Safranhimmel - Sybil Schreiber - E-Book

Safranhimmel E-Book

Sybil Schreiber

0,0

Beschreibung

Ein ungewöhnlich warmer Wind weht durch die Genossenschaftssiedlung aus den 1920er-Jahren. Damals lag sie am Rand der Stadt, heute nennt sich das zentrale Wohnlage. Hier leben Menschen nebeneinander, ein wenig auch miteinander. Alle suchen. Alle straucheln. Alle sind sie verwundet. Früher oder später landet jede der Frauen im Lazarett. Die dicke Beate, die ihren Kühlschrank schrubbt, Gurken aus dem Schrebergarten einmacht und Puppen streichelt. Katja, die ihren Sinn des Lebens in einer Affäre sucht und nicht weiss, warum sie Kinder hat. Maxi, die sich ihre Haare knallblau färbt und hässliche Schulden hat. Oder Paula, die den antiken Holzschrank aus der Wohnung wirft. Statt den Exmann. Die Geschichten in »Safranhimmel« stehen für sich allein und doch berühren sie einander. Die Sprache ist direkt, poetisch und dicht. Und bisweilen blitzt skurriler Humor da und dort auf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 202

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Sybil Schreiber

Safranhimmel

Erzählungen

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

[email protected]

www.elstersalis.com

Lektorat

Patrick Schär

Korrektorat

Gertrud Germann

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

Philipp Stolz und Yen Huitan, pexels.com

1. Auflage 2022

© 2022, Elster & Salis AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN E-Book 978-3-03930-044-0

ISBN Print 978-3-03930-043-3

DIE EINZIGEN,DIE ALLES MITERLEBT HABEN,DIE STEHEN DAUND BEWEGEN SICH NICHT.WÄNDE.

INHALT

Schuss ins offene Herz

Kuchen ohne Guss

Die Kerze, die kannst du wie sonst keine

Melonenkopf

Panzer sprengen

Zerhacken, zerschneiden

Irre tolle Menschen

Zwei Packungen Schweinehals

Safranhimmel

Fenster fliegen

Kranke Räume

Diese verdammte Ähnlichkeit

Weich gepresst

Im Vorbeileben

SCHUSS INS OFFENE HERZ

Der Kühlschrank war leer. Er roch nach künstlicher Zitrone. Barbara hatte Putzmittel auf die weiße Spitze des Wattestäbchens gesprüht und jede Ritze gesäubert, aus dem kleinen Loch an der Rückwand schwarze Schmiere entfernt und daran gerochen. Sie schwitzte. Ihre Hände immer zu trocken, die Haut tief gefurcht. Schmerzhafte Risse. Sie fuhr sich kurz über die Stirn, die salzigen Tropfen wegwischend, dann durch ihre Haare, matte, graue Strähnen, die wirr in alle Richtungen zeigten. Sie hatte mit dem Wattestäbchen immer wieder in das Loch im Kühlschrank gebohrt, wo Tauwasser gesammelt wurde, das so gar nichts von Tau hatte. Diesen Dreck, der an ihn erinnerte, einfach weggewischt. Es hatte ihr gutgetan. Jedes Fach gründlich ausgeräumt und geputzt und alles weggeworfen, was normalerweise den Weg in seinen Magen genommen hätte. Aber jetzt kein Bier mehr, Lager hell, keine Margarine cholesterinarm, kein Senf mittelscharf, keine Silberzwiebeln in Essig. Kein Fleischkäse. Kein Emmentaler. Keine Tabletten mehr.

Kein Ernst mehr.

Barbara drehte den Schalter auf null. Das Licht erlosch. Das Brummen verstummte. Dann zog sie den Stecker aus der Wand, stellte den Wasserkocher neben der Spüle an, wartete, bis es zu dampfen begann. Sie hörte genau hin. Kurz bevor das Wasser kochte, wurde es leiser, so als würde es Anlauf holen. Sie hörte es jedes Mal, sie hatte noch nie mit jemandem darüber geredet, hatte keine Ahnung, warum der Klang von fast kochendem Wasser leiser war als der davor und der danach. Als würde Wasser bei 98 Grad kurz die Luft anhalten, um dann zu überborden. Sie kippte das heiße Wasser in den gusseisernen Topf, stellte ihn ins Eisfach. Die Kristalle knackten. Abtauen.

Die Vergangenheit abtauen, die Zukunft einfrieren.

