Sanddorninsel - Lena Johannson - E-Book
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Sanddorninsel E-Book

Lena Johannson

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Beschreibung

Sommerfeeling, Rügen-Flair und eine Prise Tiefgang: perfekte Urlaubslektüre, nicht nur für den Strandkorb von Lena Johannson, der Spezialistin für stimmungsvolle Ostsee-Romane. Ein Ostsee-Roman für die Leserinnen von Katharina Herzog oder Silvia Lott. Mit Tochter, Enkelin und Urenkelin will Ursula ihren 80. Geburtstag feiern, und zwar auf Rügen – denn da hat die alte Dame noch etwas zu erledigen. Davon erfahren die anderen aber erst, als die Zimmer in der Villa Sanddorn schon bezogen sind: Ursula möchte endlich herausfinden, was aus ihrem Brieffreund Jens geworden ist, der nach dem Krieg von Rügen nach Kuba ging. Und ihre Familie soll ihr bei der Spurensuche helfen. Für die vier Frauen beginnen turbulente Sommerwochen auf der zauberhaften Ostsee-Insel, die sie auf wunderbare Weise einander näher bringen und dabei so manche Überraschung parat halten. Für alle Leser, die "Villa Sanddorn" und "Sanddornsommer" geliebt haben! Lena Johannsons Wohlfühlromane über die zauberhafte Ostsee-Insel Rügen sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Sanddornsommer - Villa Sanddorn - Sanddorninsel - Sanddornzauber

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Seitenzahl: 460

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Lena Johannson

Sanddorninsel

Ein Rügen-Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Vier Frauen, vier Generationen und ein zauberhafter Sommer auf Rügen

Mit Tochter, Enkelin und Urenkelin will Ursula ihren 80. Geburtstag feiern, und zwar auf Rügen – denn da hat die alte Dame noch etwas zu erledigen. Davon erfahren die anderen aber erst, als die Zimmer in der Villa Sanddorn schon bezogen sind: Ursula möchte endlich herausfinden, was aus ihrem Brieffreund Jens geworden ist, der nach dem Krieg von Rügen nach Kuba ging. Und ihre Familie soll ihr bei der Spurensuche helfen. Für die vier Frauen beginnen turbulente Sommertage auf der zauberhaften Ostseeinsel, die sie auf wunderbare Weise einander näher bringen und so manche Überraschung parat halten.

Inhaltsübersicht

1 | Ursula

2 | Ursula

3 | Rahel

4 | Emily

5 | Emily

6 | Heike

7 | Rahel

8 | Ursula

9 | Heike

10 | Rahel

11 | Rahel

12 | Ursula

13 | Emily

14 | Ursula

15 | Rahel

16 | Ursula

17 | Emily

18 | Heike

19 | Rahel

20 | Ursula

21 | Ursula

22 | Rahel

23 | Ursula

24 | Ursula

25 | Emily

26 | Heike

27 | Ursula

28 | Rahel

29 | Heike

30 | Rahel

31 | Ursula

32 | Heike

33 | Emily

34 | Rahel

35 | Ursula

Danksagung

Leseprobe »Das Erbe der Villa Sanddorn«

1

Ursula

Jg. Handwerksges. su. Brieffr. i. aller Welt.

Chiffre J5403

Ach Mensch, wir sind bisher so gut durchgekommen.« Heike seufzte und hatte sofort wieder eine schuldbewusste Miene. Als ob sie etwas dafürkönnte, dass sich der Verkehr auf dem Übergang zur Rügenbrücke staute. Damit musste man in der Hochsaison rechnen. Von der Rückbank kam ein Stöhnen. Rahel, natürlich. Emily, die jüngste von ihnen, hatte wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen, dass sie nicht mehr fuhren. Sie schottete sich ab mit ihren großen Kopfhörern auf den Ohren und dem Mobiltelefon, ihrem Schatz, den sie nur selten aus den Augen ließ. Ursula musste über ihre Urenkelin schmunzeln. Sie hatte wirklich gerade eine schwierige Phase. Die hübschen hellblauen Augen umrandete sie mit dicken schwarzen Strichen, in ihrer niedlichen Stupsnase und im Bauchnabel, den sie gern präsentierte, steckten Metallringe. Das hätte Ursula ihr niemals erlaubt, für Rahel war es wohl eine gute Gelegenheit, ihren permanenten Zeitmangel auszugleichen. Emily malte sich ihre Finger- und Fußnägel blau oder neongelb an, ihre Kleidung war eigentlich immer schwarz, und die Jeans hatten Löcher.

