Dunkle Wolken über Südtirol -Lux - Sandra Pfändler - E-Book

Dunkle Wolken über Südtirol -Lux E-Book

Sandra Pfändler

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Beschreibung

Kaum haben sich die dunklen Wolken am Familienhimmel der Moroders verzogen, braut sich das nächste Unwetter zusammen. Denn Loris will, was seine Geschwister Lisa und Lukas längst haben: ein eigenes Leben, eine eigene Vision. Auf dem steinigen Weg zum Ziel begegnet er Andrea Tintori. In ihm glaubt er, den Kumpel aus längst vergangenen Tagen zu erkennen, doch die Realität belehrt ihn eines Besseren. Unerwartet findet er sich im Netz der sizilianischen Mafia wieder. Aber Loris wäre kein Moroder, wenn er sich seiner ausweglosen Situation nicht mit ungebrochener Sturheit stellen würde. Wie weit ist er bereit zu gehen, um sich seinen Traum zu erfüllen? „Mit dem dritten Band setzt die Autorin ihrer Südtirol-Reihe die Krone auf. Einmal mehr entführt uns ihr unverkennbarer Schreibstil in das Land der charmanten Gegensätze, begleitet von wortgewaltigen Kulissen, atemberaubender Spannung und gefühlsstarken Begegnungen. Ein weiterer außergewöhnlicher Roman aus ihrer Feder.“ Nina Gräub

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Dunkle Wolken über Südtirol

Lux

Roman

Sandra Pfändler

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.herzsprung-verlag.de

© 2023 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2023.

Lektorat/Herstellung: CAT creativ – www.cat-creativ.at

Covergestaltung: Papierfresserchens MTM-Verlag

Coverbild: © Gerhard – Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-96074-701-7 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-702-4 - E-Book

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Inhalt

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Für alle,

die sich nach Feierabend mit einem guten Buch in der einen

und einem kühlen Bier in der anderen Hand

zurücklehnen möchten.

*

1

„Es ist okay, ich habe keine Angst, führe mich in die Geheimnisse deiner Leidenschaft ein.“ Einem Kätzchen gleich schmiegte sie sich an ihn, die Arme um seinen durchtrainierten Oberkörper geschlungen. Ihre Hände schwebten über seinen Rücken, die Daumen streichelten seine nackte Haut. Ihr Kopf ruhte knapp unter seiner Brust, mit geschlossenen Augen lauschte sie dem verlangenden Pochen seines Herzens.

„Bist du sicher?“ Sorgsam legte er einen Arm um ihre Schultern, der andere blieb schüchtern an seiner Seite, als brächte die Hand nicht den Mut auf, die Stellen an ihrem Körper zu berühren, nach denen sie sich schon sehr lange sehnte.

Endlose Minuten verstrichen, unruhiger Atem bohrte sich durch die knisternde Stille.

Sarina hielt die Spannung nicht länger aus. „Ja“, hauchte sie und nickte. Damit verlieh sie der Bedeutung dieses einen Wortes mehr Gewicht.

Benitos Arm bewegte sich, erst zaghaft, dann mutiger, bis er sich fordernd seinem Ziel näherte. In leidenschaftlicher Zärtlichkeit fuhr seine Hand durch ihr Haar. Die Berührung glich dem Tanz Tausender Elfen auf ihrem Kopf und löste ein sanftes Prickeln in ihrem Nacken aus.

„Sehr sicher“, flüsterte sie.

Sofort reagierte sein Körper auf sie. Es schien, als hätte er darauf gewartet, dass sie ihm die Gewissheit gab, keinen Fehler zu machen.

„Und was ist mit Corvo?“

„Lass den meine Sorge sein“, murmelte sie. Bestimmter fuhr sie fort: „Er wird es nie erfahren. Und wenn doch, stehe ich mit meinem Leben dafür ein, dass dir nichts geschieht.“ Sachte löste sie sich aus seiner Umarmung und blickte lächelnd zu ihm hoch. Sie legte eine Hand an seine Wange, ihre Augen verloren sich in den seinen, diesen ungewöhnlich dunklen Edelsteinen, die stolz in ihren Höhlen ruhten. Die widerspenstigen Locken seiner schwarzen, schulterlangen Mähne sprangen abenteuerlustig um das ebenmäßige Gesicht mit der sonnenverwöhnten Haut und dem stoppeligen Bart.

„Meinst du, du bringst den Polizisten dazu, wegzuhören?“

„Warum?“ Irritiert erwiderte er ihren flehenden Blick.

„Weil ich dir versprechen möchte, dass ich Corvo eigenhändig erschieße, wenn er auch nur daran denkt, dir ein Haar zu krümmen.“

Sichtlich überwältigt liebkosten seine Finger ihre Stirn, die Nase, zuletzt ihre sinnlichen Lippen, auf denen sie sich zärtlich niederließen.

„Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Der Bulle hat alles mitgehört“, raunte er, grinste verschwörerisch, nahm ihr Gesicht in beide Hände und legte sanft seine Lippen auf ihre.

Sarina schloss die Augen, atmete schwer und erwartete, dass die Spitze seiner Zunge verlangend ihre Haut berührte, doch nichts geschah. Verunsichert blinzelte sie, dabei schwebten ihre Wimpern wie Schmetterlingsflügel vor ihrem Gesicht.

Benito presste die Lippen aufeinander, seine großen, schwarzen Pupillen blitzten. „Ich glaube, der Depp hat eh nichts verstanden“, meinte er nach qualvollen Sekunden und lachte, bevor er sie endlich innig küsste.

Er beherrschte die Kunst des Liebens wie ihr Schöpfer. Der Zauber der Ars Amandi hatte sich bislang komplett vor ihr verborgen, kaum jemand war darin unerfahrener als sie. Dessen ungeachtet begegnete Benito ihr wie einer Göttin und blieb dabei selbst ein Gott. Die Hingabe, die seine feurige Leidenschaft trug, war Sarina fremd.

Nicht nur der perfekte Liebhaber zog sie in seinen Bann. Da war mehr, sehr viel mehr. Nie zuvor vermochte ein Mann eine vergleichbare Hitze in ihr zu entfachen. Wenn er sie ansah, verwandelten sich ihre Beine in Butter, sein Atem an ihrem Hals brachte ihr Herz aus dem Takt. In keinen anderen Armen hatte sie sich je so geborgen gefühlt. Niemand verstand sie besser als er. Keiner begegnete ihr aufrichtiger als dieser Mann. Von ihm fühlte sie sich geliebt. Lange genug hatte sie auf dieses Wunderexemplar gewartet. Sie wollte ihn! Welchen Preis sie dafür bezahlen musste, war ihr egal.

Neun Wochen und drei Tage waren seit ihrer ersten Begegnung vergangen. Damals hatte Benito Soligo unerwartet vor der Tintori-Villa gestanden. Er war wegen ihres Mannes gekommen, dem über alles erhabenen Andrea Tintori, genannt der Rabe, il corvo.

Obwohl der direkt neben ihr gestanden hatte und sie in dem Schauspiel nicht mehr als eine Statistin gewesen war, hatte Benito nach ihrer Nummer verlangt. Andrea murrte und Benitos Begleiter hatte ihn stirnrunzelnd von der Seite angestarrt. Nichtsdestotrotz legte Amante, wie sie ihn mittlerweile liebevoll nannte, plausibel dar, dass er den Kontakt für Rückfragen benötige. Also hatte sie ihm die Nummer anvertraut, ohne darüber nachzudenken.

„Das Beste, was ich seit Langem getan habe“, dachte sie.

Bis jetzt hatten sie regelmäßig miteinander telefoniert, ein paar Mal geschrieben, sich in einem Café getroffen und waren anschließend spazieren gewesen. Heute begegneten sie sich zum ersten Mal in einem Hotelzimmer und hatten zum ersten Mal Sex. Außergewöhnlichen, atemraubenden Sex.

Sie hörte Benitos Schnaufen. Er lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite geneigt, die Hände über der Brust wie zum Gebet gefaltet.

Sarina lächelte, beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich auf die Stirn, zeichnete mit dem Finger behutsam seine Nase nach, die Wangen, die Konturen seiner Lippen, das Kinn und gab sich in ihren Tagträumen noch einmal den vergangenen Stunden hin.

Urplötzlich hörte sie, wie sich Schritte ihrem Zimmer näherten. Die Person stampfte regelrecht, anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie sie hörte, denn im Flur lag ein flauschiger Teppich, der nahezu alle Geräusche schluckte. Abrupt hielt sie inne, horchte, tastete nach der Bettdecke, rupfte an ihr. Es dauerte, bis Benitos Gewicht sie freigab. Energisch riss sie die Decke an sich, zog sie hoch bis zur Nase und klammerte sich daran fest.

Das Stampfen kam näher und näher und stoppte endlich. Sarina hielt die Luft an. Auf einmal war nur noch ohrenbetäubende Stille zu hören. Langsam wandte sie den Kopf und stellte fest, dass Amante sich auf die Seite gedreht hatte. Leise seufzte sie, schlug sich flugs die Hand vor den Mund, um weitere unbedachte Laute zu unterdrücken, und lauschte angestrengt.

Nichts regte sich mehr.

Umständlich hievte sie sich aus dem Bett, wickelte die Decke enger um ihren nackten Körper und ging mit kleinen, schnellen Schritten durch den Wohnbereich und um den Raumteiler herum, der zum Bett hin eine deckenhohe geschlossene Holzwand und zu dem winzigen Flur auf der anderen Seite hin ein Regal darstellte.

Ihr Puls beschleunigte sich.

