ich gar nicht mitbekommen.»

«Du warst ja auch anderweitig beschäftigt. Ich sage nur: Cam–»

«Schon gut», fiel Brambilla ihm abwehrend ins Wort. «Das interessiert hier niemanden! Hat es sich wenigstens gelohnt?»

«Aber hallo! Das kannst du laut sagen. Zoe war richtig gut. Anders, aber ...» Er formte Daumen und Zeigefinger zu einem O.

«Aber?», bohrte Brambilla nach.

«Ein paar Tage später wurde im Munot Anzeiger dieser Leserbrief abgedruckt.»

«Was stand denn darin?»

«Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber wenn du mich fragst, hat der Typ, der ihn geschrieben hat, nicht mehr alle Latten am Zaun.»

«Warum? Jeder darf schreiben, was er will.»

«Hör mir bloß mit diesem Geschwafel über Meinungsfreiheit auf ...»

«Meinungsäußerungsfreiheit», korrigierte Brambilla ihn.

«Wen interessiert das schon? Mir geht’s darum, dass man manchen Menschen besser das Maul stopfen sollte.» Sergios Stimme überschlug sich, seine Faust donnerte auf den Tisch, ein paar vorbeigehende Frauen zuckten zusammen und drehten sich entsetzt zu ihnen um.

«Was ist denn auf einmal mit dir los?», zischte Brambilla.

«Wenn’s doch wahr ist!»

«Was stand denn jetzt in diesem Leserbrief?»

«Nichts Intelligentes.»

Brambilla dachte noch darüber nach, wie er Sergio aus der Reserve locken könnte, als sein Telefon klingelte. Er tippte aufs Display und nahm den Anruf entgegen, ohne darauf zu achten, wer es war.

«Was ist?», brummte er.

«Sympathisch wie immer», meldete sich Zimmermann.

«Herr Staatsanwalt», gab er zurück. «Es ist Hochsommer und gefühlte sechzig Grad im Schatten. Was spricht dagegen, dass Sie nach Hause fahren, ein kühles Bier trinken, in Ihren Pool springen und mich in Ruhe lassen?»

«Ich habe keinen Pool.»

Brambilla rollte mit den Augen und bekam gerade noch mit, wie Sergio gegen einen Lachimpuls ankämpfte, bevor er aufstand und verschwand.

«Sie könnten mich trotzdem in Ruhe lassen, oder nicht?»

«Ich befürchte, dass ich auf Ihre Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen kann.»

«Warum nicht?»

«Im Kloster St. Georgen zu Stein am Rhein wartet ein Toter auf Sie.»

«Was spricht dagegen, dass er noch ein wenig länger wartet? Es ist Hochsommer, gefühlte ...»

«Brambilla!»

«Ja, was? Ich habe der Leiche nicht befohlen, bei dieser Affenhitze den Löffel abzugeben. Also soll sie warten, bis es kühler wird.»

«Es ist ein Er.»

«Ich kümmere mich um ihn, wenn die Temperaturen gesunken sind. Keine Sekunde früher. Davonlaufen kann er ja nun nicht mehr.»

«Es reicht!»

Brambilla rieb sich über die Stirn. «Besteht die Möglichkeit, dass er einem Herzinfarkt oder einem Hitzschlag zum Opfer gefallen ist?»

«Kaum.»

«Was soll das heißen?»

«Gehen Sie hin und machen Sie sich selbst ein Bild. Ich verspreche, die Sache hat auch ihr Gutes.»

«Kann ich mir nicht vorstellen.»

«Hinter den dicken Klostermauern ist es angenehm kühl. Für Sie bedeutet das allerdings, dass es keinen Grund mehr gibt, zuzuwarten. Trennen Sie sich von Ihrem Kumpel und dieser ... dieser Taverne und machen Sie sich an die Arbeit.»

«Woher ...»

«Wollen Sie mich beleidigen? Ich kenne Sie inzwischen gut genug. Zack, zack! Oder brauchen Sie wie immer eine Sondereinladung?»

«Sie haben gut reden. Sie hocken den ganzen Tag in Ihrem klimatisierten Büro und haben keine Ahnung davon, wie heiß es draußen an der Front zu- und hergeht.»

«Sparen Sie sich Ihre Sprüche, Brambilla. Machen Sie sich lieber an die Arbeit, bevor der Leichnam verdunstet.»

«Ich nehme an, dass Sie die Untersuchung anordnen und damit offiziell ein Verfahren eröffnen?»

«Brambilla!»

«Ich meine ja nur. Nicht, dass ich nachher wieder einen Rüffel kassiere. In diesem Fall würde ich lieber noch ein Glas Wein trinken.» Eine unerwartete, grenzenlose Stille verriet ihm, dass Zimmermann aufgelegt hatte. Mit einem schiefen Grinsen schob er das Smartphone in die Brusttasche seines Hemdes.

«Ich muss», sagte er, als Sergio zurückkam und sich setzen wollte.

«Um diese Uhrzeit? Und bei den Temperaturen? Wohin?»

«Das Böse hat wohl doch keine Ferien», murmelte er. «Anders wäre es mir auch lieber. Besonders heute. Aber wenn der Tod ruft ...»

«Wie ich dich kenne, bist du in höchstens zehn Minuten mitten in deinem Fall und kümmerst dich nicht mehr darum, wie spät oder wie warm es ist. Wohin musst du?»

«St. Georgen.»

«Da drüben?» Sergio zeigte in Richtung der evangelischen Kirche, die unweit des Rathauses stand.

Brambilla bejahte die Frage, stand auf und klatschte einmal gegen seinen Oberschenkel. «Komm, Dicker. Arbeit.»

Anders als erwartet sprang Balou sofort auf, sah ihn hechelnd und erwartungsvoll an.

«Willst du nicht endlich damit aufhören?»

«Womit?»

«Balou ständig ‹Dicker› zu nennen.»

«Wozu? Er hört darauf, also scheint es ihn nicht zu stören.»

«Trotzdem. Das hat er nicht verdient.»

