Salafismus - Ahmet Toprak - E-Book

Salafismus E-Book

Ahmet Toprak

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Beschreibung

Der gewaltbereite Salafismus wird seit ca. 20 Jahren breit diskutiert. Dabei werden jedoch Fragen nach den Ursachen, der sozialen Verantwortung und den biografischen Hintergründen zu wenig beachtet. Umso wichtiger ist es deshalb, dass die Prävention und speziell die Soziale Arbeit eine zentrale Rolle übernehmen. Prävention zielt u.a. auf die Stärkung der Persönlichkeit, die Schaffung von Konfliktfähigkeit, gewaltfreie Kommunikation und Vermeidung von Straftaten. Das Buch nimmt entsprechend einerseits die Motive und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des radikalen und gewaltbereiten Salafismus in den Blick. Andererseits stellt es Programme, Ansätze und Konzepte vor, die den Akteurinnen und Akteuren in der Sozialen Arbeit mehr Sicherheit im Umgang mit der Zielgruppe geben.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einleitung

Teil I Salafismus als eine besondere Form der Radikalisierung

1 Salafismus als religiös-fundamentalistische Strömung

1.1 Der Religionsbegriff

1.2 Der Fundamentalismusbegriff

1.3 Die Entwicklung von einer modernistischen zur erzkonservativen Bewegung

1.4 Gruppierungen des Salafismus

Purist*innen/Quietist*innen

Politische Salafist*innen

Dschihadistische Salafist*innen

2 Salafistisch-religiöse Radikalisierung

2.1 Religiöse Erziehung und Sozialisation

2.2 Traditionelle Werte und die Rollen von Mann und Frau

Der Begriff der Ehre

Vater und Mutter

2.3 Geschlechtsspezifische Erziehung

2.4 Sexuelle Erziehung

Elterliche Unsicherheit

Schamgefühl/Respekt vor Autoritäten

Angst, das Interesse der Kinder zu wecken

2.5 Identitätskrisen

2.6 Islamfeindlichkeit

2.7 Salafistische Gemeinschaften

2.8 Medien

3 Salafismus als Jugendkultur

3.1 Jugendkultur und Jugendszenen

3.2 Muslimische Jugendkulturen

3.3 Salafismus als Zeichen der Desintegration?

4 Die Rolle der Sozialen Arbeit

4.1 Handlungsfeld Schule

4.2 Handlungsfeld Sozialraum

4.3 Handlungsfeld Offene Kinder- und Jugendarbeit

Teil II Möglichkeiten der Prävention und interkulturelle Soziale Arbeit

5 Prävention und Soziale Arbeit

5.1 Aggressives Verhalten, Gewalt und die Formen der Prävention

5.2 Begriffliche Annäherungen

Aggression

Gewalt

5.3 Theoretische Erklärungsansätze für aggressives und gewalttätiges Verhalten

5.4 Zum Präventionsbegriff

5.5 Drei Formen der (Gewalt-)‌Prävention

6 Pädagogische Ansätze und Prävention

6.1 Der Konfrontative Ansatz

Was heißt Konfrontative Gesprächsführung und wo wird sie eingesetzt?

Worauf bei der Konfrontativen Gesprächsführung geachtet werden sollte

Kriterien und Voraussetzungen für die Konfrontative Gesprächsführung

›Roter Faden‹ bei der Anwendung des konfrontierenden Gesprächsstils

Konfrontation im Kontext des Salafismus?

Grenzen der Konfrontativen Gesprächsführung

Interpretation des Konfrontativen Ansatzes

6.2 Ansätze interkultureller Elternarbeit

Interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Lernen

Kommunikation: Missverständnisse und Gelingensbedingungen

Zur Bedeutung von Elternarbeit

Zur Bedeutung der (schulischen) Bildung

Die Bedeutung der Hausbesuche in der Arbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund

Elterntrainings

6.3 Ansätze aus Hilfen zur Erziehung im interkulturellen Kontext

Hemmschwellen und Ressourcen bei Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung

Teil III Fazit und Literatur

7 Schlussbetrachtungen

Literatur

Die Autoren

Dr. Ahmet Toprak ist Professor für Erziehungswissenschaften im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften an der FH Dortmund. Dort lehrt er mit dem Schwerpunkt »Gruppenpädagogische und therapeutische Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensstörungen, insbesondere Dissozialität« und forscht zum Interkulturellen Ansatz in der Pädagogik und Sozialen Arbeit sowie zur Konfrontativen Pädagogik.

Dr. Umut Akkuş ist Professor für Soziale Arbeit im Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Fulda. Dort lehrt er mit dem Schwerpunkt »Jugend und Jugendarbeit« und erforscht die Ursachen und Faktoren jugendlicher Radikalisierung sowie die Rolle der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bei der Demokratiebildung und dem Demokratieerleben junger Menschen.