»O Mann, Ur-Usch«, hatte sie mal gesagt und mit den Augen gerollt, »das gehört so!«

Die Kleine war in einer Trotzphase, daran gab es keinen Zweifel. Aber musste ihre Mutter sie deshalb manchmal Enemy nennen, Feind? Irgendwie gut, fand Ursula, dass sie nicht so angepasst war. Ein bisschen mehr Rebellion hätte ihrem eigenen Leben auch gutgetan. Und dem ihrer Tochter Heike sowieso, die war eindeutig zu brav und mausgrau.

»Ich werde noch in hundert Jahren nicht verstehen, warum wir unbedingt mit deinem ollen Passat Kombi aus Bad Bevensen starten mussten.« Das betonte Rahel nicht zum ersten Mal an diesem Tag.

»Meinst du, mit deinem flotten BMW wären wir im Stau schneller gewesen?« Ursula drehte sich zu ihr um. Rahel hatte mit ihrer Tochter mehr gemeinsam, als sie sich vermutlich eingestehen würde. Auch sie war blass, ihr Gesicht schmal. Auch sie betonte ihre Augen sehr auffällig, wenngleich eleganter. Ihre Lippen hatten die Farbe von Klatschmohn, der Nagellack passte exakt dazu. Wie schaffte sie es nur, die Farben entsprechend den Anlässen oder vielleicht auch ihrer jeweiligen Stimmung zu wechseln? Und zwar auch die des Lackes! Ursula wäre ihre Zeit dafür zu schade. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht mehr so viel davon hatte wie die anderen in diesem Auto. Jedenfalls, wenn die Natur sich nicht noch mit einer von ihnen einen bösen Witz erlaubte.

Rahel ging nicht auf Ursulas Einwand ein. »Wenn Emily und ich in einem Rutsch gefahren wären, hätten wir uns die Übernachtung in Bad Bevensen sparen können und würden schon am Strand liegen. Oder so.« Wie sie Bad Bevensen betonte. Als wäre es unter ihrer Würde, den Namen einer Ortschaft mit weniger als einer Million Einwohnern überhaupt in den Mund zu nehmen. Dass es immerhin ihr Geburtsort war, hatte sie anscheinend vergessen. Heike hatte sich damals für eine Hausgeburt entschieden, weshalb Bad Bevensen nun eben in Rahels Pass eingetragen war.

»Wir haben Urlaub, Kind, das heißt, wir haben Zeit. Es spielt doch keine Rolle, ob wir eine halbe Stunde eher oder später da sind.« Nach Urlaub sah Rahel keinesfalls aus in ihrem silbergrauen Bleistiftrock und passendem Blazer über der weißen Bluse. Wenigstens hatte sie den ausgezogen. War sonst ja nicht auszuhalten in dem stickigen Auto. »Du weißt bestimmt schon gar nicht mehr, wie Freizeit sich anfühlt, was? Immer nur Arbeit, das ist doch nichts.« Rahel holte hörbar Luft. »Ich freue mich deshalb umso mehr, dass du dir die Tage freigenommen hast, um mit uns nach Rügen zu fahren.« Ursula drehte sich noch einmal kurz nach hinten um und strahlte ihre Enkelin an. Die sichere Methode, Rahel wehrlos zu machen.

»Frei …«, sagte Rahel leise. Es klang wie ein Stöhnen. Kein Wunder, seit Stunden tippte sie auf ihrem Computerdings herum, und ständig schaute sie auf ihre Uhr. Es würde ihr wirklich guttun, mal ein bisschen abzuschalten. Sie rollten ein paar Meter, dann standen sie wieder. Trotz der vier offenen Fenster war es brütend heiß.

»Von Frankfurt über Bad Bevensen nach Rügen ist der direkte Weg. Wie hättest du denn fahren wollen?« Heike fühlte sich noch immer für die Verzögerung verantwortlich und ging in Verteidigungshaltung. »Musst du wegen einer zusätzlichen Übernachtung wirklich Theater machen?«

»Es geht nicht um die eine Nacht. Nicht nur«, kam es scharf vom Rücksitz. »Es fängt damit an, dass wir unbedingt alle mit einem Auto fahren mussten.«

»Vier Personen in zwei Autos? Das ist alles andere als umweltfreundlich.«

»Das stimmt, mein Kind.« Ursula tätschelte ihrer Tochter das Bein. Das spornte Heike anscheinend an.