«Vielleicht versteht der Hund im Gegensatz zu dir, wie liebevoll es gemeint ist», konterte Brambilla. Er klopfte Sergio auf die Schulter und marschierte auf den Taunus zu, der zwischen zwei ausgedienten Schiffspollern stand.

«Die S-Klasse stand dir auch nicht schlecht», rief Sergio hinter ihm her.

Brambilla winkte ab. «Ich bin froh, dass ich ihn wieder habe.» Kaum hatte er sein Ziel erreicht, tätschelte er zärtlich das Autodach.

«Wenn du meinst.»

Brambilla öffnete die Beifahrertür, Balou sprang auf den Sitz und rutschte nervös hin und her. Bevor er sich selbst hinters Lenkrad schwang, winkte er seinem Kumpel zum Abschied zu. Dann startete er den Motor und machte sich mit blubberndem Auspuffsound davon.

3

Auf dem Chirchhofplatz wurde Brambilla von einem Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Dienstes empfangen. Er hatte seinen Wagen direkt vor dem Kirchenportal abgestellt und ging um einen Polizeibus herum, der den Zugang zu beiden Treppen versperrte, die zum Chlooschterhof hinunterführten.

«Seid ihr auch schon da?», stellte er überrascht fest.

«Kein schöner Anblick», bemerkte der andere, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, und wetzte an ihm vorbei auf den Minivan zu, den Brambilla gerade zugeparkt hatte. «Besser, du stellst dich mental darauf ein.»

«Ich habe Schlimmeres gesehen.»

«Abwarten.»

«Bist du auf dem Sprung?»

«Lass deine Schrottlaube stehen. Wir sind auch eben erst gekommen. Ich hole nur meinen Koffer.»

«Was haben wir?»

«Einen Toten.»

Kopfschüttelnd wandte sich Brambilla ab und schleppte sich über die Kopfsteinpflaster Stufe um Stufe dem Ort des vermeintlichen Grauens entgegen. Jede Bewegung trieb den Schweiß noch mehr aus seinen Poren, in Rinnsalen suchte er sich einen Weg über sein Gesicht, den Hals und seinen Nacken, die Brust und den Rücken und hinterließ unangenehme hellgraue Flecken auf seinem weißen Hemd.

Auf halber Strecke blieb er stehen und warf einen Blick durch die kleine, unverglaste und mit Eisenstäben vergitterte Lichtöffnung auf die Geschehnisse unter ihm. Ein Hauch von Mief kitzelte seine Nase. Das große Tor gegenüber stand offen und gestattete es dem Tageslicht, einen breiten Kegel auf die Ereignisse in dem ansonsten finsteren Raum zu werfen.

Brambilla beugte sich weiter vor, um besser erkennen zu können, wich jedoch ruckartig wieder zurück. Sein Gesicht hatte sich in verstaubten Spinnweben verfangen. Hastig befreite er sich von den feinen, klebrigen Fäden, bevor er sich noch einmal, dieses Mal vorsichtiger, dem emsigen Treiben widmete. Geräusche und Gemurmel waren zu hören, die von den gruselig anmutenden Gestalten des Kriminaltechnischen Dienstes in ihren weißen Overalls verursacht wurden. Eifrig waren sie damit beschäftigt, Scheinwerfer aufzustellen und ihre Arbeitsutensilien bereitzulegen, immer darauf bedacht, keine Spuren zu vernichten. Von der Leiche aber war nichts zu sehen.

Stufe um Stufe ging Brambilla weiter, beschleunigte gar seinen Schritt. Hitze und Schweiß waren vergessen. Es zählte nur noch das Verbrechen, dem es sich zu stellen galt.

Unten angekommen zögerte er nicht, das Absperrband abzureißen, das in dem gemauerten Rundbogen befestigt worden war, um den Tatort vor unbefugtem Betreten zu schützen.

Unter lautem Zetern eines uniformierten Polizisten betrat er den Hof des Klosters St. Georgen und blieb vor dem Eingang zur Trotte stehen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen spähte er in das bedrohliche Dunkel hinein.

Bis hierhin war Balou keinen Millimeter von seiner Seite gewichen, nun tapste der Hund unbeirrt weiter und setzte sich abseits der Betriebsamkeit aufrecht hin, so, dass er sowohl die Menschen als auch die Situation im Überblick behielt.

Brambilla überließ ihn sich selbst und setzte sich langsam in Bewegung. In demselben Moment, in dem jemand das Scheinwerferlicht einschaltete, trat er mit einem großen Schritt durch das Tor in den uralten, gemauerten Bau, der aus einem einzigen Raum bestand und in der scharfen Bündelung der Lichtstrahlen surreal wirkte. Unter seinen Füßen breitete sich ein staubiger Naturboden aus, der mit Kiesel bedeckt war. Über ihm hing eine massive Sichtbalkendecke, die die Raumhöhe optisch stauchte. An der Wand zu seiner Linken reihten sich zwei alte Weinfässer sowie ausgediente Tresterbottiche aneinander, deren Öffnungen nach vorne zeigten. In der hinteren rechten Ecke thronte eine furchteinflößende Kelter, die etwa ein Viertel des gesamten Raumes für sich beanspruchte. Es roch nach muffiger Feuchtigkeit und Fäulnis, aber Zimmermann behielt Recht: Es war angenehm kühl hier drin.

«Zieh dir wenigstens Handschuhe an», rief ihm einer der Männer zu.

«Ich fasse nichts an», erwiderte Brambilla mit hoch erhobenen Armen. «Sag mir lieber, was wir haben.»

«Einen Toten.»

«Sag mal, hat die Hitze eure Sinne versengt?», brummte Brambilla.

«Warum, Chef?»

«Seit wann bin ich euer Chef?»

«Nimm es als Kompliment und hör auf, uns zu nerven», ertönte eine weibliche Stimme aus dem hinteren Teil der Trotte. Zu wem sie gehörte, erkannte er wegen des grellen Lichts und den ekelhaften Schutzanzügen nicht.