Sie klemmte das Kabel in die Kühlschranktür, damit diese nicht zufallen konnte. Er brauchte Luft. Ein ausgeschalteter Kühlschrank braucht Luft. Sonst müffelt er. Das hatte sie schon im Haushaltsunterricht gelernt.

Ein toter Mann braucht Kälte. Sonst müffelt er.

Barbara wischte ihre Hände an der Blumenschürze ab. Sie war zufrieden mit ihrem Werk. Das dunkle Innere des Kühlschranks, die volle Mülltüte, die Stille. Kein Radio, das immer lief, wenn er da war. Mit dem Sender, den er gewählt hatte. Mit den Stimmen, die sie nicht kannte, die laut wurden, wenn Bundesliga lief und Ernst schimpfte, sie solle keinen Krach machen, er höre Bundesliga, dabei hatte sie nie Krach gemacht. Wenn überhaupt, war es nur der Staubsauger oder der Föhn.

Barbara konnte nicht laut sein. Sie hatte es mal versucht, ob sie schreien könnte. Ob sie richtig laut schreien könnte.

So wie Tarzan.

Oder ein Löwe.

Oder ein Baby.

Sie hatte im Bett gelegen, das kleine Zimmer zum Waldrand war ihres. In der Dämmerung, wenn der Sommer dem ersten Nebel Platz gemacht hatte, wenn Barbara früh ins Bett kroch, weil sie früh rausmusste, als Bäckerlehrling, sehr früh, mitten in der Nacht, und sie schlafen wollte, aber nicht konnte, denn vom Hochstand her zischten die Schüsse durch die Dämmerung, da war sie wieder aufgestanden, zum offenen Fenster, sie hatte die Tiere warnen wollen, ihnen zurufen, haut ab, rennt um euer Leben, sie in Sicherheit schreien. Sie hatte die Schüsse gehört, den Mund geöffnet, das Gesicht groß gemacht, die Augen aufgerissen – und keinen Ton herausgebracht.

Barbara war leise zurück ins Bett gekrochen, hatte das Kissen über ihren Kopf gepresst. Niemand hatte irgendetwas von ihr gehört.

Es war erst der Anfang gewesen. Der Herbst. Die Wildsaison, der Rehbraten der Mutter, das Rotkraut, die schmatzenden Mäuler am sonntäglich gedeckten Tisch im Wohnzimmer, der Grubner, der blaffte, dass er immer direkt ins Herz schieße, wie bei den Weibern, und immer treffe. Dabei grinste er die Mutter an, und zwischen seinen Zähnen hing Rotkraut, als wären es Fleischfetzen, als hätte er Tiere totgebissen. Die Mutter schüttelte den Kopf, ihre Haare zitterten, sie bekam rote Wangen, und danach sagte sie, Barbara, geh doch ein bisschen raus, spielen.

Spielen. Sie war fünfzehn, verlor Blut alle paar Wochen, so eine Sauerei, hatte die Mutter gesagt und für sie dicke Binden im Supermarkt gekauft, und dass sie ihr ja keinen Zwerg heimbringen solle. Jetzt, wegen dem Blut.

Barbara wusste, was sie meinte, sie wusste auch, dass sie selbst einer war. Alle wussten es, und darum hatte sie keinen Vater, weil der tot war oder weg oder beides. Nur wenige Male fragte Barbara vage, was denn sei mit ihrem …

Die Mutter unterbrach sie, bevor das Wort Vater Barbaras Mund verließ, pscht!, erwähne diesen Saukerl nicht. Nie, nie mehr, sei froh, dass ich dich behalten habe, ich hätte dich auch weggeben können, zu den Schwestern unten im Tal, aber ich habe dich behalten, und ohne dich hätte ich ein anderes Leben gehabt, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ohne dich wäre alles anders geworden. Da wäre ich jetzt in der Stadt.

Das hatte die Mutter immer gesagt. Dass sie in der Stadt wäre. Als wäre das eine Auszeichnung. Eine Medaille. Ein Sieg.

Barbara hatte es geschafft. Sie war in der Stadt. Aber wie ein Sieg hatte es sich nie angefühlt. In den ganzen Jahren nicht, in der kleinen Dreizimmerwohnung mit Ernst. Frisch gestrichen war sie beim Einzug gewesen, es hatte noch nach Farbe gerochen, im Gang Novilon in Beige, leicht gesprenkelt, in der Küche orange-braune Kacheln, im Bad Neonlicht, eine Wanne, ein Waschbecken, direkt daneben das Klo. Die Schüssel nicht mehr neu, Kalklinien, hellgelb. Urinstein. Ernst hatte damals Salzsäure gekauft und die Spuren weggemacht. Er ließ die Säure über Nacht einwirken, wenn du mal musst, mach in die Wanne, hatte er gesagt.