»Außerdem ist das unsere erste Familienreise. Und die wollen wir doch von Anfang an zusammen genießen«, verkündete sie.

»Gottchen, ich komme gleich um vor lauter Genuss«, ätzte Rahel. »Mussten wir deshalb auch schön lange über Landstraßen und durch tausend Käffer zuckeln, für den Genuss?«

»Ich wollte Emily zeigen, wie hübsch die Niedersächsische Elbtalaue ist. Das ist ein Biosphärenreservat mit ganz vielen Elementen ursprünglicher Auenlandschaften. So oft findet man die nicht mehr. Es kann ja wohl nicht schaden, wenn Emily auch noch etwas anderes lernt als den Wert von PS oder Internetbandbreite.«

Rahel lachte kehlig auf. »Das hat ja fantastisch geklappt, Mutter. Ist dir nicht aufgefallen, dass Emily gar nicht rausguckt? Außerdem findet deine Enkelin garantiert alles voll bescheuert, was ihr jemand zeigt, der über zwanzig ist.«

Wie auf ein geheimes Stichwort schob Emily den Kopfhörer in den Nacken und sah sich um, als hätte sie bis jetzt geschlafen. Das Mädchen hatte ein angeborenes Gefühl für Timing.

»Wir fahren ja gar nicht mehr.« Vor ihnen lag schon die Insel, blickte man zurück, was Emily jetzt tat, präsentierte sich die stolze Silhouette von Stralsund. So schön hatte sich Ursula die Stadt gar nicht vorgestellt. Vielleicht konnte sie die drei überreden, auf dem Rückweg einen kleinen Stadtbummel einzulegen. »Bye, bye, Zivilisation«, grummelte ihre Urenkelin, »hoffentlich gibt es bei den Hinterwäldlern überhaupt Handyempfang.«

»Es sind keine Hinterwäldler, Emmchen«, erklärte Heike geduldig. »Rügen ist die größte deutsche Insel. Da leben ganz normale zivilisierte Menschen.«

»Es bleibt ’ne Insel. Das ist auf jeden Fall mal nich die große weite Welt.« Damit war für Emily die Sache anscheinend erledigt. Sie schob ihre Kopfhörer wieder auf die Ohren.

»Es heißt aber gar nicht Hinterweltler, also mit e, abgeleitet von Welt.« Heike guckte für Ursulas Geschmack viel zu lange in den Rückspiegel, um Emilys Aufmerksamkeit zurückzukriegen, während sie den Passat gerade wieder ein Stückchen vorwärtsrollen ließ. »Das machen ganz viele falsch. Aber richtig ist die Ableitung von Wald. Jemand lebt hinter dem Wald und bekommt darum nichts vom technischen Fortschritt mit.«

»Sie hört dich nicht.« Rahel sah einmal kurz von ihrem Computer auf und schüttelte den Kopf.

 

Ursula seufzte. Diese Hitze! Und dazu noch die dicke Luft. Womöglich war es keine so gute Idee, zu viert zu verreisen. Ach je, sie hätte sich besser beherrschen sollen. Heike hatte ihr Stöhnen wohl falsch verstanden. Jedenfalls setzte sie den Blinker. Wo wollte sie bloß hin? Die Autos auf der anderen Spur kamen doch auch nicht schneller voran. Sie zog nach links hinüber und fuhr einem moosgrünen BMW-Cabriolet vor die Stoßstange, wie Ursula aus dem Augenwinkel erkannte. Das war ganz schön knapp. Hätte der Fahrer nicht beherzt gebremst, wäre er ihnen reingefahren. Wildes Hupen von hinten. Heike schaute in den Rückspiegel, ihre Augen flackerten nervös. Wenn Ursula sich nicht täuschte, bekamen die Schweißperlen auf der Stirn ihrer Tochter gerade Zuwachs.

»Der soll sich mal nicht so anstellen«, sagte Ursula und lächelte Heike an. Im Rückspiegel sah sie, dass die anderen beiden nichts mitbekommen hatten. Emily nickte ständig mit dem Kopf und schob die Lippen vor, Rahel tippte ununterbrochen auf ihrer Tastatur herum. Vor lauter Konzentration kaute sie auf ihren makellos angepinselten Lippen herum. Was schmierte sie sich nur für ein Zeug auf den Mund, das nicht einmal nach Stunden, in denen Rahel aß und trank und sich obendrein auf die Lippen biss, weg war? Heike schminkte sich so gut wie gar nicht. Wieder sah Ursula zu ihr hinüber. Ihre Tochter war alt geworden. Nicht nur äußerlich. Was war nur mit ihren Träumen geschehen, die sie als junge Frau gehabt hatte? Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Plötzlich sah Heike zu ihr herüber. Sie hatte wohl den Blick bemerkt.