Ein zaghaftes Klopfen. Sie schreckte zusammen.

Mit pochendem Herzen pirschte sie sich an die Zimmertür heran, legte ihr Ohr an das helle Holz und horchte noch mal.

„Ja bitte?“, sagte sie nach Sekunden erdrückender Geräuschlosigkeit.

„Zimmerservice“, ertönte die Stimme einer jungen Frau.

„Ich habe nichts bestellt“, zischte sie.

„Zimmer 307“, stellte die Frau sachlich fest.

Sarina nickte. Die 307 war ihr Liebesnest.

„Antonio Banderas“, hakte das Mädchen nach.

„Wer?“, rief sie aus und unterdrückte ein Lachen. Rasch schaute sie über die Schulter zu dem Regal, hinter dem ihr Liebster immer noch im Bett lag und schlief. Von ihm kam keine Reaktion.

Belustigt schüttelte sie den Kopf. Antonio Banderas war sechzig oder älter! Jeder Trottel kannte den und sah auf Anhieb, dass die beiden Männer nichts gemeinsam hatten. Banderas mochte ein hervorragender Schauspieler sein, mit ihrem Amante konnte er trotzdem nicht mithalten. Bei Gelegenheit musste sie Benito darüber aufklären, dass sie nicht auf Indiana Jones stand und bestimmt nicht mit dem Gestiefelten Kater ins Bett wollte. Ansonsten galt es zu bedenken, dass die Rezeptionistinnen im Cupola dell’Acqua nicht dumm waren. Wenn er sich als spanischer Leinwandheld ausgab, rochen die den Braten doch sofort.

Benito war sehr klug, handelte stets mit Bedacht, sie vertraute ihm blind. Dennoch zweifelte sie daran, dass es gescheit war, dieses Zimmer unter falschem Namen anzumieten. Sobald er wach war, mussten sie sich darüber unterhalten. Es stand zu viel auf dem Spiel.

„Signora?“ Das Madl schien sehr jung zu sein, seine Stimme klang frisch und klar.

„Hören Sie“, antwortete Sarina, ohne die Tür zu öffnen, „mein Mann schläft noch. Wir haben bestimmt nichts bestellt.“

„Champagner, Erdbeeren.“

„Auch das nicht.“

„Möchten Sie etwas anderes? Wein vielleicht? Etwas zu essen? Unsere Küche ist immer für Sie im Einsatz.“

Sarina verstand nicht, wo das Problem lag. Hatte sie nicht bereits in aller Deutlichkeit gesagt, dass sie weder eine Bestellung aufgegeben hatten, noch etwas konsumieren wollten?

„Ist das so schwer zu begreifen?“, reagierte sie gereizt. „Wir brauchen nichts.“

„Oh, ich sehe gerade, dass ich an der falschen Tür bin. Ich muss zur Zwei-Null-Sieben“, hörte sie die Frau im Flur murmeln. „Oder doch nicht? Warten Sie. Ich kann das kaum lesen. Der Ausdruck ist so schwach. Bitte entschuldigen Sie. Ich werde an die Bar gehen und nachfragen. Ich bin neu hier und noch in Ausbildung.“

„Passt schon“, sagte Sarina, „und grüßen Sie Herrn Banderas von mir, wenn Sie ihn antreffen.“

„Das mache ich“, rief das Mädchen aus, danach entfernten sich seine stampfenden Schritte. Erleichtert fiel Sarina mit dem Rücken gegen die Tür. Sie atmete tief durch, bevor sie zurück in den Wohnbereich ging, ihre Kleider vom Boden aufsammelte, sich anzog, Benito zudeckte und im Bad verschwand, um die Spuren der Leidenschaft zu beseitigen. Ausgiebig bürstete sie ihr langes, blondes Haar, drehte es gekonnt zu einer Banane ein und steckte diese am Hinterkopf fest. Danach wusch sie sich Gesicht und Hals, legte ein leichtes Make-up auf und besprühte sich mit einem zarten, floralen Duft. Anschließend ging sie zurück ins Zimmer.

Das Bett war leer.

„Benito?“

Der Raum war überschaubar, suchend drehte sie sich um die eigene Achse. Ohne Erfolg.

„Benito!“

Sie ersparte es sich, im Badezimmer nachzuschauen. Dass er dort nicht war, wusste sie. Aber es gab noch einen weiteren Raum mit einem separaten WC. Das Blut in ihren Adern pulsierte, als sie die Schiebetür aus satiniertem Glas öffnete und hineinspähte. Leer.

Enttäuscht und beunruhigt sank sie auf die Matratze. Wo war er bloß?

„Benito!“

Prüfend sah sie sich um. Das Zimmer verfügte über einen Balkon, doch auf dem konnte er nicht sein, der Rollladen war immer noch geschlossen. Eine weitere Sicherheitsmaßnahme, die er angeordnet hatte, denn vom gegenüberliegenden Haus aus hätte sie jemand mit dem Fernglas beim Liebesspiel beobachten und erkennen können.

Verzweifelt klatschten ihre Hände auf die Oberschenkel. Lediglich fünf Minuten war sie im Bad gewesen, höchstens zehn. Und was tat er? Er nutzte die Gelegenheit und suchte das Weite. Hatte er ihr die große Liebe nur vorgespielt, um heute auf seine erotischen Kosten zu kommen? Wenn es so war, musste sich große Enttäuschung in ihm breitgemacht haben, denn er war wirklich der talentiertere Liebeskünstler von ihnen beiden.

Wie konnte sie nur so naiv sein?

Unschlüssig sah sie sich weiter um, obwohl sie bereits jeden Winkel kannte, bis sie an dem barocken Divan mit den schwarzen Holzfüßen und dem bordeauxroten Samtüberzug hängen blieb. Auf ihm hatten sie sich vor drei Stunden zum ersten Mal geliebt.

In der Luft lag die Frische des Ozeans, die mit der Sinnlichkeit holziger Noten und dem Schweiß zweier sich liebender Körper verschmolz. Ihr wurde schwer ums Herz, sie schloss die Augen und inhalierte gierig den vertrauten Duft. Als sie die Augen öffnete, entdeckte sie das weiße Hemd, das er getragen hatte und das nun achtlos auf dem Boden lag.

„Du bist gegangen, ohne dich vorher anzuziehen?“, rief sie überrascht aus und schüttelte ungläubig den Kopf. Verstört langte sie nach dem Smartphone, das auf dem Nachttisch lag, und hoffte, eine Nachricht von ihm zu finden, stattdessen verhöhnte das dunkle Display sie. Also legte sie es zurück und schaute sich weiter um.

Unterdessen drangen diffuse Geräusche durch die Tür. Sarina stand auf, legte entschlossen die Hand an die Klinke und öffnete sie ruckartig. Sie hatte keine Lust, sich mit einem Phantom auseinanderzusetzen.

„Benito?“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den attraktiven, einen Meter fünfundneunzig großen Mann an, der in einen zu kurzen Bademantel gewickelt unbeholfen im Flur stand. Die Schlüsselkarte klemmte zwischen seinen Lippen. Verbissen rang er darum, das Serviertablett nicht fallen zu lassen, auf dem sich zwei Proseccos, Lachs, Toast, Erdbeeren und eine Rose präsentierten.

„Was tust du denn da?“

„Ich versuche, in unser Zimmer zu kommen“, meinte er und grinste peinlich berührt.

„Wo warst du?“

„An der Bar.“

„Wozu? Der Zimmerservice war doch da.“

Überrascht schaute er sie an.

„Ja“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage in seinem Gesicht. „Kurz bevor du verschwunden bist.“

„Ich bin nicht verschwunden. Ich habe uns ein kleines Frühstück für danach organisiert.“ Spitzbübisch zwinkerte er ihr zu. „Die an der Bar haben schnell begriffen, was los ist.“

„Es ist vier Uhr nachmittags!“

Benito zuckte leicht mit den Schultern. „Sex macht hungrig.“

„Was wollte dann der Zimmerservice bei uns?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gerufen. Ich kümmere mich lieber selbst darum.“

Sarina seufzte. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss, Schritte näherten sich.

„Bellina, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir das drinnen weiterbesprechen?“ Benito setzte seinen Dackelblick auf, ging einen zögerlichen Schritt auf sie zu und wartete, dass sie den Weg freigab.

Sarina lächelte, trat kopfschüttelnd zur Seite, um ihm Platz zu machen, und hielt die Tür für ihn auf. „Wer ist Antonio Banderas?“

Er stellte das Tablett auf das Bett. „Wie? Du kennst Zorro nicht?“

Selbstverständlich kannte sie den geheimnisvoll maskierten Kämpfer. Was sie nicht wusste, war, in welcher Verbindung er mit ihnen stand.

Benito legte den Bademantel, den er in der Zwischenzeit ausgezogen und achtlos aufs Bett geworfen hatte, wie einen Umhang um seine Schulter, drückte sein Kinn gegen die Brust und schaute sie mit seinen dunklen Augen feurig an. „Isch binn där Fux“, rief er theatralisch aus und wirbelte mit einem Arm durch die Luft.

„Fuchs?“

Er rollte mit den Augen, bevor er sich aufrichtete. „Zorro ist das spanische Wort für Fuchs“, erklärte er würdevoll.