Die Säure hatte stundenlang am Kalk genagt. Ernst nahm die Klobürste, spülte, scheuerte, spülte. Danach war sie wie neu, die Kloschüssel. Ab jetzt gehört sie dir, hatte er gesagt und nie mehr das Klo geputzt. Auch nicht, wenn er Spuren hinterlassen hatte.

Er hatte da klare Grenzen.

Du drinnen, ich draußen.

Auf dem kleinen Balkon vor der Küche saßen oft Tauben und gurrten und machten Dreck. Ernst scheuchte sie fort, wedelte mit der Zeitung.

Man müsste sie abknallen. Es gibt einen Taubenjäger in der Stadt. Der macht, dass sie tot von den Dächern kippen. Die spüren da nix. Die fallen einfach tot runter.

Barbara befestigte Alufolie zur Abschreckung am Geländer, silberne Streifen, die im Wind blitzten. Die Tauben mochten keine Alufolie, gurrten auf dem Balkon unter ihnen und kackten alles voll.

Einmal hatte Ernst kochendes Wasser von oben auf sie geleert. Dieses verdammte Gurrgurr! Aber die Tauben waren schneller als die Tropfen gewesen.

Drei Zimmer, das größte war das Schlafzimmer, das mittlere das Wohnzimmer, das kleinste für was auch immer. Sie mussten kein Ehebett kaufen, der Ernst hatte noch seines, ob es sie störe, dass seine Frau darin geschlafen habe?

Barbara sagte, nein, aber vielleicht eine neue Matratze. Er war geschieden. Seine Frau hatte ihn verlassen. Für niemand anderen. Das sei das Schlimmste, sagte Ernst, wenn er nicht nüchtern und traurig war. Hätte sie einen anderen, dann hätte ich ihn vermöbelt. Aber so. Ist einfach gegangen. Das passiert mir nicht noch mal. Barbara. Hörst du.

Barbara wollte nicht wissen, was dann wäre, wenn sie ihn verlassen würde. Sie war bei ihm. Sie lebte mit ihm. So wie alle anderen. Als Paar. Sie hatte Ja gesagt. Sie war eine treue Seele.

Sie lehnte neben dem Kühlschrank mit dem Rücken an der Wand und hörte die Tropfen aus dem Eisfach in den gusseisernen Topf klatschen. Jedes Plitsch. Sie hatte keine Eile. Sie hatte es geschafft. Eben doch. Ein Sieg. Tropftropftropf.

Die Mutter war mit Barbara im Bauch im Dorf geblieben, wie mit einem Klumpen am Bein sei sie sich vorgekommen. Ich war eine von den Schönen, hatte die Mutter ihr gesagt. Eine von denen, die jeden hätte haben können. Sie sah Barbara an, wie man einen Apfel in der Auslage ansieht und abwägt, ob er schön genug sei, und dann den daneben nimmt und auf die Waage legt. Ach, lassen wir das, du musst ins Bett, früh raus, wasch dir die Haare, du riechst nach Hefe.

Barbara spürte, was die Mutter dachte. Du riechst nicht nur wie Hefe, du siehst aus wie Hefe. Nichts an dir ist fest, alles so unförmig. Und wenn Barbara die Mutter ansah, dachte sie oft, von der kann ich nicht sein.

Dann ging die Mutter ins Wohnzimmer, ohne gute Nacht, und Barbara ins Bad. Sie stellte sich den Wecker auf drei Uhr. Sie würde mit dem Mofa ins Nachbardorf fahren, im Dunkeln, die Kälte würde noch nichts ahnen lassen von dem Altweibersommer, der träge tanzte wie ein müdes Liebespaar und alle mit Wehmut erfüllte und helle Silberfäden durch die Luft schweben ließ.

Bevor sie in die Backstube kam, zog sie sich um, wusch sich die Hände, setzte die weiße Haube mit dem Gummizug auf, sah sich im Spiegel über dem Waschbecken. Ein Gesicht, mehr nicht.

