Sal - Mick Kitson - E-Book

Sal E-Book

Mick Kitson

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Beschreibung

Zwei Mädchen verstecken sich in den schottischen Highlands. Sal ist 13, und sie weiß, wie man ein Kaninchen abzieht, ein Feuer macht und einen Unterstand baut, schließlich hat sie sich genug YouTube-Videos angeschaut und die Flucht in die Wildnis von langer Hand geplant. Jetzt muss sie zeigen, dass sie sich und ihre kleine Schwester Peppa durchbringen kann. Sal ist zwar selbst noch ein Kind, doch als ihre kleine Schwester Peppa zehn Jahre alt wird, weiß sie genau, was sie tun muss: Sie muss sie vor dem Freund ihrer Mutter schützen, denn in diesem Alter hat es bei ihr angefangen. Ein Jahr hat sich Sal auf die Flucht vorbereitet, und nun versteckt sie sich mit ihrer kleinen Schwester Peppa bestens ausgerüstet im Wald. Die Einzige, die weiß, wo sie sind, ist die Deutsche Ingrid, die ebenfalls in der Natur lebt. Doch wer sagt, dass Hexen immer böse sind? Ein Roman über die Liebe zwischen zwei Schwestern, die Verantwortung, die Kinder schon in jungen Jahren auf sich nehmen, die Schönheit der schottischen Landschaft und das Überleben in der Natur.

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Seitenzahl: 379

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Mick Kitson

Sal

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Mick Kitson

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung1 Fallen2 Schüsse3 Haken4 Schnee5 Vögel6 Stadt7 Ingrid8 Fieber9 Pilze10 Camp11 Essen12 Magna Bra13 Skier14 Auto15 Frost16 Nebelstreifen17 Nebel18 Zu HauseDanksagung
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Für meine Eltern Babs und Terry Kitson

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1Fallen

Peppa sagte, »kalt«, und dann war sie kurz still. Und dann sagte sie, »kalt, Sal. Mir ist kalt.« Sie sagte es still und leise und flüsternd. Nicht wie sonst. Ich machte mir Sorgen, sie könnte sich unterkühlt haben. Ich habe mal was darüber gesehen, wie man bei Hypothermie ganz langsam und still wird. Darum fasste ich an ihr runter, aber ihr Rücken war warm, und ihr Bauch war auch warm. »Lass den Lesbenkram, du Pädo.« Und da wusste ich, dass sie sich nicht unterkühlt hatte.

Aber es war kalt. Die kälteste Nacht, seit wir hier waren. Ich wusste von meinem Kompass, dass der Wind jetzt aus Norden kam, und unser Schrägdachunterschlupf ging nach Südosten, weil die Hauptrichtung hier Westen ist. Darum zog der Wind von oben rein, wo wir uns auf Fichtenzweige gelegt hatten. Peppa hatte keine Mütze. Wenn wir erst mal ein Kaninchen gefangen hätten, würde ich ihr eine machen, aber ich hatte die Fallen noch nicht aufgestellt. Ich nahm meine Mütze ab und setzte sie ihr auf.

»Besser?«, flüsterte ich in ihr kleines Ohr. Aber da war sie schon wieder eingeschlafen. Ich war dafür wach und machte mir ein bisschen Sorgen. Früher habe ich das Sorgenmachen immer mit dem Timer auf meinem Handy gestoppt. Meist zehn Minuten jeden Morgen, aber in den letzten Wochen waren es mehr gewesen, weil es so viel auszutüfteln und zu planen gegeben hatte, bevor wir abgehauen waren. Ich versuchte, die Uhrzeit zu schätzen. Ich spürte, dass es bald dämmerte. Licht sah man noch keins, aber ich spürte was. Ich kann fast immer sagen, wie spät es ist. Wie, weiß ich nicht, aber früher war es wichtig, die Uhrzeit zu wissen. Zum Beispiel, weil Maw und Robert abends immer kurz nach elf zurückkamen, und nachdem ich das Schloss in Peppas Tür eingebaut hatte, überprüfte ich immer, dass ihr Zimmer abgeschlossen war und sie drinnen schlief, bevor die beiden kamen.

Sie wussten nicht mal, dass ich die Tür mit einem Schloss versehen hatte. Wussten nicht, dass ich bei B&Q einen winzigen Akkuschrauber und zwei Stecheisen geklaut hatte. Die Warensicherungsetiketten hatte ich mit einem Nagelknipser abgeschnipst. Und das Einsteckschloss hatte ich im großen ASDA gekauft und mir auf YouTube fünf Videos angesehen, bevor ich es einbaute. Sie bemerkten nicht mal die winzigen Löcher, die ich für das Schloss gebohrt hatte, die Farbe an den Türen unserer Wohnung war sowieso abgeplatzt und aufgeschrammt. Der Schlüssel steckte auf Peppas Seite. Robert wäre nicht reingekommen, wenn er es versucht hätte. Hatte er aber nie. Wenn ich an meiner Tür ein Schloss angebracht hätte, hätte Robert die Tür eingetreten und Peppa geweckt. Maw hätte er nicht geweckt, denn wenn sie erst mal betrunken weggepennt war, weckte sie nichts.

Zu der Zeit hatte er noch nicht angefangen, zu Peppa ins Zimmer zu gehen, aber das hätte er bald, das wusste ich, weil er es gesagt hatte und weil Peppa zehn war und er da bei mir auch damit angefangen hatte.

Und so beschloss ich, mir zehn Minuten zum Sorgenmachen zu nehmen. Ich wusste, bald würde es hell werden. Im Survival-Handbuch des Special Air Service steht, bei einem Schrägdachunterschlupf soll man an der offenen Seite ein Feuer machen, das so hoch ist wie man selbst, und dann mit Stöcken eine Wand dahinter bauen, die die Wärme reflektiert. Das hatte ich noch nicht gemacht, weil ich nicht sicher war, ob wir wirklich an der Stelle bleiben würden. Aber sie war okay. Sie war einigermaßen eben, lag ein Stück oberhalb vom Bach und ringsrum standen überall hohe Birken. Zwischen zwei von denen hatten wir die Tarp-Plane für den Unterschlupf gespannt. Das Tarp war tarnbraun und -beige und hier und da weißgelb gesprenkelt wie für Wüsten. Aber es erfüllte seinen Zweck, als ich nämlich ein Stück in den Wald lief und zwischen den Bäumen nach unten schaute, sah man es nicht.

Außer man wusste, dass da jemand war, denn ich hörte, wie Peppa rief: »Sal … komm her, guck doch mal!« Da saß eine Kröte, und Peppa streichelte sie, und ich sagte: »Die hat Gift am Rücken, damit die Raubtiere sie nicht fressen.«

»Ich fresse sie nicht, Sal«, sagte Peppa. »Könntest du die essen? Ich will sie nicht essen. Ich baue ihr ein Haus.« Und dann baute sie für die Kröte ein kleines Haus aus flachen Steinen und Kieseln und setzte sie hinein. Sie sagte, sie würde sie Connor nennen, nach einem Jungen aus ihrer Schule, den sie gernhatte.