„Und was hat das mit dir zu tun?“

Gemächlich kam er auf sie zu, zog sie in seine Arme und legte eine Hand an ihren Hinterkopf. „Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken.“ Sanft küsste er ihr Haar. „Ich habe das Zimmer auf den Namen Antonio Banderas gebucht. Es soll niemand erfahren, dass wir beide hier unser Gymnastikprogramm absolvieren.“

„Gymnastik?“

Sein Blick flitzte bedeutungsvoll zwischen dem Bett und ihr hin und her. „Sport ist gesund.“

„Was für ein Kindskopf“, dachte sie. Ihr war nicht nach Späßen zumute. „Und du denkst, das funktioniert? Die sind ja nicht blöd.“

Benito lachte auf. „Nein, das sind sie nicht. Die haben längst begriffen, worum es geht, und akzeptieren das. Glaube mir, wir sind nicht die Einzigen. Noch viel wichtiger ist, dass wir sicher sind.“

„Warum Antonio Banderas?“

„Sein Vater war Polizist.“

„Das erklärt natürlich einiges“, sagte sie mit einem Seufzer und schmiegte sich an ihn. Er hatte recht, sie dachte zu viel nach, anstatt die Zeit mit ihm zu genießen.

„Tu das nie wieder!“, flehte sie ihn an und boxte dabei mit der Faust gegen seine Brust.

„Was denn?“

„Ohne ein Wort verschwinden.“

„Bin ich doch gar nicht. Ich habe uns ein paar Kleinigkeiten besorgt.“

Sarina erwiderte nichts. Sie dachte an die junge Frau, die vor der Zimmertür gestanden und Antonio Banderas gesucht hatte, verscheuchte den Gedanken jedoch, als Benitos Finger begannen, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen.

„Nicht“, hauchte sie.

Er legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob sachte ihr Gesicht. Fragend schaute er sie an, in seinen Augen brannte Leidenschaft.

„Ich sollte nach Hause gehen. Was, wenn Andrea …“

„Bellina, du hast mir erklärt, du hättest keine Angst“, fiel er ihr ins Wort.

„Das habe ich auch nicht. Wir dürfen es nur nicht beim ersten Mal auf die Spitze treiben.“

„Okay. Aber das gönnen wir uns noch, bevor sich unsere Wege für heute trennen“, beschloss er und reichte ihr ein Glas. Dankbar lächelte sie ihn an. Er zog sie mit sich auf den Boden und in seinen Arm. Die Gläser berührten sich sanft, ein helles Klingen erfüllte die Stille.

„Auf uns“, flüsterte Benito.

„Auf uns“, erwiderte sie glücklich. Feierlich führte sie den Kelch an ihre Lippen. Der perlende Schaumwein stimulierte ihren Gaumen und sein Prickeln eroberte ihren Verstand. „Darauf, dass das niemals aufhören möge“, fügte sie benommen hinzu.

„Das wird es nicht“, sagte er mit gesenkter Stimme.

„Versprichst du mir das?“

„Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist.“ Im Zeitlupentempo nahm er ihr das Glas aus der Hand, stellte es auf den Boden und küsste sie mit ungestilltem Verlangen. Mit der Rose streichelte er über ihr Haar, zeichnete die Konturen ihres Halses und ihrer Brüste nach, bevor er sie in ihren Schoss legte. Genüsslich aßen sie die Erdbeeren, fielen über Lachs und Toast her und tranken den Prosecco. Eine Stunde lang zelebrierten sie den bevorstehenden Abschied. Sie wussten beide nicht, wann sie sich das nächste Mal sahen.

Den Kopf unter einem bunten Seidentuch versteckt, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, eilte Sarina aus dem Aufzug und jagte durch die Lobby des Hotels auf die Karusselltür zu, die sie in die Realität zurückbrachte. Ihre High Heels hinterließen laut klackernde Geräusche auf dem Marmorboden. Gekonnt wich sie den vielen Menschen aus, ihre Blicke ignorierte sie. Nur eine Person beachtete sie mit größter Aufmerksamkeit, da sie sich von ihr beobachtet fühlte. Die Frau steckte in einer schwarzen, hoch taillierten Palazzo-Hose und einer weißen Bluse mit Einsätzen von grober Spitze, war mittelgroß und schlank, Anfang, vielleicht Mitte dreißig. Ihr pechschwarzes Haar trug sie in einem pfiffigen Kurzhaarschnitt. Besonders fielen ihr die stechend blauen Augen auf, die sich scharf von der ebenmäßigen Haut abhoben und ihr eine natürliche Autorität verliehen.

Unwillkürlich musste Sarina an das Madl denken, das sich angeblich in der Zimmertür geirrt hatte. Aufgeregt begann ihr Herz zu pochen. Irritiert musterte sie die elegante Erscheinung, schüttelte gedankenverloren den Kopf und stürmte weiter.

Kaum hatte sie den Gehsteig betreten, summte das Handy in ihrer Handtasche eine verträumte Melodie. Mit einer Hand griff sie hinein, zog das Gerät heraus und stellte entsetzt fest, dass ihr Mann sie in der vergangenen Stunde fünf Mal angerufen hatte. Was aber noch viel wichtiger war, war die Nachricht von Benito:

Ich liebe dich! Vergiss das nicht!

Unzählige Herzen und rote Rosen unterstrichen seine Worte.

*

2

„Sekt?“

„Um diese Zeit?“

„Warum nicht? Ein besonderer Tag verlangt nach einem außergewöhnlichen Frühstück.“ Verliebt lächelte er sie an, streichelte über ihren Handrücken, stand auf und eilte davon, ohne ihre Antwort abzuwarten. Auf halbem Weg zum Buffet drehte er sich um und warf ihr eine Kusshand zu.

Verrückt vor Glück wirbelte das Bussi durch die Luft. Verena fing es auf und drückte sich die Handfläche auf die Lippen, bevor sie ihm zuwinkte.

Es konnte dauern, bis Loris wiederkam. Vor der silbernen Schale, in der sich Tausende von Eiswürfeln tummelten, die ein paar Flaschen Schaumwein kühlten, standen die Menschen Schlange. Vernarrt verfolgte sie jede seiner Bewegungen, bis er in der Menge verschwand.

Erschöpft ließ sie sich gegen die Rückenlehne ihres Stuhles fallen. Sie überkreuzte die Beine, legte die Hände in den Schoß und spielte mit dem Ring an ihrem Finger. Mithilfe eines Goldschmiedes hatte Loris ihn selbst entworfen und hergestellt, er war Verlobungs- und Ehering zugleich. Da ihr Mann sich nichts aus Schmuck machte, trug er konsequent keinen, umso leidenschaftlicher hatte er sich für sie ins Zeug gelegt. Das Unikat präsentierte sich zweifarbig aus haselnussfarben und silbern schimmerndem Weißgold mit einer mattierten und gehämmerten Oberfläche. Der Ring war fünfzehn Millimeter breit und mit exakt einhundert kleinsten Brillanten besetzt, die den einseitig ausgefransten Rand zierten sowie an einer Stelle über die gesamte Breite ein unübersehbares V bildeten. Wie er dieses Prunkstück finanziert hatte, wussten die Götter. Sie hatte ihn nie danach gefragt, es durfte sein Geheimnis bleiben. Schließlich war sie diejenige gewesen, die davon geträumt und ihn eindringlich darum gebeten hatte, sich eigenverantwortlich um einen angemessenen Ring zu kümmern. Das hatte sie nun davon.

Natürlich war sie verknallt in den Schatz an ihrem Finger, sie hütete ihn wie ihren Augapfel. Worte konnten nicht beschreiben, wie stolz sie auf ihren Mann war. Nicht nur, weil er sich tatsächlich allein auf die Suche nach einem Ring gemacht hatte, sondern vor allem, da er eine beispiellose Idee mit sehr viel Liebe und Kreativität umzusetzen wusste. Es verging kein Tag, an dem sie ihm das nicht sagte, so überwältigt war sie immer noch.

Verträumt streckte Verena die Hand ins Licht und bewunderte das Ergebnis stundenlanger Arbeit. Zufrieden nahm sie einen Schluck Kaffee und erlaubte ihren Gedanken, durch die vergangenen Stunden zu spazieren.

Bis jetzt hatten Loris und sie nichts von dem unternommen, was sie sich für diese Auszeit vorgestellt hatten. Stattdessen waren sie gleich nach dem Betreten des Hotelzimmers von den Fluten der Leidenschaft mitgerissen worden. Das war gestern Nachmittag gewesen. Seither waren sie nicht mehr aufgetaucht, das Abendessen hatten sie ausfallen lassen, an Schlaf war nicht zu denken.

In ihre Träume vertieft, hantierte sie weiter an dem Ring rum. „Wie schnell doch die Zeit vergeht“, murmelte sie. Ihre besten Freunde David und Lisa waren seit bald zwei Jahren verheiratet. David war mittlerweile vom Moroder-Hof nicht mehr wegzudenken. In der Zeit hatte er sich nicht nur gut eingelebt, sondern auch meisterhaft eingearbeitet. Das Weingut war modernisiert und komplett auf Bio umgestellt worden. Diesen Prozess hatte Lisa bereits vor Jahren in Gang gesetzt, gemeinsam schlossen sie ihn nun ab. Marco und Lukas, die Pächter von St. Nikolaus, waren glücklich und erfolgreich und führten die Hofbrennerei in Davids Sinn weiter. Nebenbei realisierten sie ihre eigenen Visionen und wurden dafür reichlich belohnt. Familien aus nah und fern nutzten die Möglichkeit, auf dem Erlebnishof ihren Urlaub zu verbringen. Das Gustelier wurde nicht nur von Touristen, sondern, entgegen allen Prophezeiungen, auch von Einheimischen rege genutzt. Nach anfänglichen Problemen war das Duo in weiten Teilen des Landes nun nicht nur akzeptiert, die beiden waren auch hoch angesehen und ihre Produkte sehr begehrt.