»Die Ruhe und die Auszeit werden uns allen guttun. Dir ganz besonders, mein Kind.« Sie tätschelte noch einmal Heikes Bein und begann eine Melodie zu summen. Düstere Gedanken würde sie auf keinen Fall zulassen. Sie wollte ihre ganz besondere Reise genießen, von der ersten bis zur letzten Minute. Heikes leises Schnauben ignorierte sie.

Sämtliche Fahrzeuge mussten sich jetzt auf ihrer Spur einsortieren. Dann endlich hatten sie die Stauursache erreicht, einen Unfall zwischen einer Vespa und einem Transporter. »Du meine Güte!« Ursula hielt die Luft an, konnte aber ihren Blick nicht von dem ziemlich verbeulten Zweirad nehmen. Sie sah einen jungen Mann in Lederhose und Lederjacke. Leder … Sofort dachte sie wieder an Jens. Kürschner hatte er gelernt, das wusste sie. Das heißt, zuerst hatte er eine Schneiderlehre absolviert und sich später dann auf die Lederverarbeitung spezialisiert.

Der Verkehr verteilte sich erneut auf beide Spuren, Heike konnte endlich Gas geben. Emily zog sich wieder die Kopfhörer aus ihrem blau-gelb gefärbten Haar, das sie vor einer Weile an einer Seite rasiert hatte, an der anderen lang trug. Sidecut nannte man das wohl. War aber schon wieder out, wie Ursula sich hatte sagen lassen, darum wuchs die rasierte Seite jetzt wieder. So etwas gab’s zu Ursulas Zeit noch nicht. Da waren Brennschere und Wasserwelle sehr modern. Aber die Zeiten änderten sich eben.

»Sieht auch nicht viel anders aus als auf dem Festland«, stellte Emily fest. »O Mann, ey, echt, Ur-Usch, wenn wir in so ’nem öden Kaff wohnen und es keinen Handyempfang gibt, dann kotz ich ab.«

»Ach, Emmchen, bitte!« Heike warf einen angewiderten Blick in den Rückspiegel.

»Keine Sorge, Emmilein, die Sanddornplantage, auf der wir wohnen werden, ist ein richtig moderner Betrieb. Da gibt es Internet und WLAN und das alles.«

»WLAN! Na, Gott sei Dank!« Sieh an, Rahel hörte ihnen also doch zu. Wenigstens mit einem Ohr.

 

Es war ein Wagnis, die drei zu dieser Tour zu überreden. Dann auch noch mit einer, nun ja, Überraschung im Gepäck. Aber Ursula hatte es so satt, immer Rücksicht darauf zu nehmen, was andere von ihr erwarteten, was die Nachbarn oder sonst wer von ihr dachten. In wenigen Tagen wurde sie achtzig. Wie lange sollte sie denn noch damit warten, sich so zu verhalten, wie all diese tollen jungen Frauen von heute es ihr vormachten. Die hatten Selbstbewusstsein und wussten, was sie wollten. Und was nicht! Zum Beispiel eine große Geburtstagsfeier. Nein, dazu hatte Ursula absolut keine Lust gehabt. Sie hatte ihre eigenen Pläne, und die betrafen nur ihre Familie. Was hatten sich Rahel und Heike ins Zeug gelegt! Alle Freunde sollten eingeladen werden, in Hannover wollten sie feiern, in dem gediegenen Biergartenrestaurant mit Blick auf den Maschsee, in dem sie doch immer so gerne war. Ja, sie war gern dort. Und zwar dann, wenn Rahel und Emily zu Besuch kamen und sie sich das Kochen sparen konnte. Rahel fuhr, und sie übernahm die Rechnung. Das hieß noch lange nicht, dass dieses Lokal ein besonderer Ort für sie wäre. Außerdem: Wen sollte sie schon einladen?