Ich machte mir Sorgen wegen dem Feuermachen und ob es Leute sehen würden, nicht so sehr tagsüber, aber abends. Wenn das Holz trocken ist, macht ein kleines Pyramidenfeuer nicht viel Rauch; nur wenn das Holz feucht ist oder zu frisch, raucht es sehr. Außerdem trägt der Wind den Rauch woandershin. Außerdem waren wir in der Last Great Wilderness von GB und genau dreizehn Kilometer von den nächstgelegenen Häusern und ungefähr sechseinhalb Kilometer von einem Forstweg und acht Kilometer von der Straße entfernt. Ich hatte die Stelle auf einer Karte des Ordnance Survey rausgesucht, die ich aus der Bibliothek geklaut hatte, wo es vom Ordnance Survey alle Karten der Britischen Inseln gibt. Wir waren genau achthundert Meter im Wald hinter einem Hügelkamm, der sich bis zu einem Gipfel von fast 914 Metern hochzieht. 8,5 Meter mehr, und der Berg wäre ein Munro, und es würde hier von Kletterern und Wichsern in Regenjacken nur so wimmeln.

Auf dem Gipfel gibt es keine Bäume, dafür aber laut Karte einen Steinkreis. Der Name des Bergs ist irgendwas Gälisches, und als ich Mrs. Kerr danach gefragt hatte, hatte sie gesagt, man würde es Magna Bra aussprechen. Magna Bra. Ich erzählte Peppa davon, und sie wollte dahin, weil ich ihr erzählte, dass Magna Lateinisch war und groß hieß, und sie war ganz aus dem Häuschen, hüpfte herum und reimte fröhlich: »Großer BH … großer BH.« Sie ist ein kleines Aas mit schmutziger Phantasie und muss auf ihre Wortwahl aufpassen.

Aber nachts würde man aus der Ferne das Feuer sehen. Nicht da, wo das Tarp war, aber auf der anderen Seite. Darum dachte ich, wenn ich die Reflektorwand baue, von der im Handbuch die Rede ist, dürfte das nachts den Lichtschein nach Osten verdecken. Ich wusste nicht, aus welcher Richtung sie kommen würden, wenn sie hier rauskämen, um uns zu suchen, aber Osten war ziemlich wahrscheinlich. Die Fernstraße lag östlich von uns, und die würden sie nehmen, wenn sie hier rauskämen. Aber wieso sollten sie uns hier vermuten oder wissen, dass wir hier waren?

Nach dem Sorgenmachen beschloss ich, später am Tag die Reflektorwand zu bauen und Fallen aufzustellen. Wir hatten noch genug Essen für zwei Tage, schätzte ich. Oder drei, wenn nur Peppa was aß und ich nicht. Darum mussten wir Fallen aufstellen und jagen. Ich hatte Roberts Luftgewehr dabei. Es war kurz, und man pumpte es auf. Zum Schießen brauchte man 5,5-mm-Diabolos, und ich hatte zwei Blechdosen voll mit. Peppa wollte ich das Gewehr noch nicht geben, nicht dass sie sich oder mich aus Versehen erschoss. Aber ich war eine gute Schützin. Ich hatte in der Wohnung im Flur geübt und gelernt, wie man an dem Parabellum das Visier für weit entfernte Ziele einstellte. Drei Tage, bevor wir abgehauen waren, hatte ich mir auf YouTube auch ein Video dazu angesehen. Nach siebenmal pumpen durchlöcherte man 9 mm dickes Sperrholz. Ich hatte das Luftgewehr in einer Hockeyschlägertasche mit Reißverschluss hergebracht, die ich in der Umkleide in der Schule gefunden hatte.

Langsam wurde es hell. Im Oktober hieß das hier, es war ungefähr 7:20 Uhr. Peppa schlief noch, und ich kroch vorsichtig aus unserem Schlafsack, um sie nicht zu wecken. Das abgefallene Laub war zart gelb und schimmerte, als das Tageslicht durch die Bäume drang. Die Birken schimmerten auch. Birken sind weiß, und für die Wand waren sie garantiert gut, weil Weiß Licht und Wärme reflektiert. Ich blies in die Glut und legte kleine Stöckchen mit verkohlten Enden rein. Über Nacht hatte ich einen ganzen Haufen zum Trocknen auf einen flachen Stein gelegt, und als die Stöckchen brannten, baute ich eine Pyramide drüber. Es knisterte und qualmte, und ich holte den Rost und legte ihn über die Glut und stellte den kleinen Wasserkessel drauf. Wir hatten Teebeutel und H-Milch und Zuckersticks von McDonald’s. Und zwar reichlich. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und schien zwischen den Bäumen durch, und über den Waldboden zogen weiße Dampfwölkchen. Blattränder und Zweige glitzerten vom Raureif, und der Wind hatte nachgelassen, darum stieg ein gerader Rauch zwischen den Bäumen auf. Es war still, bis auf das Zisschhh-Geräusch des Feuers. Dann hörte ich Vögel und das Krächzen der Krähen. Sonst nichts. Kein Motorgrummeln von der Straße, keinen Verkehr, keine Autos. Kein Knallen oder Piepsen. Keinen Fernseher. Kein Geschrei.

Ich hatte vier Schlingfallen aus Draht mit kleinen Schlaufen zum Drahtdurchfädeln und grünen Stricken mit eingekerbten Holzpflöcken dran dabei. Die baut man auf einem Kaninchenpfad auf und lässt sie über Nacht da. Das hatte ich auf einem YouTube-Kanal über Survival gesehen. Es sah leicht aus, und wenn man am nächsten Tag zurückkam, war das Kaninchen tot. Aber es würde mir auch nichts ausmachen, eins zu töten. Ich hatte noch nie eins getötet. Und auch sonst nichts, außer Robert.

Im Video hieß es, man soll die Fallen ein paar Stunden einbuddeln, damit der Menschengeruch abgeht, und darum schob ich die Blätter zusammen, nahm die Fallen aus Peppas Rucksack und deckte sie mit den Blättern zu. Die Fallen hatte ich mit einer von Roberts Kreditkarten in einem Angelladen in der Stadt gekauft. Robert hatte immer Kreditkarten, wenn er von egal wo zurückkam. Ich klaute sie ihm immer, wenn er betrunken schlief.

Mit Maw und Robert war es so, dass sie nie irgendwas mitbekamen. Wenn irgendwas anders oder irgendwo anders war, merkten sie das nicht. Ich wusste, wo alles in meinem Zimmer und im Rest der Wohnung war. Ich wusste, wie viele Tassen wir hatten und wie viele Löffel. Ich wusste, wie viel Milch da war und wie viel Spülmittel. Ich registrierte so was immer. Hatte ich schon als Baby. Ich bekam mit, was etwas war und wo es war, und ich bekam mit, wenn etwas woanders oder anders oder weg war. Maw und Robert merkten nie irgendwas.