Verenas Gedanken spazierten weiter ans Ufer der Passer. Es fühlte sich an wie gestern. Berauscht vom tosenden Wasser und inmitten zahlreicher neugieriger Touristen hatte Loris sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Heute feierten sie Baumwollhochzeit, wie eine ihrer Arbeitskolleginnen erklärt hatte. Ob das stimmte, wusste sie nicht, es war für sie auch nicht besonders interessant. Denn hey, was machte eine Bezeichnung aus? Sie waren seit einem Jahr verheiratet! Das allein zählte. Und Loris hatte recht - dieser Tag musste gebührend gefeiert werden, deswegen waren sie hierhergekommen.

Ihr Chef, der Gruber Thomas vom Weimerhof, war nicht begeistert gewesen, als sie kurz nach Beginn der Hauptsaison zusätzliche Urlaubstage beziehen wollte. Um läppische drei Tage hatte sie gebeten! Welcher halbwegs vernünftige Arbeitgeber versagte seinen Angestellten diesen kostbaren Luxus, wenn sie während der übrigen zehn Monate, in denen das Hotel geöffnet hatte, rund um die Uhr schufteten und lediglich einen freien Tag pro Woche bekamen? Ihre Kolleginnen von der Rezeption waren bereit gewesen, für sie einzuspringen und die anfallenden Arbeiten unter sich aufzuteilen. Nichtsdestotrotz kam Thomas auf die idiotische Idee, den Urlaubsantrag abzulehnen. In ganz Südtirol gab es keinen Hoteldirektor, der den jungen Gruber an Selbstverliebtheit und Aufgeblasenheit übertroffen hätte. Immerhin war ihr keiner bekannt.

Das gleiche Theater hatten sie bereits vor einem Jahr durchgemacht. Loris und sie wollten unbedingt im Mai heiraten, unabhängig voneinander hatten sie davon ein Leben lang geträumt. Im Mai passte einfach alles. Die Kälte und Trostlosigkeit des Winters waren längst Geschichte, die Hitze und Dürre des Sommers lagen noch in der Zukunft. Die Temperaturen waren angenehm warm, das Wetter beständig, die saftigen Farben schmeichelten den Augen.

Damals wie heute musste Loris bei dem selbst ernannten Hotelkönig um Audienz bitten und ordentlich auf den Tisch hauen. Damals wie heute hatte er es geschafft, dass sie freibekam.

Und jetzt waren sie da! Diese geschenkte Zeit mit ihrem Liebsten wollte sie genießen und sich die erkämpften Stunden nicht mit finsteren Gedanken vermiesen.

„Woran denkst du?“ Der liebevolle Bass ihres Mannes riss Verena in die Realität zurück.

„An nichts Besonderes“, erwiderte sie und nahm dankbar lächelnd das Glas entgegen, das er ihr feierlich überreichte.

„Auf uns und darauf, dass wir auch in 99 Jahren auf diesen Stühlen sitzen, um unsere Liebe zu besiegeln“, prostete er ihr zu.

Von zärtlichen Gefühlen überwältigt hielt sie seinen Blick fest. Ihre Gläser berührten sich sanft, das helle, verzauberte Klingen verlor sich im Gewirr der Stimmen.

Verena versank in seinen eisblauen Augen. Sie führte die Flöte an ihre Lippen, nippte an dem perlenden Schaumwein. Lustig prickelte er durch ihren Gaumen.

„Woran denkst du denn jetzt wieder?“, hörte sie Loris’ Stimme wie aus der Ferne.

„Was?“

„Du wirkst abwesend. Wo bist du mit deinen Gedanken?“

„Entschuldige bitte“, hauchte sie, stellte das Glas ab und biss in ihr Marmeladenbrot.

„Passt. Trotzdem würde es mich schon …“

„Die Frau“, fiel sie ihm ins Wort.

„Welche Frau?“ Irritiert schaute er sich um.

„Gestern. In der Lobby.“

Fragend schaute er sie an.

„Du warst auf dem Klo. Ich habe in der Lounge auf dich gewartet. Sie hastete an mir vorbei.“

„An diesem Ort tun das wahrscheinlich viele.“

„Aber irgendetwas war mit ihr. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Im Gebäude! Und obwohl draußen keine Sonne schien. Du erinnerst dich? Es war ausnahmsweise bewölkt. Sie trug ein Kopftuch. Wer tut so was?“

„Na ja. Vielleicht war es eine berühmte Autorin, die nicht erkannt werden wollte, oder eine Schauspielerin. Eine Politikerin vielleicht? Oder einfach eine durchgeknallte Alte?“

Vehement schüttelte Verena den Kopf. „Sie war jung und wirkte sehr nervös, wie jemand, der etwas zu verbergen hat.“

„Ach komm!“ Loris Stimme klang ungeduldig. „Jetzt mach dir diesen Tag doch nicht selbst kaputt. So kenne ich dich gar nicht.“

„Das sind bestimmt die Hormone“, lenkte sie vom Thema ab und grinste.

„Soll das etwa heißen, der Zeitpunkt ist gut?“

„Das heißt erst mal gar nichts. Lass uns das Frühstück genießen, in Erinnerungen schwelgen und anschließend durch die Stadt schlendern. Ich will unbedingt die Stelle besuchen, an der du mir den Antrag gemacht hast.“

Loris nickte. Grinsend strich er Butter auf das Vinschgerl, ein Fladenbrötchen aus Roggen-Weizen-Sauerteig und Gewürzen. „Weißt du was?“ Genüsslich schmierte er eine dicke Schicht Fruchtaufstrich obendrauf.

„Was denn?“

„Wir haben nie darüber gesprochen, was dir an unserer Hochzeit am besten gefallen hat.“

„Stimmt.“

„Dann lass uns das jetzt tun.“ Herzhaft nahm er einen großen Bissen und kaute mit geschlossenen Augen.

„Mir gefällt am besten, dass ich deine Frau bin“, sagte Verena nach einer Weile. Sie war noch genauso in ihn verliebt wie damals, als sie ihm auf dem Moroder-Hof zum ersten Mal begegnet war.

„Oh, ich fühle mich geehrt.“ Loris’ Oberkörper richtete sich auf, er streckte die Nase in die Luft und legte die Hand an seine Brust. „Und was hat dir noch am besten gefallen?“

„Mein Kleid.“

„Du meinst dieses verführerische, cremefarbene Etwas mit dem weitschwingenden Chiffon-Rock, der hinten länger war als vorne, und dem niedlichen Spitzenoberteil mit den angeschnittenen Ärmeln?“

Verblüfft schaute sie ihn an. „Wie kann ein Mann diese Ausdrücke kennen?“

„Mama“, meinte er entschuldigend und zuckte mit den Schultern, aber aus seinen Augen purzelte purer Stolz.

„Weißt du denn auch, wie man die goldenen Schuhe mit dem Knöchelriemchen und dem hohen Bleistiftabsatz nennt, die ich anhatte?“

Verlegen schüttelte Loris den Kopf.

„Macht nichts. Ich auch nicht.“ Verena lachte und prostete ihm zu. „Ich finde, dass du mich mit deinem Satin-Anzug in Fuchsia, dem weißen Hemd und der gold-violett gemusterten Krawatte ungeheuerlich in den Schatten gestellt hast.“

„Ach was.“ Er winkte ab.

„Doch! Die Gäste waren beeindruckt. Die haben sich intensiver über deinen Anzug unterhalten als über mein Kleid“, stellte sie übertrieben entrüstet fest.

„Das hast du mitbekommen? Du warst doch die ganze Zeit damit beschäftigt, dich mit irgendjemandem zu unterhalten.“

„Eben.“ Erneut lachte sie lauthals, bevor sie beeindruckt hinzufügte: „Dass du dich traust, dich so extravagant zu kleiden.“

„Das war noch gar nichts. Du hättest mich mal während meiner Spielerkarriere sehen sollen“, brüstete er sich.

„Sag bloß! Davon hast du mir noch gar nichts erzählt.“

„Ist das denn wichtig für dich?“

„Jetzt schon. Du machst mich neugierig.“

Loris grinste. „Okay. Aber du darfst nicht lachen.“

„Ich schwöre.“ Feierlich hob Verena ihren rechten Arm und reckte drei Finger in die Luft.

„Der auffälligste Anzug, den ich trug, war über und über mit Dollarnoten bedruckt.“

„Bitte?“

„Hose, Sakko und Krawatte. Dazu trug ich ein goldenes Hemd und Schuhe aus Schlangenleder, Regenbogenfarben in Fließoptik und Metallspitze.“

Ungläubig starrte Verena ihn an, bevor sie sich in einem Lachflash verlor. Die Bilder in ihrem Kopf überschlugen sich, sie bekam kaum noch Luft, Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln.

„Du hast mir versprochen, dass du nicht lachst!“ Loris mimte den Entrüsteten.

„Das musst du grade sagen“, prustete sie. „Dich zerreißt es ja selbst fast.“ Keuchend rangen sie nach Atem.

Loris’ Gesicht verfärbte sich dunkelrot, an seiner Stirn trat eine Ader hervor. Er presste eine Hand gegen seinen Brustkorb, Verena wedelte sich mit der flachen Hand Luft zu. Die anderen Gäste drehten sich bereits nach ihnen um, manche amüsiert, andere mit strafendem Blick.

„Du bist unglaublich“, hechelte Verena und bei dem Gedanken an das alberne Kostüm, in dem Loris gesteckt hatte, kündigte sich bereits der nächste Lachanfall an.

