Salomés Zorn - Simone Atangana Bekono - E-Book

Salomés Zorn E-Book

Simone Atangana Bekono

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Beschreibung

Simone Atangana Bekono legt mit "Salomés Zorn" ein erstaunliches Debüt über das Aufwachsen in einem rassistischen Umfeld vor. Mit der Geschichte der Jugendlichen Salomé, die ihre Wut nicht kontrollieren kann und sich zunehmend an den Rand der Gesellschaft manövriert, erzählt sie auf eindringliche Weise, wie stark das Gefühl des Fremdseins ein Leben dominieren kann. "Du musst deiner Faust folgen", erklärte er und machte mir den Schlag vor. "So, als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst." Salomés Vater weiß, was Rassismus bedeutet. Als Kameruner in der niederländischen Provinz hat er ihn oft genug am eigenen Leib erfahren. Für ihn liegt es auf der Hand, was er seiner sechzehnjährigen Tochter mit auf den Weg gibt: Du musst kämpfen. Seinen Blick voller Scham, als sie verhaftet wird, vergisst Salomé nicht. Die Jugendstrafanstalt, in die sie gebracht wird, ist kaum beklemmender als das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Doch muss sich Salomé hier zum ersten Mal wirklich mit dieser großen Wut auseinandersetzen, die ihr Handeln immer stärker bestimmt. Und das ausgerechnet mit dem Therapeuten Frits, den sie aus "Hello Jungle" kennt, einer Trash-TV-Show, die mit den fremdenfeindlichen Vorurteilen ihrer Kandidaten auf Quotenfang geht. Aber mit Gewalt und Verachtung wird sie hier nicht weiterkommen, Salomé muss umdenken – und beginnt zu verstehen, dass ihre eigene Feindseligkeit nichts von dem aufwiegt, was sie selbst so verachtet.

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Simone Atangana Bekono

SALOMÉS ZORN

Roman

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm

C.H.Beck

Zum Buch

«‹Du musst deiner Faust folgen›, erklärte er und machte mir den Schlag vor. ‹So, als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst.›» Salomés Vater weiß, was Rassismus bedeutet. Als Kameruner in der niederländischen Provinz hat er ihn oft genug am eigenen Leib erfahren. Was er seiner sechzehnjährigen Tochter mit auf den Weg gibt: Du musst kämpfen. Seinen Blick voller Scham, als sie verhaftet wird, vergisst Salomé nicht. In der Jugendstrafanstalt, in die sie gebracht wird, muss sie sich zum ersten Mal wirklich mit sich auseinandersetzen, mit dieser großen Wut, die ihr Handeln immer stärker bestimmt. Und das ausgerechnet mit dem Therapeuten Frits, den sie aus Hello Jungle kennt, einer Trash-TV-Show, die mit den fremdenfeindlichen Vorurteilen ihrer Kandidaten auf Quotenfang geht. Aber mit Gewalt und Verachtung wird sie hier nicht weiterkommen, Salomé muss umdenken – und beginnt zu verstehen, dass ihre eigene Feindseligkeit nichts von dem aufwiegt, was sie selbst so verachtet.

Mit der Geschichte eines Mädchens, das von einer unbändigen Wut getrieben wird, erzählt Simone Atangana Bekono auf tiefschürfende Weise, wie stark das Gefühl des Fremdseins ein Leben dominieren kann.

Über die Autorin

Simone Atangana Bekono wurde 1991 in Dongen, Niederlande, geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben an der ArtEZ Universität der Künste und schloss ihr Studium dort 2016 mit einer preisgekrönten Gedichtsammlung ab. 2020 wurde sie vom de Volkskrant zu einem der literarischen Talente des Jahres ernannt. Salomés Zorn ist ihr erster Roman.

Ira Wilhelm, 1962 in Lahr geboren, lebt als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin aus dem Niederländischen in Berlin. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen zählen u.a. Anneke Brassinga, Stefan Hertmans, Ilja Leonard Pfeijffer.

I am against all the major plots.

Deborah Levy, Hot Milk

I never said I was a gangsta but I will do ya So Hallelujah, Hallelujah One for the playas at the crib, drinking drinks And two is for the sound, Hootie Hoo that I make

Outkast, Hootie Hoo

Ich weiß noch, wie wir alle vor dem Zaun standen. Vermutlich im letzten Jahr der Grundschule. Wir hatten auf dem kleinen Sportplatz zwischen der Turnhalle und der Geflüchtetenunterkunft gerade Sportstunde gehabt und waren auf dem Rückweg zur Schule. Die Lehrerin war bereits mit den anderen Kindern vorausgegangen, als einer von uns vor dem Mann am Zaun stehen blieb, woraufhin auch der Rest nicht weiterging. Der Mann war groß und mager, ein abgetragener Wintermantel hing an ihm wie eine Wolke. Das schmale, schwarze Gesicht verschwand fast im hochgeschlagenen Kragen. Er stand im Gras neben dem Schlagbaum.