Zehn nach vier. Das Abwiegen von Teiglingen, das Klatschen auf Holz, das Rollen von Masse zu Zwirbeln und Schnecken, ihre Chefin mit ihr am Tisch arbeitend, das Radio im Hintergrund, das Schweigen zwischen den beiden Frauen erfüllt von Schlagern, in denen sich andere Frauen nach Liebe sehnten, Blumen bekamen und Küsse.

Ein Ort mit so viel Geruch, gutem Geruch. Barbara war die Einzige, die sich für diese Lehrstelle beworben hatte, ihr taten die anderen leid, die in Büros Zahlen vergleichen mussten, ohne deren Sinn zu verstehen. Oder die beim Arzt Blut und Urin und Eiter von den Menschen aus dem Dorf untersuchten. Und der Arzt würde, wie alle wussten, die jungen Mädchen im Nacken massieren und zittern, wenn er seinen Patientinnen Spritzen setzte.

Barbara backte lieber Brötchen, sie machte es gut, sie war zufrieden für diesen einen Augenblick und den nächsten vielleicht auch. Bis sie wieder mit dem Mofa nach Hause fuhr, auf den Feldern Traktoren, die ihre Fässer leerten, als hätten sie Durchfall, und wusste, dass daheim eine Mutter fragen würde, warum sie keine Torte mitgebracht habe. Morgen komme Besuch. Das wisse sie doch. Da hätte sie doch, also wirklich!

Der Grubner kam jeden Sonntag zum Essen. Schon immer irgendwie. Barbara wusste, dass er auch sonst oft daheim war, wenn sie nicht daheim war. Als sie in der dritten Klasse im Sport den Trimm-dich-Pfad machen mussten, der frisch an den Waldrand gebaut worden war, die Krankenkasse der Region hatte Geld gespendet, damit alle schlank und rank würden und nicht mehr an Herzinfarkt stürben, da hatte sie es gemerkt. Damals, es könnte ein Mittwochmorgen gewesen sein, die Lehrerin war ganz begeistert von den Stangen, an die man sich hängen konnte, und von den Stämmen, über die alle drüberhüpfen mussten. Wie aufgedrehte Spielzeugmäuse rannten die Kinder durchs Geäst, um fit zu werden.

Fit. War neu, das Wort. Barbara war weit weg von fit und von der Klasse, als Letzte keuchte sie auf dem Rückweg zur Schule an ihrem Haus vorbei, die Vorhänge im dritten Stock waren zugezogen, oben, wo Mutters Zimmer war. Barbara blieb stehen und sah hinauf. Das Fenster war gekippt. Von drinnen nach draußen drangen Geräusche. Wie Atemnot. Sie ging weiter, fragte sich, ob die Mutter krank sei.

Weiter hinten, dort, wo der Weg das Dorf erneut verließ und sich in die Fichten schlängelte, stand der Opel vom Grubner. Als wäre er im Wald auf der Jagd. Dabei lag er daheim auf der Mutter und schoss ihr ins Herz.

Oder sonst wohin.

Barbara hatte niemandem in der Klasse erzählt, was sie ahnte. In ihrer Fantasie sah sie alles so klar, die Mutter und er keuchend verschwitzt, mit Fingern, die sich ins Fleisch krallten, Mündern mit gierigen Zungen, und dieses Bild klebte nun in ihrem Gehirn direkt hinter den Augen auf ewig wie ein Dia.

Der Grubner. Der Jäger. Die Mutter. Das Reh.

Es hätte ihr auch niemand zugehört. Sie wurde beim Völkerball als Letzte gewählt, die Augen der anderen verdrehten sich, wenn sie versuchte, mit dem Ball jemanden abzuschießen, und den Boden traf. Sie saß im Klassenzimmer in der ersten Reihe, weil sie nicht gut sah. Oder weil dort niemand sitzen wollte.

Manchmal riefen die Kinder, dein Vater ist im Gefängnis.

Ein richtiger Gauner, der hat sogar mal dem Wirt die Kasse geklaut.

Nein, bei der Bank ist der eingebrochen.

Quatsch, der hat versucht, jemanden zu töten. Mit einer Pistole.