„Warum?“, rief er aus. Seine Empörung war offensichtlich gespielt. „Lorenzo hat damals die Klamotten besorgt. Ich zog sie an und schwieg. Du kannst dir diesen spielhöllischen Maskenball nicht vorstellen, ein regelrechter Wettbewerb um das Teuerste und Ausgefallenste.“

„Mag sein“, meinte Verena leise. Beschämt blickte sie durch den riesigen Raum und stellte erleichtert fest, dass die Menschen sich wieder ihrem Essen widmeten. „Trotzdem kann ich mir dich beim besten Willen nicht in einem Dollar-Anzug mit Regenbogenschuhen vorstellen. Tut mir leid.“

„Das musst du auch nicht“, säuselte er. „Hauptsache ist, ich habe dir in meinem Hochzeitsanzug gefallen.“

„Oh ja, das hast du. Und wie! Absolut niemand hatte je einen attraktiveren, schöneren, mutigeren, männlicheren, ausgefalleneren“, sie holte tief Luft, „und verrückteren Bräutigam als ich. Obwohl …“, sie ließ den Satz angebrochen in der Luft schweben und Loris in dem Glauben, dass sie angestrengt überlegte.

„Obwohl was?“

„Obwohl du mir ohne diese ganzen Klamotten noch sehr viel besser gefällst.“ Verena beobachtete, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.

Loris nahm einen Schluck Kaffee. „Wolltest du nachher nicht flanieren gehen?“, bemerkte er kühl.

„Mein Liebster, romantisch wie immer“, rief sie amüsiert aus.

„Sei still jetzt. Iss dein Frühstück, danach sehen wir weiter“, meinte er betont gelangweilt und schüttete eine kräftige Portion Sekt in sich hinein.

Verena war nicht entgangen, wie er ins Glas gegrinst hatte. In den letzten Wochen trieb er öfters solche Spielchen mit ihr. Eine Seite an ihm, die ihr gefiel. Sie hatte etwas Geheimnisvolles, Knisterndes an sich und lud ein, sich auf das Abenteuer einzulassen.

Sie spielte das Spiel mit Vergnügen mit.

Temperamentvoll lenkte Verena ihren nachtblauen Mini auf den Hof vor dem alten Weinbauernhaus, in das Loris und sie kurz vor der Hochzeit gezogen waren. Worte konnten nicht wiedergeben, wie sehr sie auf diesen alten Gutsbetrieb abfuhr. Wann immer sie nach Hause kam, glitten ihre Augen dankbar und glücklich über das wahr gewordene Wunder. So auch jetzt.

Das prächtige, an einen ehemaligen Herrschaftssitz erinnernde Anwesen mit seinem parkähnlichen Garten gehörte Frank Weber, einem Deutschen, der es vor einiger Zeit als Feriensitz gekauft und mit viel Liebe zum Detail umgebaut hatte.

Sie hatte Weber im Weimerhof kennengelernt, wo er zunächst mit seinen Kumpels, überraschend kurze Zeit später allein seinen Urlaub verbrachte. Ein paar Mal hatte er sich mit ihr an der Rezeption unterhalten und ihr bei dieser Gelegenheit anvertraut, dass er nach monatelanger, mühevoller Suche endlich auf eine Immobilie in Südtirol gestoßen sei, die nun renoviert werde und die er später als Urlaubsdomizil nutzen wollte. Damals standen die Umbauarbeiten kurz vor ihrem Abschluss. Mit viel Herzblut, Engagement und Sinn fürs Schöne hatte er sie zusammen mit ortsansässigen Handwerkern gestaltet. Dem Haus war anzusehen, dass unzählige Stunden und Unmengen Geld in das Projekt investiert wurden. Es hatte sich gelohnt! Die Männer schufen ein unvergleichliches Juwel. Ein Traum. Ein Meisterwerk.

Dass Weber ihnen die Einliegerwohnung vermietete, war keine Selbstverständlichkeit. Ursprünglich hegte er andere Pläne für die Immobilie. Da das Anwesen eine stattliche Größe hatte, zu dem auch ein kleiner Weinberg gehörte, wollte er einen Gutsverwalter einstellen, der sich um alles kümmern sollte, und für den die Wohnung eigentlich gedacht war. Bereits während des Umbaus hatte Weber sich nach einem geeigneten Interessenten umgeschaut, doch zeichnete sich ab, dass es sich für ihn kaum rechnete, eine feste Stelle dafür einzurichten. Dabei unterhielten sie sich auch darüber, dass Loris und sie auf der Suche nach einer langfristigen Wohnmöglichkeit waren. Also hatte er ihr vorgeschlagen, dass sie in die Einliegerwohnung ziehen, sich nebenberuflich um den Unterhalt des alten Gutsbesitzes kümmerten und dafür weniger Miete bezahlten. Euphorisch hatten sie das Angebot angenommen. Später stellte sich heraus, dass die Aufgabe ihnen sogar sehr viel Spaß machte und mit vernachlässigbarem Aufwand verbunden war. Lisa half ihnen mit dem Weinberg und Weber selbst war selten da. Sie hatten ihre Ruhe und lebten an einem Ort, wo andere für gewöhnlich Urlaub machten. So hatten alle etwas davon. Was konnte es Schöneres geben?

Im Laufe der Zeit erfuhr sie, welche Rolle Frank Weber im Leben ihrer besten Freundin Lisa gespielt hatte und weshalb ihr Chef zunächst sehr zurückhaltend auf den Hausgast reagierte – und das war noch eine gelinde Beschreibung der Abneigung, die der junge Gruber dem Deutschen gegenüber hegte. Der gute Draht zu Weber erlaubte es ihr jedoch, ihn darauf anzusprechen, woraufhin er ihr bei einem Kaffee die komplette Geschichte aus seiner Perspektive anvertraut hatte. Das kam für beide Seiten einer Erlösung gleich und verband sie seitdem freundschaftlich.

„Willkommen in der Wirklichkeit“, rief Loris und riss sie damit aus ihren Gedanken. Schwungvoll stieß er die Beifahrertür auf, stieg aus und streckte sich.

Verena lächelte, während sie den Sicherheitsgurt löste. Nun waren sie also wieder zu Hause und hatten nichts von dem Ort gesehen, von dem sie gerade zurückkehrten. Alles, was sie in den drei Tagen und zwei Nächten erlebt hatten, hatte sich in Zimmer 503 im Cupola dell’Acqua abgespielt, und das, obwohl auch der diesjährige Mai viel zu bieten gehabt hätte: sehr milde Temperaturen, lachenden Sonnenschein, bestechend blauen Himmel, strahlende Frühlingsblumen, singende Vögel und gut gelaunte Menschen. Ihr Lächeln wich einem Grinsen, Hitze kroch über ihren Hals und breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Es sah so aus, als wüssten sie, wie man Hochzeitstage gebührend feierte.

Endlich stieg auch sie aus, schlenderte um den Wagen herum, stellte sich vor den Kofferraum, öffnete ihn und meinte lässig: „Das Gepäck bitte ins Obergeschoss.“

Gespielt mürrisch trat er neben sie, langte nach der Sporttasche und stapfte davon, bis er vor verschlossener Tür stehen blieb. Sie hatte die Schlüssel.

Immer noch grinsend schlug Verena die Heckklappe zu, bevor sie gemütlich zum Haus spazierte und sich neben ihn stellte. Umständlich kramte sie die Schlüssel aus der Handtasche und schloss auf, ohne ihren Mann dabei aus den Augen zu lassen. Der verhielt sich wie ein Hengst in der Startbox und galoppierte davon, sobald die Tür sich einen Spalt breit öffnete.

Verena lachte lauthals und sog sogleich den Duft ein, der ihr entgegenströmte.

Beim Ausbau hatte sich Weber für Zirbenholz entschieden. Wenn sie also die Haustür öffnete, roch es sofort nach unendlicher Weite, die gleichzeitig von tiefer Geborgenheit getragen wurde. Dieser Geruch war ihr lieb und vertraut, sie kannte ihn vom Moroder-Hof. Die gemütliche Wohnküche ihrer Freundin, die Stube und andere Teile des Wohnhauses präsentierten sich gleichfalls in dem rotbraun gefärbten Holz der Zirbelkiefer, die mit ihrem süßlich-herben Duft jeden verzauberte. Auch Lisa und David hatten bei den Umbauarbeiten ihres Wohnhauses großen Wert daraufgelegt, dass die Zirbe ihren Platz behielt. Sicherlich war das der Grund, weshalb sie sich hier und bei den beiden wohl und zu Hause fühlte.

Sekunden nachdem er davongaloppiert war, kam Loris die Treppe heruntergestürmt. Das Handy klingelte in seiner Hosentasche.

„Rino. Da muss ich rangehen“, murmelte er, nachdem er einen Blick auf das Display geworfen hatte. Er hastete nach draußen, kurze Zeit später kehrte er mit stumpfem Blick zurück.

„Was ist los?“

Rino war Loris’ direkter Vorgesetzter in der riesigen Brauereikette, in der ihr Mann arbeitete. Über Kontakte des Weimerhofs hatte sie die Stelle für ihn beschafft, glücklich war er dort nicht. Dabei war er Brauer mit Leib und Seele, niemand braute leidenschaftlicher als er. Die Braukunst beherrschte er ohne Ausbildung, laufend las er in Büchern und Zeitschriften darüber, durchforstete das Internet und brachte sich das Wesentliche selbst bei. Alles Übrige lernte er bei der Arbeit dazu, Rino unterstützte ihn dabei. Im Grunde liebte er das Brauen schier mehr als sie, nur eben nicht seine Arbeit bei der Adler Bräu.