Im Zeitlupentempo drehte er sich um die eigene Achse, um sich einen Überblick zu verschaffen. Seine Augen schweiften durch den Raum, dann hinaus auf den Hof, durch jeden verborgenen Winkel und blieben schließlich an dem Bündel haften, das einem Embryo gleich in einem der Holzbottiche lag.

«Ist er das?»

«Sieht so aus.»

«Fotografiert?»

«Was denkst du denn?»

«Holt ihn da raus», befahl Brambilla, nachdem er den Leichnam, soweit es seine Position zuließ, von allen Seiten begutachtet hatte. Sofort machten sich drei Männer daran, den leblosen Körper aus dem riesigen Behälter zu hieven und ihn auf die ausgebreitete Blache inmitten des ehemaligen Kelterhauses zu legen.

«Oha!», rief Brambilla aus. «Da war einer wütend.»

«Das kannst du laut sagen», entgegnete die weiße Gestalt, die neben dem Toten kniete.

«Wie viele sind es?»

«Keine Ahnung. Aber viele werden es schon sein.»

Brambilla trat so nah wie möglich an die Leiche heran und begann, die Einstiche im Oberkörper des Mannes zu zählen. Das Hemd war blutdurchtränkt, es war schwierig, die genaue Anzahl auszumachen.

«Was ist das da?» Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf den halb geöffneten Mund der Leiche.

«Ich würde sagen, eine Zeitung.» Vorsichtig führte der Kriminaltechniker eine Pinzette in die Mundhöhle des Toten und zog an dem grau-schwarz-weißen Knäuel, den er sofort in einem durchsichtigen Beutel verschwinden ließ. «So wie’s aussieht, wurde ihm damit das Maul gestopft.»

«Wer tut so etwas?»

Brambillas Frage war rein rhetorischer Natur, dennoch erwiderte einer der Männer: «Du bist der Ermittler. Finde es heraus.»

Brambilla wandte sich ab und inspizierte noch einmal den Bottich. «Kaum Blut», stellte er nüchtern fest.

«Wir lassen die paar Tropfen überprüfen.»

Brambilla verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schlich durch die Trotte. Dabei achtete er peinlich genau darauf, niemandem in die Quere zu kommen und keine wertvollen Spuren zu zerstören.

«Von wem könnte das Blut stammen?»

«Vom Täter zum Beispiel.»

«Unter der Leiche?»

«Sicher ist sicher.»

«Wo sind die Teppiche?»

«Welche Teppiche?»

«Hier liegen immer irgendwelche Perser herum.» Brambilla wedelte mit einer Hand vor seinem Körper herum.

«Hier drin? Kaum.»

«Doch.»

«Hast du zu viel gesoffen?», spottete eine männliche Stimme vom Eingang her.

«Wenn ich es euch sage», protestierte er. «Normalerweise liegen hier große, bunt gemusterte Teppiche mit Fransen an den Seiten.»

«Ich bin ja nicht von hier und will daher nichts behaupten, vorstellen kann ich es mir trotzdem nicht. Was um alles in der Welt haben Teppiche in diesem Loch zu suchen?»

«Was weiß ich?»

Brambilla hörte, wie sich einige über ihn lustig machten, und bemerkte trotz des blendenden Lichts die vielsagenden Blicke, die ihm zugeworfen wurden. Davon angespornt warf er die Vermutung auf: «Angenommen, der Mann wurde auf diesen Teppichen so zugerichtet. Das viele Blut hätte sich in ihre Fasern gefressen, weshalb sie entsorgt werden mussten. Hier ist jedenfalls weit und breit kein Blut zu sehen, und ich gehe nicht davon aus, dass ihr die Decke darüber ausgebreitet habt.»

«Hier!», rief eine Frauenstimme.

«Was? Wo?»

«Komm her und sieh dir das an. Hinter dem Monstrum.»

Brambilla verließ das Zentrum des Geschehens und nahm den schmalen Durchgang zwischen der Wand und der Kelter. Was er dort sah, verschlug ihm den Atem.

«Na, habe ich zu viel versprochen?», triumphierte die Frau.

Der Boden war großflächig von roter Flüssigkeit getränkt. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Wenige Zentimeter von seinen Schuhspitzen entfernt war ein grausiges Blutbad angerichtet worden.

«Ist das da», er zeigte auf den See aus Blut, «von einem einzigen Menschen?»

«Ich schätze mal, ja. Oder siehst du hier noch mehr Tote?»

«Er wurde geschlachtet wie ein Stück Vieh.»

«Das beschreibt es ziemlich gut.»

«Und weiter?»

«... wurde er dort entlang über den Boden geschleift.» Sie zeigte zur Nordwand, wo der schmale Durchgang um die Kelter herum zurück in die Mitte des Raumes führte. Es waren deutliche Schleifspuren zu erkennen, die bei dem momentanen Gewusel in der Trotte von der anderen Seite des Gerätes kaum zu bemerken waren. Brambilla presste sich der Mauer entlang, vorsichtig, um nicht aus Versehen in das Blut zu treten, und folgte den Spuren, die schnurstracks zu dem Bottich führten, in dem die Leiche gelegen hatte.

«Schuhabdrücke?», fragte er, obschon er selbst keine eindeutigen erkennen konnte.

«Wir sind dran, und du würdest uns wirklich sehr helfen, wenn du hier nicht alles zertrampeln würdest.»

«Wer hat ihn gefunden?», wechselte Brambilla das Thema und bewegte sich auf das Tor zu.

«Ein alter Mann», erklärte eine der weißen Gestalten. «Er ist komplett neben der Spur. Maya hat sich mit ihm auf die Bank am Rhein gesetzt und versucht ihn zu beruhigen.» Der Typ streckte den Arm aus und zeigte in Richtung des Flusses. «Über den Hof und durch das kleine Spitzbogentor in der Mauer auf der gegenüberliegenden Seite. Dort irgendwo sollten sie sein.»

Brambilla nickte. Er war heilfroh, dass er endlich hier rauskam.

