Unsere Ehre ist uns heilig - Ahmet Toprak - E-Book

Unsere Ehre ist uns heilig E-Book

Ahmet Toprak

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Beschreibung

Muslimische Familien in Deutschland: Hier herrscht der Vater als Patriarch, Frauen werden unterdrückt, Töchter zwangsverheiratet und die Söhne Spielbälle eines ihnen anerzogenen Machismus – oder etwa nicht? Ahmet Toprak geht der Frage nach der Wirklichkeit muslimischer Familien in Deutschland nach. Er besucht sie, spricht mit ihnen und komponiert aus seinen Erfahrungen und Gesprächen ein ganz anderes, lebensnahes Bild muslimischer Familien in Deutschland.

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Ahmet Toprak

„Unsere Ehre ist uns heilig“

Muslimische Familien in Deutschland

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung:

Agentur R•M•E Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (E-Book): 978-3-451-33914-1

ISBN (Buch): 978-3-451-30409-5

Inhaltsübersicht

Muslimische Familien in Deutschland

Die Methode

Das Interview

Typenbildung

Konservativ-autoritäre Familien

Religiöse Familien

Leistungsorientierte Familien

Moderne Familien

Konservativ-autoritäre Familien

„Ehre ist uns heilig“

Familie Kurt im Profil

Was ist Ehre?

Ehre und die Geschlechterrollen

Ehre und Gemeinschaft

Kontrolle und Machtausübung

Ehre im Wandel?

„Meine Tochter soll einen Mann heiraten, den wir auch akzeptieren.“

Familie Yavuz im Profil

Was ist eine arrangierte Ehe?

Was ist Zwangsheirat?

Wie funktioniert eine arrangierte Ehe?

Welche Funktion hat eine arrangierte Ehe?

Arrangierte Ehen in der Verwandtschaft

Ein Migrationsticket

Arrangierte Ehe im Wandel

„Eine kleine Ohrfeige hat mir auch nicht geschadet“

Familie Bin Al-Saud im Profi

Erziehungsstil

Erziehungsziele

Erziehung zur Männlichkeit bzw. Weiblichkeit

Gewalt und Strafe in der Erziehung

Religiöse Familien

„Religion ist bei uns wichtig“

Familie Karatepe im Profil

Religiöse Erziehung

Was bedeutet religiöse Erziehung im Islam?

Die religiösen Feste

Die Beschneidung des Jungen

Moscheen und Moscheevereine

„Meine Tochter muss schon Kopftuch tragen“

Familie Muhamad im Profil

Das Kopftuch als Zeichen religiöser Einstellung

Das Kopftuch als Schutz

Das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung

Das Kopftuch im deutschen Alltag

„Homosexualität ist Sünde“

Familie Öztürk im Profil

Sexuelle Erziehung

Männliche sexuelle Erziehung

Weibliche sexuelle Erziehung

Homosexualität

Homosexualität und Männlichkeit

Leistungsorientierte Familien

„Für Bildung meiner Kinder mache ich alles“

Familie Kahraman im Profil

Teilhabe durch Bildung

Prestigezuwachs in der Gesellschaft

Sozialer Aufstieg

Gute Arbeitsbedingungen

Gute Verdienstmöglichkeiten

Veränderte Geschlechterrollen durch Bildung oder die Modernisierung der Familie

„Kinder sollen selbstbewusst sein“

Familie Yilmaz im Profil

Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein

Hemmt das Erziehungsziel Respekt vor Autoritäten die Integration?

Fördern Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein den Integrationsprozess?

Familie oder Schule?

Moderne Familien

„Meine Frau hat das Sagen“

Familie Said im Profil

Gleichberechtigung in der Partnerbeziehung

Muslime und die voreheliche Beziehung

Können Männer und Frauen überhaupt gleich sein?