„Ach!“, meinte er lediglich, winkte ab und zog sich in die Küche zurück.

Nachdenklich schaute sie ihm nach, beschloss, ihn erst mal in Ruhe zu lassen, ging ins Schlafzimmer und packte die Tasche aus.

Loris war ihr Traummann, keine Frage, liebevoll, treu und fürsorglich, und dass ihr Leben mit ihm nicht einfach werden würde, hatte sie bereits vor der Heirat gewusst. Seine Vergangenheit holte ihn immer wieder ein. Die Zeit hatte ihn geformt und geprägt und blieb ein Teil von ihm. Gemeinsam wollten sie versuchen, damit umzugehen, nicht mehr darüber zu stolpern und aus seiner Geschichte zu lernen.

Wirklich schwer war die Tatsache, dass ihr Mann ein Ungelernter war. Früh hatte er den Hof seiner Eltern verlassen und war rasch in falsche Gesellschaft geraten. Arbeiten und Lebensentwurf waren Fremdwörter für ihn gewesen. Er hatte den Alkohol in seinen Adern gebraucht wie ein Traktor das Benzin, und davon gab es auf dem Weingut mehr als genug.

Als Kind und Jugendlicher wusste er sich der Schinderei auf dem Moroder-Hof stets geschickt zu entziehen, in den letzten Monaten hatte er jedoch bewiesen, dass er buggln konnte. Als Sohn eines Winzers und als Bruder der erfolgreichsten Weinmacherin, die sie kannte, hatte er eine Menge Talente mit auf den Weg bekommen. Loris’ Gaumen war fein wie kein anderer, sein Geschäftssinn schärfer als der seines Bruders, und seine Geduld war grenzenlos. Er verstand nicht nur das Bierhandwerk, sondern auch ziemlich viel von Wein und Schnaps. Er war ein hervorragender Koch und nicht zuletzt blieb er unübertroffen, wenn es darum ging, die Sinnesorgane einzusetzen. Im Nu wusste er Speisen und ihre Zutaten oder edle Tropfen wahrzunehmen, zu beschreiben und zu bewerten, indem er sie sah, roch, schmeckte und tastete. Das Problem war, dass sich kaum jemand dafür interessierte, weil er nichts vorweisen konnte, was ihm diese besonderen Fähigkeiten attestierte. Deswegen mussten sie froh sein, dass er diesen Job bei der Adler Bräu hatte. Das Gefühl, gebraucht zu werden, und die Tagesstruktur waren wichtig für ihn, zudem benötigten sie sein Einkommen, wenn sie irgendwann eine Familie gründen wollten.

„Was ist los?“, fragte sie noch einmal. Sie war soeben in die Küche gekommen und hatte ihm gegenüber am Tisch Platz genommen.

„Nichts.“

„Standardantwort der Moroders“, bemerkte Verena.

„Es ist wirklich nichts.“

„Du siehst aber nicht nach Nichts aus.“

„Es ist nur, dass Rino mich mit seinem Anruf daran erinnert hat, dass ich morgen zur Arbeit muss.“

„Und das ist so schlimm?“

„Schlimmer.“

„Was wollte er denn genau?“

„Mir mitteilen, dass wir uns morgen früh zu einem Teammeeting treffen. Tintori wird auch da sein.“

„Den willst du doch schon lange kennenlernen, morgen hast du endlich die Gelegenheit dazu.“

Loris rollte mit den Augen.

„Was? Seit einem Jahr schuftest du für jemanden, der seit Langem Inhaber der Adler-Bräu-Kette ist, den du aber noch nie gesehen hast und von dem du nicht weißt, wer er ist. Sieh es positiv! Das wird sich jetzt ändern.“

Er zuckte mit den Schultern und starrte vor sich hin.

„Dieser Typ ist es nicht wert, dir die letzten Stunden mit mir zu vermiesen“, versuchte sie ihn aufzuheitern.

„Was soll ich machen? Ich hasse diesen Job.“

„Nicht den Job. Die Adler Bräu“, konkretisierte Verena. Sie wusste, dass Loris sich nicht vor der Arbeit scheute und gern eine eigene kleine Brauerei führen wollte. Dafür bewunderte sie ihn. Trotzdem musste die Vernunft siegen, denn wie sollten sie es in ihrer Situation schaffen, seinen Traum von Selbstständigkeit zu verwirklichen? Täglich setzte sie alles daran, ihn zu ermutigen, damit er sich bei der Arbeit auf das konzentrierte, was ihm wirklich Spaß machte, und den Rest ausblendete. Nun, da ihr noch schmerzlicher bewusst wurde, wie sehr er unter seinem Job litt, erschrak sie.

„Du bist ein sehr guter Bierbrauer“, stellte sie zärtlich fest. „Rino mag dich.“

Loris nickte. „Ja, Bier brauen kann ich. Das ist nicht das Problem. Und ich mag Rino auch. Er ist sehr loyal. Ihm ist es egal, woher ich komme oder was ich gelernt habe. Er stärkt mir den Rücken. Sel schun.“

„Aber?“

„Es ist einfach alles Kacke.“

Für Verena war es sehr schwer nachvollziehbar, was ihrem Liebsten derart großen Kummer bereitete. Wie seine Schwester sprach auch er nicht darüber, was sich tief in seinem Innern abspielte. Die Moroders fraßen alles in sich hinein und machten vieles mit sich selbst aus. Daran hatte sich trotz der heftigen Stürme in den letzten Jahren leider immer noch nichts geändert.

Loris richtete seinen Blick nach innen, also beschloss sie, das Thema ruhen zu lassen.

„Wie schön das Wetter immer noch ist, und wir sitzen in der Küche und lassen in unseren Gedanken dunkle Wolken aufziehen“, bemerkte sie. Zum Abschluss ihrer romantischen Tage zu zweit wollte sie einen gemütlichen Spaziergang mit ihm unternehmen. Oberhalb des Dorfes gab es einen Weg, von dem aus man einen herrlichen Ausblick über die weite Ebene mit ihren Apfelanlagen hatte. Sie hoffte, es würde seiner Seele guttun, dennoch wollte sie ihn nicht dazu überreden. Er musste es selbst wollen.

Loris schien den Wink zu verstehen. Jacke und Schuhe hatte er noch nicht ausgezogen. Also stand er wortlos auf, verließ den Raum und wartete in der geöffneten Wohnungstür darauf, dass sie ihm folgte.

*

3

„Lass dich nicht unterkriegen“, hauchte Verena ihrem Mann ins Ohr und entließ ihn mit einem Klaps auf den Hintern in den Tag. Loris lächelte verkniffen, drückte sie mit einem Arm an seine Seite, küsste sie sanft auf die Lippen und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Heute Morgen war die Strecke gut ausgelastet, an ein Vorwärtskommen war kaum zu denken und er war froh, dass er beizeiten losgefahren war. Noch ein Grund mehr, weshalb er seinen Job hasste. Wenn er nicht bald einen neuen fand, mussten sie sich eine Wohnung suchen, die näher an der Brauerei lag. Diese Pendelei konnte so nicht weitergehen.

Loris dachte an Verena, die sich in diesen Minuten ebenfalls auf den Weg zur Arbeit begeben wollte, und an die bevorstehenden Diskussionen mit Thomas, der sie wegen der zusätzlich genommenen Urlaubstage bestimmt mit schlechter Laune abstrafte. Der junge Gruber nahm für sich alle Rechte in Anspruch, gestand seinen Mitarbeitern jedoch kaum welche zu. Verena liebte ihre Aufgaben an der Rezeption und wurde sowohl von ihren Arbeitskollegen als auch von den Gästen sehr geschätzt. Niemals würde sie sich gegen Thomas oder jemand anderen auflehnen. Sie akzeptierte ihren Chef als Freund der Familie trotz allem, was er sich in der Vergangenheit geleistet hatte und immer noch leistete. Wenn das auch nicht so weitergehen konnte. Freundschaft hin oder her, in Südtirol gab es viele andere tolle Hotels, in denen Verena ihrer Leidenschaft nachgehen konnte, und Arbeitgeber, die sie und ihren Einsatz zu schätzen wussten.

„Himmelherrgott noch mal!“, schleuderte Loris gegen die Windschutzscheibe. Thomas war sein bester Kumpel, er war Trauzeuge bei seiner und Verenas Hochzeit gewesen. Lisa hatte er die Möglichkeit gegeben, im Weimerhof Verkostungen durchzuführen, und als er sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte, hatte Thomas ihn freigekauft. Und nun veranstaltete er wegen drei Tagen ein solches Theater. Andererseits passte das Verhalten zu ihm.

Warum vertraute er ihm immer wieder? Er wusste nur zu gut, dass sein Glaube an das Gute im Menschen an dem jungen Gruber zerbröckelte. Dieser Mistkerl hatte seiner Schwester mehrmals das Herz gebrochen, weiterhin versuchte er, sie und David gegeneinander auszuspielen. Für Erfolg ging er über Leichen, bei der Wahrheit zu bleiben fiel ihm schwer, Empathie war nicht sein Ding und wenn er noch aufrichtiger darüber nachdachte, war Thomas schlimmer als sein Boss. Nicht Rino. Der andere. Der ganz oben. Andrea Tintori. Inhaber der Adler Bräu und einer der einflussreichsten Großgrundbesitzer Italiens.