Ahmet ToprakUmut Akkuş

Salafismus

Präventionswissen für dieInterkulturelle Sozialarbeit

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040792-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-040793-0epub: ISBN 978-3-17-040794-7

Einleitung

Sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den gesellschaftlichen Diskursen werden seit ca. zwei Jahrzehnten Themen rund um religiös motivierte Radikalisierung, speziell aber gewaltbereiten Salafismus, in all ihren Facetten diskutiert. Mittlerweile kann sich dem Eindruck nicht verwehrt werden, dass die thematischen Auseinandersetzungen sich mehr und mehr im Kreis drehen. Doch wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass die individuellen Ausprägungen und die multikausalen Faktoren von islamischer Radikalisierung sich stetig wandeln und in immer neuen Konstellationen zeigen. Daher bilden alle theoretischen und empirischen Analysen eine wichtige Grundlage für das tiefgreifende Verständnis der Entwicklung und Ursachen von islamistischen Radikalisierungsprozessen. Denn Radikalisierungstendenzen scheinen im familiären, schulischen, gesellschaftlichen und freizeitlichen Kontexten immer deutlicher zum Vorschein zu kommen. Die jugendliche Dynamik religiös-radikaler Strukturen sticht dabei genauso hervor wie die Attraktivität dieser für Personen, die nicht aus muslimische-religiösen Familien oder jenen kulturell-islamischen Milieus stammen. Ihr multiethnischer Charakter und ihre lebensweltorientiert argumentierenden Prediger machen radikal salafistische Gemeinschaften anscheinend auch für solche Personen attraktiv, die bis dato wenig bis keine Bezüge zu religiösen Themen hatten.

Der Einfluss, den der salafistische Radikalisierungsprozess und die damit verbundenen Ereignisse und Debatten auf das gesellschaftliche Miteinander haben, bringt die Frage nach den politischen und zivilgesellschaftlichen Konsequenzen mit sich. Der Großteil der medialen und gesellschaftlichen Diskurse fokussieren sich in ihrer Auseinandersetzung insbesondere auf die Aspekte Salafismus bzw. Radikalisierung und Sicherheitspolitik. Die Frage nach den Ursachen, den individuellen Motiven, der sozialen Verantwortung und den biografischen Hintergründen werden weniger beachtet, wodurch nicht nur die gesellschaftliche Prekarität zunimmt. Unter diesen Umständen scheint es umso wichtiger zu sein, dass die Prävention und der pädagogische und sozialpädagogische Umgang mit dieser Zielgruppe eine zentrale Rolle einnimmt. In der Pädagogik und Wissenschat hat sich der Begriff Gewaltprävention gegenüber Restriktion, Strafen und Repression durchgesetzt. Sie ist nicht nur in der Medizin von Bedeutung, sondern auch in der Vermeidung von Gewalt. Gewaltprävention ist ein langwieriges und für die Laien auf den ersten Blick unsichtbares Handeln. Sie zielt auf Stärkung der Persönlichkeit, die Ausbildung von sozialer Wahrnehmung, kontrolliertes Handeln, die Schaffung von Konfliktfähigkeit, gewaltfreie Kommunikation und schließlich Vermeidung von Straftaten. Da Gewaltprävention flächendeckend, unterstützt durch Landes- und Bundesprogramme, gut funktioniert, ist die Gewaltkriminalität rückläufig. Allerdings haben wir keine langjährigen und evidenzbasierten Erfahrungen in den Präventionsprogrammen zu salafistischem Extremismus. Berechtigterweise wird Pädagogik und Soziale Arbeit nach Wirksamkeit ihrer Programme gefragt. Um darauf eine seriöse Antwort geben zu können, müssen sozialpädagogische, pädagogische oder sozialwissenschaftliche Programme evaluiert werden, um so nicht nur die Wirksamkeit zu überprüfen, sondern auch die Methoden und Inhalte zu modifizieren oder anzupassen.

Aus diesen Gründen ist das vorliegenden Buch in zwei zentrale Abschnitte aufgeteilt. Im ersten umfangreichen Teil werden in erster Linie in das Thema Salafismus (▸ Kap. 1), Radikalisierungsprozesse (▸ Kap. 2) und Sozialisationsprozesse (▸ Kap. 3) eingeführt. Das Ziel besteht darin, die Leserinnen und Leser in groben Zügen in das Thema einzuführen, ohne sich in theologischen und politischen Debatten und Details zu verlieren. Denn die von dem Thema betroffenen Jugendlichen – auch wenn sie das immer wieder betonen – kennen sich weder mit religiösen Details aus noch interessieren sich für die Politik. Deshalb werden in erster Linie die Prozesse der Radikalisierung und die Sozialisationsbedingungen betont. Der erste Teil schließt dann zwar mit einem Kapitel zur Rolle der Sozialen Arbeit in drei unterschiedlichen Handlungsfeldern (▸ Kap. 4). Dies dient jedoch nur als allgemeine Vorlage für die konkrete Präventionsarbeit im interkulturellen Kontext.

Im zweiten Teil der Publikation werden dann konkrete Ansätze aufgezeigt, wie mit religiös-radikal argumentierender Jugendlichen und deren Eltern im interkulturellen Kontext gearbeitet werden kann. Hier wollen wir deutlich machen, dass die pädagogischen Maßnahmen, die in der Jugendhilfe bekannt sind, auch bei dieser Zielgruppe relevant sein müssen. Bei der Vorstellung der pädagogischen Ansätze haben wir zwei Aspekte hervorgehoben: Der Radikalisierungsprozess und der interkulturelle Zusammenhang wurden berücksichtigt.