»Gottchen, du hast doch massig Freunde und Bekannte«, hatte Rahel gesagt. Bekannte? Ja. Freunde? Kaum. Nicht mehr sehr viele. Einige waren bereits gestorben. Blieben noch Nachbarn, ein paar Damen aus dem örtlichen Senioren-Klub, die Herren und Damen von der Wassergymnastik vielleicht, zu der Ursula eisern einmal pro Woche ging, und nicht zu vergessen ein paar Mitstreiter des Chors, in dem sie sang. Sollte sie viel Geld ausgeben, damit die sich alle satt futtern und miteinander tratschen konnten? Je mehr Gäste, desto weniger Zeit hätte sie als Jubilarin für jeden Einzelnen gehabt. Nein, sie hatte ihnen erklärt, sie wolle von der Summe lieber zu viert nach Rügen fahren. Für Heike war Ursulas Wort Befehl. Meistens. Im Sommer war in der Redaktion der Bevensener Wochenzeitung ohnehin nicht viel los, bei der sie so ungeheuer anspruchsvolle Themen bearbeitete wie das Jubiläum der ortsansässigen Therme oder den Ausbildungsstart von zwei Lehrlingen im örtlichen Autohaus. Sommerloch, das gab es anscheinend auch bei Provinzblättchen. Emily war wenig begeistert, mit drei Gruftis zu verreisen, wie sie sich ausgedrückt hatte. Ihr Pech, dass sie plante, einen Teil ihrer Ferien bei Oma Heike zu verbringen. Sie hatte noch nicht einmal ausgesprochen, sie sei ja kein Baby mehr und könne auch gut … da hatte Rahel klargestellt, sie würde Emily auf keinen Fall über zehn Tage allein zu Hause lassen. Rahel selbst hatte äußerst merkwürdig reagiert. Ursula hatte fest mit ihrer Weigerung gerechnet, nach dem Motto: Urlaub? Völlig unmöglich! Von wegen.

Bei dem Wort Rügen hatte sie aufgehorcht, gelächelt und erklärt: »Hübsche Idee, ich bin dabei.« Sie hatte sich sogar angeboten, ein schickes Lokal für den runden Geburtstag zu reservieren. Vermutlich, um nicht »in einer dieser schrecklichen gutbürgerlichen Gaststätten mit Plastikblumen auf dem Tisch« zu landen. Ursula schmunzelte in sich hinein. Auch in diesem Punkt hatte sie sich auf nichts eingelassen, was sie nicht wollte.

»Nein danke, Ra«, hatte sie erwidert und geheimnisvoll gelächelt, »ich möchte mich nicht festlegen. Wenn wir erst da sind, werden wir bestimmt etwas finden, das mir zusagt.«

 

»Ey, ich denk, das ist ’ne Insel. Wieso is’n hier kein Meer?« Ein gutes Stück vor Bergen hatten sie noch einmal im Stau gestanden, jetzt quälten sie sich in einer Kolonne weiter über die Bundesstraße 196 gen Norden. »Mann, ey, wir kommen echt nie an, und das sieht hier so aus wie irgendwo in Niedersachsen. Nee, schlimmer. Die haben hier vielleicht viele Bäume abgehackt. Voll krass!«

»Das machen die, damit ungeduldige Menschen wie du schneller ankommen.« Der Punkt ging an Heike. »Wir müssten gleich den Abzweig nach Ralswiek erreichen.« Sie bemühte sich redlich, Zuversicht auszustrahlen.

»Wieso eigentlich Ralswiek?« Rahel sah zum x-ten Mal auf ihre Armbanduhr. »Meines Erachtens hätten wir uns schon in Samtens Richtung Westen halten und die Wittower Fähre nehmen sollen. Das hätte uns einiges Gezuckel erspart. Deutlich kürzer wäre es auch gewesen. Du hast dir mal wieder den längsten Umweg ausgesucht, der zu finden war.«

»Wenn wir deine Route gefahren wären, hätten wir fast nur Landstraßen gehabt, das hätte dir auch nicht gepasst.«

»Genau, und das hier ist eine Autobahn.« Ihre perfekt gezupften Augenbrauen schnellten hoch.

»Ich dachte, hier lang ist es schöner.« Heike verteidigte sich schon wieder. Vielleicht sollten sie in den nächsten Tagen mehr gemeinsam besprechen und nicht einer die Entscheidungen überlassen, überlegte Ursula. Könnte gut für den Frieden in der Truppe sein. »Da sehen wir wenigstens hin und wieder das Meer.« Sie lächelte in den Rückspiegel. »Und den Jasmunder Bodden und den Nationalpark Jasmund. Sozusagen eine kleine Inselrundfahrt zur Begrüßung.«

»Solange wir heute noch ankommen«, sagte Rahel seufzend. Ihre Finger flogen nur so über die Tasten ihres Computers. Wie lange das Ding wohl ohne Strom funktionierte? Rahel hörte auf zu tippen und drückte schwungvoll auf einen Knopf. Ein Zischen ertönte, als ob etwas aus ihrem Apparat wegfliegen würde.