Jetzt lasst doch mal die Barbara in Ruhe, hatte das Fräulein Bodmer gesagt, die zum ersten Mal Lehrerin war und so lieb, dass Barbara sie immer anschauen musste und dann träumen konnte. Von einer Mutter, die wie sie wäre. Die ihr abends über die Haare streicheln würde, die ihr morgens ein Butterbrot mit Käse auf den Tisch stellen würde und warmen Kakao und ihr einen schönen Tag wünschen würde, und am Sonntag Enten füttern, und wenn sie Fieber hätte, würde sie ihr Wadenwickel machen und vorlesen, mein Kind, ich hab dich lieb, du wirst wieder gesund, das wird schon, jetzt ruh dich aus.

Das sagen Mütter doch.

Früher, bevor sie in die Schule kam, dachte Barbara noch, dass sie und die Mutter ein Paar wären, nur wir zwei, Mama. Die Mutter weinte manchmal, und Barbara tröstete sie. Einmal an Weihnachten heulte sie den ganzen Abend, trank den Eierlikör leer, den sie in der Adventszeit selber gemacht hatte, und als sie alle Kerzen ausgeblasen hatte, sagte sie, magst bei mir schlafen, Kleine?

Das waren die schönsten Weihnachten gewesen.

Seit Barbara Grubners Opel und die zugezogenen Vorhänge gesehen hatte, dachte sie viel an Grubner. So viel, dass sie Halsweh bekam. Die Wut hatte sich auf ihre Lymphknoten gezurrt und war dort gefangen. Sie konnte kaum noch schlucken, der Arzt meinte, es sei nichts zu sehen, die Mandeln seien auch nicht angeschwollen. Dass ihre Stimme versagte, könne eine Überforderung der Stimmbänder sein oder psychisch.

Bsüchisch. Die Mutter lachte.

Sie solle eine Weile lang nicht reden, und wenn, dann nur flüstern, sagte der Herr Doktor.

Die Mutter meinte, die redet ja eh nicht viel, da macht es keinen Unterschied, ob sie flüstert. Die sei immer schon so verstockt gewesen. Sie wissen ja, es ist nicht einfach, so ohne Vater.

Die Mutter sagte das Wort, das Barbara nie aussprechen durfte, es wanderte aus ihrem Schlund hinüber zum Herrn Doktor und wurde nicht mit Blicken ausradiert. Nur die Mutter durfte Vater sagen, dabei war es doch ihrer. Ihr Vater. Nicht Mutters.

Der Arzt sagte zur Mutter, und ein bisschen weniger Zucker, Frau Köbel. Sie wissen schon, was man als Kind zu viel auf den Rippen hat, das wird man nicht mehr los.

Er starrte auf Mutters Busen.

Auf dem Nachhauseweg zog die Mutter sie am Arm. Sie kniff sie dabei, als würde sie sie abführen. Als wäre Barbara die Täterin. Eine richtig üble Person. Eine, die man nicht lieben konnte. Die man wegwerfen sollte wie eine Puppe ohne Augen. Jede Entgegenkommende wurde von der Mutter freundlich begrüßt, der Griff wurde enger. Barbara hatte Tränen in den Augen. Der Bürgersteig verschwamm. Als die Mutter sah, dass sie weinte, blieb sie stehen, stellte sich vor sie und presste so fest am Oberarm, dass es richtig wehtat.

Reiß dich zusammen!

Barbara versteckte nun auch noch die Tränen irgendwo im Körper, in der Taille, da würden sie wie ein Rettungsring liegen und ein bisschen wabbeln.

Der Rettungsring füllte sich schnell.

An einem Sonntag nach dem Essen, als alle im Dorf satt auf ihren Sofas lagen und dem Nachmittag entgegenschliefen, als keine Kirche, kein Jubiläum, kein Verein nach ihrer Zeit grapschte, ging Barbara in den Wald. Zum Hochstand wollte sie, der Grubner war daheim bei der Mutter auf dem Sofa und rülpste den Rehbraten in die Luft.

Sie sah hinauf, stellte sich den Jäger vor, wie er durch sein Rohr blinzelte und auf die Tiere zielte und vielleicht sogar ihre Augen sah, ihre offenen Augen, die langen Wimpern, das Moorbraun der Iris, und ganz ruhig den Zeigefinger anzog und abdrückte und die Tiere tot machte. Die vorhin auf dem Teller in braunroter Sauce geschwommen waren. Barbara hatte nur die Knödel und das Kraut gegessen, und die Mutter hatte geschimpft, das sei das beste Fleisch, so frisch und rein und ohne Fett und vom Rainer höchstpersönlich getroffen. Sie hatte getroffen gesagt. Nicht ermordet, nicht erschossen, nicht ausgeweidet, nicht abgehäutet.

