Salz auf deinen Lippen - Kerry Greine - E-Book
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Kerry Greine

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Beschreibung

Werden aus Sternschnuppen, die vom Himmel fallen und im Meer landen, eigentlich Seesterne? „Wow, eine Kreuzfahrt!“ ist wohl der erste Gedanke, wenn man einen Urlaub auf der AIDA miterleben darf. Nicht jedoch bei Malin und Noah, die unabhängig voneinander eine solche Reise von ihren Eltern geschenkt bekommen. Malin hatte sich ihren Urlaub so schön vorgestellt, wollte sie doch ihr Häuschen renovieren. Stattdessen muss sie für eine erkrankte Freundin ihrer Mutter einspringen – dabei wird sie schon seekrank, wenn sie Wasser nur sieht. Für Noah hingegen ist diese Reise ein letzter Versuch, das Verhältnis zu seinem Vater neu aufzubauen. Nach jahrelanger Funkstille und grundsätzlich unterschiedlichen Lebenseinstellungen ist das jedoch gar nicht so leicht. Kaum auf dem Schiff lernen Malin und Noah sich kennen, und schon bald reift in ihnen der Plan, ihre Eltern zu verkuppeln, um mehr Zeit für eigene Interessen zu haben. Doch Gefühle kann man nicht planen – erst recht nicht die eigenen. Als dann auch noch etwas Unvorhergesehenes geschieht, werden ihre aufkommenden Gefühle füreinander auf eine harte Probe gestellt und aus dem ruhigen Fahrwasser wird ein brodelnder Ozean.

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Inhaltsverzeichnis

Seekrank

Meeresbrise

Seenotübung

Kabinentür

Sonnendeck

Meerblick

Landgang

Schiff ahoi

Landkrankheit

Klabautermann

Strandtag

Wellenschlag

Klubschiff mit Kinderbetreuung

Pool oder Planschbecken?

Spielchen im Wasser

Titanic

Tsunami

Boarding

Stürmische See

Zwischenstopp

Leuchtturm

Bingo an Bord

Sekt und Erdbeeren

Unter Deck

Mariana

Bordgespräch

Sicherer Hafen

Gefährliche Brandung

Hinausschwimmen

Seelöwen

Verankert

Seestern

Glitzerwasser

Wellenspiel

Meeresrauschen

Strandfrühstück

Gedankenwellen

Wassersport

Untergegangen

Wasser

Tränenmeer

Wie Ebbe und Flut

See-Bär

Windstill mit vereinzelten Böen

Windstärke elf

Paella am Strand

Sterne über dem Meer

Polarstern

Einsame Bucht

Sex on the Beach

Herzmuschel

Salz auf deinen Lippen

Von:

Kerry Greine

&

Ben Bertram

Alle Rechte vorbehalten!

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren!

Im Buch vorkommende Personen und die Handlung dieser Geschichten sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Text Copyright © Kerry Greine & Ben Bertram, 2015

Impressum:

Text:

Kerry Greine

Lehmstich 3

21423 Winsen

E-Mail: [email protected]

und

Ben Bertram

Stellauer Straße 30 B

25563 Wrist

E-Mail: [email protected]

Covergestaltung:

Grittany Design

www.grittany-design.de

Motivbilder:

© Black Spring – fotolia.com

© michaeljung – fotolia.com

© Aleksandra Smirnova – fotolia.com

Lektorat:

Ira Ludewigs

Korrektorat:

SW Korrekturen e.U.

[email protected]

Seekrank

O Mann, wie konnte ich mich nur darauf einlassen? Was hatte mich bloß geritten, dass ich zugesagt hatte, ausgerechnet mit meiner Mutter Urlaub zu machen? Wenn ich nur daran dachte, was gleich auf mich zukommen würde, wurde mir schon schlecht.

Kopfschüttelnd sah ich an der Fassade des überdimensionalen Glaskastens hinauf, in dem sich das Hamburger Kreuzfahrtterminal befand. Nicht genug damit, dass ich mir meine Sommerferien anders vorgestellt hatte, nein, noch dazu musste ich gleich auf ein Schiff und würde die nächsten elf Tage nur von Wasser umgeben übers Meer schippern.

Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Ich wurde schon in einem Kanu seekrank! Bereits jetzt freute ich mich darauf, auf Gran Canaria anzulegen, wo wir im Anschluss an die Schiffsreise noch drei Nächte in einem Hotel am Strand verbringen würden.

„Malin, nun komm schon! Ich will endlich an Bord.“ Ungeduldig nahm meine Mutter mich am Arm und zog mich in Richtung der Schiebetüren, die in das Terminal hineinführten. Ich konnte gerade noch nach dem Bügel meines Rollkoffers greifen, bevor ich ihr hinterher stolperte.

„Mama, ganz ehrlich. Ich glaube, das ist keine so gute Idee, mich auf dieses schwimmende Ungetüm zu sperren“, jammerte ich und versuchte, wie schon so oft in den letzten zehn Tagen, meine Ma von ihrem Plan abzubringen.

„Ach, so ein Quatsch! Ich hab es dir doch gesagt, du wirst nicht eingesperrt! Wir checken jetzt ein, beziehen unsere Kabine und heute Abend legen wir ab. Danach erkunden wir das Schiff, gehen lecker essen und Cocktails trinken und morgen machen wir einen Wellnesstag. Du wirst sehen, es wird großartig!“ Strahlend sah sie mich an und deutete dann mit dem Kopf auf die Menschenmassen um uns herum.

„Wir müssen uns da jetzt anstellen zum Einchecken.“ Sprach es, drehte sich um und ging los. Verwirrt folgte ich ihr. Anstellen? Wo denn? Ich sah nur Menschen aller Altersstufen, die scheinbar planlos durch die riesige Halle irrten. Schulterzuckend stapfte ich ihr mit meinem Koffer hinterher und sah zu, dass ich sie nicht aus den Augen verlor.

O Mann, die sollten gleich alle auf diesem Schiff untergebracht werden? Na, das würde ja was werden! Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon eingezwängt wie eine Sardine in der Dose am Pool liegen und mich am Buffet um das Essen prügeln. Und das die nächsten elf Tage! Genervt seufzte ich auf. Ich hatte mir für diese Sommerferien so viel vorgenommen!

„Kann ich nicht einfach ein Papierschiffchen auf meinem Teich schwimmen lassen? Da hab ich mehr als genug Wasser und ich kann den festen Boden unter den Füßen behalten“, murmelte ich vor mich hin. Meine Ma blieb stehen, und als ich genauer hinsah, was sie zum Stoppen gebracht hatte, erkannte ich, dass hier tatsächlich so etwas wie das Ende einer Menschenschlange war. Ich konnte Absperrungen entdecken, zwischen denen die Leute im Zickzack hindurchgeführt wurden. Am anderen Ende der schier endlosen Reihe mussten also die Check-in-Schalter sein. Zumindest vermutete ich das, denn erkennen konnte ich nichts. Nur die weiße Rückwand des Terminals war über den Köpfen der Leute zu sehen.