Einer warf die erste Münze, ich glaube, es war Sjoerd, und die anderen taten es ihm nach, fast nur die Jungs. Mit dem Sportbeutel in der Hand stand ich daneben und beobachtete meine Klassenkameraden, wie sie in den Taschen ihrer Hosen und Jeansjacken wühlten.

«Warum machst du das?», fragte Liliana Teun.

«Der braucht doch Geld, oder?», sagte er und lachte. Der Mann hinter dem Zaun starrte uns an, vor seinen Füßen die Münzen. Ich wollte nicht, dass er sie aufhob. Ich weiß noch, dass mir das sehr wichtig war. Dass er sie nicht aufhob.

«Na, mach schon, heb sie auf!», schrien Sjoerd und Teun und die anderen Jungs und auch ein paar der Mädchen. Sie lachten und schauten den Mann an. Die Lehrerin drehte sich um. Sie rief uns zu, dass wir dem Rest der Klasse folgen sollen. Alle rannten lachend auf sie zu. Auch Liliana.

«Komm!», rief sie und winkte mir zu, aber ich kam nicht.

Ich sah den Mann an. Der Mann sah mich an. Beide ignorierten wir die Münzen im Gras. Dann drehte sich der Mann um. Zuerst den Kopf, dann den ganzen Körper. Er ging zurück in die Geflüchtetenunterkunft.

Fotografiert werde ich in einem kleinen Zimmer mit grauen Wänden.

An einer Wand hängt das Poster eines von vorn und von der Seite fotografierten pickligen Jungen. Ich muss mich an die gegenüberliegende Wand stellen und erkenne, dass das Poster des pickligen Jungen darüber informieren soll, wie jugendliche Straftäter zu fotografieren sind: von vorn und von der Seite. Nach dem Kameraklick drehe ich mich nach links und halte dem Blitzlicht meine rechte Wange hin.

Der Mann geht zum Schreibtisch in der Ecke des Zimmers und lädt das Foto auf den Computerbildschirm. Ein erschöpftes, trauriges Gesicht blickt ihn an. Bin ich das?, würde ich ihn gerne fragen, weil ich mir unsicher bin. Er erklärt mir, was mit meinen Daten passieren wird.

«Es kann sein, dass wir deine Fingerabdrücke noch mal nehmen müssen, wenn du entlassen wirst. Zum Abgleichen.»

«Zum Abgleichen?», frage ich.

«Kommt so gut wie nie vor.»

Ich habe mal einen Film gesehen, in dem sich zwei Bankräuber die Fingerkuppen mit einem Bügeleisen abbrannten. Mit blutenden Händen zerstörten sie ihre Identitätspapiere und Pässe. Die Bankräuber wurden von zwei gut aussehenden amerikanischen Schauspielern ohne eine einzige Narbe im Gesicht gespielt. Ich bin keine hübsche amerikanische Schauspielerin, ich habe Narben im Gesicht. Eine ist alt und braun, neben meiner Nase, von damals, als Miriam mich aus Versehen mit dem Glätteisen verbrannt hat. Die andere ist ziemlich frisch und verläuft wie ein rosafarbener Halbmond von der Unterlippe bis zum Kinn.

«Stimmst du zu, dass wir dich nach verbotenen Gegenständen durchsuchen dürfen, bevor du das Gebäude betrittst?», fragt der Mann. Ich reibe das schwarze Zeug auf meinen Zeigefingern gegen das schwarze Zeug auf meinen Daumen, aber es geht nicht ab.

«Ja.»

Der Mann geht weg und ich bin einen Augenblick allein, lange genug, dass mir zum Heulen zumute wird, doch dann kommt eine Frau herein.

«Ich werde dich jetzt kurz durchsuchen», sagt sie. «Komm mit.»

Wir gehen in einen anderen Raum, er sieht fast aus wie ein Badezimmer, aber wie ein Badezimmer aus einem Horrorfilm: Die Fugen zwischen den weißen Wandfliesen sind schwarz vom Schimmel, hinter einem niedrigen Mäuerchen ist ein Sauggeräusch zu hören. Schlechte Vibes, würde Liliana sagen. Es stinkt nach Latex und Gully.

Zuerst checkt sie meine Hose, das Shirt und den Pulli, dann die Haare. Ein paarmal bleibt sie in den Knoten meines Afros hängen und entschuldigt sich. Ich soll mich ausziehen. Die Kleider lege ich auf einen Klappstuhl mit einem Riss im Leder der Rückenlehne. Die Schaumstofffüllung drängt ins Freie.