Bei Maw war es am schlimmsten. Sogar mit ihren Dosen – sie wusste nie, wie viele sie noch übrig hatte. Ich schon. Ich hatte sie früher immer versteckt, und sie hatte gar nicht mitbekommen, dass da zwei statt drei im Kühlschrank waren. Wenn sie nur zwei trank, ging es ihr manchmal ganz okay. Das hatte ich vor Jahren gemerkt, darum versteckte ich immer ein paar Dosen und ließ ihr nur zwei, und wenn sie kam und eine wollte, sagte ich, du hast nur noch zwei. Und sie sagte dann, ich dachte, ich hätte nen Viererpack, und ich sagte, musst du schon getrunken haben. Und sie sagte, muss ich wohl. Als Peppa anfing, ihr Zigaretten zu klauen, bekam sie das auch nicht mit.

Robert bekam auch überhaupt nichts mit, weil er meist betrunken war oder bekifft oder beides, und obwohl er die Dinge lang anstarrte, bekam er nie mit, wenn was fehlte oder ich zwischendurch was genommen oder gekauft hatte. Roberts Augen waren immer halb zu, wie zusammengekniffen, und sie waren immer rot vom Gras und Alk. Das bisschen vom Weiß, das man sah, war gelb.

Das Tarp und das Jagdmesser und der Rost für den Kessel und sogar Peppas Trekkingschuhe waren alle mit der Post gekommen, alle von Amazon und alle mit den geklauten Karten bezahlt, die Robert immer mitbrachte und in die Nachttischschublade legte. Ich war vorsichtig, wenn ich ihm die Karten klaute oder was aus dem Portemonnaie nahm. Einmal lag er völlig weg auf dem Sofa, und ich versuchte, ihm das Portemonnaie aus der Gesäßtasche zu ziehen, und er wurde halb wach und packte mich am Arm und sagte, »ich hack dir deine Scheißhände ab«, sackte wieder zusammen, und ich holte es mir dann.

Das Einzige, was er im Auge behielt, war ich. »Okay, mein Liebling?«, sagte er immer. Einmal erzählte er einem Typen in der Fish-und-Chips-Bude, ich wäre seine Tochter. Ich wollte sagen, »Scheiße, nein, bin ich nicht«, aber er machte auf Macker, legte mir den Arm um die Schultern und sagte, »das ist meine Sal.« Hätte ich irgendwas gesagt, hätte er es später noch schlimmer für mich gemacht, darum hab ich einfach die Klappe gehalten und den Typen nur angestarrt.

Peppa wachte auf und sagte, »Sal? Ist Connor noch da?« Ich ging rüber und nahm den Stein von dem kleinen Haus. Und die Kröte war noch da. Sie hatte es angenehm feucht in den Blättern und dem Schmadder. Peppa sagte, »jippie«, sprang aus dem Schlafsack und zog die Schuhe an. Sie hatten Vibram-Sohlen, was die besten zum Wandern und Klettern sind, und bei Amazon 84 Pfund gekostet.

Ich glaube, Peppa rennt schneller als irgendwer sonst auf der Welt. Sie hat ganz lange Beine, und sie rennt wie der Wind. Sie rennt schneller als alle Jungen an ihrer Schule, sogar schneller als die älteren. Eigentlich macht sie alles schnell. Sie ist entweder starr wie ein Stein oder richtig schnell. Sie isst schnell, und sie redet schnell.

Peppa isst alles, und sie hat IMMER Hunger. Als wir klein waren, hatten wir oft Hunger, weil Maw weg war oder betrunken oder wir kein Geld hatten, und Peppa ging dann zu irgendwelchen Nachbarn und fragte nach was zu essen. Sie lernte, alles zu essen, nicht wie die meisten Kids, die Salat hassen und nur Pommes wollen.

Aber Peppa bettelte immer in der Fish-und-Chips-Bude um Pommes und fragte die Kids in der Schule wegen was zu essen. Und die Lehrer. Irgendwann sagte ich, dass sie das lassen soll, und besorgte ihr Essen, denn wenn die anderen es weitererzählt hätten, wäre das Jugendamt gekommen und hätte uns mitgenommen. Das Jugendamt nahm ständig Kids mit und trennte dann immer die Geschwister. Darum sagte ich keinem was, und Maw warnte uns, dass sie uns mitnehmen und trennen würden. Also klaute ich oft Essen für Peppa und besorgte ihr Tüten mit Salat und Möhren und einmal eingeschweißte rote Bete, die schon gekocht war, das fand sie super und hörte auf, andere wegen was zu essen zu fragen, und keiner verpfiff uns beim Jugendamt.

Und als Robert bei mir damit anfing, sagte er, wenn ich irgendwem davon erzähle, selbst Maw, würden sie uns holen und trennen. Er sagte, Peppa würde dann in eine Pflegefamilie kommen und von Afrikanern adoptiert, weil sie zur Hälfte Afrikanerin ist, und ich würde von alten Leuten adoptiert, und wir wären nicht mehr zusammen. Aber so weit wird es nie kommen.

Wenn man in der Wildnis überleben muss, ist es gut, wenn man wie Peppa alles isst, aber nicht gut, wenn man wie sie immer Hunger hat. Peppa sagte, »ich bin am Verhungern, Sal«, und ich gab ihr ein bisschen Dundee Cake und vier belVita-Kekse und sagte, »wir fangen Kaninchen«, und sie sagte, »zum Essen?«, und ich sagte, »ja«, und sie sagte, »na gut.«

Sie sah unter dem Stein nach, wie es Connor ging, und nahm die Kröte hoch, und sie saß in ihrer Hand, und Peppa redete mit ihr. Sie erzählte ihr, wie sie hieß und wie ich hieß und wo wir herkamen und warum wir im Wald waren. Dann setzte Peppa die Kröte wieder in ihr kleines Haus und zog die Helly Hansen an.

Kaninchen machen keinen Winterschlaf, und im Galloway Forest gibt es richtig viele. Sie haben ihren Bau meist am Fuß von Hügeln und Hängen, wo Büsche und Gras wachsen. Gras essen sie am liebsten, nicht Möhren oder Salat wie Peter Rabbit im Fernsehen. Es war Herbst, und auf den meisten Seiten stand, dass sie in dieser Zeit aktiv sind und man im Gras nach Pfaden Ausschau halten muss, um die Fallen dann dort aufzustellen. Ich hatte noch nie eine Falle aufgestellt oder ein Kaninchen ausgenommen oder gehäutet, aber ich hatte es tausendmal auf YouTube gesehen.