Kaum, dass er die Trotte verlassen und den Hof betreten hatte, empfingen ihn dumpfe gregorianische Gesänge, begleitet von sanftem, kaum vernehmbarem Orgelspiel. Die Musik ergriff Besitz von ihm und trug ihn in längst vergangene Zeiten. Er vermutete sie hinter den dicken Klostermauern, doch es war schwer vorstellbar, dass es sich um eine Liveaufführung handelte. Vielmehr ging er davon aus, dass über Lautsprecher eine Aufnahme abgespielt wurde, was der Faszination des Augenblicks keinen Abbruch tat. Im Gegenteil.

Unter der schattenspendenden Linde verweilte er und lauschte den Klängen, die sich einem gespenstischen Schleier gleich über die barbarische Tat in dem ehemaligen Kloster legten. Ein kalter Schauer huschte über seinen Rücken. Er sah sich um, wonach, vermochte er nicht zu sagen, und nahm letztlich den Weg, den der Kollege beschrieben hatte und den er selbst im Laufe seines Lebens zigmal gegangen war.

Das Rheintörlein war schmal, Balou und er konnten es nicht gemeinsam passieren. Brambilla ging zuerst hindurch, gebückt, da er sich den Kopf nicht an der Mauer stoßen wollte.

Ein Katzensprung trennte ihn nun von dem kühlen Nass. Anders als vor der Schurken-Taverne, wo der Rhein sich zumeist verträumt durch die Ebene schlängelte, zeigte sich der Fluss an dieser Stelle aufgewühlt. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen zog ihn in seinen Bann, die sommerliche Geräuschkulisse vorbeifahrender Motorboote, kreischender Kinder auf ihren Schwimmtieren und krächzender Vögel versetzte ihn in Ferienstimmung. Das dumpfe Platschen junger Menschen, die den Sprung von der Rheinbrücke in den Fluss wagten, löste eine ungestillte Abenteuerlust in ihm aus.

Er sah sich um und entdeckte die uniformierte Polizistin unter einem Baum auf einer Bank sitzend, neben ihr eine in sich zusammengefallene Gestalt. Er beschleunigte seinen Schritt und trat von hinten an die beiden heran.

«Alberto Brambilla vom Kommissariat für Gewaltdelikte.»

Die Frau in Uniform sah über ihre Schulter und nickte. «Ich weiß.»

«Hm?»

«Mit Verlaub», erwiderte sie, «Sie sind bekannt wie ein bunter Hund.»

Balou reagierte mit einem unmissverständlichen Wuff auf ihre Bemerkung. Brambilla hingegen ließ diese stehen, ging um die Bank herum und baute sich mit dem Rücken zum Rhein vor ihnen auf. In Sekundenschnelle scannte er den Mann, der mit leerem Blick auf das Wasser starrte: augenscheinlich groß, schmächtig, eingefallene Wangen, heraustretende Augäpfel, durchscheinende Haut, die an Pergamentpapier erinnerte, schütteres Haar, gepflegt gekleidet mit einem kurzärmligen, bunten Hemd, einer bis zu den Knien reichenden dunkelblauen Jeans, farblich passenden Kniestrümpfen und Offroad-Sandalen.

«Und Sie sind?», sprach er ihn an.

«Das ist Herr Brütsch», beantwortete die Polizistin die Frage.

«Hat Herr Brütsch die Sprache verloren?»

«Er steht unter Schock.»

«Braucht er einen Arzt?»

Vehement schüttelte der Mann den Kopf. «Hans Brütsch», stellte er sich mit zittriger Stimme vor.

«Wie alt sind Sie, Herr Brütsch?»

«Achtundneunzig, aber immer noch rüstig.» Seine Stimme wurde fester, doch das Tosen des Rheins und die mannigfaltigen Laute verschluckten beinahe jedes seiner Worte.

«Bitte sprechen Sie etwas lauter.»

Brütsch wedelte mit ausgestrecktem, krummem Zeigefinger vor Brambillas Nase herum. «Man begegnet nicht alle Tage dem Tod, nicht wahr, junger Mann?»

«Kommt darauf an. Sie haben den Toten also gefunden?»

Brütsch bedachte Maya mit einem verschmitzten Lächeln. «Dass ich diese Aufregung noch erleben darf», brüstete er sich.

«Empfinden Sie die Situation als erregend oder amüsant?»

«Aber nein, wo denken Sie hin! Es ist nur so, dass das Leben in meinem Alter von Lethargie und tödlicher Langeweile geprägt ist. Alles, was mich für kurze Zeit aus diesem Stumpfsinn herausholt, ist herzlichst willkommen.»

«Wann haben Sie die Leiche gefunden?»

«Vorhin.»

«Etwas genauer?»

«Sie sind der Kommissar, nicht wahr?»

Brambilla nickte. «Oberleutnant Alberto Brambilla von der Schaffhauser Polizei. Den Begriff Kommissar verwenden wir nicht.»

«Die im Fernsehen schon.»

«Wir sind aber nicht im Film, sondern mitten in der Realität.»

«Wann sind Sie denn gerufen worden, Herr Kommissar?»

Brambilla überlegte. «Das wird so gegen fünfzehn Uhr fünfundvierzig gewesen sein. Vielleicht etwas früher.»

«Dann habe ich ihn sicherlich um fünfzehn Uhr dreißig gefunden, schätze ich. Vielleicht auch etwas früher.» Brütsch grinste über das ganze Gesicht und ließ die gelbbraunen Zähne aufblitzen, die sich kreuz und quer über Ober- und Unterkiefer verteilten. «Jedenfalls habe ich sofort die Polizei gerufen.»

«Womit?»

Brütsch langte in die Hosentasche und zog ein Smartphone hervor. «Von meinem Enkel», verkündete er voller Stolz und streckte das Gerät in die Luft. «Falls mal was ist, hat er gesagt. Ich muss ihn geschwind anrufen und ihm erzählen, dass ich es benutzt habe.» Sofort begann einer seiner von Gicht gezeichneten Finger wie wild auf das Display zu tippen.