Sie darf in alle meine Löcher schauen. Bücken, nach hinten beugen, Arme hochstrecken, Arme senken, ich will ihr sagen, dass ich die Beine spreizen kann bis zum Spagat, wenn es sein muss, aber es muss nicht sein. Bin ja eh nicht ich. Mir wird mein Ausweis abgenommen. Der rote Halbmond auf meinem Kinn ist nicht auf meinem Passfoto. Ein Bügeleisen kann einen Teil von dem, was man ist, absengen, verschwinden lassen. Eine Narbe macht etwas anderes. Wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob ich es wirklich bin? Vielleicht gibt es ein zweites Ich, das jetzt ohne Tinte und ohne Narbe zur Schule radelt und nicht hier steht und das alles über sich ergehen lassen muss. Es ist der 25. Februar 2008 und es gibt zwei Salomés, ich bin eine davon und vielleicht nicht mal das Original. Als ich verurteilt und hierhergebracht wurde, hat Miriam gesagt: «Eins kann ich dir sagen, Bitch. Die Cosby Show wird’s nicht.»

Vielleicht macht eine andere Salomé, die es nicht verkackt hat, alles, was ich jetzt nicht machen kann: kiffen, einen englischen Film ohne Untertitel anschauen, ficken, allein mit dem Flugzeug ins Ausland reisen, einen Cocktail mit so einem Shaker machen, im Luxuskaufhaus Bijenkorf etwas kaufen, was teurer ist als zweihundert Euro, ganz allein ein Möbelstück von Ikea zusammenbauen. Und das alles ohne Narbe auf dem Kinn. Unversehrt.

Die Frau kommt wieder.

«Jetzt testen wir deinen Urin», sagt sie.

«Okay», antworte ich. Sie gibt mir alles, was ich dafür brauche, und führt mich im Badezimmer hinter das niedrige Mäuerchen, wo sich herausstellt, dass das Sauggeräusch von einem Chromklo stammt.

Neben dem Klo hängt eine Stange, an der man sich hochziehen kann.

«Na, mach schon», sagt die Frau und dreht sich mit dem Gesicht zur Tür.

Auf dem Weg hierher musste ich immer wieder daran denken, wie ich einmal Papas Uhr gestohlen habe. Im Wohnzimmer von unserem alten Haus stand eine Kommode und eine der Schubladen dieser Kommode war für uns verbotenes Terrain: Dort lagen Papas Uhren und anderes Zeug, das Miriam und ich nicht anfassen durften. Wenn ich allein spielte, dann sammelte ich alles Glitzernde, das ich im Haus finden konnte, und hängte mich voll damit: Mamas Ketten, Ringe, die sie von Oma geerbt hat, Schals mit Glitzer, Serviettenringe, goldfarbene Bänder, sogar Schlüsselanhänger. Ich kam mir dann vor wie eine Königin. Ich verknotete die Ärmel meines Morgenmantels und legte ihn mir wie ein Cape über die Schultern, nahm den Schrubber aus dem Putzschrank und stolzierte ganz langsam durch mein Schlafzimmer oder den Hausflur. Als Papa mal nicht zu Hause war, habe ich mir aus seiner Schublade eine Uhr genommen, aber vergessen, sie zurückzulegen, weil ich schon beim nächsten Spiel war. Papa hat erst nach ein paar Tagen gemerkt, dass die Uhr fehlte. Sie war doch tatsächlich aus echtem Silber. Und mit einer Widmung von seiner toten Mutter. Ein Hochzeitsgeschenk, das sie aus Kamerun geschickt hatte. Papa hat Mama in der Dorfkirche ohne seine Familie geheiratet, weil sie nicht genug Geld hatte, um zur Hochzeit in die Niederlande zu kommen. Oma schickte aber trotzdem die Uhr als Geschenk. Zwei Jahre später war sie tot. Und dieses Geschenk hatte ich jetzt verloren, das wusste er natürlich gleich. Er brüllte, dass ich klaue wie ein Rabe und nicht mit dem Rest der Familie essen darf, bis ich die Uhr gefunden habe. Ich suchte und suchte, hatte aber keine Ahnung, wo ich sie gelassen hatte. Miriam half mir nicht beim Suchen, sie schlich sich aus der Hintertür, um mit den Nachbarskindern zu spielen. Mama konnte mir nicht helfen, selbst wenn sie gewollt hätte. Es dauerte ein ganzes Wochenende, bis ich die Uhr fand, zwischen Bettrahmen und Matratze. Ein ganzes Wochenende voller Heulen, Bitten und Betteln, Ignoriertwerden, auf dem Zimmer essen, Schubladen auskippen, Fußmatten hochheben, Kommoden von der Wand rücken, um einen Blick dahinter zu werfen. Ich hasste mich so sehr dafür, dass ich die Uhr, als ich sie fand, nicht selbst zurückgeben wollte. Ich gab sie Mama und sie gab sie Papa und der legte sie zurück in die Schublade.