Ich holte die Fallen unter dem Blätter- und Matschhaufen hervor und steckte sie in meine Jackentasche. Mein Messer trug ich in einer Scheide am Gürtel.

Vom Camp aus folgten wir dem Bach bergab und kletterten über Felsen auf die andere Seite und dann einen Hang hinauf, wo der Wald lichter wurde und es Gras und Farne gab. Peppa rannte. Die Farne waren schon ein bisschen braun, ragten aber noch immer in die Höhe, und Peppa verschwand darin, und ich sah ihre roten Haare in einer Lücke aufblitzen. Ich suchte den Boden nach Spuren ab. Da waren Pfade von Tieren, und im Matsch waren Fährten von Rehen und anderen Tieren, die ich später im Survival-Handbuch eines ehemaligen Special-Airforce-Typen nachschlagen wollte. Wir gingen weiter bis zu einer ebenen Stelle, und dahinter kam noch ein steiler Hang bis runter zum Ufer vom Loch. Peppa raste den Hang nach unten, und ich wollte sie noch aufhalten, damit sie nicht irgendwas aufscheuchte, aber wenn sie rannte wie jetzt, dann hielt nichts und niemand sie auf. Ich hatte sie schon ein paarmal so lossausen und über Stämme und farnbewachsene Stümpfe springen sehen, flink und geschmeidig wie ein Flummi. Plötzlich blieb sie auf halbem Weg stehen und rief, »Sal!«

Ich ging zu ihr, wo sich der Wald lichtete und fast nur noch alte Birken und Eichen standen, manche mit mächtigen Ästen, stärker als ich, die bis aufs Gras runterreichten. Sie wartete an einem großen grauen Felsen, der sich durchs Gras nach oben gebohrt hatte, und zeigte auf eine Stelle davor. »Guck mal«, sagte sie.

Da waren Kaninchenlöcher, gleich drei, und überall Köttel. Als ich mich umsah, entdeckte ich noch mehr, manche weiter oben bei einer Eiche, und die Eingänge waren mit Grasbüscheln getarnt. Insgesamt waren es neun, manche waren unbewohnt, ohne Köttel, und vor anderen lag frische Erde vom Buddeln. Ich sah Pfade, die von den Eingängen wegführten, schmale, hellere Dellen im Gras. Fast alle führten den Hang runter zum Loch. Je weiter man nach unten kam, desto grüner und dichter wurde das Gras und desto lichter standen die Bäume und Farne.

»Das ist ein Kaninchenbau«, sagte ich.

»Dann stell die Fallen auf«, sagte Peppa.

»Man darf die Fallen nicht vor dem Bau aufstellen, dann gehen sie drum rum. Bear Grylls hat gesagt, dass man den Kaninchenpfad langgehen soll und die Fallen weit weg vom Bau aufstellen muss.«

»Die Folge hab ich gesehen«, sagte sie. »Und er hat überhaupt keins gefangen, der Wichser! Er musste sich ein Kaninchen kaufen, um es zu grillen.«

Sie hatte recht, aber er wusste Bescheid, weil er beim Special Airforce Regiment gedient und schon überall überlebt hatte und in Sümpfe und gefrorene Seen gesprungen war, obwohl er es nicht gemusst hätte. Ein Wichser war er trotzdem, was wahrscheinlich daran lag, dass er versnobt und Engländer war. Die meisten von den Survival-Typen im Fernsehen sind versnobt und Engländer, Ray Mears und Ed Stafford zum Beispiel, und die meisten versnobten Engländer sind Wichser. Aber ich hatte ein Bear-Grylls-Messer von Amazon, und das war genial, genau so eins mit Vollerl-Klinge, wie er es benutzte.

»Peppa! Du sollst nicht Wichser zu Bear sagen«, sagte ich.

Und sie sagte nur, »Wichser«, und raste den Hang runter.

Ich wählte einen der Pfade aus und folgte ihm durch noch mehr braune Farne. Immer wieder schaute ich zurück zum Felsen, und nach ungefähr fünfzig Metern kam ich zu einer Stelle, wo nur Gras wuchs, und zwar dieses samtig hellgrüne Gras mit den dicken Halmen, und der Kaninchenpfad führte mitten hindurch. Dann hörte ich Peppa »Kaninchen« rufen und sah, wie sie wieder zu mir raufrannte, einem hinterher. Sie scheuchte es durch die Farne zu mir auf die Lichtung und hatte es schon fast eingeholt, als es mich sah und einen Haken schlug. Peppa machte dieses Gesicht, das sie beim Rennen immer macht, wenn sie sich auf die Unterlippe beißt und sie dann mit der Zunge ausstülpt. Als das Kaninchen auswich, wollte sie auch die Richtung ändern, aber sie war zu schnell und fiel hin, purzelte in die Farne, und es knackte und knirschte. »Mistvieh«, sagte sie.

Ich sagte, »Peppa, lauf mal zu dem Baum da und hol mir ein paar Äste«, und sie rannte hoch zu einer Eiche. Die Äste braucht man, damit die Schlinge offen bleibt, und außerdem muss die Schlinge genauso hoch hängen wie der Kaninchenkopf, also ungefähr eine Handbreit über dem Boden. Ich nahm die erste Falle aus der Tasche und beschmierte sie mit ein bisschen Schlamm, damit sie nicht so nach Mensch roch, aber eigentlich haben Kaninchen sowieso keinen so ausgeprägten Geruchssinn wie Ratten oder Fledermäuse, dafür aber ein gutes Gehör und ein Klopfzeichensystem, mit dem sie sich gegenseitig warnen. Sehen können sie auch gut, darum wickelte ich lange Grashalme um den glänzenden Messingdraht, so war er besser getarnt.

Peppa kam mit den Ästen angerannt, und ich bohrte sie in die Erde und spannte die Schlinge über den ganzen Pfad und hämmerte dann mit dem Messerknauf den Holzpflock rein. Peppa fragte, »und damit fangen wir eins?«, und ich sagte, »ja, wir müssen die Falle über Nacht stehen lassen, aber damit fangen wir eins.«

Und das glaubte ich auch, weil wenn man fest an was glaubt, schafft man es, darum muss man aufpassen, was man glaubt. Ich hatte fast ein Jahr lang fest daran geglaubt, dass ich Robert stoppen und Maw in Sicherheit bringen könnte, und dann hab ich’s geschafft.

Wir stellten noch drei Fallen auf, eine auf dem Pfad, dem wir nach unten gefolgt waren, und dann noch zwei auf einem anderen Pfad parallel zum Loch. Dann gingen wir von da weg, wo ich die Kaninchen vermutete, damit wir sie den Hang nicht wieder runter zum Loch trieben.