„Nun stell dich mal nicht so an!“ Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften und sah mich strafend an. „Ich hab mir meinen Urlaub auch anders vorgestellt. Aber ich kann nichts dafür, dass Ruth krank geworden ist und nicht fahren darf. Ich wäre auch lieber mit meiner besten Freundin gefahren als mit meiner Tochter. Doch die Reise stornieren, wäre ja wohl dämlich gewesen. Was wir da an Stornokosten bezahlt hätten! Außerdem wird es dir ganz guttun, mal aus deinem Loch rauszukommen.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich war in keinem Loch! Diese Trennung ist das Beste, was mir passieren konnte. Außerdem ist das Ganze schon neun Monate her! Ich bin längst drüber hinweg.“

„Ich rede doch nicht von der Trennung. Ich rede von deinem Haus! Seitdem Markus ausgezogen ist, verschanzt du dich in deinen vier Wänden. Du gehst nicht mehr weg, sondern hockst nur über deinen Büchern oder machst was weiß ich was. Das ist nicht gesund! Du bist jung, du solltest Spaß haben, feiern, tanzen, mit Freunden weggehen. Irgendwas!“

„Aber ich habe Spaß!“, protestierte ich. „Ich lese nun mal gern und außerdem gibt es im Haus und im Garten immer viel zu tun. Du weißt genau, dass ich die Ferien nutzen wollte, das Wohnzimmer zu renovieren. Ich kann diese schlicht weißen Wände nicht mehr sehen, ich brauche Farbe!“

„Ach Quatsch! Das sind doch alles nur Ausreden! Zum einen hast du sechs Wochen Sommerferien, von denen wir gerade mal zwei unterwegs sind, und zum anderen kannst du dein Wohnzimmer auch im Winter noch renovieren. Wir haben Sommer, genieß das Wetter, halt deine Nase in die Sonne und lass dich einfach mal treiben.“

„Ja, okay. Aber warum muss ich das ausgerechnet auf einem SCHIFF machen! Du weißt doch, wie schnell ich seekrank werde. Ich verbringe bestimmt die nächsten elf Tage kopfüber über der Kloschüssel.“

Meine Mutter zog grinsend eine Augenbraue hoch.

„Das kann ich mir kaum vorstellen bei der Batterie an Medikamenten, die du eingepackt hast. Außerdem merkt man bei so einem großen Pott die Wellen sowieso nicht. Also, entspann dich und versuch es zu genießen.“ Damit drehte sie sich wieder um und schloss die Lücke, die sich durch unsere Diskussion vor uns gebildet hatte.

„Es stimmt, was Ihre Mutter sagt.“ Erstaunt schaute ich mich um, als eine fremde Stimme mich ansprach. Vor mir stand ein Mann, ungefähr im Alter meiner Mutter und lächelte mir freundlich zu.

„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische. Ich habe Ihre Bedenken eben mitbekommen. Ich vertrage das Schaukeln auch nicht, aber auf so einem Kreuzfahrtdampfer ist es vollkommen anders. Ich fahre jetzt schon das fünfte Mal mit der AIDA und hatte noch nie Probleme. Sie können wirklich ganz beruhigt sein, Sie werden nicht merken, dass Sie sich auf einem Schiff befinden.“ Aufmunternd nickte er mir zu.

„Na ja, um uns herum ist nur Wasser, ich glaube kaum, dass ich vergessen kann, dass das nächste Land kilometerweit weg ist“, entgegnete ich ironisch. Der Mann vor mir lachte schallend auf. Ein warmes Geräusch, das einen einlud, mitzulachen.

„Okay, Sie haben gewonnen. Aber glauben Sie mir, es wird Ihnen trotzdem gefallen! Und Sie werden süchtig nach Kreuzfahrten werden, das geht fast jedem so.“

„Ich kann es mir zwar kaum vorstellen, lasse mich jedoch gern überraschen.“ Warum auch immer, die Worte des Mannes hatten mir gutgetan, und ich fing langsam an, mich zu entspannen. Vielleicht wurde diese Reise ja doch keine Katastrophe, ich würde es auf mich zu kommen lassen.

Während die Menschenmassen sich wie eine Viehherde allmählich weiter durch die Absperrungen in Richtung der Check-in-Schalter schoben, dachte ich über die Worte meiner Mutter nach. Hatte ich mich in den letzten Monaten wirklich verkrochen?

Ich hatte es nicht so empfunden, aber vielleicht hatte es für Außenstehende tatsächlich so gewirkt. Vielmehr war ich der Meinung, mich in meinem Singleleben eingefunden zu haben.

Die letzte Zeit mit Markus war wirklich alles andere als schön gewesen. Vor anderthalb Jahren hatten wir uns ein Häuschen am Stadtrand von Hamburg gekauft. Ein kleines Grundstück, fünf Zimmer und genug Platz, eine Familie zu gründen. So war damals zumindest der Plan. Doch kaum umgezogen, gingen die Streitereien los. Wer wäscht die Wäsche? Wer putzt, bügelt, kocht. Jede Kleinigkeit musste ausdiskutiert werden, ob ich jetzt eine neue Blume im Garten pflanzen wollte oder auch nur einen Sessel verrücken. Es war egal, wir haben uns über alles in die Wolle bekommen und innerhalb weniger Monate wurde aus unserem Traum von Gemeinsamkeit ein Beziehungskäfig. Irgendwann haben wir beschlossen, dass es einfach nicht mehr geht. Markus fehlte die Nähe zur City, und so ist er ausgezogen und hat sich eine Wohnung in Eimsbüttel gesucht.

Durch meinen Job als Grundschullehrerin hatte ich das Glück, auf Lebenszeit verbeamtet zu sein und noch dazu nicht schlecht zu verdienen. Nach langem Hin und Her und diversen Gesprächen mit Banken und Notaren durfte ich die Hauskredite auf meinen Namen umschreiben lassen und Markus seinen Anteil am Haus auszahlen. Jetzt waren zwar meine monatlichen Kosten höher, aber dafür gehörte mein Traumhaus ganz allein mir. Ich konnte dort machen, was ich wollte, und niemand würde mir mehr reinreden. Bei dem Gedanken daran, wie viel ich in den letzten Monaten schon umgestaltet hatte, musste ich lächeln. Die ersten zwei Wochen der Sommerferien hatte ich damit verbracht, mir einen Gartenteich anzulegen, in dem mittlerweile drei Goldfische und ein kleines Plastiknilpferd schwammen.

Insofern hatte meine Ma recht, ich hatte mich wirklich in meinem Haus verkrochen. Aber nicht, weil ich um meinen Exfreund trauerte, sondern weil ich noch immer dabei war, das Haus zu meinem Heim zu machen. Nichts sollte mich mehr an die gescheiterte Beziehung mit Markus und meine geplatzten Träume von einer Familie erinnern.

Bis auf das Wohnzimmer und das Bad hatte ich alle Räume frisch gestrichen und hübsche Tapeten an die Wände gebracht. Wenn ich mal nicht am Renovieren war, hatte ich im Garten auf meiner Liege gelegen und gelesen. Ich war einfach zu kaputt, um abends und am Wochenende noch großartig loszuziehen. Und ich genoss meine Ruhe und das Alleinsein.

Es war nicht so, dass ich von Männern nichts mehr wissen wollte, aber ich hatte nicht vor, aktiv auf die Suche nach einem neuen Partner zu gehen. Warum auch? Wer sucht, wird eh nicht fündig. Irgendwann wird mir schon jemand über den Weg laufen, ich hatte es nicht eilig.

„Malin, dein Koffer! Träumst du?“ Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Tagträumereien. Wir hatten den Schalter erreicht und ein junger Mann in schicker weißer Uniform lächelte uns freundlich an.

„Oh, Verzeihung! Ich war in Gedanken.“ Ich schob ihm meinen Koffer zu und grinste entschuldigend.