Aber natürlich war mir das keine Lehre und etwas später habe ich die Uhr wieder gestohlen und damit gespielt, doch diesmal hat Papa mich bei der Tat ertappt. Plötzlich stand er in meiner Zimmertür, und ich ließ den Schrubber, mit dem ich gerade hin und her stolzierte, fallen. An meinem Handgelenk glitzerte die Uhr. Mit einem Sprung war Papa bei mir und schlug mich so fest ins Gesicht, dass es durchs ganze Haus zu hören war. Mama kam gerannt, ich nehme an, auf das Geräusch hin. Ich war auf den Boden gefallen und vor Schreck sagte keiner von uns ein Wort. Papa stand mit offenem Mund da und starrte mich an und Mama starrte Papa an, auch sie mit offenem Mund. Ich muss dran denken, weil er mich, als sie mich ins Polizeiauto stießen, genauso angestarrt hat: mit offenem Mund. Als das mit der Uhr passierte, hat Mama mich gerettet, mich an sich gedrückt und schließlich das Schweigen gebrochen, indem sie Papa anbrüllte, dass er wohl spinne, sein eigenes Kind zu schlagen. Er hat sich dann ganz leise entschuldigt. Dadurch tat er mir dann so leid, dass ich ihn am liebsten getröstet hätte. Den Rest des Tages gingen Papa und ich uns aus dem Weg.

Ich will damit sagen, dass ich Papa auch unterwegs hierher sehr gerne getröstet hätte. Weil er sich so offensichtlich schämte, als sie mich im Polizeiauto wegbrachten, und auch danach bei meiner Verurteilung vor Gericht und wahrscheinlich tut er es jetzt im Moment noch, was wohl daran liegt, dass wir kaum darüber gesprochen haben, was passiert ist. Der Tag, an dem alles außer Kontrolle geriet, und der Tag danach, als sie mich zur Polizeiwache mitnahmen, sind zwei unübersehbare Gründe, um sich zu Tode zu schämen. Und ich glaube, Papa macht genau das im Moment. Aber von hier aus kann ich daran nichts ändern.

Als ich fertig bin, gibt die Frau mir eine Plastikkarte an einer Schnur. Ich hänge sie mir um. Dann kommt der Mann, der mich vorhin fotografiert und beim Datencheck meinen Namen falsch ausgesprochen hat, und beide führen mich aus dem Zimmer in einen Flur. Der Flur macht einen Bogen. Oder nein, der ganze Flur scheint ein einziger Bogen zu sein. Wir biegen rechts ab und gehen immer nur nach rechts, an einer Tür nach der anderen vorbei, über Linoleumboden voller schwarzer Streifen von Schuhsohlen, und bleiben dann vor einer großen Metalltür stehen. Der Mann zieht seinen Zugangspass durch einen Apparat neben der Klinke und man hört einen Pieps, dann ein Klicken. Sie öffnet sich auf einen schmalen Flur, der an einer schwarzen Tür endet. Nochmals die Karte: Pieps, Klick. Wieder biegen wir endlos rechts ab. Ich höre, wie eine Tür hinter uns zufällt, als wäre es ein mittelalterliches Fallgitter, das sich, whamm, mit Pfählen in die Erde rammt. Niemand hält mich fest, sie gehen jetzt einfach hinter mir, sie wissen, dass ich nicht fliehen kann.

«Hier», sagt die Frau. Wir halten vor einer der vielen blauen Türen, rechts und links vom Flur. Auf ihr steht: FRITS VAN GESTEL. Mir ist schwindlig. Die andere Salomé sitzt jetzt wahrscheinlich in der Frittenbude neben der Schule oder isst ein Eis mit einem Millionär. Eigentlich ist es dafür zu kalt, aber sie machen es trotzdem. Verdammte Scheiße!

Der Mann neben mir klopft und der Mann, der Frits van Gestel heißt, öffnet, und es ist nicht einfach irgendein Frits van Gestel, der in der Tür steht, sondern der, der vor einer Weile im Fernsehen gesagt hat, dass er schon immer Respekt hatte vor dem «primitiven Leben hier in Afrika». Großen Respekt, hat er sogar gesagt.

Ich denke, ich sehe nicht recht. Ich bin ja schon immer ziemlich schräg im Kopf gewesen, und unberechenbar, aber jetzt glaube ich, nicht mehr alle Nadeln an der Tanne zu haben. Eine weibliche Person im Flur lacht laut los. Ich kann gut verstehen, dass man in einer Situation wie der hier laut und unkontrolliert loslacht, es ist einfach zu krass. Der Mann und die Frau machen jeweils einen Schritt vorwärts und schauen mich prüfend an, und ich sehe erst nach links und dann nach rechts. Ich will meinen Unglauben mit ihnen teilen.

«Was gibt’s denn da zu lachen?», fragt Frits van Gestel. Seine Stimme ist tief, mit einem Akzent aus der Bredaer Gegend. Er lässt seine ausgestreckte Hand sinken. «Alles in Ordnung?», fragt die Frau. Ich versuche, mein Grinsen zu stoppen, indem ich mit der Hand die Mundwinkel nach unten drücke, aber meine Kiefer weigern sich. Ich bekomme fast einen zweiten Lachanfall, ich spüre, wie er in meinem Bauch brodelt. Ich muss ihn unbedingt verhindern.

«Sorry», sage ich und fasse mir auch mit der anderen Hand ins Gesicht, um das Lachen zu verbergen und wenn nötig zurück in meinen Bauch zu pressen. «Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös.»