Getroffen. Und dabei hatte sie ihn angelächelt, den Mann.

Der Grubner hatte auch schon Bäume angeschossen, weil er auf alles schoss, auch grundlos. Barbara hatte die Löcher gesehen, sie waren weit unten im Baum, so nah, dass sie die Wunden im Stamm berühren konnte und sachte draufatmete und Heileheilesegen flüsterte. Der Baum machte es wie sie: Er bewahrte die Kugel im Inneren und ließ die Rinde darüberwachsen. Ein geübtes Auge konnte sie bis ans Lebensende sehen.

Aber geübte Augen waren selten. Schusswunden häufig. Sie rüttelte an der Leiter. Nichts wackelte. Mannstarke Arbeit. Sie trat dagegen, der Hochsitz ächzte ein wenig. Sie stellte sich vor, wie sie mit einer Säge die vier Beine ansägen würde, so, dass man es nicht sehen könnte, und er würde mit seiner Knarre raufklettern und alles würde zusammenbrechen und fürchterlich Krach machen. Bestimmt würde sich ein Schuss lösen und ihn treffen. Mitten ins Herz. Das gehörte sich für einen Grubner.

Barbara nahm Tritt für Tritt, guckte nur nach oben, nicht nach unten, der Schwindel zupfte an ihrem Zwerchfell, wollte sie abhalten weiterzuklettern, was tust du da, du Dickerchen, nicht, dass alles zusammenkracht wegen dir.

Außer Atem griff sie beim Häuschen oben nach der Tür, zog sie auf und schaffte es, sich auf die Bank zu setzen, die Tür wieder zu schließen.

Und nun sah sie, was er sah. Die Blätter, die Äste, die Erde weit unten. Losgelöst. Der Himmel nur fetzenhaft zwischen dem Laub der Buchen.

Es ekelte sie, dass sie die Stelle Holz berührte, auf die er sein Hinterteil presste, bevor er abdrückte. Sie verlagerte ihr Gewicht, um nicht zu viel Kontakt zum Brett zu haben.

Es war unendlich ruhig. Da bewegte sich im Dickicht unter ihr das Reh, es musste vom Tisch hierhergeflüchtet sein, es sah noch frisch aus und rein und ohne Fett und ohne Kugeln im Herzen.

Barbara hielt still.

Sie bebte. Eine Art Muskelkrampf ließ alles an ihr vibrieren. Sie klammerte sich an die Holzplanke vor ihr. Es war, als wäre sie Grubner, als würde sie sein Gefühl spüren, wenn er hier saß, erregt von der Lust zu töten und das Gewehr aufs Ziel gerichtet.

Das Reh verschwand. Leise hüpfhüpfhüpf durchs Geäst.

Sie spürte, wie Warmes zwischen ihren Schenkeln floss. Sie griff sich in ihre Hose. Rote Finger. Der erste Schub wie immer eine Flut. Andere Mädchen in ihrer Klasse hatten die unreinen Tage ein bisschen, sie hatte sie vom ersten Tag an, als würde sie daran sterben wollen, als wäre sie verletzt und nicht mehr zu retten. Was irgendwie auch stimmte.

Sie suchte nach einem Taschentuch, fand ein zerknittertes in der Hosentasche. Sie hob vorsichtig ihr Gesäß, presste das Taschentuch mit der rechten Hand in die Unterhose, mit der linken hielt sie sich fest. Sie sah, dass das Holz einen dunklen Fleck bekommen hatte. Eine Markierung.

Sie stand auf, öffnete die Hose, schob sie runter, dann die Unterhose bis in die Kniekehlen, setzte sich mit ihrem nackten Fleisch auf die Holzbank. Sie spürte, wie sich das faserige Holz vollsog mit ihren Säften.

Sie ließ sich Zeit, putzte sich mit dem Taschentuch zwischen den Beinen, warf es hinunter, es fiel langsam, wie in Zeitlupe, ohne Eile, immer mit der Ruhe, fast so, als würde es den freien Fall auskosten und landete schliesslich auf einem Brombeerbusch oder so, sie konnte es nicht genau erkennen.

Sie zog sich wieder an und kletterte behutsam auf den Waldboden hinunter. Sie beugte sich zur Seite, der braunrote Fleck war nur zwischen den Beinen an der Hose zu sehen. Sie zog ihre Jacke aus und wickelte sie um ihre Hüften. So würde niemand etwas bemerken. Das verfärbte Taschentuch hing wie eine Trophäe in den Brombeeren. Sie ließ es dort.