„Das macht gar nichts! Ich kann das verstehen. Ist schon beeindruckend, wenn man hier steht und noch nicht mal die Reling erkennen kann, weil das Schiff so groß ist. Sie sind nicht die Einzige, die beim ersten Anblick der AIDA alles um sich herum vergisst.“ Verständnisvoll zwinkerte er mir zu, und ich erkannte erst jetzt, was er mit seinen Worten meinte. Die weiße Wand, die ich hinter ihm vermutet hatte, war gar keine Wand. Auch die Rückseite war verglast und gab den Blick frei auf den riesigen Rumpf des Schiffes. In wenigen Minuten würde ich den Hamburger Boden verlassen und da raufgehen. Auf die AIDAbella.

Meeresbrise

Auch wenn ich die Idee meines Vaters zunächst als ziemlich außergewöhnlich empfand, hatte ich mich in den letzten Wochen mit ihr arrangiert. Elf Tage lang wollten wir eine Bootstour machen und anschließend noch drei Tage auf Gran Canaria am Strand verbringen. Nicht nur, dass ich diese Zeit zunächst als viel zu lang ansah. Ich hatte auch keine Idee, wie wir beide sie gemeinsam und ohne Streit überleben wollten.

Schon als ich ein Teenager gewesen bin, ist mein alter Herr nach Berlin Kreuzberg gezogen und ließ uns alleine in Hamburg zurück. Noch immer nahm ich es ihm übel, dass er direkt nach dem Tod meiner Mutter vor vier Jahren seine letzten Sachen aus dem Keller holte und verschwand. Seitdem hatten wir nur sporadisch Kontakt. Das Haus, das er erbte und in dem ich eine Einliegerwohnung bewohnte, wurde verkauft und ich durfte mich auf die Suche nach neuen vier Wänden machen.

Günstiger Wohnraum in einer Weltstadt war ähnlich schwierig zu finden wie ein Diamant am Strand von Sylt. Der Kontakt zu meinem Vater war bereits sehr eingeschränkt, als ich noch in meinem Elternhaus lebte. Mit meiner Mutter lief es bestens. Wir hatten eine tolle Beziehung zueinander und verbrachten ziemlich viel Zeit zusammen.

Nach ihrem völlig überraschenden und plötzlichen Tod lag mein Verhältnis zu meinem Vater komplett brach. Ich wollte keinen Kontakt mehr zu ihm und sein Interesse an mir war nicht wesentlich größer.

Letztes Jahr zur Weihnachtszeit war es, als ich das Bedürfnis hatte, meinen Vater zu kontaktieren. Tatsächlich war es so, dass ich das Wort kontaktieren im Kopf hatte, als ich mit zitternden Händen seine Nummer wählte und wieder auflegte, noch bevor das Freizeichen ertönte. Ich schaffte es einfach nicht, die Kluft zwischen uns war zu groß. Es wäre wie ein Anruf in eine andere Welt gewesen. Fast so, als würde ich eine schlechte Zeit aus meiner Vergangenheit geraderücken wollen. Mein Vater war nach meiner Erinnerung schon immer ein Lebemann gewesen. Ein Mensch, der keine Feier ausließ und sicher lieber drei Frauen gleichzeitig anstatt keiner am Start hatte. Zumindest unterstellte ich es ihm.

Ich war anders. Als ich 16 war, hatte ich Birgit kennengelernt und war die nächsten elf Jahre mit ihr zusammen gewesen. Wahrscheinlich wäre ich es noch heute, wenn sie mich nicht wegen eines anderen verlassen hätte. Schon damals konnte mein alter Herr mich nicht verstehen. Immer wieder sagte er mir diesen dämlichen Satz, dass auch andere Mütter schöne Töchter hätten und ich viel zu jung dafür sei, meine Jahre mit Birgit zu vergeuden.

Kurz darauf verstarb meine Mutter und unser Kontakt brach komplett ab.

An Heiligabend stand mein Vater auf einmal vor meiner Haustür.

„Hallo, Noah.“

Wie selbstverständlich, als wenn er täglich vorbeischauen würde, begrüßte er mich und ging an mir vorbei in meine Wohnung. Völlig überraschend war es für mich. Ich hätte nicht verwirrter durch den Türrahmen geschaut, wenn der Weihnachtsmann höchstpersönlich dort gestanden hätte.

Er blieb den ganzen Abend und übernachtete sogar bei mir, da wir einige Gläser Wein getrunken hatten. Da entstand auch die Idee, eine gemeinsame Kreuzfahrt zu machen. Eine Idee, die ich eine Woche später bereits vergessen hatte, da es meiner Meinung nach nur eine Schnapslaune meines Vaters gewesen war. Doch als ich eines Mittwochs nach der Arbeit nach Hause kam und meinen Briefkasten öffnete, hatte ich Post von meinem Vater. In dem Umschlag lagen mein Ticket sowie die Reiseunterlagen.

Jetzt stand ich tatsächlich hier und war frustriert, da ich mich in einer viel zu großen Wartehalle mit viel zu vielen Menschen und viel zu langen Warteschlangen befand. Von einer Meeresbrise hatte dies alles nichts und so sah ich meinen Vater mit einem enttäuschten Blick an.

„Dass so viele Menschen mit an Bord sind, hast du mir aber nicht gesagt.“

„Wir sind ja auch noch gar nicht an Bord, wir sind am Terminal.“

„Korrekt. Aber alle Menschen, die jetzt hier am Terminal stehen, werden ganz sicher auch auf das Boot wollen.“

„Schiff.“

„Wie Schiff?“

„Wir gehen auf ein Schiff. Nicht auf ein Boot! Ich bin mal gespannt, ob du es dir irgendwann merken kannst.“ Diese Diskussion weiterzuführen, machte keinen Sinn. Mir war es vollkommen schnuppe, ob man diesen riesigen Karren nun als Boot oder Schiff bezeichnete. Tatsache war, dass meiner Meinung nach viel zu viele Menschen gemeinsam mit mir und meinem Vater in See stechen wollten.

„Ich schau mal, ob ich einen Kaffee finde. Möchtest du auch?“

„Nein, lass mal.“ Da mein alter Herr in der Schlange anstand, machte ich mich auf den Weg. Es war ein fürchterliches Gedränge und Geschiebe. Als ich mich endlich durch die Massen gequält hatte, befand ich mich vor einem Infostand. Dieser blöde Infostand hatte aus der Entfernung wie ein Coffeeshop ausgesehen und ich hatte mich auf dem gesamten Weg dorthin auf einen leckeren Milchkaffee gefreut. Da ich mir die Reiseunterlagen bis heute nicht richtig angesehen hatte, schnappte ich mir eines der Prospekte und begann darin zu blättern. Erst als mein Handy klingelte und ich auf dem Display den Namen Papa Dieter erkennen konnte, wurde ich aus meinen Gedanken und dem Lesen der Broschüre gerissen. Papa Dieter stand aus einem ganz bestimmten Grund in meinem Telefonverzeichnis. Früher hatte ich meinen Vater lediglich unter Dieter abgespeichert und erst seit Weihnachten, als unser Kontakt zumindest ein wenig häufiger geworden war, fügte ich das Wort Papa hinzu. Dass dort nur Papa stand, hatte sich mein Vater noch nicht verdient.

„Warum rufst du mich an?“

„Weil wir gleich an der Reihe sind. Du bist schon eine Ewigkeit weg.“ Tatsächlich hatte ich beim Blättern in dem Prospekt total die Zeit vergessen.