Teil I Salafismus als eine besondere Form der Radikalisierung

1 Salafismus als religiös-fundamentalistische Strömung

Jede religiöse Glaubensvorstellung, politische Ideologie oder persönliche Überzeugung basiert auf einer Grundidee. Dieses Fundament an Weltsichten, Werten und Normen kann sozial vermittelt bzw. anerzogen sein und sich in lebensweltlichen Gewohnheitsstrukturen äußern. Sie kann aber auch aus einem Bewusstsein entspringen, das die Bestrebung nach einem idealisierten religiösen, politischen und/oder persönlichen Vorstellungen entsprechenden Gesellschaftssystem widerspiegelt (vgl. Dupré 2013, S. 100 – 103). Politische Bewegungen beziehen sich dabei auf ideologisch-theoretische Grundlagen, persönliche Ansichten zumeist auf ethisch-moralische Aspekte und religiöse Glaubensvorstellungen (z. B. die der drei monotheistischen Religionen) auf die Niederschrift ihrer jeweiligen Glaubensgrundsätze: Für das Judentum ist es die Thora, für das Christentum die Bibel und für den Islam der Koran. Der hohe Priorisierungsgrad der jeweiligen fundamentalen Weltsichten ist für die ihnen zugehörenden Menschen deshalb so bedeutend, weil sie den Rahmen ihrer Lebensrealitäten sowie Werte und Normen bilden (vgl. Dupré 2013, S. 102). Kann also bereits der Bezug auf ein politisches, persönliches oder religiöses Fundament als fundamentalistisch gedeutet werden oder spielen weitere Faktoren eine Rolle bei der Beurteilung von auf einer Grundlage basierenden Weltsichten und Glaubensvorstellungen? Um den Salafismus als fundamentalistische Strömung des Islams besser zu verstehen, ist es bedeutend, vorerst die Begriffe Religion (▸ Kap. 1.1) und Fundamentalismus (▸ Kap. 1.2) etwas näher zu definieren, um daran anschließend die Entwicklung des Salafismus (▸ Kap. 1.3) bis hin zu den Gruppierungen der Gegenwart (▸ Kap. 1.4) zu beschreiben.

1.1 Der Religionsbegriff

Um den Begriff der Religion gibt es zahlreiche Kontroversen und Definitionsbestrebungen, da, wie Kehrer treffend formuliert, »[d]‌ie Universalität von Religion, ihre mannigfaltigen Ausprägungen, ihre Heterogenität [...] es fast unmöglich [machen], eine Definition zu finden, die weit genug und doch hinreichend präzise ist« (Kehrer 1968, S. 7). Die ersten Definitionen von Religion reichen zurück bis vor Beginn unserer Zeitrechnung. Im ersten Jahrhundert v. u. Z. hat Cicero Religion in Abgrenzung zum Aberglauben wie folgt beschrieben:

»nicht nur die Philosophen, sondern auch unsere Vorfahren haben den Aberglauben von der Religion abgetrennt. Diejenigen nämlich, die tagtäglich beteten und opferten, daß ihre Kinder am Leben blieben (superstites), sind Abergläubische (superstitiosi) genannt worden. [...] Umgekehrt hat man diejenigen, die alles, was zur Verehrung der Götter gehört, immer wieder sorgfältig beobachteten und gewissermaßen immer wieder überlasen, ›religiös‹ genannt, eben vom Überlesen (relegere), so wie ›elegant‹ von ›auslesen‹ (elegere) abgeleitet ist, ›sorgfältig‹ (idiligens) von ›unterscheiden‹ (di-legere) und ›verstehend‹ (intelligens) von ›innerlichem Lesen‹ (intel-ligere). Denn in allen diesen Wörtern steckt dieselbe Bedeutung des Lesens (legere) wie bei ›religiös‹ (religiosus)« (Cicero 1996, S. 151 ff.).

Die Unterscheidung, die Cicero beschreibt, gründet auf dem Grad der Differenziertheit, Sorgfalt und Intensität, mit der sich die Gläubigen mit ihrem Gottesglauben auseinandersetzen. So galten Cicero zufolge jene als religiös, die sich intensiv, reflektiert und bedacht mit dem Gottesglauben und den dazugehörigen Pflichten auseinandersetzten, die vermittelten Schriften und Botschaften erneut, sorgfältig und verstehend lasen und beobachteten. Im Gegensatz dazu wurden jene als abergläubisch bezeichnet, die sich lediglich durch tägliche Gebete und Opfergaben, also rituellen Pflichten ihrem Glauben hingaben. Eine tiefergehende und reflexive Auseinandersetzung mit der Religion (vgl. ebd.) sowie das »sorgfältige Bedenken und Befolgen [...] des Kultes« (Schulz 2017, S. 1448) im Sinne Ciceros, kann unabhängig von der kritisch beurteilten etymologisierenden Deutung der Begriffe superstitio und religio (vgl. Cicero 1996, Kommentar zum zweiten Buch, S. 502) zwar als bedeutende Grundlage zum Verständnis von Religion dienen. Doch kann seine Beschreibung schon aufgrund des historischen Standpunktes, der vor der Entstehung des Christentums, Islams und weiterer religiöser Konstitute liegt, keine umfassende Definition von Religion darstellen.