Bisher hatte er ihn nie zu Gesicht bekommen, dafür umso mehr über ihn gehört. Die gesamte Belegschaft nannte ihn Corvo. Er wurde als egoistisch, herrisch, intelligent und selbstgerecht bezeichnet. Ansonsten erzählte man sich, Tintori habe einen wahrgewordenen Männertraum zur Frau, lasse aber nichts anbrennen, jede Sekretärin kenne er in- und auswendig. Ein Wortspiel, das Loris witzig fand, den Charakterzug, den es beschrieb, weniger, auch wenn er im Vergleich zu dem, was man sich sonst über ihn berichtete, harmlos war. Denn angeblich sollte der große Andrea Tintori Beziehungen zur Mafia pflegen. Ob das stimmte, wusste niemand.

Sein Chef ein Mafioso? Das war lächerlich! Geredet wurde viel. Immer. Überall. Wenn jemand derart intensiv im Gespräch war wie dieser Tintori, machte er einiges richtig und war bestimmt nicht Teil dieser Verbrecherbande. Er kannte den Typen zwar nicht, dennoch traute er ihm das nicht zu. Allein der Gedanke war absurd.

Es stand ihm nicht zu, über diesen Mann zu urteilen. Er wusste nichts über ihn. Das einzig Greifbare für ihn war die oberste Büroetage, die Tintori für sich allein beanspruchte. Dort saß er vermutlich bequem hinter seinem Schreibtisch, traf im Alleingang Entscheidungen und gab Befehle heraus, die kaum jemand nachvollziehen, geschweige denn umsetzen konnte. Doch darum kümmerte der sich einen Scheiß. Für den zählte nur, dass seine Anweisungen befolgt und seine Ziele erreicht wurden.

Wie Tintori wirklich war, würde er erst erfahren, wenn dieser nervtötende Stau ihn freigegeben hatte. Mit beiden Fäusten hämmerte er gegen das Lenkrad, die Blechlawine bewegte sich keinen Millimeter.

Einerseits konnte Loris es kaum erwarten, dem großen Tintori persönlich zu begegnen. Das Geschwätz hatte seine Neugier geweckt. Andererseits grauste es ihm. Wenn das Ganze nun nicht bloß Gelaber seiner Arbeitskollegen war? Konnte er es mit seinem Gewissen verantworten, noch länger für diesen Typen zu arbeiten? Eher nicht. Ein Grund mehr, sich schleunigst beruflich zu verändern.

„Ich komme immer mehr nach Lisa“, murmelte er vor sich hin, schaltete in den nächsten Gang und lächelte. Hätte ihm das jemand vor zwei Jahren gesagt, er wäre ausgerastet. Er hatte seine Schwester immer bewundert und tat es heute noch, trotzdem wollte er um nichts in der Welt mit ihr verglichen werden.

Früher hatte er die Leidenschaft für den Wein mit seiner Familie geteilt, jedoch nicht, was dessen An- und Ausbau betraf. Sein Interesse galt allein dem fertigen Produkt und das ebenfalls nicht aus Freude am Genuss, denn damals stand für ihn lediglich der Alkoholgehalt an erster Stelle. Lisa hatte er stets als Streberin bezeichnet, ihr aber nichts zugetraut. Viele Jahre lang war er ihr mit großem Misstrauen begegnet, weil sie eine Frau war, obwohl er heimlich für sie geschwärmt hatte. Sie war eine Göttin, und wäre er nicht ihr Bruder gewesen, hätte er sie flachgelegt. Doch in seinen Augen war ihr zierlicher Körper für die harte Arbeit auf dem Weingut und in den Rebbergen nicht geeignet. Ungeachtet dessen hatte sie ihm den Moroder-Hof vor der Nase weggeschnappt. Von da an kannte seine Eifersucht keine Grenzen mehr. Ständig hatte sie ihn an seine Schwachstellen erinnert! Das hatte ihn erst richtig wütend gemacht. Und als sie Thomas gebeten hatte, ihm mit 100.000 Euro unter die Arme zu greifen, hätte er sie sogar umbringen können.

Heute machte es ihm nichts mehr aus, mit Südtirols Weinkönigin in Verbindung gebracht zu werden. Im Gegenteil. Es machte ihn stolz, ein echter Moroder zu sein, den Familiendickschädel geerbt zu haben, mutig, zielstrebig, von höheren Zielen besessen und unabhängig zu sein. Er hatte sein Leben aufgeräumt und geordnet. Er hatte seine Leidenschaft für das Bier entdeckt, nicht wegen des Alkohols, sondern aus Faszination und den ungeahnten Möglichkeiten, die das Brauen mit sich brachte. An seiner Seite stand die Liebe seines Lebens und unterstützte ihn dabei, seine eigenen Fähigkeiten, Wege und Träume aufzuspüren und zu leben, wie Lisa und Lukas es taten. Seine Geschwister und Eltern und seine Frau waren genauso stolz auf ihn wie er auf sie. Nach allem, was war, konnte es für ihn kaum ein größeres Glück geben.

Ungeduldig drückte er auf die Hupe. „Jetzt fahr halt!“, brüllte er und scherte mit seinem Wagen über die Mittellinie aus, so, als wollte er überholen, zog das Steuerrad gleich darauf abrupt herum und reihte sich wieder in die Kolonne ein. Es machte keinen Sinn, er musste vernünftig bleiben.

Mit einer halben Stunde Verspätung lenkte Loris seinen schwarzen A3 auf den riesigen Platz neben der Fabrikationshalle. Gekonnt parkte er ein, sprang aus dem Wagen und hechtete ins Gebäude, vorbei an geschlossenen Türen, herumwuselnden und geschäftig dreinblickenden Menschen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk und rannte durch den Flur, bis er vor dem Konferenzraum stand. Er gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, legte die Hand an die Klinke, öffnete langsam die Tür und trat ein.

„Nett, dass Sie sich doch noch zu uns gesellen.“ Der Spott war dem leicht ergrauten, einen Meter achtzig großen Mann in dem dunkelblauen Maßanzug anzuhören. Mit dem Rücken zum Eingang stand er am Kopf der Tischreihe, starrte auf eine Projektion an der Wand und war offensichtlich in einen Vortrag vertieft gewesen. Ohne sich nach ihm umzudrehen und ohne eine weitere Bemerkung, referierte er weiter.

Loris rollte mit den Augen. Heute war nicht sein Tag! Er hatte gehofft, unbemerkt in den Raum huschen zu können, stattdessen war ihm in der Hektik die Tür aus der Hand gerutscht und mit einem Rums ins Schloss gefallen. Das allein hätte genügt, um ihm den Auftritt des Jahrhunderts zu bescheren. Freilich kam es noch besser. Bei dem Versuch, so unsichtbar wie möglich zu seinem Platz zu gelangen, stieß er mit dem Bein gegen die Kante des Besprechungstisches und brachte damit die Gläser zum Klirren und die Wasserflasche ins Wanken, die ohnehin bereits gefährlich nah am Abgrund stand. Automatisch wollte er sie vor dem Absturz bewahren, dabei ruderten seine Arme wild durch die Luft. Und als wenn das nicht gereicht hätte, kämpfte er schließlich mit dem einzigen freien Stuhl, der sich auf dem Teppich nicht ohne Weiteres zurechtrücken ließ und entsprechend störrisch verhielt. Endlich hatte er den Kampf gewonnen und Platz genommen, da wartete bereits der nächste Fettnapf auf ihn.

„Lorenzo?“, rief er überrascht aus, nachdem Corvo sein Selbstgespräch beendet hatte, sich umdrehte und hinsetzte. „Kumpel, was machst du denn hier?“

Ein Raunen ging durch die Reihe. Loris schenkte dem Gemurmel keine Beachtung.

Der Mann mit der adretten Frisur, den sonderbar weichen Gesichtszügen und dem dunklen Vollbart mit den feinen Silberfäden fixierte ihn mit schwarzen Augen, die unter den buschigen Brauen bedrohlich wirkten.

„Tintori. Andrea Tintori“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Für den Fall, dass es Ihnen entgangen sein sollte: Ich bin Inhaber der größten Brauerei-Kette Europas. Die Adler Bräu verfügt über Niederlassungen nicht nur in Südtirol und Tirol, sondern in ganz Italien, Österreich, Deutschland, der Schweiz und neuerdings auch in Spanien. Mit Frankreich stehen wir in Verhandlungen. Ich würde meinen, damit ist meine Stellung geklärt.“ Der Mann sprach sanft, aber bestimmt, ohne seinen durchdringenden Blick von ihm abzuwenden.

„Lorenzo! Alter Schwede! Erkennst du mich denn nicht?“ Loris sprang auf und wollte seinen alten Kumpel begrüßen, so, wie er das von früher gewohnt war.

Abermals erfüllte ein nervöses Raunen den Raum. Bedächtig hob Tintori eine Hand und brachte die Anwesenden damit zum Schweigen. Seine Augen waren immer noch auf ihn gerichtet. Loris wollte etwas sagen, doch der Boss wies ihn mit unmissverständlicher Mimik in seine Schranken. Irritation machte sich breit. Er nickte und setzte sich wieder. Unterdessen nahm die Sitzung ihren Lauf, ohne dass sich Corvo oder einer der anderen für ihn und den Zwischenfall interessierten. Aufmerksam folgte Loris den Statements der Teilnehmer, ohne zu verstehen, worum es ging, bis Tintori die Besprechung völlig überraschend für beendet erklärte. Seine Kollegen schienen zufrieden, ihm war es egal. Rino wollte ihn bei diesem Termin unbedingt dabeihaben, ihm war von Anfang an nicht klar gewesen, was er in dieser Runde verloren hatte. Nun, da er ohnehin zu spät dran war, damit vermutlich das Wesentliche verpasst hatte und zu guter Letzt auch noch mit Tintori oder Lorenzo oder wem auch immer zusammengeprallt war, spielten der Inhalt und das Ergebnis der Sitzung ohnehin keine Rolle mehr.