„Dann kämpfe ich mich mal wieder zu dir durch.“ Mein Handy hatte ich in der Hosentasche verschwinden lassen, und ich machte mich mit der Broschüre in der Hand auf den Weg zu meinem Vater. Mein Vorhaben gestaltete sich noch schwieriger als der Hinweg. Einige Menschen glaubten, dass ich vordrängeln wollte, und andere waren einfach so penetrant stur, dass sie mich nicht durchlassen wollten. Mit knappen Kommentaren und eingesetzten Ellenbogen schaffte ich es doch irgendwann, mein Ziel zu erreichen. Kurz bevor ich bei meinem alten Herrn eintraf, konnte ich erkennen, dass er schon wieder mit irgendwelchen Frauen am Quatschen war. Bereits jetzt ging es mir auf den Geist, da ich vermutete, dass es die gesamte Bootstour so bleiben würde. Von diesem dämlichen Kahn konnten die Frauen schließlich nicht flüchten. Somit hatte mein Vater ein reich bestücktes und abgestecktes Revier. Ich war mir ziemlich sicher, dass es hier reichlich leichte Beute für ihn geben würde. Allerdings war die Frau, mit der er in diesem Moment sprach, viel zu jung für ihn. Klar war mein alter Herr ein attraktiver Mann, der auch eine coole Ausstrahlung hatte. In meinen Gedanken setzte ich ein zumindest für sein Alter hinzu und grinste.

Ja, es war wirklich eine ausgesprochen hübsche Frau, mit der mein Vater in ein Gespräch verwickelt war. Wahrscheinlich war er es gewesen, der sie angesprochen hatte, was jedoch nichts an der Situation änderte. Ich mochte ihre Augen, ihre Nase, dessen Spitze sich beim Reden leicht bewegte, und ich mochte ihre Lippen. In ihrem Gesicht passte alles perfekt zusammen, und ich fand bereits jetzt, dass sie eine sehr schöne Frau war, ohne ihren Körper sehen zu können.

Als ich endlich bei meinem Vater angekommen war, war die Frau schon verschwunden. Die letzten Meter hatten eine Ewigkeit gedauert, da das Gedränge und die Fülle immer stärker wurden, je dichter ich dem Schalter zum Einchecken kam.

„Es wird ja auch mal Zeit.“

„Was wird Zeit?“

„Dass du hier erscheinst. Mein Koffer steht schon zum Einchecken bereit und in wenigen Sekunden wäre ich auf dem Schiff gewesen.“

„Hätte … Wäre … Wenn …! Ich bin doch da und alles ist gut.“

„Hätte ich dich nicht angerufen, wärst du nicht pünktlich gewesen.“ Ich sparte mir ein erneutes Hätte-Wäre-Wenn und grinste stattdessen. Einen Satz konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen.

„Aber du hast mich angerufen.“ Mehr konnte ich nicht sagen, und zum Glück konnte mein Vater auch nicht antworten, da wir in diesem Moment am Schalter bedient wurden und aufnahmebereit sein mussten.

Endlich waren wir an Bord und hatten unsere Schlüsselkarten für die Kabinen bekommen, in denen wir uns jetzt befanden. Zwei Einzelkabinen direkt nebeneinander waren unser Zuhause für die nächsten elf Tage. Nur ganz kurz kam mir in den Sinn, wie es wohl gewesen wäre, wenn wir eine Doppelkabine gebucht hätten. Kopfschüttelnd wischte ich meine Gedanken beiseite und ging zur Tür, da es klopfte. Mit hektischem Blick sah mein Vater mich an.

„Komm schnell, wir müssen auf das Deck hinaus.“

„Warum?“

„Für ein Frage-und-Antwort-Spiel ist jetzt keine Zeit. Beeile dich einfach.“ Während andere Passagiere des Schiffes mit ihren Koffern durch die Flure gingen und nach ihren Kabinen Ausschau hielten, liefen wir mit hektischen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Außer Atem kamen wir auf dem Deck an und lehnten uns an die Reling. Ich sah mich um und versuchte herauszufinden, weshalb ich mich so beeilen musste. Irgendetwas musste es doch zu sehen geben. Ohne Grund würde mein Vater wohl nicht einen solchen Stress verbreiten.

„Sorry, ich kann nichts sehen. Warum um alles in der Welt haben wir uns so beeilt, hierherzukommen?“

„Wenn das Schiff ablegt, wird immer eine Coverversion eines Enya-Titels, der hier passend zum Schiff A.I.D.A. heißt und von Solano eingespielt wurde, gestartet. Dazu kommt dann noch immer ein zweites Lied. Sail Away in der instrumentalen Version von Martin Lingnau.“

„Was du alles weißt!“

„Ich beschäftige mich halt vor meinem Urlaub mit der geplanten Tour. Nicht erst kurz vor dem Einchecken in einer überfüllten Halle. Außerdem ist das hier nicht meine erste Reise mit der AIDA.“

„Aber mal im Ernst: Siehst du die Leute dort hinten stehen? Ich meine, die am Ufer?“

„Du meinst, die am Kai?“ Mit überlegenem Blick sah mein Vater mich an.

„Ob Ufer oder Kai. Ganz ehrlich, es ist mir gerade ziemlich Wurst. Auf jeden Fall stehen dort noch reichlich Menschen, die darauf warten, auf das Schiff zu kommen. Was um alles in der Welt wollen wir jetzt schon hier?“

„Frühes Kommen sichert die besten Plätze. Und hier auf dem Oberdeck haben wir ganz sicher die besten Plätze auf dem Schiff ergattert.“ Weiter über dieses Thema zu diskutieren, lohnte sich nicht. Stattdessen machte ich mich erneut auf die Suche nach einem leckeren Milchkaffee.

Seenotübung

Kaum waren wir in unserer Kabine angekommen, klopfte es auch schon an der Tür und ein Steward brachte unsere Koffer herein. Ich hievte meinen auf mein Bett und fing an, meine Klamotten in den Kleiderschrank zu räumen.

„Doch nicht jetzt, Malin. Das können wir später machen.“ Meine Ma klappte den Deckel mit so viel Schwung wieder zu, dass ich es gerade noch schaffte, meine Finger in Sicherheit zu bringen.

„Oberdeck oder Balkon?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah mich fragend an.

„Wie bitte?“, hakte ich verwirrt nach.

„Das Auslaufen. Schatz, hast du dich denn gar nicht informiert? Wir laufen gleich aus. Hörst du nicht? Die Maschinen werden gerade gestartet.“ Erst jetzt fiel mir die leichte Vibration auf, die durch den Kabinenboden zu fühlen war. Man spürte es nur, wenn man genau darauf achtete; hätte meine Mutter nichts gesagt, wäre es mir nicht aufgefallen.

Allein beim Gedanken an die Menschenmassen, die hier gerade beim Betreten des Schiffes auf den Fluren unterwegs gewesen waren, wurde mir schon ganz anders. Es reichte mir, wenn ich mich nachher zum Essen wieder da reinstürzen musste.

„Balkon!“, sagte ich daher bestimmt und steuerte die kleine Glastür an. Ich konnte einen Moment der Ruhe nach dem Gewusel gut gebrauchen. Vor allem, da ich es nicht gewohnt war, so ein Gedränge um mich zu haben. Dagegen waren selbst die Flurdienste in der Schule kurz nach der Pausenklingel harmlos.