Dies gilt ebenso für alle weiteren Definitionsbestrebungen von der Antike über die Renaissance bis hin zur Neuzeit. Laut Kehrer wurde »[k]‌aum ein Problem [...] in den Wissenschaften von der Religion heftiger und zugleich ergebnisloser diskutiert [...] als die Frage nach einer adäquaten Definition von Religion« (Kehrer 1988, S. 13). Denn das Spektrum von Glaubens- und Religionssystemen reicht sehr weit: von den sogenannten Naturreligionen über die Schamanenkulte bis hin zu den hinduistischen, buddhistischen und auch monotheistischen Religionen, um nur einige wenige zu nennen (vgl. Figl 2012; Barth/Osthövener 2000). So werden auch die folgenden Ausführungen nicht im Bestreben sein, einen umfassenden Definitionsversuch zu wagen, sondern ihren Fokus auf die monotheistische Perspektive legen, die aufgrund des thematischen Schwerpunktes und zentralen Untersuchungsgegenstandes der vorliegenden Arbeit von größerer Relevanz ist.

Nichtsdestotrotz soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass Religion über die monotheistischen hinaus sehr viel mehr Phänomene beschreibt und repräsentiert. In seiner Untersuchung der elementaren Religionen, deren Pluralität von verschiedenen Prinzipien er als große Herausforderung betrachtet, versucht Durkheim durch die Analyse der Urreligionen die Entwicklung und Genese von Religion zu umreißen. Dabei unterteilt er die verschiedenen Religionssysteme in zwei Kategorien: den Naturismus und den Animismus (vgl. Durkheim 2020, S. 77 f.). Den Naturismus begreift Durkheim als jenes System, das ihren Fokus auf »die Dinge der Natur (entweder an die großen kosmischen Kräfte wie die Winde, die Flüsse, die Gestirne, den Himmel usw. oder an alle Arten von Gegenständen, die die Erde bevölkern wie Pflanzen, Tiere, Felsen usw.)« (ebd., S. 78) richtet. Demgegenüber wendet sich der Animismus ihm zufolge »an die geistigen Wesen, die Geister, Seelen, Genien, Dämonen, die eigentlichen Gottheiten, an belebte und bewusste Vermittler« (ebd.). Laut Durkheim können je nach Sichtweise sowohl der Naturismus als auch der Animismus als religiöse Urformen begriffen werden, auf die alle weiteren religiösen Entwicklungen und Konstitute aufbauen – so auch die monotheistischen Religionen, deren Genese sich ebenfalls über elementare Glaubensvorstellungen wie dem Totemismus, Ritualhaltungen bis zur Entwicklung eines Götterglaubens vollzog (vgl. Durkheim 2020; Maier 2018).

Dabei kann ein kurzer historischer Rückblick gut veranschaulichen, wie und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen sich Religionen entwickelt haben. Laut Maier zeigen die Schriftquellen frühgeschichtlicher Religionen, dass die Bedeutung und Verehrung der Natur und ihrer Elemente und Phänomene sowie die Begründung entsprechender Kulte und Riten »in erster Linie auf die Sicherung der Lebensgrundlagen, die Stärkung kollektiver Identitäten, den Abbau von Spannungen und damit die Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet [waren]« (Maier 2018, S. 44). Der Glaube an höhere Kräfte ging damit nicht zwangsläufig mit dem Götterglauben oder einem institutionalisierten Glaubenssystem einher. Er umfasste in erster Linie die Lebensrealität und -umstände der einzelnen oft kleinräumig organisierten Gemeinschaften und ihr Bestreben nach Existenzsicherung. So war Maier zufolge der Kontakt mit Jagdwild ein entscheidender Moment für Jäger und Sammler, deren Überleben davon abhing, ob sie diese erbeuteten oder selbst von diesen erbeutet wurden. Für die bäuerlichen Gemeinschaften hingegen war es die Begebenheit und Ergiebigkeit der Erde sowie mit ihr zusammenhängende Naturphänomene wie die Jahreszeiten und Wetterbedingungen, die über ihren Untergang oder ihr Überleben entschieden. Solch existenzielle Momente wurden auch von Vorstellungen begleitet, höheren Kräften ausgesetzt zu sein, weshalb religiöse Handlungen wie die Verehrung und Dankbarkeit gegenüber der Natur bedeutende Bestandteile des frühzeitlichen Lebens darstellten (vgl. ebd., S. 44 ff.). Diese als Urform begriffenen religiösen Vorstellungen haben sich mit der Zeit zu gemeinschaftsübergreifenden Glaubens- und Religionssystemen weiterentwickelt.