Peppa sagte, »na los, ab nach unten zum Loch«, und dann rannte sie zwischen den Farnen und Bäumen in Richtung Wasser. Ich versuchte zu schätzen, wie viele Meter der Loch entfernt war. Ich schätzte auf ungefähr siebzig, und ich wusste, meine Schrittlänge beträgt neunzig Zentimeter, weil ich das mal gemessen habe. Also rechnete ich aus, dass ich, wenn ich siebenundsiebzig Schritte gerade runtermachte, ungefähr auf siebzig Meter kam. (Man teilt 7000 Zentimeter durch 90, und das sind ungefähr 77,7.) Das ist eine von den Sachen, die ich gelernt habe, Entfernungen schätzen, und ich bin gut in Mathe und habe das Einmaleins drauf und kann Zahlen im Kopf teilen. Wenn ich muss, kann ich ausrechnen, wie weit was weg ist oder wie lang es dauert, bis es bei mir ist, und das ist wichtig fürs Überleben in der Wildnis. Ich machte siebenundsiebzig Schritte gerade runter und kam damit bis zum Ufer und dem kleinen Strand mit den flachen Steinen, und von da, wo ich zum Schluss stand, waren es bis zum Wasser noch ungefähr fünfzig Zentimeter, das war also gar nicht mal schlecht.

Der Loch war länglich und bog um die Kurve, sodass man vom Strand, anders als von oben am Hang, das Ende nicht sehen konnte. Überall sonst gingen die Bäume bis runter zum Wasser, nur nicht an der Stelle, wo wir standen. Stattdessen war hier ein kleiner Strand, und wenn ich mir die Neigung von dem Hang hinter mir ansah, schätzte ich die Wassertiefe in drei Meter Entfernung vom Ufer auf anderthalb Meter, aber wirklich genau konnte man es nicht sagen, weil in den Felsen unter Wasser vielleicht Löcher oder Gräben waren und das Wasser dort dann sicher tiefer war. Der Loch lag still und starr. Der Nordwind war seit dem Morgen abgeflaut, und die Wasseroberfläche sah aus wie eine Glasscheibe oder auf Hochglanz polierter Stahl. Das Wasser war gelbbraun, aber weit draußen ganz klar, weil es in der ganzen Region schon seit drei Wochen kaum geregnet hatte. Das hatte ich jeden Tag nachgeschaut, bevor wir abgehauen waren.

Peppa turnte drei Meter vom Ufer entfernt auf einem Felsen rum, zu dem sie über ein paar Steine im Wasser gelangt und dann hochgesprungen war.

»Mach dir nicht die Schuhe nass«, sagte ich.

»Mach ich nicht. Hey, Sal, hier sind Fische … so kleine gestreifte.«

Es war eigentlich nicht schlimm, wenn sie ihre Schuhe nass machte, weil die aus Goretex waren, das nicht nur wasserdicht, sondern auch atmungsaktiv ist, aber wenn oben Wasser reingekommen wäre, hätten wir sie am Feuer trocknen müssen, weil man sonst vielleicht Fußpilz oder irgendeine andere Pilzinfektion bekam und es gefährlich war, sie weiterzutragen. Mit Infektionen mussten wir vorsichtig sein, das hatte ich ihr gesagt.

Genauso bei kleinen Schnitten und Schürfwunden, weil ich nur die vier Amoxicillin-Tabletten aus dem Badezimmerschrank dabeihatte. Mein Erste-Hilfe-Set bestand aus Pflaster, Jod, Watte, zwei Binden, Sicherheitsnadeln, einer Schere, Salvon-Wundsalbe und ein paar Pillen Antidepressivum mit dem Namen Citalopram 30. Ich dachte, wenn Peppa wie Maw depressiv würde, würden sie uns vielleicht helfen. Bei Maw hatten sie nie groß geholfen, aber das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass sie ständig betrunken war und Tabletten dann nun mal nicht wirken. So wie man keinen Alkohol trinken darf, wenn man Antibiotika nimmt, weil der Alkohol verhindert, dass das Antibiotikum die Bakterien tötet, die Schuld an der Infektion sind. Aber wir hatten keinen Alkohol dabei und würden auch keinen kaufen, weder für medizinische Zwecke noch für sonst irgendwas.

Ich hatte auch ein paar Paracetamol und Ibuprofen und Codein dabei, was die besten Schmerzmittel sind, die man ohne Rezept kriegen kann, falls sich eine von uns verletzte oder den Knöchel verstauchte oder ich meine Regel und Regelschmerzen bekommen würde. Die Periode hatten wir in Klasse sechs behandelt, und ich war dreizehn, also in dem Alter, in dem man sie meist bekommt. Ich hatte sie noch nicht, aber beim Survival geht es vor allem darum, dass man auf potenzielle Probleme vorbereitet ist. Davon abgesehen konnten wir zur Wunddesinfektion auch das Torfmoos nehmen, das hier überall wuchs, so haben sie das im Ersten Weltkrieg gemacht.

Die kleinen Fische waren Barsche. Auf Gälisch hieß der Loch so was wie Dubna Da, und es gab hier Hechte, Barsche, Forellen und Aale. Wir wollten versuchen, die alle mit der Spinnrute zu angeln, die ich Robert geklaut hatte. Wahrscheinlich hatte der sie auch nur geklaut.

Es war eine Spinnrute zum Ausziehen mit einem Schraubrollenhalter und einer Stationärrolle von Shimano mit einer 0,22-mm-Schnur. Ich hatte noch mehr Zeug zum Angeln dabei. Haken Größe 10 und 12, 0,40-g-Bleischrot und eine Tüte mit Spinnern und Blinkern für Forellen, die ich im Angelladen geklaut hatte. Außerdem noch zwei Wobbler und drei Stahlvorfächer, die man für Hechte braucht, damit sie die Schnur nicht durchbeißen.

Robert war im Sommer manchmal zum Makrelenangeln an den Damm runtergegangen und einmal mit dreien zurückgekommen. Maw hatte gekreischt, und er hatte keine Ahnung gehabt, wie das mit dem Ausnehmen und Zubereiten ging, und nur dagestanden und Maw damit vor der Nase rumgefuchtelt, und sie hatte gekreischt und gesagt: »Hau ab mit den Dingern.«

Darum hatte ich mir einen YouTube-Film angesehen, sie ausgenommen und mit Salz und Pfeffer in den Ofen geschoben, und Peppa und ich hatten sie verputzt, während Maw und Robert im Fishermen’s gewesen waren. Die Makrelen hatten zart und saftig geschmeckt.

Die Sonne stand jetzt richtig hoch und wärmte uns, und Peppa hopste auf den Steinen zum Strand zurück, zog ihre Helly Hansen aus und pfefferte sie hin. Dann sprang sie aufs Gras und riss es aus und sammelte Kiesel und Steinchen.