Wir hatten das Glück, dass wir direkt auf den Kai schauten, auf dem noch immer Menschen standen.

„Sag mal, ist das wirklich so, wie man es immer im Fernsehen beim Traumschiff sieht? Bleiben die da unten stehen, bis wir auslaufen, oder wollen die alle noch rauf?“

In diesem Moment fing Musik an zu laufen, leise durch einen Lautsprecher, der irgendwo in der Kabine versteckt sein musste.

„Schatz, sieh mal nach unten. Das beantwortet deine Frage.“

Ich machte, wie mir geheißen, und erkannte, dass die armdicken Taue, die das Schiff am Kai gehalten hatten, gelöst worden waren und wir uns tatsächlich langsam vom Ufer entfernten. Kurz wallte ein Gefühl von Panik in mir auf. Wir hatten die Verbindung zum Land gekappt, jetzt ging es los, und in den nächsten elf Tagen waren, abgesehen von den Häfen, in denen wir anlegen würden, mehrere hundert Meter Wasser unter uns. Ich schluckte hart und atmete tief durch. Nun gab es kein Zurück mehr.

Während die Menschen am Kai immer kleiner wurden, spürte ich erstaunlicherweise, wie ich mich entspannte. Okay, wir waren noch auf der Elbe und nicht auf dem offenen Meer, aber es schwankte wirklich kein Stück unter meinen Füßen. Auch die typische Übelkeit, die ich sonst sofort verspürte, wenn ich mich auf dem Wasser befand, blieb aus.

Eine Weile standen wir nebeneinander an die Reling gelehnt da und schauten ans Ufer der Elbe. Die Sonne schien warm auf unsere Gesichter, und ich hoffte, das Sommerwetter würde uns die nächsten zwei Wochen über erhalten bleiben.

„Wollen wir essen gehen?“, fragte meine Ma irgendwann und ich sah erstaunt auf die Uhr. Es war bereits sieben und wie auf Befehl fing mein Magen an zu knurren. Meiner Mutter schien es ähnlich zu gehen, und wir machten uns auf den Weg, eins der vielen Restaurants aufzusuchen.

„Nur damit du eine ungefähre Orientierung hier hast. Die Restaurants befinden sich alle am Heck des Schiffes, nur auf unterschiedlichen Decks. Im Zweifel läufst du also immer zum Heck, dann findest du dich bestimmt gut zurecht.“

Zweifelnd blickte ich den langen Flur entlang. Irgendwie sah hier alles gleich aus. Meine Ma hatte gut reden, sie fuhr mindestens zweimal im Jahr gemeinsam mit Ruth mit der AIDA, für mich allerdings war es Premiere.

Wir stiegen eine Treppe hinauf und standen tatsächlich direkt vor einem Restaurant.

„Das ist das Markt Restaurant“, erklärte meine Ma. „Ich finde, wir gehen heute hier essen. Die anderen Restaurants können wir dann in den nächsten Tagen noch ausprobieren.“ Ich zuckte nur mit den Achseln und folgte meiner Ma, die sich bereits zwischen den Tischen hindurchschob und nach einem freien Platz suchte.

„Ist hier noch frei?“ Verwirrt sah ich, wie sie an einer langen Tafel, an der ungefähr zwölf Leute Platz finden würden, stehen blieb. Zwei Stühle an unserem Ende waren unbesetzt, und die ältere Dame, die direkt danebensaß, forderte uns lächelnd auf, uns zu setzen. Völlig perplex ließ ich mich auf einen der Stühle fallen.

„Nun guck doch nicht so. Das macht man hier so. Es gibt keine festen Plätze oder Tische. Man gesellt sich einfach zu irgendwelchen Leuten dazu. Das ist das Konzept, die Menschen sollen miteinander ins Gespräch kommen.“ Ich nickte nur stumm und ließ den Blick über unsere Tischnachbarn gleiten. Am anderen Ende der Tafel entdeckte ich den Mann, der mich vorhin am Check-in bereits angesprochen hatte. Als er in meine Richtung sah, lächelte er mir freundlich zu und hob sein Weinglas, wie um mir zuzuprosten. Ich erwiderte sein Lächeln ganz automatisch.

Meine Ma schenkte uns Rotwein aus einer der Karaffen ein, die auf allen Tischen bereitstanden, dann gingen wir in Richtung des Buffets. Jetzt erklärte sich mir auch, warum das ganze Markt Restaurant hieß. Es war aufgebaut und dekoriert wie ein Wochenmarkt. Viele kleinere Stände aneinandergereiht, an denen man die schönsten Köstlichkeiten bekam. Ich konnte mich kaum entscheiden, was ich bei dieser Vielfalt auswählen sollte, und nahm von mehreren Ständen erst einmal nur kleine Portionen. Am Brotstand wurde ich von jemandem angerempelt und kam ins Straucheln. Der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, fasste nach meinem Oberarm und hielt mich fest.

Nur durch seine Hilfeleistung gelang es mir, meinen Teller nicht fallen zu lassen.

„Danke schön. Und … Entschuldigung. Ich habe Sie nicht gesehen“, stammelte ich. Der Mann sah mich nur an, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Ich sah in dunkelgraue Augen, die mich durchdringend musterten. Noch immer hatte er meinen Arm nicht losgelassen, obwohl ich längst wieder sicheren Stand hatte.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Sie konnten nichts dafür. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit und nahm seine Hand herunter. Komisch, mir war gar nicht aufgefallen, was für eine Wärme seine Finger ausgestrahlt hatten. Erst jetzt bemerkte ich, wie meine Haut kühl wurde, wo eben noch seine Hand gelegen hatte.

„Nein, alles gut. Nichts passiert“, murmelte ich.

„Man sieht sich bestimmt die Tage wieder.“ Der Unbekannte nickte mir noch einmal zu und verschwand dann zwischen den Leuten am Buffet, während ich zu unserem Platz zurückkehrte. Ja, klar. Man sieht sich wieder, dachte ich ironisch, als ich aß. Auf diesem Schiff befinden sich gerade 1968 Passagiere, wie soll man sich da wiedersehen?

Die genaue Zahl der Mitreisenden kannte ich nur, weil der Kapitän nach dem Auslaufen eine Begrüßungsrede gehalten und dies erzählt hatte. Andererseits saß der Mann vom Check-in ja auch an unserem Tisch, vielleicht gab es ja irgendein mir unbekanntes Kreuzfahrt-Phänomen, dass man trotz der Menschenmassen immer dieselben Leute wiedertraf? Ich musste meine Ma unbedingt danach fragen.

Als wir nach dem Essen aufstanden und den Tisch verließen, nickte ich dem Mann vom Check-in noch einmal zu und wir wünschten einen schönen Abend in die Runde. Da entdeckte ich ein paar dunkelgraue Augen, die ich vorhin bereits aus nächster Nähe gesehen hatte. Ich stockte und traute meinen Augen kaum. Der Mann, der mich angerempelt hatte, hatte den ganzen Abend nur wenige Plätze neben mir am Tisch gesessen. Wieso war er mir nicht aufgefallen?

„So, wir haben jetzt eine Stunde Zeit, dann ist die Seenotübung. Wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen? Oder ein bisschen das Schiff erkunden? Worauf hast du Lust?“, fragte meine Ma, als wir vor dem Restaurant standen.