Wann und wie sich aber aus der Verehrung der Natur die Vorstellung von und der Glaube an Gottheiten entwickelt hat, ist nicht abschließend geklärt. Die ersten Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen den naturbezogenen religiösen Vorstellungen und dem Götterglauben finden sich laut Maier in den »schriftlich bezeugten Gottesvorstellungen Altägyptens, des Vorderen Orients und des antiken Mittelmeerraums [...], die die belebte und unbelebte Natur sowie die menschliche Gesellschaft umfass‍[en]« (ebd., S. 45 f). Mit Beginn des Götterglaubens entwickelte sich der Glaube mehr und mehr zu einem transzendentalen Phänomen, bei dem sich die sichtbaren Kräfte der Natur zu unsichtbaren göttlichen Kräften transformierten. Im Epos von Gilgamesch wird diese Transformation mit der großen Sintflut eingeleitet, durch die sich die Götter von der irdischen Welt ablösen und auf eine überirdische, den Menschen unzugängliche Ebene begeben (vgl. Maul 2020). Der Mythos von der Sintflut ist deshalb sehr zentral, da Maul zufolge

»[d]‌ie bis in Einzelheiten gehenden Parallelen zwischen dem neu entdeckten ›heidnischen‹ Sintflut-Mythos und der wohlbekannten Noah-Erzählung des ersten Buches der hebräischen Bibel (Genesis 6 – 9) [...] keine Zweifel daran [ließen], daß die Verflechtungen des biblischen mit dem uralten mesopotamischen Gedankengut weitaus enger waren, als man es je zuvor angenommen hatte« (ebd., S. 10).

Mit der Entdeckung der sumerischen Überlieferungen wurde die monotheistische Darstellung von der Neuordnung der Welt als dominante und grundlegende Erzählung von Grund auf in Frage gestellt. Gleichzeitig wurde deutlich, wie viele inhaltliche Übereinstimmungen, Schnittstellen und Bezüge die neuen und alten Religionssysteme zueinander und untereinander aufwiesen. Dies wird vor allem mit der Entstehung der monotheistischen Religionen erkennbar, deren Gründungsmythen, Entwicklungen und Strukturen viele Übereinstimmungen haben. Maier zufolge ergeben sich diese daraus,

»dass jede dieser Religionen einerseits auf einen Ursprung in der Geschichte rekurrierte und damit die Kontinuität mit der Vergangenheit betonte, sich aber andererseits immer wieder an geänderte gesellschaftliche, politische und kulturelle Rahmenbedingungen anpassen musste« (Maier 2018, S. 204 f.).

Die Anpassung an die Sprachen und kulturellen Traditionen der Regionen, in die sich die einzelnen Religionen ausbreiteten, hatte verschiedene Prozesse zur Folge. Einerseits veränderten sich die Religionen durch Differenzierung und Spezialisierung sowie Fragmentierung und Spaltung. Sie gingen neue religiöse und rituelle Verflechtungen ein und brachten neue, angepasste religiöse Sonderformen und Weltdeutungen hervor. Andererseits entstanden Maier zufolge »[i]‌nnerhalb der einzelnen Traditionen [...] mit der beständigen Ausbreitung der Religionen und der Integration immer breiterer Bevölkerungsschichten neue Lebensformen« (ebd., S. 207). Dabei spielte das gemeinschaftliche Paradigma für einen Beständigkeitsbeweis von Religion, das durch Objektivation und Institutionalisierung seine Legitimationsgrundlage stets behielt, eine bedeutende Rolle. Denn die »in der religiösen Welterfahrung, im Mythos und Kult, im praktizierten religiösen Leben« vorgegebenen Mächte beruhen laut Figl »vor allem auf Tradition und Gemeinschaft« (Figl 2012, S. 29). Religion ist demnach ein kollektives Phänomen oder, wie Durkheim schreibt,

»ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereint, die ihr angehören« (Durkheim 2020, S. 76).