«Komm rein und setz dich», sagt Frits van Gestel und macht einen Schritt zur Seite, damit ich ins Zimmer kann. «Wir sehen uns jetzt erst mal deine Akte an.»

Ich rühre mich nicht vom Fleck.

«Das ist kein Witz, oder?», frage ich und schaue wieder vom Mann zur Frau.

«Ich fürchte nein», sagt der Mann.

In meinem neuen Zimmer riecht es nach Turnhalle. Das liegt am Linoleumboden. Es ist leer, bis auf die Tasche mit meinen Sachen. Sie steht auf dem Boden vor dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster. Der Stuhl ist mit der Lehne gegen die Tischplatte gekippt. Links vom Fenster ein eingebautes Regal. Zum Bett, auf dem ich sitze, gehört ein Nachttisch mit Lampe, es steht an der Wand, das Kopfende vor der dämlichen Scheißkonstruktion, die auch im Zimmer vorhin gestanden hat: Es ist ein Klo, und fest damit verbunden ein Waschbecken mit einer Schublade. Alles aus Chrom. Unter dem Waschbecken, neben der Schublade, eine Aussparung für die Klopapierrolle. Funktional nennt man so was. Auf einem Brett an der Wand liegen zwei zusammengefaltete Handtücher und darüber hängt ein kleiner Spiegel. In der Untersuchungshaft hatte ich wenigstens eine eigene Dusche.

Mein Zimmer blickt auf Rasen und Zäune, ich schaue wieder auf meine Tasche, die sie in mein Zimmer gestellt haben. Worüber ich mich ziemlich wundere. Nur in Hotels werden einem die Sachen aufs Zimmer gebracht, und das hier ist alles andere als ein Hotel.

Ich gehe zur Tasche und mache sie auf. Sie ist eigentlich ziemlich ordentlich gepackt. Ich schiebe sie mit dem Fuß Richtung Regal und setze mich aufs Bett. Alle Wände hier sind weiß. Wenn ich auf dem Bett sitze und geradeaus schaue, sehe ich nur eine leere, weiße Wand. Weiß und sonst nichts, bis auf ein paar Streifen und Flecken. Rechts und links vom Fenster hängen dunkelblaue Gardinen.

Ich soll auf den Mann und die Frau von vorhin warten. Sie wollen mich holen, sobald sie, der Direktor und Frits bereit sind, mit mir zu besprechen, «was wir hier jetzt tun werden». Das hat Frits van Gestel gesagt, der Mann aus dem Fernsehen, mein Verhaltenstherapeut, mein Mentor. Der Mann mit dem «großen Respekt vor dem primitiven Leben hier in Afrika». Ich stehe vom Bett auf, gehe zum Schreibtisch vor dem Fenster, greife nach den Gardinen und ziehe sie zu.

Mein erster Schultag auf dem Sint-Odulfus-Categoraal-Gymnasium sah folgendermaßen aus: Ich war vom Dorf aus mit zwei anderen Jungs von der Grundschule hingeradelt. Die beiden hatten sich im Abschlusstest ebenfalls fürs Gymnasium qualifiziert, aber es waren ausgerechnet zwei Jungs, mit denen ich in meiner Schulzeit eigentlich nie richtig gespielt oder gesprochen hatte. Die Mutter von einem der beiden, Joop, hatte Mama angerufen und gesagt, dass wir Kinder, wo wir doch die gleiche Schule besuchen, eigentlich zusammen in die Stadt fahren könnten.

Als wir auf dem Schulhof des Sint-Odulfus ankamen, zeigte sich, dass Joop und der andere Junge, Rens, bereits ein paar Jungs vom Schachclub her kannten. Kaum hatten wir unsere Fahrräder abgeschlossen, waren sie schon weg. Ich saß in der ersten Stunde ganz hinten im Klassenzimmer, fest in meine Jeansjacke gewickelt, weil es durchs Fenster hereinzog. Mein Klassenmentor blamierte sich, als er versuchte, meinen Namen auszusprechen. Alles lachte.

Eine Gothic aus der elften Klasse brachte mich und meine neuen Klassenkameraden in der Mittagszeit zum Sportplatz neben dem Schulhof, damit wir dort zusammen unsere Schulbrote aßen. Sie meinte, so könnten wir uns etwas kennenlernen, was aber darauf hinauslief, dass drei Mädchen sich höflich mit ihr unterhielten, während der überwiegende Rest der Klasse Freundschaft schloss, indem er sich über ihr Outfit lustig machte. Abgesehen von ein paar Autisten, die wie ich ihre Mittagsbrote still in sich hineinstopften. Ich saß neben einem Jungen mit hellblonden Härchen auf der Oberlippe und Armen so dünn wie Kroketten. Wir schwiegen gemeinsam.

Ich war noch kaum eine Woche auf dem Sint-Odulfus, da kam ich heulend nach Hause. Papa sagte, dass man nicht gemobbt werden kann, wenn man die, die einen mobben, einfach ignoriert. Zwei Wochen später kaufte er einen Punchingball.