Peppa ist fast so groß wie ich, dabei ist sie erst zehn, und ihre Haut sieht aus wie dunkler Honig und glänzt in der Sonne wie Gold. Ihre Haare sind kraus, afrogelockt und rot, und sie hat Sommersprossen. Sie wird mal superschön, wenn sie erwachsen ist. Sie hat schneeweiße Zähne, und sie putzt sie gern und beißt gern damit zu. Einmal hat sie Robert in die Hand gebissen, weil er Maw verprügelt hat. Er schickte sie mit einem Schlag durchs Zimmer und nannte sie »kleine Fotze«, und ich sprang auf sie drauf, damit er sie nicht noch mal schlagen konnte, und er trat mir zweimal in den Rücken, und ich bekam einen Bluterguss, der lila und dann gelb wurde, und war wieder nicht in der Schule.

Ich war oft nicht in der Schule und machte mir immer Sorgen, sie würden einen Bullenonkel schicken, um mich zu holen, was aber nie passiert ist. Unsere Wohnung lag im zweiten Stock von Linlithgow House. Insgesamt sind es drei Blocks auf einem Hügel oberhalb der Stadt, alle nach Königsschlössern benannt, und vom Balkon aus sieht man den Damm und das Meer. Die anderen beiden Blocks rings um den Hof heißen Falkland und Scone. In unserem war die Sprechanlage kaputt, und man konnte die Haustür ganz leicht mit der Schulter aufdrücken. Der Hausflur war hellblau und stank nach Pisse, und manchmal schliefen Junkies im Erdgeschoss unter der Treppe.

Peppa hatte im selben Alter mit dem Weinen aufgehört wie ich, so mit acht, und seitdem haben wir beide nicht mehr geweint. Wenn Peppa wütend ist, schaut sie zu Boden und beißt sich auf die Unterlippe wie beim Rennen, und wenn sie traurig ist, mache ich mit den Armen eine Wiege für sie und schaukle sie sanft hin und her.

»Sal … ein Wurm!«, rief sie und hielt einen gefundenen Tauwurm in die Luft. Tauwürmer sind gute Köder für Barsche und Forellen und in sauren Böden wie dem hier im Galloway Forest eher selten. Peppa hopste wieder von Stein zu Stein zurück zum Felsen und ließ den Wurm übers Wasser baumeln. »Mal sehen, ob er sich den holt …«, rief sie und tauchte ihn ein. Ich wollte gerade sagen, ohne Haken hätte das keinen Sinn, als sich unter dem Wurm das Wasser kräuselte und ein lautes Platschen zu hören war, Peppa »Mistvieh« rief und mit aufgerissenen Augen und offenem Mund zu mir rübersah. »Der hat ihn! Das war ein großer, Sal. Schnell, ich brauche noch ’nen Wurm!«

Zum ersten Mal, seit wir hier waren, hätte ich gern mein Handy gehabt. Ich hätte zu gern gefilmt, wie Peppa mitten in diesem flachen Glasscheibenwasser hockte und mit der Sonne um die Wette strahlte. Ich prägte mir die Szene genau ein, falls es eine ähnliche so nicht noch mal geben würde. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und sie rief mir zu: »Schön hier, oder?«

Ich sagte, »ja«, sprang aufs Gras und riss ganze Büschel aus, um einen Wurm zu finden. Es dauerte ewig, und der, den ich dann unter einem Stein fand, war lang und rötlich, und ich wusste nicht, was das für einer war. Ich sprang auf dem Steinweg zu ihr raus und dann zu ihr hoch auf den Felsen, und sie nahm den Wurm und sagte vergnügt: »… und dann hängt man den Schwanz ins Wasser, damit der kleine Fischi ihn sieht …«

Ich sagte: »War er gepunktet oder gestreift?«

Sie sagte: »Gepunktet. Gold und rot. Was ist das für einer?«

»Eine Forelle«, sagte ich.

»Kann man den essen?«

»Ja. Die können wir auch mit den Spinnern fangen.«

»Wir hätten die Angel mitnehmen sollen. Warum essen die Spinner?«

»Sie essen sie nicht; sie denken, das ist Beute.«

»Aber Spinner sind aus Metall.«

»Ja, aber sie blinken und sehen aus wie kleine Fische, wenn man sie bewegt.«

Peppa drehte sich zu mir um und starrte mich an. »Du weißt echt alles«, sagte sie.

»Logisch!«, sagte ich.

Aber die große Forelle kam nicht zurück, darum ließen wir den Wurm neben dem Stein ins Wasser plumpsen und sahen zu, wie ein kleiner Barsch ihn sich schnappte. Das war eine gute Stelle zum Angeln, und gleich morgen wollten wir mit der Angel wiederkommen.

Wir gingen den Hang wieder rauf, die Sonne hoch über uns. Peppa ging normal schnell, bis wir zur Lichtung mit den Farnen kamen, wo das Gras am grünsten und dichtesten war und wir eine von den Fallen aufgestellt hatten. Zwei Kaninchen sprangen vor uns aus dem Gras und flitzten zu ihrem Bau hoch, und Peppa jagte ihnen nach. Ich sah zu, wie sie durch die Farne sprang, zwei unscharfen braunen Klecksen hinterher, und sah die weißen Kaninchenärsche blinken.

Dann blieb Peppa plötzlich stehen und rief, »Sal! Sal, guck mal!«, weil eins der Kaninchen in die Falle gerannt war. Ich raste zur Lichtung.

Es war ein großes, langes Tier, das sauber mit dem Hals in der Schlinge hing, zappelte und an der Schnur mit dem Holzpflock zerrte. Peppa sagte: »Ich hab es reingescheucht, ich hab gesehen, wie es rein ist. Guck mal, da ist Blut!«

An der Stelle am Hals, wo sich die Schlinge zugezogen hatte, quoll dunkles Blut raus, und weil das Kaninchen so zappelte, bekam ich ein paar Spritzer ab. Ich kniete mich neben das Tier. Ich hatte noch nie was getötet, außer Robert, aber es machte mir nichts aus, und das Kaninchen war das Erste, das wir in der Wildnis töten würden, und ich hatte mir schon tausendmal im Fernsehen und auf YouTube angesehen, wie man das machte. Ich griff das Kaninchen am Hals, riss es hoch und zog den Pflock mit raus. Ein hoher, zischender Schrei entfuhr ihm. Ich verstärkte den Druck um Hals und Schlinge und spürte, wie mir warmes Blut über die Finger lief. Dann bekam ich mit der freien Hand die Hinterläufe zu fassen, packte fest zu und zog, so fest ich konnte, bis ich ein Knacken spürte und das Kaninchen noch einmal zischte, bevor es erst schwer wurde und dann schlaff.

Peppa sagte: »Ach du Scheiße.«

Und ich sagte: »Du sollst nicht fluchen.« Ich ließ das Kaninchen ins Gras fallen, und als es aufschlug, zuckte es ein letztes Mal, dann war’s vorbei. Es war ein großer Rammler. Reichlich Fleisch, und ein toller erster Fang. Mann, war ich stolz.