Als solidarische System entfaltet und manifestiert sich Religion dieser Definition zufolge vor allem im institutionellen Kollektiv, wobei die Kirche hier als Repräsentantin aller religiösen Institutionen (Synagoge, Moschee etc.), deren Gemeinschaftsbindungen ebenfalls auf moralischen Verpflichtungen beruhen, verstanden werden kann.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Heilige der Religion. In Encyclopaedia of Religion and Ethics schreibt Söderblom dem Begriff des Heiligen eine wesentlichere Bedeutung zu als der Vorstellung von Gott. Ihm zufolge gebe es keine echte Religion ohne eine Unterscheidung zwischen dem Heiligen und Profanen, während Religion ohne einen Gottesglauben möglich sei (vgl. Söderblom 1913, S. 731). Das Heilige lässt sich damit nicht allein auf das Göttliche reduzieren. Dies wird vor allem an Religionssystemen wie dem Buddhismus deutlich, deren religiöse Grundlagen sich nicht auf einen Gottesglauben beziehen. Insofern kann all jenes heilig sein, was eine höhere transzendentale symbolische Bedeutung hat (vgl. ebd., S. 731 ff.). Hierzu gehört auch der Gottesglaube, der sich vor allem in den monotheistischen Religionen bis in die Gegenwart erhalten hat und trotz zahlreicher Entwicklungen und Anpassungen die Grundlage jeglicher Lebensformen für sie bildet. Die Bedeutung des Glaubens an Gott zeigt sich sowohl in der Vielfalt monotheistisch orientierter religiöser Institutionen und Organisationen sowie in den gemeinschaftlichen bis individualisierten Formaten der theoretischen Vermittlung und praktischen Umsetzung von religiösen Inhalten (vgl. Maier 2018; Könemann 2002). Die vergangenheitsbezogenen und sich an Traditionen orientierenden religiösen Weltsichten befinden sich dabei stets in einem Spannungsverhältnis zu modernen Entwicklungen, die durch Säkularisierung den Einfluss der Religionen begrenzt und auf das Private verschoben haben (vgl. Maier 2018, S. 396 ff.; Pickel 2018, S. 22 ff.). Der fortschreitende Bedeutungsverlust religiöser Institutionen wird dabei begleitet von einem religiösen Rationalismus, der sich in einer Individualisierung des Religiösen zeigt, die sich Könemann zufolge »analog zur gesellschaftlichen Individualisierung in den grundlegenden Individualisierungsdimensionen, der Freisetzung aus traditionalen Bindungen, der Entzauberungsdimension und der Subjektivierungsprozesse« (Könemann 2002, S. 37) vollzieht. Es ist eine neue Form von Religiosität, die sich nicht mehr allein auf das traditionell organisierte institutionelle Kollektiv bezieht. Das bedeutet, dass nicht mehr nur die etablierten religiösen Institutionen und Strukturen, wie Kirche, Synagoge und Moschee den religiösen Deutungs- und Orientierungsrahmen vorgeben. Die Beschäftigung mit der Religion, ihre Aneignung und religiöse Vergemeinschaftungsprozesse entwickeln sich in der Moderne auch autonom von konventionellen Strukturen. Sie bringen neue Formen der Frömmigkeit (vgl. Maier 2018, S. 197) sowie individualisierte religiöse Glaubensvorstellungen hervor, die Niederbacher zufolge »die gesamte religiöse Lebensform einer Person meinen: ihre Weltanschauung, ihre religiöse Praxis, ihre Identifizierung mit einer religiösen Gemeinschaft, ihr religionsinspiriertes Empfinden, Handeln und Reagieren« (Niederbacher 2019, S. 185).

Das traditionelle Verständnis von Religion, das auf kollektiven, institutionellen und ritualisierten Gewohnheiten beruht, wird dabei nicht durch das moderne, das auf Individualisierung, Pluralisierung, Säkularisierung und Rationalisierung gründet, ersetzt. Vielmehr vermischen sich die Grenzen beider Sphären, in dem Traditionen durch moderne Paradigmen ergänzt und moderne Strukturen von traditionellen Perspektiven geprägt werden (vgl. Luckmann 2020; Maier 2018; Pickel 2018; Figl 2012; Giddens 1996). Damit sind Maier zufolge »eine neue Sicht auf die religiöse Vielfalt und neue Formen der Mission zu verzeichnen« (Maier 2018, S. 197).

1.2 Der Fundamentalismusbegriff

Bei der Betrachtung der semantischen und historischen Bezüge sowie gegenwärtiger wissenschaftlicher und politischer Analysen wird deutlich, dass der Fundamentalismus eine stabile, feste und unveränderliche Orientierungs- und Ordnungsbasis sowie einen festen Bezugspunkt und eine Ausgangslage für die jeweils verschiedenen persönlichen, politischen und religiösen Vorstellungen, Überzeugungen und Glaubensgrundsätze darstellt. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen fundamentum für »Grund‍(-lage)« ab und bedeutet »das kompromisslose dogmatische Festhalten an bestimmten, insbesondere religiösen und politischen Überzeugungen, Glaubensvorstellungen und Grundsätzen« (Hillmann 2007, S. 254).

Fundamentalistisch orientiert sind demnach Personen, die an einer Grundidee bzw. einem Glaubensgrundsatz kompromisslos und dogmatisch festhalten und ihre Lebenswelt danach ausrichten. Eine kritische Auseinandersetzung und das Hinterfragen dieser Grundsätze sind nicht gewollt. Alle kritischen Meinungen und liberalen Ausrichtungen werden ebenso wie die Bereitschaft sich mit diesen konstruktiv auseinanderzusetzen komplett abgelehnt (vgl. Dupré 2013, S. 100 ff.).

Der Begriff Fundamentalist wurde 1920 von dem baptistischen Pastor Curtis Lee Laws geprägt und diente als »Selbstbezeichnung protestantischer Fundamentalisten in den USA« (Klein u. a. 2017, S. 140) im frühen 20. Jahrhundert. Laws leitete den Begriff aus der Schriftenreihe The Fundamentals. A Testimony to the Truth ab, in dem die konservativen protestantischen Autoren im Kulturstreit mit den Modernisten 90 Essays zu ihrem Verständnis des Christentums veröffentlichten (vgl. The Fundamentals 1910). Ihre Schriften waren der Versuch sich von der liberalen historisch-kritischen Bibelauslegung, der aufklärerischen Bibel- und Religionskritik, der Evolutionstheorie und den zeitgenössischen weltanschaulichen Strömungen deutlich abzugrenzen (vgl. Klein u. a. 2017, S. 140; Dupré 2013, S. 102). Dabei beriefen sie sich auf die bereits im Jahr 1910 von der Presbyterianischen Kirche zusammengefassten Five Fundamentals, die »den Anspruch der uneingeschränkten Autorität und Irrtumslosigkeit der Bibel sowie den Glauben an die Gottheit Jesu Christi, seine Geburt durch die Jungfrau Maria, seinen stellvertretenden Tod für die Sünden der Menschen sowie seine leibliche Auferstehung und Wiederkunft« (Klein u. a. 2017, S. 140) umfassen.