«Später», pfiff Brambilla ihn zurück. «Zuerst müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.»

«Aber gern, Herr Kommissar. Was möchten Sie denn wissen?» Brütsch beugte sich vor und stützte die Hände auf seinen spitzen Knien ab, das Handy immer noch fest im Griff.

Brambilla räusperte sich und warf Maya einen verstohlenen Blick zu. Es entging ihm nicht, dass sie kurz davorstand, die Beherrschung zu verlieren und loszulachen.

«Wo wohnen Sie?»

«Dahinten.» Mit ausgestrecktem Arm zeigte er nach Osten, in Richtung Öhningen.

«Leben Sie allein?»

«Nein. Ich bin in guter Gesellschaft.»

«Sind Sie verheiratet?»

«Ich war es, fast sechzig Jahre lang und unwahrscheinlich glücklich. Meine Frau ist vor Kurzem nach Hause gegangen. Da oben wartet sie, bis ich auch so weit bin.» Brütsch zeigte zum Himmel. «Aber das kann noch dauern. Ich hoffe nur, dass sie mir in der Zwischenzeit nicht fremdgeht.»

«Sie haben gesagt, Sie seien in guter Gesellschaft. Wie darf ich das verstehen? Leben Sie in einem Mehrfamilienhaus oder einer Wohngemeinschaft?»

«Im Heim.»

Brambilla wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Wie sind Sie hierhergekommen?»

«Zu Fuß. Ich habe doch gesagt, ich bin noch rüstig.»

«Bei der Hitze?»

«Mögen Sie den Sommer nicht? Als Italiener sind Sie solche Temperaturen doch gewohnt, nicht wahr?»

«Ich bin Schweizer.»

«Aber nicht von hier.»

Brambilla seufzte. «Wie sind Sie hierhergekommen?», wiederholte er.

«Zu Fuß, haben Sie das schon wieder vergessen? Wissen Sie, junger Mann, die Hitze macht mir nichts aus.»

«Wäre es gegen Abend nicht angenehmer gewesen, den weiten Weg auf sich zu nehmen?»

«Bestimmt, aber die lassen mich nach dem Abendessen ja nicht mehr raus.»

Brambilla unterdrückte ein Schmunzeln, indem er die geballte Faust gegen seinen Mund presste. «Was hat sie in den Klosterhof geführt?», fragte er, als er sicher war, den Kampf gegen den Impuls gewonnen zu haben.

«Ich komme regelmäßig hierher. Fast jeden Tag.»

«Weshalb?»

«Es ist schön hier.»

«Ein schlagkräftiges Argument. Finden Sie nicht, Chef?», mischte sich die Polizistin ein.

«Ich bin nicht ...» Er besann sich eines Besseren und richtete stattdessen die nächste Frage an Brütsch: «Wie sind Sie auf die Leiche aufmerksam geworden?»

«Ich wollte mich in der Trotte etwas ausruhen. Aber das ging ja nicht.»

«Warum nicht?»

«Weil da schon dieser Tote war. Das war kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen, Herr Kommissar. Haben Sie schon einmal neben einem Toten gesessen und gewartet? An so einem Ort kann man sich doch nicht ausruhen, nicht wahr?»

«Wo war der Tote?»

«In der Trotte.»

«Wo genau?»

«Im Fass.»

«Sie meinen den Bottich?»

«Er lag in diesem riesigen Fass, wie ein zusammengerollter Fötus. Zuerst dachte ich, der schläft. Aber er hat nicht auf mich reagiert und sein Hemd war besudelt. Deshalb hielt ich es für klüger, die Polizei zu rufen.»

«Haben Sie ihn angefasst?»

«Nein. Warum? Hätte ich das tun sollen?»

Brambilla schüttelte den Kopf.

Brütsch schwang seinen Gehstock durch die Luft. «Damit habe ich ihn gepikst», verkündete er mit verschmitztem Grinsen und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Haben Sie schon einmal eine Leiche gesehen, Herr Kommissar? Ich meine so richtig, nicht im Fernsehen.»

Er räusperte sich. «In meinem Beruf kommt das ab und zu vor, ja.»

«Das ist nicht schön. Gar nicht schön.»

«Was haben Sie danach gemacht?»

«Nach dem Piksen? Ich habe sofort die Polizei gerufen. Das heißt es doch immer, nicht wahr? Sofort die Polizei rufen. Aber das wissen Sie ja. Ich wiederhole mich.»

«Ist Ihnen in der Zwischenzeit etwas aufgefallen?»

«Gibt es Mönche hier?»

«Äh ...»

«Oder vielleicht Nonnen? Ich habe hier noch nie welche gesehen.»

«Das Kloster St. Georgen ist schon lange kein Kloster mehr. Heute befindet sich hinter diesen Mauern ein Museum. Mönche und Nonnen werden Sie kaum antreffen, zumindest keine, die hier leben.»

«Ah.» Brütsch rieb unentwegt mit einem Finger über seine Wange. «Ich dachte nur, weil die Mönche so schön singen. Hören Sie das?»

Brambilla lauschte aufmerksam, vernahm den Choral jedoch nicht mehr.

«Wie war noch mal Ihre Frage?»

«Ob Ihnen etwas aufgefallen ist.»

«Nicht, dass ich wüsste. Außer ...»

«Was?»

«Ich war mausbeinallein. Sonst sind immer saumäßig viele Touristen hier. Die sind doch wieder in der Stadt, nicht wahr?»

Brambilla nickte. «Kannten Sie den Toten?»

«Herr Kommissar, ich bitte Sie! Sagten Sie nicht, Sie seien von hier? Natürlich kenne ich ihn. Wer kennt ihn nicht?»

Hilfesuchend sah Brambilla sich nach Maya um, die abwehrend die Hände hob.

«Erinnern Sie sich an seinen Namen?», erkundigte er sich.

«Etwas Ausländisches, ähnlich wie Ihrer.»

«Italienisch?»

«Ich weiß nicht.»