Generationenübergreifende Gleichberechtigung

„Ich rede zuerst mit meinem Vater“

Familie Bulut im Profil

Kommunikationsstrategien zwischen Eltern und Kindern

Kommunikationsstörungen und Familienleben

Wie Entscheidungen getroffen werden oder warum erwachsene Töchter nicht heiraten

Statt eines Fazits – Deutschland im Jahre 2030

Literatur

Für Mio Baran und Alexandra Toprak

Muslimische Familien in Deutschland

Wenn man bei dem Internetanbieter für Bücher amazon.de nach dem Begriff Islam recherchiert, werden ca. 17000Titel angezeigt. Vielfältig ist die Bandbreite der Veröffentlichungen, sie reicht von Nachschlagewerken über wissenschaftliche Abhandlungen bis hin zu Biografien von Personen islamischen Glaubens. Vor allem letztgenannter Bereich stößt auf großes Interesse, da die betroffenen Personen ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Islam (kritisch) darstellen. Themen wie Geschlechterrollen in der Familie, Ehrverhalten, Kopftuchzwang, Zwangsheirat, arrangierte Ehe, Gewaltanwendung, Unterdrückung der Frau oder Homophobie bilden den Mittelpunkt. Und sicherlich können solche Probleme, die in einigen muslimisch geprägten Milieus vorhanden sind, nicht geleugnet werden. Deshalb stehen die muslimische Bevölkerung im Allgemeinen und die Familien im Besonderen im Fokus des öffentlichen Interesses. So wurde zum Beispiel im Jahre 2006 vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble die Deutsche Islamkonferenz initiiert, mit dem Ziel, die Muslime besser in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Bis 2009 wurde mit den Vertretern der muslimischen Bevölkerung debattiert. Auch unter den folgenden Innenministern Thomas de Maizière (CDU) und Hans-Peter Friedrich (CSU) wird die Islamkonferenz fortgeführt. Was heißt, dass die muslimische Bevölkerung auch weiterhin in der Öffentlichkeit präsent bleiben wird. Während in den letzten Jahren die politischen Gremien daran interessiert waren, die Debatte um die Integration (vor allem die der Muslime) zu versachlichen, erschien im Spätsommer 2010 das viel diskutierte Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin. Speziell den muslimischen Migranten wirft Sarrazin vor, nicht in Bildung zu investieren. Gleichzeitig würden sie aufgrund hoher Geburtenzahlen in absehbarer Zeit in Deutschland die Überzahl darstellen. Durch dieses Zusammenwirken von hohen Geburtenraten und mangelnder Bildung werde Deutschland im Laufe der Zeit faktisch immer dümmer. Eine These, die noch immer kontrovers diskutiert wird.

Trotz der Präsenz der Muslime in der öffentlichen Debatte und in den Medien ist das Wissen über muslimische Familien und deren Strukturen entweder gering oder von stereotypen Vorurteilen geprägt, obwohl schon Anfang der 1960er-Jahre die ersten türkeistämmigen Gastarbeiter angeworben wurden. Mittlerweile leben in Deutschland etwa vier Millionen Menschen aus ca. fünfzig Ländern, die dem islamischen Glauben zugerechnet werden. Die größte Gruppe der Muslime bilden mit ca. zweieinhalb Millionen Menschen aus der Türkei, gefolgt von vierhunderttausend Menschen aus dem Nahen Osten (beispielsweise Syrien, Irak und Libanon). Da diese beiden Gruppen den größten Teil der muslimischen Bevölkerung repräsentieren, wurden die für dieses Buch gesammelten Interviews mit türkeistämmigen Familien und Familien aus dem Irak, Syrien und Libanon geführt.

Viele Migranten aus diesen Ländern stammen aus den wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten der Provinz sowie aus kleineren und abgelegenen Dörfern. Dort wird der Tradition vielfach noch ein hoher Stellenwert beigemessen. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus und eine unterentwickelte Infrastruktur bestimmen hier das alltägliche Leben auch heute noch. In der ländlichen Türkei herrschen traditionelle Geschlechterrollen, eingeschränkte Kommunikationsstrategien sowie traditionelle und autoritäre Erziehungsstile vor. Es ist nicht üblich, dass Eltern mit ihren Kindern diskutieren, um sie mit Argumenten zu überzeugen und ihnen zu erklären, was richtig oder falsch ist. Ein Erziehungsstil, der dazu führt, dass die Kinder von der Außenkontrolle der Erwachsenen abhängig sind und sich selbst nach den Maßstäben und Einschätzungen anderer bewerten. Entsprechend unterentwickelt ist ihre Selbstständigkeit. Eigenschaften wie Gehorsam, Verlässlichkeit, Loyalität, Respekt vor Autoritäten und Rücksichtnahme anderen gegenüber, die für das Funktionieren einer in so enger Verbindung miteinander lebenden Familiengruppe unerlässlich sind, werden männlichen und weiblichen Kindern gleichermaßen beigebracht. Das Hauptanliegen solcher Familienstrukturen ist es, die familiären Bindungen zu festigen, um nach außen intakt und geschlossen agieren zu können.