Peppa strich ihm übers Fell. Sie sagte: »Ist ganz warm. Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«

»Männchen oder Weibchen«, sagte ich.

»Ja. Männchen oder Weibchen?«

»Männchen, ein Rammler. Und jetzt unser Essen.«

»Ich hab das Kaninchen reingescheucht, stimmt doch, oder?«

»Hast du. Du hast es gejagt wie die Sioux die Büffel.«

»Echt? Erzählst du mir von denen?«

»Mach ich, aber später. Heute Abend, wenn wir im Bett sind.«

Sie sagte: »Ist gut.«

Wir gingen den Hang zu den dichter stehenden Bäumen und dem Bach rauf, ich trug das Kaninchen an den Beinen, und es war schwer. Dann fiel mir ein, dass man Kaninchen auspieseln lassen soll, also hielt ich es am Kopf, strich fest mit der Hand über die Seite und den Bauch, und die Piesel tröpfelte zwischen den Hinterbeinen raus.

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2Schüsse

Am Nachmittag baute ich eine Wand aus Stöcken, die die Wärme Richtung Unterschlupf reflektierte, und nachdem Peppa die belVitas aufgegessen hatte, übte sie mit ihrer Steinschleuder. Mit einem Bear-Grylls-Messer sägt man Äste entweder mit dem Wellenschliffteil der Klinge ab, oder man hämmert das Messer mit einem Stein direkt am Stamm in den Ast, bis er fast durch ist, und bricht ihn dann ab. Ich verwendete Birkenäste für die Wand, spitzte sie an und schlug sie dann mit einem Stein so weit in den Boden, bis sie ungefähr einen Meter hoch waren. Dann fädelte ich Zweige zwischen ihnen hindurch, hauptsächlich Birke, aber auch ein bisschen Erle und ein bisschen Haselnuss von einem Strauch am Bach. Die Wand verlief in einem leichten Bogen mit zwei Meter Abstand vor der offenen Seite unseres Unterschlupfs, wo wir auf einem Bett aus Birken- und Erlenstämmen mit drübergelegten Fichtenzweigen schliefen, die das Bett schön weich machten, außerdem gut isolierten und dufteten.

Peppa sammelte am Bach kleine, runde Steine und nahm sie als Übungsmunition für die Steinschleuder, und ich erklärte ihr das Flugbahnprinzip, dass nämlich bei abnehmender Geschwindigkeit eines Flugkörpers die Schwerkraft zunehmend auf ihn einwirkt und er einen bestimmten Prozentsatz pro Flugmeter fällt, wobei die Fallgeschwindigkeit unmittelbar von der Fluggeschwindigkeit abhängt, was heißt, je langsamer der Flugkörper wird, desto schneller fällt er. Wenn man für eine bestimmte Entfernung berechnen kann, ab wann der Flugkörper fällt, kann man abschätzen, wo in etwa, relativ zum Ziel gesehen, der Körper auftreffen wird. Das heißt, man kann die Abschussposition anpassen, damit der Flugkörper mit maximaler Geschwindigkeit auf das Ziel trifft, oder man kann den Abschusswinkel nach unten oder oben korrigieren, damit der Flugkörper erst nach oben geht und dann nach dem Flugbahnprinzip fällt und das Ziel trifft. So kann man auch weiter weg stehen und den richtigen Winkel berechnen, um das Ziel zu treffen, aber je weiter man weg steht, desto größer muss der Abschusswinkel sein und desto niedriger ist die Fluggeschwindigkeit, mit der der Körper auf das Ziel trifft.

Ich erzählte Peppa alles über Steinschleudern und Flugbahnen, und sie sah mich an und zog die Stirn kraus und sagte dann, »ähm, alles klar, Sal«, und schoss mit Steinen auf die belVita-Packung.

Irgendwann findet man die optimale Entfernung zum Ziel heraus, die für die nötige Geschwindigkeit sorgt, um ein Tier oder einen Vogel zu töten, bei der die Fallzeit möglichst kurz ist und bei der man noch weit genug entfernt steht, um das Tier nicht zu verscheuchen. Ich wollte, dass Peppa das versucht. Ich dachte, wenn der Stein die Pappe der belVita-Packung durchlöchert, würde die Wucht wahrscheinlich ausreichen, um von egal wo ein Kaninchen oder einen Fasan oder ein Raufußhuhn zu töten.

Sie sagte: »Könnte das hier ein Reh töten?«

Und ich sagte: »Nein, du würdest nie nah genug an das Reh rankommen, damit der Stein die nötige Wucht hat. Rehe haben harte Schädel. Selbst wenn man auf den Hals zielt, geht der Stein wahrscheinlich nicht durch.« Ich überlegte, ob man mit Roberts Luftgewehr ein Reh töten konnte. Man kam damit durch 9 mm dickes Sperrholz, wenn man bei einer Entfernung von 20 Metern zehnmal pumpte, da hätte man doch denken können, man käme auch durch den Schädel eines Rehs, und durch den Hals würde das Geschoss auf jeden Fall gehen, aber ich war nicht sicher, ob man es nah genug an ein Reh heranschaffte, außer man hockte eine Ewigkeit windabgewandt im Gebüsch. Die meisten Gewehre für die Rehjagd haben Kaliber .30-06 oder .30-30, und das sind richtig schnelle Geschosse, die über große Entfernungen von bis zu einem Kilometer ihre Durchschlagkraft behalten und als richtige Gewehrkugeln aus Patrone und Treibladung bestehen. Aber die Büchse von Robert war nur ein .22-Luftgewehr und die Mündungsgeschwindigkeit gesetzlich beschränkt. Damit musste man also richtig nah ran. Ich wollte es trotzdem versuchen. Mit einem Reh hätten wir Fleisch für mehrere Tage, außerdem hielten Rehe keinen Winterschlaf, und ich hatte Lust, mich getarnt an eins ranzuschleichen.

Ed Stafford hatte beim Survival in irgendeinem Wald in Polen oder so mal eins gefangen, indem er ein Bäumchen zur Erde gebogen und damit eine Falle gebaut hatte, in der das Reh dann stecken geblieben war und sich stranguliert hatte. Er hatte es gehäutet und sich aus dem Fell einen Pulli gemacht, und er hatte das Fleisch zum Garen in einem Grubenfeuer vergraben und eine ganze Ladung übers Feuer gehängt, damit die Bären nicht rankamen. Im Galloway Forest gibt es keine Bären, also mussten wir uns deswegen keine Sorgen machen, und ich dachte, in ein paar Tagen, wenn alles so weit fertig war und wir wussten, dass keiner nach uns suchte, wollte ich mal probieren, so eine Falle zu bauen.