«Französisch vielleicht? Oder Englisch?»

«Komplizierter, glaube ich.»

«Spanisch oder Portugiesisch?»

Brütsch zuckte mit den Schultern. «Der ist von der Zeitung.»

«Von welcher?»

«Gibt es hier etwa mehrere?»

Brambilla beschloss, dass er genug gehört hatte, beendete das Gespräch, verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von den beiden und ging mit Balou im Schlepptau zurück zur Trotte.

«Chef, das Portemonnaie», empfing ihn einer der Männer, die in diesen unheimlichen Anzügen steckten.

«Ausweis?»

Der Mann nickte. «Bargeld und Kreditkarten vorhanden. Er trug außerdem eine teure Armbanduhr und eine Goldkette um den Hals.»

«Also kein Raubmord», stellte Brambilla fest. Er streckte die Hand aus und nahm den Asservatenbeutel entgegen. Auf dem Foto der Identitätskarte war der Tote deutlich zu erkennen. Daneben standen Vor- und Familienname sowie das Geburtsdatum. «Von wegen Ausländer», murmelte er. Der Mann hieß Liun Adank und war siebenundsechzig Jahre alt. «Ein Bündner?», wollte er wissen.

«Ein Einheimischer war der nicht.»

«Woher weißt du das?»

«Kennst du den etwa nicht?»

Brambilla schüttelte den Kopf.

«Das ist der Fuzzi vom Munot Anzeiger. Sorry, aber um den ist es echt nicht schade. Der hätte bleiben sollen, wo er herkam.»

«Sind wir etwa fremdenfeindlich?», gab Brambilla schnippisch zurück.

«Nein, bestimmt nicht. Aber der ...» Er steckte sich den Zeigefinger tief in den Rachen und täuschte einen Brechreiz vor.

«Was ist los mit dir?»

Der andere winkte ab. «Ich meine ja nur. Wohin mit ihm?»

«St. Gallen.»

«Warum nicht Zürich?»

«St. Gallen.»

«Zürich ist einfacher.»

«Ich sagte St. Gallen!»

«Wie du meinst, Chef.» Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich der Mann ab und ging davon.

«Tatwaffe?», rief Brambilla hinter ihm her.

«Wahrscheinlich ein Messer. Wir haben bis jetzt aber nichts gefunden.»

«Spuren?» Er beobachtete, wie der Mann den Kopf schüttelte und stehen blieb, ohne sich nach ihm umzudrehen.

«Die Trotte ist öffentlich zugänglich. Wir geben unser Bestes.»

«Davon bin ich überzeugt», konterte Brambilla. «Ich will, dass die Taucher das Flussstück von hier bis zur Rheinbrücke nach der Tatwaffe absuchen.»

Nun drehte sich der Mann in Weiß doch noch um. «Spinnst du? Weißt du, wie viel das kostet?»

«Interessiert mich nicht. Wir brauchen die Tatwaffe.»

«Meinst du nicht, dass die Strömung sie längst mit sich gerissen hat?»

«Subito», ordnete er an, gab Balou ein Zeichen und marschierte davon. Für heute hatte er nicht nur genug gehört, sondern auch mehr als genug gesehen und diskutiert. Er brauchte eine Pause und musste sich der Frage stellen, wer dieser Liun Adank war und was er im Kloster St. Georgen verloren hatte. Ein Glas Wein würde ihm dabei behilflich sein.

4

«Da bin ich wieder», proklamierte er laut, als er mit dem Hund an seiner Seite die Schurken-Taverne betrat. Auf der Terrasse war jeder Platz besetzt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als an seinem Stammtisch im hinteren Teil der Kneipe Platz zu nehmen. Balou ließ sich schwerfällig auf den Boden fallen und legte den Kopf auf seine Füße.

«Und? Wie war’s?», wollte Sergio wissen. Er eilte hinter dem Tresen hervor und servierte ihm ein Glas Rotwein.

«Wasser, bitte.»

«Bist du krank?» Sergio drehte um und wollte den Wein wieder mitnehmen, doch Brambilla hielt das Glas an seinem Stiel fest.

«Lass ihn da. Bring mir einfach noch eine Karaffe mit Leitungswasser.»

Im Nu war sein Kumpel zurück und setzte sich zu ihm.

«Hast du nichts zu tun?»

«Die melden sich, wenn sie etwas brauchen. Und jetzt erzähl. Was war los im Kloster?»

«In der Trotte.»

Brambilla genehmigte sich einen großzügigen Schluck Wein. «Was ist das? Eine australische Cuvée?»

«Lenk nicht vom Thema ab.»

«Gedörrte Pflaumen, Datteln, Kirschen vielleicht. Etwas Waldboden. Lavendel, Kräuter und Tabak.»

«Schwarze Kirschen, und du hast die verwelkten Rosen vergessen. Das ist aber kein Grund, vom Thema abzuschweifen.»

Brambilla widmete sich dem schwarzen Lederetui. Er klaubte den Tabak, den Stopfer und die Streichhölzer aus dem schwarzen Ledertäschchen, breitete alles vor sich aus und legte die Hülle beiseite. Andächtig hob er die Pfeife hoch. Das gute Stück lag ausgewogen in der Hand, das seidig glänzende, sandgestrahlte, schwarze Holz fühlte sich vertraut an. Liebevoll, fast zärtlich, lockerte er den Tabak, gab einen Teil von ihm in die Rauchkammer, darauf eine zweite Lage, die er anschließend mit dem Zeigefinger festdrückte. Er legte die Pfeife auf den Tisch, nahm das Streichholzbriefchen und entfachte eine kleine Flamme, bevor er sich das Mundstück zwischen die Lippen klemmte, mit kreisenden Bewegungen über den Tabak fuhr und in ruhiger Gleichmäßigkeit daran zog. Dann lehnte er sich zurück. Minutenlanges Schweigen legte sich über den Raum.

«Kennst du den Toten?», wollte Brambilla schließlich wissen.

«Das kann ich dir sagen, wenn du mir verrätst, wie er heißt.»