Die muslimische Minderheit wird sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in politischen Debatten als eine problematische und konfliktreiche Randgruppe wahrgenommen. Gleichwohl ist das Wissen über diese größte Minderheit sehr beschränkt. Stereotypen und Vorurteile bestimmen die allgemeine Meinung: Frauen werden oft als unterdrückte, unselbstständige „Wesen“, die ein Kopftuch tragen und drei Meter hinter dem Mann laufen müssen, bezeichnet, Männer als frauenfeindliche Machos. Und gewiss gibt es solche Männer und Frauen, denn in vielen Klischees steckt ein Körnchen Wahrheit. Es stellt sich aber die Frage, ob dieses Bild auf alle Muslime übertragbar ist.

Vielfach werden in Diskussionen, aber auch in einigen sozialwissenschaftlichen Abhandlungen die Migranten mit muslimisch-türkischem Hintergrund als eine in sich homogene Gruppierung betrachtet. Beobachtete Tendenzen werden generalisiert und der gesamten Bevölkerung zugeschrieben. Zitate aus dem Koran werden herangezogen, um die These von der Unterdrückung der Frau bzw. der dominanten Rolle des Mannes zu stützen. Die Erziehung, die Norm- und Wertvorstellungen in den Familien werden mit dem Islam bzw. Koran begründet und als traditionell, altmodisch und rückschrittlich abgestempelt. Oft wird auch angenommen, dass Frauen zwangsverheiratet werden und die Paare in dieser Frage keinerlei Mitspracherecht haben.

Tatsächlich ist es aber so, dass weder bei der Bevölkerung in der Türkei noch bei den in Deutschland lebenden türkeistämmigen Migranten eine homogene Bevölkerungsstruktur vorausgesetzt werden kann: In der Türkei leben etwa fünfzehn bis zwanzig Millionen Kurden, weiterhin Tataren, Tscherkessen, Lasen und arabischstämmige Türken. Bei all diesen Ethnien muss von mehr oder weniger voneinander abweichenden Norm- und Wertvorstellungen und unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ausgegangen werden. Ähnliche Tendenzen sind bei arabischstämmigen Migranten zu beobachten. Weiterhin gibt es in der Türkei eine Reihe religiöser Minderheiten, Armenier, Juden, Orthodoxe und andere christliche Gemeinden, sowie eine Reihe muslimischer Glaubensgemeinschaften, etwa Aleviten, die den Islam sehr unterschiedlich interpretieren. Damit möchte ich verdeutlichen, wie kompliziert und vielfältig die Bedingungen sind und dass Aussagen, die die gesamte Bevölkerung sowohl in der Türkei und in den arabischen Ländern als auch in Deutschland betreffen, eigentlich nicht gemacht werden können.

Im vorliegenden Buch sollen Themen wie Kopftuch, Zwangsheirat und Gewalt offensiv angegangen werden. Um eine klare Linie zu finden, versuche ich, anhand von Typenbildung die differenzierten Strukturen innerhalb der Familien zu beschreiben. Um nicht Gefahr zu laufen, abstrakt und auf der intellektuellen Ebene über Migrantenfamilien zu diskutieren, kommen sie in diesem Buch persönlich zu Wort. Die Innenansichten der Familien wurden anhand von Interviews mit Tonbandaufzeichnung eruiert, und im Verlauf des Buches werde ich immer wieder auf Ausschnitte daraus zurückkommen. Es hat sich herausgestellt, dass in Deutschland mindestens vier Familientypen mit unterschiedlichen Wert- und Normvorstellungen auszumachen sind. Selbstverständlich gibt es auch sehr individuelle Familien, die in keines der Raster oder Muster, die bei der Typenbildung relevant sind, passen.

Um die Lektüre nicht zu verkomplizieren, wurde die männliche Form der Schreibweise gewählt; selbstverständlich sind auch Frauen gemeint.

Die Methode

Das Interview

Um Daten und Informationen über Familien zu erheben, habe ich zwei unterschiedliche Zugangsformen gewählt. Zunächst habe ich Untersuchungen über Familien ausgewertet und dabei Publikationen aus Deutschland und den Herkunftsländern (vor allem der Türkei) berücksichtigt. Da es mein Anliegen war, die Migranten selbst zu Wort kommen zu lassen, habe ich als Methode das Interview (mit Tonbandaufzeichnung) gewählt, in dem die befragten Personen und Familien Schwerpunkte setzen konnten. Denn das Interview ist die sicherste Methode, um detaillierte und tiefgehende Informationen zu bekommen. Für dieses Buch habe ich die mündliche Befragung gewählt, weil viele der Befragten keine höhere Schulbildung haben und somit Fragebögen möglicherweise nicht korrekt ausfüllen können.