„Was ist dann?“ Kaum war die Frage raus, erklärte sie sich mir von selbst. „Ach, vergiss es!“, schob ich direkt hinterher. Klar, jeder, der mal von der Titanic gehört hatte, sollte wissen, wofür so was gut ist.

Das Essen war so lecker gewesen, und ich hatte solche Mengen verputzt, dass ich erst einmal einen Kaffee wollte, daher machten wir uns auf den Weg. An der Beach Bar konnten wir draußen sitzen und so suchten wir uns einen freien Tisch und bestellten jeder einen Cappuccino. Entspannt beobachtete ich die Leute in der Bar und stellte fest, dass sich gerade eins meiner Vorurteile gegenüber Kreuzfahrten erledigte. Bisher hatte ich immer gedacht, so eine Schifffahrt wäre nur etwas für ältere Leute und Rentner, aber je länger ich hier saß, desto mehr fiel mir auf, wie gemischt die Altersklassen doch waren. Ich sah viele Familien mit Kindern, was wohl auch den derzeitigen Sommerferien geschuldet war, und Pärchen in meinem Alter. Die ältere Generation war eher weniger vertreten – oder hielt sich einfach gerade nicht an der Beach Bar auf.

„Wir sollten langsam in die Kabine zurückkehren und unsere Rettungswesten anziehen“, meinte meine Ma irgendwann, und ich wunderte mich, wie schnell die Zeit verflogen war.

Zwanzig Minuten später hörten wir die Durchsagen, die Übung begann. Gut verpackt in die leuchtend orangenfarbenen Rettungswesten, machten wir uns auf den Weg aus der Kabine. Im Flur herrschte ein heilloses Chaos, noch schlimmer als vorhin, als wir an Bord gekommen waren. Alle verließen gleichzeitig ihre Räumlichkeiten, und ich hatte Sorge, meine Ma aus den Augen zu verlieren. Wir drängten uns zu unserem zuständigen Sammelplatz auf das Deck und wurden von einem Mitarbeiter der AIDA empfangen. Er hatte alle Hände voll zu tun, denn nicht jeder fand auf Anhieb den für ihn vorgegebenen und nach Kabinen sortierten Platz.

Über ein Megafon versuchte er, sich Gehör zu verschaffen, und jeder Passagier musste sich mit Kabinennummer bei ihm melden. Trotz des offensichtlichen Chaos wirkte er wie die Ruhe in Person, aber klar, er machte diese Übung ja auch auf jeder Reise wieder und vermutlich lief sie immer so ab wie heute.

Erst als sich alle Gäste eingefunden und an ihren Sammelstationen gemeldet hatten, gab es noch eine kurze Durchsage vom jeweiligen Crewmitglied, dann waren wir entlassen – Übung erfolgreich absolviert. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass im Falle einer tatsächlichen Seenot auch sämtliche Gäste gerade auf ihren Kabinen waren, damit es halbwegs geordnet ablief. Aber über die Frage, wie eine ernsthafte Rettung ansonsten wohl ausgehen würde, wollte ich mir lieber keine Gedanken machen. Ich hatte mich gerade erst dran gewöhnt, tatsächlich auf einem Schiff eingesperrt zu sein. Mich jetzt näher mit einer Seenot zu befassen, würde mich vermutlich derart in Panik versetzen, dass ich die kommenden elf Tage unsere Kabine nicht mehr verließ. Oder im nächsten Hafen von Bord ging und nicht wieder aufs Schiff zurückkehrte. Morgen würden wir einen Tag nur auf See haben, und ich war gespannt, wie ich es vertrug, wenn wir die offene Nordsee erreichten und mit mehr Wellengang als auf der Elbe zu rechnen war.

Doch erst einmal beschlossen meine Ma und ich, den Begrüßungsabend auf dem Pooldeck zu genießen, wo heute noch eine Show stattfinden würde.

Kabinentür

Ohne den geplanten Milchkaffee, dafür aber im Sauseschritt machte ich mich auf den Weg zurück zu meinem Vater. Fast 15 Minuten hatte ich in der Schlange gestanden, um mir einen Milchkaffee zu besorgen. Als gerade nur noch zwei Personen vor mir standen, spürte ich eine leichte Bewegung. Wahrscheinlich aufgrund meines irritierten Blickes sagte mir der Mann, der vor mir anstand, dass das Schiff in diesem Moment ablegen würde.

Genau mit diesen Worten begrüßte ich meinen Vater, als ich wieder bei ihm angekommen war.

„Wieso legen wir jetzt ab? Da standen doch noch Hunderte von Menschen am Kai, die alle aufs Boot wollten.“

„Schiff.“

„Was Schiff?“

„Wir befinden uns auf einem Schiff. Nicht auf einem Boot!“

„Ob Schiff oder Boot ist doch wohl ziemlich schnuppe. Hattest du mir nicht vorhin gesagt, dass die ganzen Menschen auch noch aufs Boot müssen?“

„Von einem Boot hab ich ganz sicher nichts gesagt.“

„Dann eben aufs Schiff!“ Langsam war ich echt genervt von diesem blöden Spielchen und sah meinen Vater erwartungsvoll an. Da er es nicht für nötig hielt, mir zu antworten, war ich es, der die nächste Frage stellte.

„Also, warum legen wir ab, obwohl noch Hunderte von Menschen auf dem Kai standen? Haben die etwa die Abfahrt verpennt?“

„Nein. Die stehen da, um zu winken und um sich das Ablegen dieses tollen Schiffs anzusehen.“

„Das hättest du mir auch vorhin sagen können. Dann wäre ich gar nicht erst losgelaufen, um mir einen Kaffee zu besorgen.“

„Ich bin davon ausgegangen, dass du es weißt.“

„Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich wohl kaum diese Frage gestellt.“

„Ganz ehrlich, Noah, ich habe gedacht, dass du einen Witz machst. So was weiß doch jeder.“

„Anscheinend nicht. Falls du es vergessen haben solltest, ich mache im Gegensatz zu dir zum ersten Mal eine Bootstour.“

„Schiffstour.“ Mehr sagte mein alter Herr nicht, und mir war es zu blöde, unser völlig unnötiges Wortduell weiter auszuführen. Tatsächlich winkten die Menschen, die sich auf dem Kai befanden, wie verrückt, und ich war erstaunt, dass sogar mein Vater, der niemanden dort unten kannte, ebenfalls am Winken war. Irgendwie war das alles merkwürdig. Ebenso merkwürdig wie die Begeisterung, die die Leute für dieses Lied hegten, das während der Abfahrt gespielt wurde. Ich konnte diesen Hype nicht nachvollziehen und verabschiedete mich in meine Kabine.

Nachdem ich eine Zeit lang auf dem Bett gelegen hatte, sprang ich auf und packte meine Sachen aus. Als ich dabei war, meine Sportsachen in den kleinen Schrank zu legen, fand ich die Idee, jetzt eine kurze Sporteinheit einzulegen, gar nicht so verkehrt. Schnell schlüpfte ich in meine Sportklamotten, und nachdem ich auf den Lageplan geschaut hatte, kannte ich den Weg, den ich einschlagen musste. Mit meiner rechten Hand öffnete ich meine Kabinentür und sah meinem alten Herrn mitten ins Gesicht. Was will der schon wieder?, dachte ich und schluckte die Worte schnell hinunter, bevor ich sie versehentlich ausspucken konnte.