«Liun Adank.»

«Cazzo!» Sergio schlug die Hände vors Gesicht. «Fuck! Da hat es ausnahmsweise den Richtigen erwischt, das kann ich dir sagen.»

«Interessanter Wortschatz.»

«Hör mal!», rief Sergio aus. «Den hätte ich eigenhändig umgebracht, wenn ich nicht so ein grundanständiger Kerl wäre.»

«Warum?»

«Ich fasse es nicht! Du kennst diesen Fuzzi nicht?»

«Nein, aber den Ausdruck habe ich heute schon einmal gehört.»

«Liun Adank», holte Sergio aus, «Schweizer Staatsbürger, gebürtiger Bündner.»

«Weshalb dieser gereizte Unterton?»

«Weil ich mich wegen Menschen wie diesem Adank schäme, Schweizer zu sein.»

«Und weiter?»

«Der war nicht nur in seiner direkten Nachbarschaft und in ganz Stein am Rhein verhasst, sondern auch im Kanton Schaffhausen und über seine Grenzen hinaus alles andere als beliebt.»

«Nachbarschaft?» Brambilla zog an seiner Pfeife.

«Ich sage nur: zu hohe Hecken, unordentliche Gärten, Lärmbelästigung, Grillqualm, Falschparker, Katzenkot, Küchengerüche ...»

«Verheiratet?»

«Geschieden. Hast du diesen Rosenkrieg nicht mitbekommen?»

Brambilla schüttelte entschuldigend den Kopf. «Ich lese keine Zeitung. Das solltest du allmählich wissen.»

«Arme Silke.»

«Silke?»

«Seine Ex. Sie hat drei Kinder. Erwachsene Söhne. Die haben aber schon vor Jahren den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Soweit ich weiß, hat einer von denen inzwischen selbst eine Familie. Aber ich gehe nicht davon aus, dass Adank sein Enkelkind kennt.»

«Ein Scheusal also?»

Sergio lachte gequält auf. «Wovon rede ich denn die ganze Zeit? Ich mache mir ernsthaft Sorgen.»

«Worüber?»

«Um dich, Mann!»

«Warum?»

«Weil du den nicht kennst.»

«Was weißt du noch?»

«Er war Redaktor beim Munot Anzeiger. Pensioniert.»

«Und?» Brambilla spürte, dass Sergio etwas zurückhielt, eine Information, die für die Ermittlungen womöglich von Bedeutung sein könnte.

Sein Kumpel druckste herum, bis er endlich mit der Sprache herausrückte: «Ich habe diesem Schwein Hausverbot erteilt. Aber das hat sich ja jetzt Gott sei Dank erledigt.»

«Hausverbot?»

«Habe ich dir das nie erzählt? Der hat sich hier des Öfteren benommen wie ein ...»

Abwehrend hob Brambilla eine Hand. «Danke! Für heute habe ich genug Schimpfwörter gehört. Sag mir lieber, was vorgefallen ist.»

«Ob mit oder ohne Alkohol im Blut verhielt der sich wie ein ...»

«Stopp!», unterbrach er ihn wieder. «Keine Beleidigungen mehr. Können wir uns darauf einigen?»

«Schwerlich.»

«Reiß dich zusammen.»

Sergio nickte. «Vor Jahren hat diese ...» Er räusperte sich. «Er hat einen Leserbrief im Munot Anzeiger veröffentlicht.»

«Was ist daran auszusetzen? Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern.»

«Das hatten wir schon», monierte Sergio. «Weißt du etwa nicht, was da drinstand?»

«Ich lese keine Zeitung.»

«Wenn du schon keine Ahnung hast, dann halte wenigstens die Klappe.»

«Anstatt mich dumm anzumachen, könntest du mir erzählen, was er geschrieben hat.»

«Wortwörtlich weiß ich es nicht mehr. Aber sinngemäß hieß es, der Name meiner Spelunke sei Programm. Die Schurken-Taverne sei eine Kneipe für die ganz bösen Jungs, was nicht weiter verwunderlich sei, da aus Sizilien bekanntlich nichts Gutes komme, und dass man gespannt sein könne, wie lange es dauere, bis der Inhaber der mediterranen Schnapsbude am Schweizer Ufer des Rheins mit aufgeschnittener Kehle zwischen seinen edlen Tropfen liege. Er zog über den Staaner Stadtrat her, der mit der Bewilligung dieses Mafiaprojekts dem organisierten Verbrechen Tür und Tor geöffnet und Stein am Rhein damit jeglichen Charme entzogen habe. Diese arrogante Sau rief sogar dazu auf, die Schurken-Taverne zu meiden, andernfalls müsse man mit einer Verhaftung und anschließenden Auslieferung ins Land der Spaghettifresser rechnen.»

«Das kommt einer Morddrohung gleich. Hast du ihn angezeigt?»

«Das wollte ich. Aber der Typ von der Polizei hat mich eiskalt abserviert.»

«Wer war das?»

«Was weiß ich. Einer von deinen Leuten. Der hat sein Büro auch hier.»

«Der Leiter der Polizeistation?»

Sergio zuckte mit den Schultern.

«Weshalb regst du dich eigentlich so auf?», wollte Brambilla wissen. «Du wusstest von Anfang an, dass du mit dem Namen deiner Taverne provozierst. Trotzdem hast du dich dafür entschieden. Ist doch normal, dass die Leute sich das Maul zerreißen.»

«Aber nicht so! Diese ... diese», Sergio ballte die Hände zu Fäusten, «... kam jeden Abend hierher und trank sein Bier, bevor er nach Hause ging. Nie hat er sich mir oder einem anderen Gast gegenüber zu meiner Herkunft oder dem Namen der Taverne geäußert. Und dann schreibt der völlig unerwartet diesen Leserbrief und glaubt, er könne mich in aller Öffentlichkeit fertigmachen. Der haut mir in die Fresse und ich soll mich nicht aufregen?»

«Ist die Rubrik der Leserbriefe nicht dazu da, sich öffentlich zu brisanten Themen zu äußern?»