Im Vorfeld der Interviews habe ich die Migrantenfamilien beobachtet. In einem zweiten Schritt habe ich versucht, über eine Analyse der Situation die hypothetisch wichtigen Elemente herauszufiltern, indem ich mich mit dieser Situation auseinandergesetzt und die Reaktionen der Beobachteten ermittelt habe. Anschließend habe ich einen Interviewfragebogen entwickelt, der die relevanten Themen sowie die für die Situation wichtigen Aspekte und Elemente enthält. Das Hauptziel des Interviews ist es, die subjektiven Erfahrungswerte der Befragten in der zuvor erlebten und von mir analysierten Situation zu erfassen.

Im Rahmen eines Interviews, das auf Tonband aufgezeichnet wird, ist es oft schwierig, den Kontakt zu den Interviewpartnern herzustellen. Um ein vertrauensvolles und offenes Gespräch zu gewährleisten, habe ich mit den Interviewpartnern oder Vertrauenspersonen mehrere Vorgespräche geführt und dabei den Gegenstand des Interviews konkret und deutlich dargelegt. Ich habe mich im Fach- und Kollegenkreis erkundigt, um geeignete Familien zu finden. Die Interviewpartner sollten die gesamte Bandbreite abdecken, weshalb ich mit türkischen bzw. arabischen Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation Interviews durchgeführt habe, um festzustellen, welche Erfahrungen sie in Deutschland gemacht haben. Für dieses Buch habe ich in München, Berlin und Dortmund mit 22Familien insgesamt 28Interviews (18Einzel- und zehn Gruppeninterviews) mit 61Personen zwischen 14 und 69Jahren durchgeführt.

Jedes Interview dauerte zwischen 45 und 90Minuten – einige Gruppeninterviews über zwei Stunden – und wurde in der Regel in deutscher Sprache geführt. Den Interviewten wurde angeboten, notfalls auch türkische Ausdrücke zu verwenden; einige haben dieses Angebot angenommen. Arabische Ausdrücke wurden von einem fachkundigen Doktoranden übersetzt. Dass die Interviews überwiegend auf Deutsch geführt wurden, liegt daran, dass viele Gesprächspartner die deutsche Sprache besser beherrschen als die türkische oder arabische. Außerdem konnte ich so auf eine Übersetzung verzichten, bei der möglicherweise Bedeutungsnuancen verloren gegangen wären. Nach den Interviews wurde jedes Mal intensiv diskutiert.

Die 61Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer – 32Männer und 29Frauen – gehören der ersten, zweiten und dritten Migrantengeneration an. Elf der 61Interviewpartner besitzen zwar einen türkischen, arabischen bzw. deutschen Pass, geben aber an, Kurden zu sein. 21Interviewpartner stammen aus arabischen Ländern, wie Irak, Libanon oder Syrien, die restlichen vierzig Interviewpartner kommen aus der Türkei. Zehn Befragte gaben an, Muslime schiitischen Glaubens zu sein, vierzehn waren Aleviten und 37Sunniten. Der Altersdurchschnitt beträgt 33,6Jahre. Knapp zwei Drittel der Befragten (39) sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Bei den nicht in Deutschland geborenen Interviewpartnern beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Deutschland 14,9Jahre, wobei betont werden muss, dass vier Interviewpartner seit weniger als fünf Jahren in Deutschland leben. Knapp ein Drittel der befragten Personen sind im Besitz eines deutschen Passes. Insgesamt kann der Aufenthaltsstatus der Befragten als sehr sicher bezeichnet werden. Zum Zeitpunkt der Befragung waren acht der Befragten Hausfrauen, sechs arbeitslos, neunzehn Schüler/Student, neun Angestellte bzw. Beamte, sechs selbstständig, fünfzehn Arbeiter, vier befanden sich im Ruhestand. Sechzehn Befragte, die sich nicht in Ausbildung befanden, haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ursprünglich stammen die meisten aus den ärmeren, ländlich geprägten Gebieten der Türkei, Syriens, des Irak oder Libanon.

Typenbildung

Bei den Interviews stellte sich heraus, dass die Befragten unterschiedliche Wertvorstellungen, Erziehungsmuster sowie politische und religiöse Werte vertreten. Es bot sich also an, als Auswertungsmethode die Typenbildung zu wählen, die ähnliche Muster und innerfamiliäre Strukturen nachweist. Familien mit ähnlichen Mustern und Strukturen wurden in Gruppen zusammengefasst. Dabei haben sich die folgenden vier Familientypen herausgebildet:

Konservativ-autoritäre Familien

Bei den konservativ-autoritären Familien stehen die traditionellen Werte und Normen im Mittelpunkt, die die Eltern aus ihrem traditionellen Kontext adaptiert haben und an ihre Kinder weitervermitteln. Es herrscht eine geschlechtsspezifische Erziehung vor, bei der die formale Bildung der Mädchen als unwichtig erachtet wird. Um die Tradition zu bewahren, werden Ehepartner aus der eigenen Ethnie bevorzugt, auch aus den Herkunftsländern. In der Regel haben die Eltern in Deutschland keine Berufsausbildung und sind als Arbeiter oder Hilfsarbeiter tätig. Die Herkunftsorte dieser Familien sind meist kleinere Kreisstädte oder Dörfer, in denen die Tradition bis heute ein wichtiger Bestandteil des innerfamiliären Zusammenlebens ist. Darüber hinaus sind diese Familien kinderreich, d.h., es gibt oft mehr als drei Kinder. Bei der ersten Generation kann von einer überwiegend ländlich-dörflichen Sozialisation ausgegangen werden, die auf die Folgegenerationen übertragen werden soll. Das Bildungsniveau und die Deutschkenntnisse der Eltern und Kinder sind als gering zu veranschlagen. Einbürgerungen werden selten vollzogen.

Religiöse Familien

Bei diesen Familien spielen die religiösen Werte und Normen bei der Orientierung eine entscheidende Rolle. Die autoritäre Strenge im Hinblick auf die Religion steht im Mittelpunkt der Interaktion zwischen den Geschlechtern und Generationen. Religiöse Motivation und Strenge prägen den Erziehungsstil. Allen Familienmitgliedern werden religiöse Aktivitäten und Anschauungen abverlangt, etwa das Gebet und das traditionelle Fasten. Geschlechtsspezifische und religiöse Erziehung stehen im Mittelpunkt. Ehepartnerinnen müssen der eigenen Religion angehören, aber nicht der eigenen Ethnie. Es fällt auf, dass das Bildungsniveau bei diesem Familientyp heterogen ist: Sowohl formal hochgebildete als auch formal wenig gebildete Personen sind anzutreffen. Die Deutschkenntnisse und die Zahl der Einbürgerungen sind im Vergleich zu konservativ-autoritären Familien hoch. Die formalen Schulabschlüsse sind bei den Mädchen hoch, aber häufig wird auf eine Berufsausbildung verzichtet.

Leistungsorientierte Familien

Familien dieses Typs legen großen Wert auf die Bildung und Berufsausbildung. Werte und Normen sowie religiöse Einstellungen werden dem Studium oder der Berufsausbildung untergeordnet. Der Erziehungsstil kann als autoritär bezeichnet werden, die Eltern haben hohe Erwartungen an ihre Kinder. Diese richten sich an beide Geschlechter, auf geschlechtsspezifische Erziehung wird verzichtet. Während das formale Bildungsniveau der Eltern als gering oder mittel eingestuft werden kann, sind bei den Kindern in der Regel hohe Abschlüsse (Abitur oder Hochschulabschluss) zu beobachten. Diese Diskrepanz im Bildungsniveau lässt sich damit begründen, dass die Eltern über die Schul- und Berufsausbildung der Kinder ihr eigenes Bedürfnis nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlichem Ansehen zu realisieren versuchen. Auch bei den Deutschkenntnissen gibt es in den Familien sehr große Unterschiede. In vielen Fällen fungieren die Kinder als Dolmetscher oder Übersetzer für ihre Eltern. Ehepartner werden nicht nach Ethnie und Religion gewählt, sondern nach Bildung und Bildungsniveau.

Moderne Familien

Bei den modernen Familien sind beide Elternteile gleichermaßen an der Erziehung der Kinder beteiligt und haben das gleiche Mitspracherecht innerhalb der Familie. Wenn es um erzieherische Fragen geht oder darum, welche Schule das Kind besuchen soll, entscheiden beide Elternteile gemeinsam mit dem Kind, das letzte Wort wird also nicht vom Vater gesprochen, sondern es wird im familiären Konsens entschieden. Die klassischen Geschlechter- und Erziehungsrollen sind hier aufgebrochen, Mädchen und Jungen werden die gleichen Rechte und Pflichten eingeräumt. Das Bildungsniveau der Eltern und Kinder ist bei diesem Familientyp sehr hoch. Die Familienmitglieder der modernen Familien sind in der Regel eingebürgert. Die Familien haben meistens ein bis zwei Kinder. Sowohl die Mütter als auch die Väter haben ein Hochschulstudium bzw. das Abitur. Voreheliche Partnerschaften kommen unter bestimmten Bedingungen vor, Ehepartner aus Deutschland stehen hoch im Kurs, binationale Ehen und Partnerschaften kommen hier häufig vor.