„Das ist nur eine Rettungsübung. Du musst dafür keine Sportsachen anziehen.“

„Rettungsübung? Was willst du mir damit schon wieder sagen? Ich will zum Sport.“

„Das geht nicht. Jetzt ist die Übung angesagt.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte dröhnte in diesem Moment eine Sirene los.

Zusammen mit unendlich vielen anderen Menschen liefen wir kreuz und quer über das Schiff, bis wir endlich unseren Treffpunkt gefunden hatten. Nie im Leben glaubte ich, dass bei einer wirklichen Rettungsaktion alle Menschen daran denken würden, zu ihren Sammelpunkten zu laufen.

Viel lieber wäre ich jetzt im Sportstudio gewesen und hätte mich etwas abreagiert, anstatt hier mit den anderen Passagieren zu stehen und mir ansehen zu müssen, mit welcher Freude und Begeisterung sie sich an einer Aktion beteiligten, die eigentlich einen ernsten Hintergrund hatte. Als ich endlich erlöst wurde, war meine Lust auf Sport verschwunden. Stattdessen machte ich mich auf den Weg zurück in meine Kabine. Ich wollte den Rest des Abends für mich alleine sein und mich abreagieren, da ich nicht schon am ersten Tag einen Streit mit meinem Vater vom Zaun brechen wollte. Leider hatte ich die Rechnung ohne meinen alten Herrn gemacht, der einige Zeit später wieder vor meiner Kabinentür stand und klopfte.

„Wo bist du gewesen?“ Vorwurfsvoll sah mein Vater mich an.

„Hier in meiner Kabine.“ Ohne zu wissen, worauf er hinauswollte, sah ich ihn verblüfft an. Warum klopfte er und pampte anschließend direkt drauflos? Ich hatte wirklich keine Ahnung.

„In deiner Kabine!“ Völlig entgeistert schüttelte er den Kopf. Erst als sein Kopfschütteln wieder einigermaßen zur Ruhe kam und seine Zornesader auf der Stirn etwas kleiner geworden war, sprach er weiter.

„Draußen auf dem Deck war die riesige Eröffnungsfeier. Alle waren da und die Lichtershow war wie immer ein Gedicht. Die Künstler haben ihre tollsten Tricks gezeigt und alle hatten Spaß.“

„Alle werden wohl nicht da gewesen sein. Mindestens einer hat gefehlt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass außer mir alle anderen Passagiere anwesend waren.“

„Ich dachte, wir machen diese Tour gemeinsam?“

„Das machen wir ja. Aber ständig miteinander rumhängen, müssen wir nun auch wieder nicht.“ Langsam beruhigte sich mein Vater, und nachdem er meine Kabine betreten hatte, setzte er sich auf mein Bett. Gerade als ich den Vorschlag machen wollte, dass wir uns morgen zum Frühstück treffen könnten, bekam mein Vater wieder große Augen. Völlig verblüfft sah er mich an, und ich erkannte sehr gut, wie er nach den richtigen Worten suchte.

„Du bist ja noch gar nicht umgezogen.“

„Umgezogen für was?“

„Für die Willkommensparty.“ Ich traute mich fast gar nicht zu fragen, was mich jetzt schon wieder erwarten würde. Trotzdem tat ich es und durfte mir anhören, dass es heute Abend noch eine weitere große Party in der Disco des Schiffs gab. Eine Feier, auf der sich alle Passagiere kennenlernen konnten.

„Ich will gar keine anderen Passagiere kennenlernen.“

„Dafür ist eine solche Schiffstour aber gedacht.“

„Davon habe ich in keinem Prospekt irgendetwas gelesen.“

„Selbstverständlich steht es im Prospekt. Schwarz auf weiß kannst du dort lesen, dass am ersten Abend die Willkommensparty stattfindet.“

„Das kann so ein. Es steht aber nirgendwo, dass eine Bootstour dafür gedacht ist, dass man andere Passagiere kennenlernen muss.“ Ich ging davon aus, dass ich mich klar und deutlich ausgedrückt hatte und sogar mein Vater endlich verstand, dass ich ganz sicher nicht auf diese Party gehen würde.

Doch ich ließ mich überreden. Eine halbe Stunde später lief ich, gemeinsam mit meinem Vater, auf der Party auf. Besser gesagt wäre mein Vater gerne mit mir auf dieser Party aufgelaufen, aber die Tür zum Veranstaltungsraum war noch verschlossen. Was kein Wunder war, da wir eine Viertelstunde zu früh dort ankamen. Nicht nur wir! Hunderte von Menschen standen vor der verschlossenen Tür und warteten darauf, dass diese geöffnet wurde.

„Was machen die ganzen Leute hier?“

„Darauf warten, dass die Party beginnt.“

„Worauf warten? Ich denke, hier ist eine Party?“

„Hier ist auch gleich eine Party.“

„Gleich? Was heißt gleich?“

„In einer Viertelstunde geht’s los.“

„Und was wollen wir dann jetzt schon hier? Sag mal, spinnst du? Wir stehen hier wie die Affen vor einer verschlossenen Tür und warten darauf, endlich reingelassen zu werden. Das ist ja wie bei Ikea!“

„Also bitte, Noah, du willst doch dieses wunderschöne Schiff nicht mit einem schwedischen Möbelhaus vergleichen.“ Ich hielt meine Klappe und überlegte, wie ich mich am besten verdrücken konnte. Aber erstens hatte ich keine Idee, und zweitens war ich mir sicher, dass ich mit dieser Aktion keinen guten Start für unsere gemeinsame Tour bewirken würde.

Endlich wurde die Tür geöffnet und die Menschenmassen strömten hinein. Tatsächlich spielte mein Vater dieses Spiel mit. Er drängelte und schubste ebenso, wie es die anderen taten. Wie durch einen Sog wurde ich mit in den Raum hineingezogen und stand nun ziemlich genervt inmitten von vielen mir unbekannten Menschen. Schweigend sah ich meinen Vater einfach nur an.

Jeder von uns hielt ein frisch gezapftes Bier in seiner Hand, als wir uns an einen Tisch setzten. Sich an den Tisch zu setzen, war die Idee meines Vaters. Ich hätte mich viel lieber zusammen mit meinem alten Herrn an den Tresen gestellt und die Schar von Menschen beobachtet. Dort hätte ich mich erheblich wohler gefühlt. Hätte ich all diese Sachen vorher gewusst, wäre ich in diesem Moment ganz sicher auf meinem Sofa gewesen und hätte meine Zeit nicht mit wildfremden Leuten auf irgendeiner blöden Willkommensparty verbracht.

Natürlich war mein Vater längst in ein Gespräch vertieft. Selbstverständlich führte er dieses Gespräch mit einer Frau, und ebenso selbstverständlich war es, dass er sich für mich, wenn er mit Frauen beschäftigt war, in keiner Weise interessierte. Erst als wir unsere Biere ausgetrunken hatten, sah er mich wieder an.

„Trinken wir noch einen zusammen?“

„Noch einen zusammen? Haben wir das eben getan?“

„Was meinst du?“

„Ich habe eben mein Bier getrunken und du hast dein Bier getrunken. Aber du kannst gerne ein weiteres Bier trinken und dich weiterhin mit deiner neuen Eroberung unterhalten. Ich stelle mich derweil an den Tresen und werde endlich einen Milchkaffee bestellen, auf den ich mich schon seit Stunden freue.“ Die Antwort meines Vaters konnte ich nicht mehr wahrnehmen, da ich mich bereits auf dem Weg zum Tresen befand. Überraschenderweise kam ich sogar relativ zügig dran. Ich stand nun, mit dem Rücken gegen einen Barhocker gelehnt, und wartete auf mein Getränk.