«Du musst deiner Faust folgen», erklärte er mir und machte mir den Schlag vor. «So, als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst.»

Im Gruppenraum werde ich den anderen Mädels vorgestellt. Viele sind es nicht. Ich meine, eigentlich wusste ich das ja schon, aber jetzt, auf einem Haufen, sehen sie aus wie eine schlecht gecastete girl band. Es sind acht. Eine hat wahnsinnig viele Tattoos und trägt eine Trainingshose, das Haar in dicke Cornrows geflochten. Eine andere hat gelbliche Strähnchen und einen dunkelbraun nachwachsenden Haaransatz. Eine Menge Piercings, klein, mit einer hässlichen Nase. Die beiden stechen richtig raus. Die übrigen sechs sind irgendwas dazwischen. Ab jetzt werde ich zu ihnen gehören. Ich kratze mich am Kopf, und Geert, der Betreuer, der mich abgeholt hat, sagt meinen Namen. Dann deutet er auf eine nach der anderen: Henny, Geraldine, Soraya, blablabla. Ich weiß nicht, ob ich ihnen die Hände schütteln oder mich einfach hinsetzen soll.

In der Untersuchungshaft, wo alle dachten, ich würde in der Irrenanstalt landen, und ich als einzige Insassin nicht von meinem Loverboy zusammengeschlagen worden war, kamen die Mädels eins nach dem anderen zu mir, gaben mir, ohne mich anzusehen, die Hand und trotteten wieder in ihre Zimmer zurück.

Aber hier stehen sie alle rum, mit verschränkten Armen. Nur Henny, groß und träge, hebt die Hand. Ich strecke den Daumen in die Luft und hasse mich.

Auf einem Tisch stehen Teller und Gläser, Messer, Brotscheiben, Käse, Schokostreusel und eine Menge uncooler Brotaufstriche. Sechs Monate lang Gruppenfrühstück, Gruppenmittagessen, Gruppenabendessen. Sechs Monate lang. Dazu könnte ich eine Menge sagen, und alles wäre schlecht. Geert deutet auf den Tisch und wir setzen uns. Ich nehme den Platz neben der Tätowierten. In Gefängnisfilmen setzt sich der Held fast immer auf den Stuhl, auf dem sonst die rechte Hand vom Chef der Gefängnisgang sitzt, und dann gibt’s eine Riesenschlägerei, damit der Held kapiert, dass er sich am untersten Ende der Nahrungskette befindet und sich den Respekt der anderen erst verdienen muss. Die Tätowierte schweigt, als ich meinen Stuhl ranschiebe. Sie riecht nach Kokosöl und der Pflegespülung, die auch Miriam benutzt, was mich ziemlich überrascht. Sie trägt einen Karl-Kani-Pulli zur Trainingshose, die Ärmel hat sie hochgekrempelt. Auf ihrem Unterarm das Gesicht einer Frau.

«Yo», sagt sie, ohne mich anzuschauen. Die anderen greifen zu den Schokostreuseln, gießen sich Milch ein und unterhalten sich. Sie nimmt sich Weißbrot und Erdnussbutter und schmiert sie in großen Placken auf die Scheiben. Dann dreht sie sich zu mir um und zieht eine Augenbraue hoch, und zwar die, über der in Schnörkelschrift ONELUV steht, als ob sie sagen wollte: «Ist was?»

«Yo», sage ich schnell und greife zur Kanne, auf der steht, dass Tee drin ist.

Nach dem Mittagessen habe ich erst Mathematikunterricht, dann Niederländisch und Erdkunde. In einem Klassenzimmer, in das man auch durch den ewig rechts abbiegenden Flur kommt. Nicht alle Mädels sind im Unterricht. Die Lehrerin ist eine dicke Frau mit einer großen Holzkette um den Hals, wie Mama sie auch manchmal trägt. Sie leiert den Unterrichtsstoff monoton aus dem Schulbuch herunter, in allen drei Unterrichtsstunden.

Nach der Erdkundestunde bleibt Zeit für eine Zigarette, bevor wir in die Zimmer müssen und dort aufs Abendessen warten. Ich biege nach dem Rauchen links ab und lande im Gruppenraum statt im Flur, von dem die Zimmer abgehen.

«In spätestens zwei Minuten musst du auf deinem Zimmer sein, also beeil dich», sagt Geert und tippt mit dem Finger auf seine Armbanduhr. Er sitzt am Esstisch und füllt gerade ein Formular aus. Ich seufze und gehe zurück, vorbei an den vielen Türen, bis ich endlich mein Zimmer finde. Ich höre die Musik der anderen, Rap und Natasha Bedingfield und Balkan-Pop, ich höre sie auch noch, nachdem ich die Tür hinter mir zugeknallt habe.

Ich schaue mich im Spiegel an, zupfe an der rosafarbenen Narbe auf meinem Kinn herum, liege auf dem Bett, warte.