«Ganz genau! Themen! Ich bin absolut dafür und finde es richtig, dass die Zeitungen die Möglichkeit anbieten, dass wir uns zu Wort melden. Aber das soll gefälligst auf einer sachlichen Ebene geschehen. Dass ein dahergelaufener Querulant im Rahmen dieser Spalte Menschen beleidigt, ihre Ehre durch den Dreck zieht, ihre Existenz bedroht oder gar zerstört, ist unter aller Kanone. Und dass die Zeitungen so etwas durchgehen lassen, diese Arroganz auch noch unterstützen, indem sie diese Leserbriefe abdrucken und den Texten eindeutig verleumderische Titel verpassen, geht gar nicht! Meine Meinung.» Sergio sprang auf, stampfte hinter den Tresen und kehrte mit einer Flasche Bier zurück, die, kaum, dass er sich wieder zu ihm gesetzt hatte, auch schon leer war.

«Ich glaube nicht, dass Alkohol deine Probleme löst», gab Brambilla zu bedenken.

«Meine Probleme? Meine? Ich finde, das ist das Problem unserer Gesellschaft!»

«Was erwartest du von mir?»

«Dass du diese Arschlöcher dingfest machst und daran hinderst, dass sie noch länger ihr Unwesen treiben.»

«So kommen wir nicht weiter. Du weißt genau, dass das unmöglich ist.»

«Ich habe nicht damit angefangen. Du musstest ja unbedingt diesen Namen erwähnen.»

«Was kann ich dafür, dass der Mann den Löffel abgegeben hat?»

Balou hatte sich erstaunlich lange zurückgehalten, nun stemmte er sich hoch, trottete um den Tisch herum, stellte sich an Sergios Seite, legte seinen Kopf auf dessen Oberschenkel und harrte aus, bis er ihn zu streicheln begann.

«Adank scheint kein Mensch gewesen zu sein, der viele Freunde hatte», stellte Brambilla nach einer Weile ruhig fest.

«Der und Freunde? Nein, der hatte keine Freunde. Der hatte die ganze Welt gegen sich. Das Einzige, was der hatte, waren Feinde.»

«Jeder erntet, was er sät.»

«Leider hat der nun nichts mehr von seiner Ernte.» Sergio war deutlich frustriert. «Man hätte ihn verrecken lassen sollen. Oder zumindest so richtig schön das Maul stopfen. Wenn ich derjenige gewesen wäre ...»

Brambilla spürte einen lähmenden Schmerz in seiner Brust. «Sei vorsichtig, was du sagst», ermahnte er seinen Freund. «Ich bin immer noch bei der Polizei und zuständiger Ermittler in diesem Fall. Gut möglich, dass ich dich für verdächtig halte, den Tod von Liun Adank herbeigeführt zu haben oder zumindest daran beteiligt gewesen zu sein.»

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Sergio ihn an. «Dein Ernst?»

«Ich verstehe, dass du verärgert und verletzt bist», begann Brambilla.

«Das sind ja ganz neue Töne.»

«Nicht in der Ausübung meines Berufs.»

«Was soll das heißen? Seit wann redest du so geschwollen daher? Bist du unter die Psychiater gegangen?»

«Ich habe durchaus Verständnis für deine Situation, aber ich bin eben nicht nur dein Freund, sondern auch und im Moment vor allem Polizist. Solche Aussagen, wie du sie gerade getroffen hast, kann und darf ich nicht ignorieren.»

Sergio war immer noch entsetzt.

«Schau, ich kann mir gut vorstellen, wie gekränkt du bist. Mir ginge es nicht anders. Aber ist es nicht so, dass klaffende Wunden oft Vater böser Gedanken sind? Das ist ja das Gefährliche daran. Wurde die Sühne für unverarbeiteten Schmerz erst einmal in einen Gedanken gefasst, braucht es nicht mehr viel, um diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Auf Liun Adank wurde mindestens ein Dutzend Mal eingestochen, vermutlich mit einem Messer. Er wurde praktisch aufgeschlitzt. Der Anblick war selbst für mich grässlich. Die Person, die das getan hat, muss hasserfüllt gewesen sein. Wie du. Du hast ein Motiv. Also pass auf, was du sagst.»

Unter Balous lautem Fiepen erhob er sich, klopfte Sergio auf die Schultern und verließ mit seinem Hund die Taverne. Die Umstände um Liun Adank waren sehr komplex, er musste in Ruhe nachdenken und sich eine Strategie zurechtlegen, wie er vorgehen wollte. Einerseits musste er seinen Kumpel davor bewahren, in den ganzen Schlamassel hineingezogen zu werden. Andererseits sah es so aus, als hätte er die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen. Unter den gegebenen Umständen kam er hier im Moment der Lösung des Rätsels nicht näher.

«Weshalb hätte ich all die Jahre damit zuwarten sollen, dieses Schwein umzulegen?», hörte er Sergio rufen. Er war schon fast bei seinem Wagen und hatte keine Lust mehr, sich mit der Verbitterung seines Kumpels auseinanderzusetzen. Jahrelang hatte Sergio die Sache mit sich selbst ausgemacht, seinen Schmerz für sich behalten, kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Vielleicht hätte er ihm damals helfen, zumindest für ihn da sein können. Jetzt, da Adank tot war, fühlte Sergio sich auf einmal getriggert und schüttete die gesamte angestaute Gülle über ihm aus. Das musste er sich nicht geben. Sergio sollte zuerst zur Besinnung kommen, dann sähen sie weiter.

Seinen Kumpel ignorierend zog Brambilla das Smartphone aus der Gesäßtasche seiner Jeans und rief Wagner an. Er brauchte Informationen. Sein Mitarbeiter sollte alles über das Opfer und dessen Frau in Erfahrung bringen, was er auf die Schnelle zusammentragen konnte.

5

Dienstag, 19. Juli

«Die lassen uns ganz schön lange warten», murmelte Brambilla vor sich hin und sah zum x-ten Mal auf sein Handy.