Während der Begriff Fundamentalist für die Anhängerschaft des protestantischen Fundamentalismus ein positiv konnotiertes Selbstbild darstellte, wandelte sich seine Bedeutung seit der iranischen Revolution Ende der 1970er Jahre. So war der Fundamentalismus nicht mehr die Grundlage einer religiösen Eigenbezeichnung, sondern einer schmähenden Fremdbezeichnung, die mit rückwärtsgewandten, traditionalen, patriarchalen und anti-aufklärerischen Einstellungen in Verbindung gebracht wurde (vgl. Lang 1999, S. 143). Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 manifestierte sich diese Sichtweise in der öffentlichen Wahrnehmung. Vor allem medial wurde der islamische Fundamentalismus zum Synonym für islamistische Strömungen und ihre Aktivitäten und Anschläge (vgl. Klein u. a. 2017, S. 141). Der Fokus auf den Islam und den islamischen Fundamentalismus rührt Benslama zufolge auch »aus einer konflikthaften historischen Verschränkung des Islam mit dem Westen in religiöser und geopolitischer Hinsicht, was ihr eine besondere Intensität verleiht« (Benslama 2017, S. 62). Es gibt eine Vielzahl an zeitgenössischen Strömungen innerhalb verschiedener Religionen, die fundamentalistische Auffassungen vertreten und die gleichen Merkmale wie die des islamischen Fundamentalismus aufweisen (vgl. Benslama 2017; Marty/Appleby 1991). Zur Untersuchung dieser Strömungen aus aller Welt führten Marty E. Marty und R. Scott Appleby zwischen den Jahren 1987 bis 1995 im Auftrag der American Academy of Arts and Sciences das Fundamentalism-Project durch. Dabei erarbeiteten sie neun Hauptmerkmale des Fundamentalismus. Fundamentalistische Strömungen sind demzufolge:

1.

Reaktiv gegenüber der Marginalisierung der Religion: Sie reagieren auf die schwindende Bedeutung des Religiösen und der Marginalisierung ihrer religiösen Sichtweisen durch Abgrenzung und die Bewahrung und Verteidigung ihrer religiösen Traditionselemente.

2.

Selektiv: Sie konzentrieren sich auf bestimmte, für sie bedeutende religiöse Elemente und nutzen dabei alle technischen Möglichkeiten, um diese zu verbreiten.

3.

Moralisch manichäistisch: Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein. Dabei werden die, die ihre Werte und Ansichten vertreten als Auserwählte und die die sie ablehnen, als Abfällige betrachtet.

4.

Absolutistisch: Sie sind überzeugt von der Irrtumslosigkeit ihrer heiligen Schriften, weshalb sie diese wortwörtlich/buchstabengetreu annehmen und die historisch-kritische Exegese ihrer Glaubensschriften komplett ablehnen.

5.

Aillenaristisch und messianistisch: Sie glauben an die Endzeit und die Wiederauferstehung eines heilsbringenden Messias.

6.

Exklusiv: Sie sind der Meinung, dass ihre Religion die einzig Wahre sei und sie daher eine Gemeinschaft der Auserwählten seien.

7.

Grenzziehend: Sie grenzen sich als erwählte Gruppe von anderen nicht-erwählten abtrünnigen Gruppen und Gemeinschaften scharf ab.

8.

Autoritär organisiert: Sie formieren sich um charismatische/autoritäre Führungspersönlichkeiten, denen sie besondere Eigenschaften zuschreiben.

9.

Normierend: Sie stellen strenge Verhaltensregeln, die sie aus den religiösen Texten ableiten, auf (vgl. Klein u. a. 2017, S. 142 ff.; Almond u. a. 2003, S. 90 ff.).

Diese neun Merkmale sind sicherlich bei der Beurteilung und Betrachtung religiös-fundamentalistischer Strömungen hilfreich, jedoch nicht kennzeichnend für einen allgemeinen Fundamentalismus, der sich sowohl religiös als auch politisch äußern kann. Auch gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen religiösen Fundamentalismen. So treffen einige der Merkmale auf religiös-fundamentalistische Gesinnungen außerhalb der drei monotheistischen Religionen (wie z. B. Buddhismus oder Hinduismus) nicht oder nicht in dem Maße zu, wie oben beschrieben (vgl. Klein u. a. 2017; Almond u. a. 2003).

Dennoch könnten die erarbeiteten Merkmale bei der Überprüfung von religiösen und politischen Bewegungen auf fundamentalistische Aspekte hin dienlich sein. So kann bei der Anwendung der neun Hauptmerkmale des Fundamentalismus auf den Salafismus folgendes festgehalten werden:

1.

Reaktivität: Der Salafismus gründet sowohl auf der Überzeugung, dass die Religion, vor allem in der Diaspora, an Bedeutung verliert oder auch verfälscht wird als auch auf einem Verteidigungsreflex gegenüber der wahrgenommenen Bedrohung und feindlichen Einstellungen durch nicht-muslimische, insbesondere geopolitisch westliche Gesellschaften.