Ich sammelte noch mehr Holz für das Feuer, brach tote Äste von Bäumen ab oder las welche auf, die die Erde nicht berührten, weil das die trockensten sind. Ich schichtete einen Haufen auf, der so lang war wie unser Unterschlupf, und daneben noch einen zweiten, damit das Holz trocknete und wir später welches hatten. Dann verwendete ich Birkenrinde als Zunder und schlug mit Feuerstein und Stahl einen Funken und pustete, bis die Rinde sich entzündete, und fütterte die Flamme mit Gras und Zweigen und bekam so ein Feuer in Gang. Ich zündete den aufgeschichteten Haufen von beiden Seiten und in der Mitte mit brennenden Zweigen an, damit er über die ganze Länge brannte. Und während ich auf unserem aufgeschichteten Bett saß, spürte ich schon bald die Wärme, die von der Wand zurückgeworfen wurde.

Dann nahm ich das Kaninchen aus, und auch wenn ich es noch nie gemacht hatte, hatte ich mir doch etliche Male angesehen, wie man das macht, und es war leicht, und ich hob Leber, Herz und Nieren auf, weil die sich gut als Angelköder für Aale eignen. Wenn man ein Kaninchen häutet, schneidet man den Kopf und die Pfoten ab, löst das Fell von den Beinen und zieht es dann vorsichtig über den Körper ab, bis man es an einem Stück in der Hand hält.

Bei Kaninchen sitzt das meiste Fleisch an den Beinen und Schenkeln, darum zerteilte ich unseres in zwei Hälften, streute ein bisschen McDonald’s-Salz drauf und legte die Hälften zum Garen auf einem großen, flachen Stein ins Feuer. Als ich fertig war, ging ich runter zum Bach und wusch mir wegen möglicher Krankheiten oder einer Lebensmittelvergiftung die Hände.

Ich hatte ein Video über Inuit-Frauen in Alaska gesehen, in dem sie die Felle zum Trocknen auf Rahmen aus Erlentrieben spannten, deshalb schnitt ich einen langen Trieb ab, den ich zu einem Reifen von ungefähr einem Meter Durchmesser bog und mit Paracordschnur zusammenband. Als Nächstes bohrte ich mit dem Bear-Grylls-Messer lauter kleine Löcher in den Rand vom Fell und legte es über den Reifen. Dann fädelte ich das Paracord durch ein Loch, zog es über den Reifen und fädelte es durch das nächste Loch, bis ich einmal ringsrum und das Fell fertig aufgespannt war.

Als ich da so am Feuer saß und das Fell bearbeitete, während die Sonne langsam unterging und der Wind aus Norden zunahm und meine Finger kalt wurden und mir der Geruch vom Feuer in die Nase stieg und es knisterte und knackte, hatte ich kurz das Gefühl, ich hätte nie was anderes gemacht. Als hätte ich schon tausendmal Kaninchenfell auf einen Rahmen gespannt und das wäre nicht das erste Mal.

Es fühlte sich komisch an, und ich wusste kurz nicht, ob ich es selbst schon mal gemacht oder es nur bei den Inuit-Frauen auf YouTube gesehen hatte. Eine Minute lang, oder vielleicht auch nur ein paar Sekunden, war mir leicht schwindlig, und ich sah nur noch meine Hände, die das Paracord durch das Fell fädelten, es über den Reifenrand zogen, wieder durch das Fell fädelten, es wieder über den Rand zogen und dann noch mal festzurrten. Ich spürte die Hitze an meinen Beinen nicht und die Kälte in meinen Fingern nicht, hörte das Knacken nicht und auch nicht Peppas Schüsse auf die belVita-Packung, sondern sah nur meine Hände und die Leine und die kleinen Löcher im Fell und die dunkle Rinde an dem Erlenreifen und die Bewegung meiner Hände, als gehörten sie einer anderen. Als wäre ich ein großes Auge, das ihnen zusah. Als säße hinter dem großen Auge ein großes schwarzes Nichts, und als würde ich durch ein augenförmiges Loch da drinnen auf meine Hände schauen, die das Paracord durch das Fell fädelten und um den Reifen zogen.

Als ich wieder zu mir kam, war ich noch immer mit Fädeln beschäftigt, und das Kaninchen brutzelte auf dem Stein, und Peppa kam mit der Steinschleuder und der belVita-Packung angerannt und sagte: »Ich treffe die Packung, aber sie verbeult nur, guck …« Und sie zeigte mir die kleinen Beulen und Dellen in der gelben Pappe.

Wir drehten das Kaninchen um und streuten noch mehr Salz drauf, und es roch himmlisch, wurde goldbraun wie Karamellbonbon und zischte. Das Feuer wurde richtig heiß, und Peppa legte sich aufs Bett und streifte die Helly-Hansen-Jacke und die Jogginghose ab, streckte sich in ihrer Unterwäsche aus und sagte erst, »ah, schön warm«, und dann, als sie über die Kiefernzweige strich, »die kitzeln, Sal.«

Das Kaninchen schmeckte gut und war komplett durch, und Peppa aß das meiste, aber ich hatte ein Bein und viel Fleisch von dem Teil oben an der Wirbelsäule, den man Wildrücken nennt. Es ist gut, wenn man frisch erlegtes und gebratenes Fleisch isst, weil da immer ein bisschen Vitamin C drin ist, das man braucht, weil man sonst Skorbut bekommt und einem die Zähne ausfallen und man verrückt wird. Alte Seefahrer und Leute auf Expedition in der Antarktis hatten das früher oft, bevor sie anfingen, Zitronen zu essen, in denen viel Vitamin C drin ist, genau wie in Grünkohl und roten Paprikas. Aber ich hatte auch Vitamintabletten dabei, damit wir nicht Skorbut bekamen oder andere Krankheiten, die durch Vitaminmangel ausgelöst wurden, wie Osteoporose, Osteopenie und Gicht.

Wir kochten das Bachwasser im Kessel ab und machten uns Tee mit Milch und Zucker von McDonald’s. Jede von uns hatte eine Emailletasse, Peppa eine grüne und ich eine blaue.

Ich legte über die gesamte Länge neues Holz ins Feuer, und Peppa sprang auf, weil sie mal musste, und rannte zu dem Klo hinter unserem Unterschlupf, das ich am Tag unserer Ankunft mit einem Stock gegraben hatte. Sie war barfuß, kam zurückgehüpft und machte, »scheiße, ist das kalt …«. Um das Klo hatte ich mich gleich als Erstes gekümmert, als klar war, dass wir an der Stelle bleiben wollten, und zwar ungefähr sieben Meter vom Unterschlupf entfernt, hangabwärts, falls es regnete, aber nah genug, dass man das Feuer sah. Denn wenn man da hockte, war es stockduster hinter einem, und man guckte besser zum Unterschlupf, damit man das Feuer sah und nicht über das Stockdustere hinter einem nachdachte. Den Hintern wischte man sich mit Gras ab. Ich hatte gleich richtig viel davon abgeschnitten und auf einen flachen Stein neben das Klo gelegt, damit es in Reichweite war und ein bisschen trocknen konnte.