«Essenszeit», ruft Geert und öffnet schwungvoll meine Tür. Ich trotte hinter ihm her in den Gruppenraum, wo ein dampfender Topf auf dem Tisch steht. Zwei Mädels decken, der Rest lümmelt auf den Sofas herum, am Kicker. Ich bleibe in der Tür stehen, bis die Betreuer sagen, dass wir uns setzen sollen. Langsam gehe ich zum Tisch, denen aus dem Weg, die auf ihre festen Plätze zustreben.

Ich setze mich wieder ans Tischende neben ONELUV, und sie nickt mir zu. Ich nicke zurück. Wir essen geschmacklose Makkaroni mit Karottenstückchen. Die anderen unterhalten sich mit den Betreuern über einen Film oder starren wie ich einfach auf den Teller. Sie versuchen, mich anzuschauen, ohne dass ich es merke. Inzwischen lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern. Zwei Sofas, Stühle, Stehlampen, ein Schrank voller Spiele, Zeitschriften, ein Kicker. Ein Schreibtisch, auf dem ein alter Computer steht.

«Der Computer darf nur mit Erlaubnis benutzt werden», hat mir Frits während des Kennenlerngesprächs erklärt.

Ich fasse es nicht. Ausgerechnet er. Ich muss danach fragen. Nicht, dass ich Lust hätte, einen auf Freundschaft zu machen, aber ich will es unbedingt wissen. Ich esse und warte, bis mich keiner mehr beachtet. Dann drehe ich mich zu ONELUV.

«Hast du hier auch Therapie?», frage ich. Sie runzelt die Stirn und nimmt einen Schluck Wasser und einen Happen Nudeln.

«Klar», sagt sie mit einer tiefen, brummenden Stimme. «Warum fragst du?»

«Der Dude, der hier die Therapie gibt, der –»

«Es ist kein Unterrichtsfach oder so was.»

«Ja, nein, stimmt, weißt du, dass der...»

«Ja, Hello Jungle. Du bist nicht die Erste, Mann.» ONELUV rutscht hin und her, als ob sie sich über mich ärgert, wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Ich starre wieder auf meinen Teller.

«Dieser Typ», sage ich nach einer Weile, «so was geht doch nicht?»

«Und ob so was geht», sagt sie und sticht mit der Gabel in ein großes Stück Karotte. «Gewöhn dich dran.»

Nach dem Essen gehen einige auf ihre Zimmer, spülen ab oder räumen auf. ONELUV verschwindet. Jemand schaltet den Fernseher ein. Ich beschließe, in meinem Zimmer die Tasche auszupacken. Ich lege die Zahnbürste und die Zahnpasta neben das kleine Waschbecken hinter dem Bett, die Kleider in das Regal neben dem Fenster. Meine Tür steht einen Spalt offen und ich höre die anderen lachen, hin und her gehen, jemand duscht im Waschraum, den Geert mir gezeigt hat. Das nennt sich hier Freizeit: Man darf tun, was man will, solange die Hausregeln eingehalten werden. Ich will aber nichts tun, sondern einfach dasitzen und warten, ich könnte auch zu Hause anrufen, doch dazu müsste ich wieder in den Gruppenraum, und allein der Gedanke daran macht mich nervös, also bleibe ich sitzen und denke nach, pinkle ins Klo hinter dem Bett, ziehe die Gardinen auf und starre ins Dunkle draußen, bis Geert kommt und sagt, dass gleich die Türen zugemacht werden.

«Zähneputzen und ab ins Bett», sagt er.

Als ich endlich im Bett liege, bin ich erschöpft vom Nichtstun, alles dreht sich. Geert sagt mir gute Nacht und zieht die Zimmertür hinter sich zu, Pieps, Klick, jetzt kann ich in Ruhe nachdenken. Gewöhn dich dran, hat ONELUV gesagt. Gewöhn dich dran. Mein Licht ist aus. Die Armbanduhr habe ich auf das Nachtschränkchen gelegt, neben die Lampe. Woran genau ich mich gewöhnen soll, weiß ich nicht. Ich frage mich, was Miriam von dem Ganzen hier halten würde, oder Mama, Papa, Tante Céleste. Ich höre dem nervigen Tick-Tack der Zeit zu. Höre, wie Tante Céleste weint, als sie es erfährt. Wie ein kleines Mädchen weint sie durch den Lautsprecher und in unser Wohnzimmer hinein, schnief, schluchz. Ich will, dass das Bild verschwindet, aber das geht nicht. Ich fühle mich, als schwebte ich über meinem Bett, ich kann mich nicht bewegen.

«Warum muss es denn so enden?», weint Tante Céleste, laut und schrill, als würde sie sich gerade über meinen Sarg beugen und auf meinen toten Körper schauen. Ich sehe ihr Gesicht über mir, wie eine Kugel baumelt der Kopf von der Decke. Ihre Tränen fallen mir in die offenen Augen, in den Mund, sie schmecken salzig, tropfen in meine Nase, ich kriege keine Luft mehr. Es sind dicke, zähflüssige Tränen, von der Nase fließen sie hinter meine Augen und quellen von dort wieder heraus. Dann drehe ich mich von Tante Céleste weg und mein Körper schreckt aus dem Traum auf. Ich setze mich auf, Schweiß auf der Stirn, dem Rücken. Dann erinnere ich mich wieder: Ich bin hier. Hier.