„Wo warst du?“ Auf dem Weg nach draußen nahm ihn Rino zur Seite und zischte ihn an.

„Stau.“

„So lange?“

Loris zuckte mit den Achseln und nickte.

„Komm“, sagte Rino, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich in eine kleine Nische am Ende des Flures. „Sag mal, was sollte das?“

„Was?“

„Lorenzo?“

Loris überlegte, gleichzeitig murmelte er: „Wohl eine Verwechslung.“

„So hat es sich da drinnen nicht angehört.“ Mit ausgestrecktem Arm zeigte Rino in Richtung des Konferenzraumes.

„Jeder kann sich irren, net.“

„Logisch. Aber du bist dir deiner Sache meist sehr sicher.“ Erwartungsvoll sah Rino ihn an.

Loris war nicht ganz wohl. Sollte er ihm die Wahrheit erzählen oder bei einer Ausrede bleiben?

„Lust auf einen Kaffee?“, durchbrach er die angespannte Stimmung. Rinos Reaktion war ausschlaggebend für die Richtung, die er einschlagen wollte.

„Ich muss sagen, sehr gewagt, wo du doch eben erst gekommen bist und noch keinen einzigen Finger krumm gemacht hast. Aber okay, lass uns Kaffee trinken.“ Hintereinander stürmten sie durch den Gang und durch das Treppenhaus, das die Stockwerke in der Mitte wie eine Spirale miteinander verband, bis sie im Souterrain die Cafeteria erreichten. Der riesige, trotz seiner Lage sonnendurchflutete Raum mit dem unauffälligen Boden in Holzoptik, den Sichtbetonwänden und dem minimalistischen Mobiliar war modern, aber wirkte gleichzeitig sehr gemütlich und lud zum Verweilen ein.

Die Männer schauten sich um und wählten einen der zahlreichen kleinen, quadratischen Tische bei den raumhohen Fenstern. Sie nahmen einander gegenüber Platz.

Rino erfüllte Loris’ Wunsch nach einem Cappuccino mit Brioche, er selbst trank einen Espresso und verzichtete auf eine Beilage.

Der Tag war noch jung, kaum jemand hatte sich in diesen Teil des Gebäudekomplexes verirrt.

„Was ist los?“, wollte Rino wissen.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich habe Zeit.“

„Vor einigen Jahren habe ich mich mit den falschen Leuten eingelassen“, murmelte Loris. Es fühlte sich immer noch nicht gut an, darüber zu sprechen.

„Du?“ Die Fassungslosigkeit stand Rino ins Gesicht geschrieben.

„Ich“, sagte Loris ruhig, lächelte und fuhr sich mit der flachen Hand mehrmals über den Nacken. „Manche brauchen eben länger, bis sie sich gefunden haben.“ Durch Rinos Aufmerksamkeit ermutigt erzählte er, dass er sich damals nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinem besten Freund verraten und verlassen gefühlt hatte. Nicht ohne Reue in der Stimme schilderte er die ungezähmte Wut, die ihn überwältigt hatte, als seine Schwester ihm das elterliche Weingut vor der Nase weggeschnappt und er daraufhin den Hof verlassen hatte. Zögerlich schilderte er seinen Weg in die Spielhölle und beschrieb seine ersten Schritte als Profispieler. Als er darüber sprach, wie er immer tiefer in den Schlamassel hineingeriet, ließ er keine Details aus.

„Mehr und mehr kam ich in die Miesen. Ich brauchte Geld, pumpte da und dort größere und kleinere Summen, bis niemand mehr bereit war, mir etwas zu geben. Irgendwann standen zwei Gorillas vor meiner Wohnung. Die haben mich übel zugerichtet, und da ich die Miete ohnehin nicht mehr bezahlen konnte, nahmen sie mich gleich mit und sperrten mich in den Keller eines alten, stillgelegten Gutshofes. Die Deppen checkten nicht, dass das Haus an einem Berghang stand und der Keller deshalb ebenerdig lag. Ähnlich wie hier“, er machte eine Kopfbewegung zur Fensterfront, „und dass man ihn durch eine kleine Luke, die sich hinter ausgedienten Fässern verbarg, bequem verlassen konnte. Ich kroch also da durch und irgendwie gelang es mir, bis zu meinen Eltern zu kommen. Ich hoffte, sie würden mir ein paar Euro leihen und mich bei ihnen wohnen lassen. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Capo gemacht.“

„Tintori?“

„Was? Nein. Mein Vater, Franz Moroder, auch bekannt als il capo. Was man sich über Lorenzo, äh, Andrea erzählt, trifft haargenau auch auf meinen Alten zu. Außer, was seine Frauengeschichten und die Verbindungen zur Mafia betreffen vielleicht.“

„Du duzt den Boss?“

„Ja. Aber ich kenne ihn unter dem Namen Lorenzo. Damals war er der Einzige, der an meiner Seite blieb. Er gab mir Geld und ließ mich kostenlos in einer seiner Wohnungen leben, nachdem ich auf dem Moroder-Hof keinen Unterschlupf fand. Und er beschützte mich vor den Gorillas, die Schulden eintrieben, das behauptete er zumindest. Seither habe ich nie wieder was von denen gesehen oder gehört. Mein bester Kumpel Thomas hat damals 100.000 Euro locker gemacht, um mich freizukaufen. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass die mich in Ruhe gelassen haben. Denn was hätte Lorenzo gegen die ausrichten sollen.“

Rino zog die Augenbrauen hoch.

„Später kam ich in Untersuchungshaft, weil man mir ein Tötungsdelikt anhängen wollte“, fuhr Loris unbeirrt fort. „Am Ende stellte man meine Unschuld fest und ich kehrte nach Hause zurück. Damit meine ich das Weingut meiner Eltern, äh, meiner Schwester. Im Knast hatte ich viel Zeit, um nachzudenken. Ich beschloss, mein Leben aufzuräumen. Kurz darauf lernte ich Verena kennen, meine jetzige Frau, und nun bin ich hier. Aber weshalb Lorenzo sich Andrea nennt oder weshalb Andrea sich früher Lorenzo nannte und so tut, als kenne er mich nicht, ist mir schleierhaft.“

„Wow, was für eine Laufbahn“, stellte Rino beeindruckt fest und lobte ihn für seine Offenheit, bevor er nachdenklich in die Espressotasse starrte. Loris hielt die Anspannung aus. Nach einer Weile bemerkte Rino: „Du beschreibst Tintori anders, als wir ihn kennen. Wenn ich dir zuhöre, denke ich, du redest von einem anderen Mann. Vielleicht hat er sich verändert. Vielleicht hat er dir ein anderes Gesicht gezeigt oder etwas vorgespielt. Keine Ahnung. Ich rate dir nur, nimm dich vor ihm in Acht.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt nicht, wer er ist?“

Loris verneinte.

„Ihm gehört nicht nur die Adler-Bräu-Kette, sondern er nennt auch unzählige Weingüter und andere Ländereien in ganz Italien sein Eigen.“

„Das ist mir bekannt“, fuhr Loris ihm ins Wort.

„Man munkelt, er stünde unter einem besonderen Schutz. Ob das wahr ist?“ Rino wedelte mit den Armen durch die Luft. „Wer weiß das schon so genau.“

Ungläubig starrte er Rino an. Der zuckte mit den Schultern und schürzte die Lippen. Loris nahm einen Schluck Kaffee und biss herzhaft in das Brioche, bevor er erneut das Wort ergriff: „I woass net. Das kommt mir alles ziemlich unwirklich vor. Was rätst du mir?“

„Eben. Sei vorsichtig. So wie der dich vorhin angeschaut hat, bist du auf seiner schwarzen Liste gelandet.“

„Heißt?“

„Erst mal nur, dass er dich unter Beobachtung hält, denke ich. Gut möglich, dass du früher oder später in sein Allerheiligstes gerufen wirst.“

„Bedeutet?“

„Dass er mit dir reden will. Allerheiligstes, so wird sein Büro genannt. Da kommst du nur rein, wenn du Scheiße gebaut hast.“

„Oh. Okay. Na dann.“ Loris lachte. „Ich gebe mir Mühe und werde dir berichten, wie’s da oben aussieht, sobald ich die Ehre hatte.“ Immer noch lachend zwinkerte er ihm zu. „Wie gesagt, ich kenne Tintori von früher, so schlimm kann es nicht werden. Vielleicht wollte er in dem Rahmen vorhin die Nähe zwischen uns nicht zulassen. Immerhin war er in der Sitzung der Boss und nicht der Kumpel. Worum ging’s denn überhaupt?“

„Ach, vergiss es. Nicht wichtig. In ein paar Tagen ist sowieso wieder alles anders. Lass dir trotzdem noch einmal gesagt sein: Nimm das nicht auf die leichte Schulter. Pass auf dich auf!“

Loris nickte, trank seinen Cappuccino aus, stopfte sich das, was von dem Brioche übrig war, in den Mund und stand auf. Er nahm die Tasse, um sie an die Theke zurückzubringen, und wollte sich anschließend auf den Weg ins Sudhaus begeben, das auf der anderen Seite des gigantischen Areals lag.

„Warte, ich komme mit“, sagte Rino und schickte sich an, das Geschirr zurückzubringen. Er nahm Loris die Tasse ab und verschwand.