Mit Grubner solle man sich nicht anlegen, hieß es im Dorf. Der und seine Waffen. Und Geld hatte er, woher auch immer. Der nahm sich, was er wollte. Und ein Mundwerk und ein Lachen hatte der, das jeden klein machte.

Er würde in ihrem Blut sitzen. Und in ihrem Pipi.

Als sie nach Hause kam, schlich sie ins Bad, wusch die Hose mit kaltem Wasser und Gallseife, zum Trocknen hängte sie sie vors Fenster ihres Zimmers. Die Mutter durfte nicht wissen, was passiert war.

Barbara verzog sich auf ihr Bett, hörte Kassetten und bemerkte nicht, wie die Mutter ins Zimmer torkelte. Ihre Lippen nicht mehr so rot wie vor dem Essen. Sie tanzte, Barbara musste wegsehen. Die Mutter ließ sich aufs Bett sinken, ihr Becken berührte dabei Barbaras Fuß, sie zog ihn zurück. Die Mutter lachte und griff nach Barbaras Hand.

Komm, wir tanzen, was hörst du denn da, mach lauter! Sie zerrte an Barbaras Hand, steh auf, stell dich nicht so an, komm, wir sind jung.

Ihre Hand rutschte aus Barbaras Hand, die Mutter fiel rückwärts mit dem Kopf ans Nachtkästchen, der Kassettenrecorder zu Boden. Kein Viva España mehr.

Danach schlug die Hand Barbara ins Gesicht, und die Mutter sagte, der Rainer, der wolle mit ihr zusammenziehen, sobald Barbara weg sei.

Wenig später richtete sich Barbara in einem kleinen Zimmer über der Bäckerei ein. Damit sie nicht immer so früh rausmusste. Die Lehrmeisterin zog ihr die Miete direkt vom Lohn ab, auch das Essen. Sie bekam noch fünfzig jeden Monat. Bar auf die Hand. Drei Jahre lang. In ihrer Kasse lagen 1480. Barbara konnte gut sparen. Mit allem.

Die Mutter sah sie nur noch selten, am Geburtstag, auf einen Eisbecher beim Italiener im größeren Dorf neben dem alten Dorf.

Schmeckt’s?

Lecker.

Und sonst?

Kann nach der Lehre in der Bäckerei bleiben. Die behalten mich. Und du?

Ich fahr nach Italien mit Rainer. Das ist jetzt offiziell.

Barbara aß ihr Eis.

Die Mutter fragte, freust du dich denn nicht? Vielleicht heiratet er mich. Dann wäre alles gut. Ein echter Gentleman. Er ist ganz anders, seit du weg bist. Und gut gestellt. Hat jetzt einen Mercedes.

KUCHEN OHNE GUSS

Als Isa neu in die Stadt gekommen war, verbrachte sie die meiste Zeit bei Ikea und dann bei sich daheim auf dem Boden. Sie schraubte Regale, Bett, Sofa, Tische, Stühle zusammen, die Kartons versteckte sie im Keller auf Nimmerwiedersehen und verarbeitete kilometerlange Vorhänge, deren Säume sie mit Klebeband festbügelte. Es wurde alles genau so, wie sie es geplant hatte.

Ganz anders als sie selbst. Sie war ein Ausversehenkind. Kein so angepasstes Wunschkind wie ihre jüngere Schwester und die vier Brüder danach, sondern ein wild gezeugtes Wesen nach einer durchkifften Nacht im Sommer vor dreiundzwanzig Jahren, als Ulrike und Ulrich am Lagerfeuer ihren Abschluss als Sozialarbeiter feierten, ihre Namen änderten in Uli und Ulizwo, weil Uli als Frau an erster Stelle stehen musste und der Mann an zweiter. Der Ulizwo eben. Euch alle gibt es nur wegen mir, sagte Isa ihren fünf Geschwistern, wenn sie sie ärgern wollte und sich wie immer fehl am Platz fühlte.

Als sie sagte, sie werde Bürokauffrau und ziehe weg, sahen ihre Eltern sie an, als wäre sie nicht selbst gemacht.

Ich werde mir die Nägel lackieren, Zehnfinger lernen und nicht mehr nach Land riechen.

Ihre erste eigene Wohnung. Sie sollte aussehen wie auf Seite 28