Ich lege mich hin und beruhige mich allmählich. Ich schaue hinauf ins Schwarz, wo die Zimmerdecke sein muss und wo gerade noch Tante Célestes Kopf gehangen hat, dann schließe ich meine Augen, damit das Schwarz noch schwärzer wird, und versuche, nicht loszuheulen. Vergeblich. Mein Kopf ist schwer und ich denke an Gras.

Du hast verschlafen», sagt die Betreuerin, die mich gestern gefilzt hat. Ich soll mich schnell anziehen und zum Frühstück kommen. «Morgen besorgen wir dir einen Wecker. Ich heiße übrigens Savanna. Ohne H. Habe ich gestern bei dem ganzen Anmeldungskram vergessen. Na los, steh auf!» Sie zieht die Tür wieder zu. Mein Körper tut weh, als hätte ich die ganze Nacht verkrampft im Bett gelegen. Ich stehe auf, ziehe mich an, lege die Armbanduhr um. Offiziell ist die Frühstückszeit fast zu Ende. Ich fühle mich beschissen. In zwei Stunden bin ich schon vierundzwanzig Stunden hier. Dann ist der erste Tag des ersten Monats von sechs Monaten, die ich hier eingebuchtet bin, vorbei.

Frits kann mich mal. Ich meine es ernst. Verdammt noch mal, ich wäre die Erste, die den ganzen Scheiß zugeben würde. Aber ich finde die Strafe hier ziemlich krass. Ich kann mich nicht zurückhalten.

«Verdammte Kacke! Warum soll ich mir von einem verfickten Rassisten helfen lassen?», habe ich Frits heute Morgen entgegengebrüllt, worauf er mich gefragt hat, was ich um Himmels willen meine.

Ich bin nicht immer so gewesen, aber seit vorigem Sommer, vielleicht auch schon länger, herrscht ein einziges Chaos in meinem Kopf. Seither hoffe ich, dass mich etwas wachklingeln wird, wie der Wecker, den Savanna am zweiten Tag auf meinen Nachttisch gestellt hat, und dass ich in einem anderen Leben aufwache. Im Leben der anderen Salomé, die in den Griechischklausuren lauter Einsen schreibt, in die Ferien fährt, auf dem Klavier improvisiert. Stattdessen bewege ich mich in einer merkwürdigen Parallelzeit, in der ich mir während der Therapie den Locher vom Schreibtisch kralle und gegen das Fenster schmeiße. Das Fenster geht nicht kaputt, weil die Fenster hier natürlich nicht einfach so kaputt zu machen sind. Dass es heil bleibt, macht mich noch wütender, und ich brülle, dass ich lieber tot wäre. Ich werde von Tag zu Tag dramatischer. Ist doch eh alles scheißegal.

Mir kommen nur noch Wörter in den Kopf, die Mama «extrem» nennt, wenn Miriam und ich uns streiten und uns dabei «Scheiße» oder «Kratz doch ab, du Schlampe» an den Kopf werfen oder wenn wir Wörter wie «fuck» oder «verfickt» benutzen. Ich weiß noch immer nicht, was da eben mit mir los war. Die «extremen» Wörter kamen aus meinem Mund geschossen wie Kugeln. Aber es fühlt sich anders an als früher. Es passiert ohne Ankündigung.

Als ich angefangen habe zu schreien, hat Frits sofort die Betreuer angerufen, und Geert und Marco kamen angerannt. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gemacht habe, aber ich stand wohl schon eine ganze Weile vor Frits und brüllte ihn an. Irgendwie scheine ich den Locher danach wieder vom Boden aufgehoben und gedroht zu haben, ihn auf Geert zu werfen, doch der hat mich mit Marco auf den Boden geworfen und in mein Zimmer geschleift. Tür zu.

Ich mache alles nur noch extrem. Und wegen der beiden großen Männer, die mich mit ihren Körpern runtergedrückt haben, tun mir jetzt die Handgelenke und Knie auch extrem weh.

Ich darf mein Zimmer nicht verlassen. Gut, dann halt nicht. Aber ähnlich wie Marissa, die es toll findet, sich den ganzen Körper bis ins Gesicht mit Tattoos zuzukleistern, obwohl sie von allen, die hier rumlaufen, die Intelligenteste ist, habe ich vielleicht nicht mehr alle Nadeln an der Tanne, das heißt aber nicht, dass ich nicht im Recht bin, oder? Das Beschissene daran, allein im Zimmer eingesperrt zu sein, ist, dass ich meine Bücher jetzt schon alle gelesen habe. Null Ablenkung also. Nur die gärende Scheiße in meinem Kopf.