2.

Selektivität: Der Salafismus gibt vor, sich ausschließlich am Koran, der Sunna und den Lebensmodellen der ersten drei Generationen von Muslim*innen zu orientieren.

3.

Moralischer Manichäismus: Der Salafismus teilt die Welt in wahre Muslim*innen und Ungläubige auf. All jene, die ihre religiösen Vorstellungen teilen sind die Guten, alle anderen die Bösen.

4.

Absolutismus: Koranexegese (Tafsīr), verschiedene islamische Rechtsschulen und auch andere Deutungsrahmen werden komplett abgelehnt. Allein der Koran, die Überlieferungen des und über den Propheten sowie die Aussagen der ersten drei Generationen muslimischer Autoritäten, die als absolute Wahrheit deklariert werden, sind von Bedeutung.

5.

Millenarismus und Messianismus: Salafist*innen glauben, wie alle Muslim*innen, an die Wiederauferstehung von Mahdī, einem Nachkommen des Propheten, dessen Ankunft die Endzeit einläuten und das Ende allen weltlichen Unrechts einleiten werde.

6.

Exklusivität: Da Salafist*innen der Auffassung sind, die wahren Gläubigen/Muslim*innen zu sein, definieren sie sich als eine Gruppe von Auserwählten.

7.

Grenzziehung: Als ›wahre‹ Muslim*innen grenzen sich Salafist*innen nicht nur von nicht-muslimischen, sondern auch von allen anderen muslimischen Gemeinschaften, die ihr Religionsverständnis nicht teilen und damit ebenfalls zu Ungläubigen deklariert werden, ab.

8.

Autoritarismus: Als Vermittler der wahren Botschaft werden charismatische salafistische Prediger zu autoritären Vorbildern, deren Worte, Handlungen und Einstellungen nicht hinterfragt oder kritisch betrachtet werden, stilisiert.

9.

Normen und Regeln: Es gibt klare Verhaltensnormen und -regeln, die Salafist*innen befolgen (müssen). Diese reichen vom Erscheinungsbild, wie z. B. »das Tragen einer knöchellangen arabischen Tracht oder eines Vollbartes als Indizien für besondere Frömmigkeit« (Ceylan/Kiefer 2013, S. 43), bis hin zu bestimmten Verhaltenskodexen, wie die strenge Geschlechtertrennung (vgl. Abou-Taam 2012; Steinberg 2012; Ceylan/Kiefer 2013; Eckert 2013; Schneiders 2014; Lohlker 2017; Zick u. a. 2018).

Bei der Übertragung der Merkmale des Fundamentalismus auf den Salafismus wird, bei näherer Betrachtung, besonders deutlich, dass die religiöse Weltsicht und Praxis sowohl eine normative Dimension beinhaltet, in der es um verbindliche Regeln und Plichten geht, wie auch eine individuelle und kulturelle Dimension, die sich auf »persönliche Vorlieben Muhammads ohne religiöse Bedeutung und Bindung [sowie] [...] Gewohnheiten Muhammads, die ebenfalls keinen religiösen Charakter besitzen, vielmehr die arabische Kultur und Tradition des 7. Jahrhunderts widerspiegeln« (Ceylan/Kiefer 2013, S. 43) beziehen. Das Leben des Propheten Mohammed und der ersten drei Generationen von Muslim*innen, den frommen Altvorderen (al-salaf al-sâlih), entspricht für Salafist*innen ihrer Vorstellung vom idealen Islam, weshalb ihr Wirken darauf zielt, »die idealisierte Gesellschaft des ›Ur-Islam‹, wie sie im Mekka und Medina des 7. Und 8. Jahrhunderts existiert haben soll, zu neuem Leben zu erwecken« (Steinberg 2012, S. 1).

1.3 Die Entwicklung von einer modernistischen zur erzkonservativen Bewegung

Der historische Bezug salafistischen Religionsverständnisses reicht zurück bis ins 8. Jahrhundert zum Begründer der hanbalitischen Rechtsschule Ahmad Ibn Hanbal. Der Gründungsvater der vierten Rechtsschule des sunnitischen Islams trat für ein wortwörtliches Verständnis des Korans und der Hadithe (überlieferte Berichte zu Aussagen und Handlungen des Propheten Mohammed) ein und lehnte damit jegliche Analysen und Interpretationen der religiösen Schriften ab. Schneiders zufolge war sein primäres Ziel die Bewahrung der Reinheit der Lehre, um den menschlichen Einfluss auf die Religion, »sprich die Möglichkeit fehlerhafter oder auch manipulierter Deutungen« (Schneiders 2014, S. 48), auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Dies ist einer der zentralen Anknüpfungspunkte, das das salafistische Religionsverständnis mit dem hanbalitischen verbindet. Laut Schneiders gibt Ibn Hanbal auch den »Grundgedanken des Salafismus vor, nämlich die Prophetengenossen zu lieben und ihnen zu folgen« (ebd., S. 61). Auch über diese Punkte hinaus gibt es viele weitere Überschneidungen und Anknüpfungspunkte im religiösen Weltbild. Dennoch kann Ahmad Ibn Hanbal nicht als Urvater des Salafismus