„Ihr Kaffee steht bereit.“ Ich fühlte mich nicht angesprochen und zeigte keine Reaktion.

„Entschuldigen Sie, junger Mann, ich habe Ihren Kaffee auf den Tresen gestellt.“ Ob ich den Ober tatsächlich nicht gehört hatte oder warum ich mich nicht angesprochen fühlte, weiß ich nicht. Erst als sich eine ältere Dame, die neben mir stand, zu mir umdrehte und mich darüber aufklärte, dass mein Kaffee auf dem Tresen stehen würde, schnallte ich es. Ich bedankte mich und griff nach dem Becher. Als ich den Inhalt sah, schüttelte ich den Kopf und rief die Bedienung erneut zu mir. Der Herr Ober hatte mir, trotz aller Bemühungen, einen Kaffee mit Milch und keinen Milchkaffee auf den Tresen gestellt. Nachdem er sich einige Male und viel zu übertrieben entschuldigt hatte, schaffte er es tatsächlich, mir das richtige Heißgetränk zu übergeben.

Da mein Vater noch immer in das Gespräch mit seiner neuen Eroberung vertieft war, hielt ich es für eine gute Idee, mich mit meinem Milchkaffee in eine der Wartehallen, in der sich viele gemütliche Sofaecken befanden, zu verziehen. Um die Party zu verlassen, musste ich einen kurzen Augenblick an der Tür stehen bleiben, um einen Schwall Gäste hineinzulassen. Sicher transportierte ich meinen Milchkaffee durch die Gänge und freute mich darauf, diesen gleich ganz in Ruhe und in einer gemütlichen Sitzhaltung genießen zu können. Hinter der nächsten Ecke hatte ich auf dem Hinweg ein Sofa entdeckt, und so musste ich lediglich noch einmal rechts abbiegen, um es zu erreichen.

Im selben Augenblick, als ich rechts abbog, hatte eine junge Frau, die mir anscheinend entgegenkam, die Idee, links abzubiegen. Wir konnten uns nicht sehen und spürten uns erst, als sie mich anrempelte.

„Ups.“

„Ups stimmt, hilft uns aber jetzt auch nicht weiter.“ Selbstverständlich war mein Satz nicht nett, doch ich hatte auch kein Interesse mehr, nett zu sein. Mir ging dieser Tag sowieso bereits komplett auf den Keks. Dass mein Milchkaffee nun auf dem Boden lag und mir auf dem Weg dorthin meine Klamotten versaut hatte, machte meinen Tag ebenfalls nicht besser.

„Das tut mir unendlich leid.“

„Mir auch.“ Ich hatte einfach keine Lust auf irgendwelchen Small Talk und wollte nur noch in meine Kabine.

„Wenn ich eine Serviette hätte, würde ich deine Klamotten jetzt abwischen. Es tut mir wirklich total leid.“

„Ja, wenn. Aber ein Wenn hilft uns in diesem Moment ebenfalls nicht weiter. Genau wie dieses Ups übrigens.“

„Warte kurz. Ich kümmere mich darum.“

„Lass mal lieber. Hier wird sich schon den ganzen Tag um alles gekümmert. In dieses Spiel musst du jetzt nicht auch noch einsteigen. Den Fleck auf dem Teppich wird das Personal reinigen und meine Klamotten bekomme ich selbst sauber. Zur Not bringe ich sie halt in die Reinigung. Das Boot wird sicherlich eine Reinigung haben.“

„Du meinst das Schiff.“ Am liebsten hätte ich ihr jetzt meine Meinung gegeigt. Mich umrennen, mir meine Klamotten versauen, meinen Milchkaffee verschütten und mich nun auch noch verbessern. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Als ich loslegen wollte, ihr gehörig die Meinung zu sagen, sah ich in ihr Gesicht. Es war dieses wunderschöne Gesicht, das ich bereits vorhin, kurz vor dem Einchecken, gesehen hatte. Dieses Gesicht, das mir beim Abendessen über den Weg gelaufen war, und dieses Gesicht, das, obwohl es kaum möglich war, mir bei jedem Treffen noch besser gefiel. Tatsächlich war es genau die Frau, die vorhin am Check-in ganz plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war.

„Okay, wenn du dir nicht helfen lassen möchtest, dann gehe ich halt und suche meine Mutter.“ Wieder war sie verschwunden. Allerdings wusste ich in diesem Moment, woran es lag. Ich hatte mich wie ein Holzklotz verhalten und ärgerte mich noch immer darüber, als ich am nächsten Morgen wach wurde.

Sonnendeck

„Ich platze gleich!“ Seufzend ließ ich mich auf das große Bett in unserer Kabine fallen. Meine Ma stand neben mir und sah grinsend auf mich herab.

„Ach komm, nun stell dich mal nicht so an. Es war doch nur Frühstück.“

„Ehrlich, Mama. Ich neige glücklicherweise wirklich nicht zu Übergewicht, aber wenn das hier elf Tage lang so weitergeht, habe ich am Ende der Reise mindestens fünf Kilo mehr auf den Rippen.“

Meine Mutter lachte schallend auf.

„So ein Quatsch! Zum einen würden dir ein paar Kilo mehr durchaus gut stehen, und zum anderen hat ja keiner gesagt, dass du dich gleich am ersten Tag schon durch das komplette Buffet fressen musst. Es gibt an den anderen Tagen auch noch genug Auswahl.“

„Ich finde das gar nicht witzig.“ Schmollend schob ich die Unterlippe vor, was allerdings nur einen weiteren Heiterkeitsausbruch meiner Mutter zur Folge hatte.

„Weißt du was, schlüpf doch in deinen Bikini und leg dich eine Runde in die Sonne zum Verdauen. Ich hab gleich einen Massagetermin im Wellnessbereich. Danach komme ich zu dir, dann bist du wieder fit und wir gehen Mittagessen. Wie wäre das?“

Ich stöhnte laut auf.

„Schon wieder essen? Ich glaube, ich hab genug für den Rest des Tages! Aber faul in der Sonne liegen, hat was. Das mache ich!“ Entschlossen rappelte ich mich auf und suchte meinen knallpinken Bikini aus dem Schrank.

Zehn Minuten später verließ ich die Kabine, ein Buch unter dem Arm und mit dem festen Willen, ohne Umwege das Sonnendeck aufzusuchen. Tja, ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es dann leider nicht. Ich wusste vom vorigen Abend, dass das Sonnendeck direkt an die Beach Bar angrenzte, in der wir gestern nach dem Abendessen Kaffee getrunken hatten. Doch wie kam ich dahin? Ich irrte durch die langen Gänge auf der Suche nach der Treppe, kam aber stattdessen an eine Abzweigung. Ich war doch gestern nirgendwo abgebogen, um zu meiner Kabine zu gelangen? Am liebsten würde ich jemanden fragen, jedoch war der Flur wie ausgestorben. Keine Menschenseele lief hier herum.

Na gut, irgendwo musste dieses Schiff ja mal ein Ende haben. Im Zweifel ging ich jetzt vom Heckbereich, in dem unsere Kabine lag, bis vor zum Bug. Irgendeine Treppe würde ich schon finden.

Tatsächlich kam ich ein paar Minuten später an einer Glastür vorbei.

---ENDE DER LESEPROBE---