»Die Störtebeker Festspiele sind hier?« Sie waren gerade an einem Plakat vorbeigefahren, und Emilys Kopf flog regelrecht herum, um die Ankündigung möglichst lange im Auge zu behalten. Was war denn nun los? Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »Da war Celina letztes Jahr. Sie sagt, da waren echte Pferde auf der Bühne, und am Ende gab’s ein Feuerwerk. Können wir da hingehen, bitte?« Sie räusperte sich. »Wäre ziemlich cool«, setzte sie in ihrem gewohnt lässigen Ton hinzu. Doch schon im nächsten Augenblick gab sie ihre Beherrschung, die vermutlich sehr erwachsen wirken sollte, schon wieder auf. Bei Lietzow überquerten sie den schmalen Steg zwischen Kleinem und Großem Jasmunder Bodden. Links Wasser, rechts Wasser.

»Geil, ganz viele Kiter!«

»Viele was?« Ursula folgte ihrem Blick.

»Kitesurfer, Uroma, guck! Das würde ich auch gerne machen. Darf ich, Mami?« Ursula schmunzelte und zwinkerte ihrer Tochter zu, die auch ziemlich belustigt wirkte.

»Wir können ja mal gucken, ob es in der Nähe von unserer Unterkunft auch eine Möglichkeit gibt. Und dann müssen wir herausfinden, ob du für einen Kursus nicht zu jung bist und was der Spaß kostet.«

»O Mann!« Emily, die eben noch kerzengerade dagesessen hatte, ließ sich jetzt in den Sitz fallen. »Du verdienst doch wohl genug Schotter.«

»Dafür arbeite ich auch sehr hart.«

»Ach, ist das schön!« Ursula seufzte und brachte die beiden damit zum Schweigen. »Der Bodden!«

»Was is’n das, Bodden? Ich kenn nur diese Holzschuhe.«

Während Heike ihr geduldig erklärte, dass auf Rügen Wasser und Land auf eine ganz besondere Weise miteinander verschlungen waren, wie man es auf keiner anderen deutschen Insel beobachten konnte, stellte Ursula erfreut fest, dass Emily sowohl ihr Handy als auch ihre Abneigung gegen diese blöde Insel offenbar komplett vergessen hatte. Sie guckte mal zur einen, mal zur anderen Seite aus dem Fenster und wirkte aufgeregt, wie es zu einem Mädchen von bald vierzehn Jahren passte.

 

Nachdem sie Juliusruh hinter sich gelassen hatten, entdeckte Ursula ein Schild, das Putgarten in neun Kilometern ankündigte. Na, Gott sei Dank, dann durften sie endlich aus diesem Saunakasten klettern.

»Gleich haben wir es geschafft. Ich bin schon ziemlich gespannt auf diese Sanddornplantage.«

»Was is’n das eigentlich, Sanddorn? Hat der Sand hier etwa Dornen?«

»Nein, das sind so kleine Beeren, die sind …«, begann Heike eifrig.

»Mann, Oma, das war ’n Witz!« Es war immer das Gleiche. Kaum hatte ihre Tochter mal Oberwasser, bekam sie einen Schlag in den Nacken und fiel in sich zusammen. Hoffentlich konnte dieses Coaching etwas daran ändern, dachte Ursula.

»Aha, du weißt also etwas über diese wunderbare Pflanze«, sagte sie an Emily gewandt. »Dann erzähl doch mal!«

»Na, das is eben so’n Strauch.«

»Das ist ein ganz besonderer Strauch«, erwiderte Ursula. »Er wächst gerne am Meer. Wenn es geht, wurzelt er sehr tief, hat er dazu aber nicht die Möglichkeit, streckt er seine Wurzeln auch dicht unter dem Boden weit aus. Zehn, zwölf Meter sind für ihn gar kein Problem. Und überall bildet er kleine Ableger. Die Früchte enthalten mehr Vitamin C als Zitronen, sagt man.« Ursula registrierte amüsiert, dass Rahel von ihrem Handy aufblickte und Heike sie von der Seite anstarrte. »Guck du mal lieber auf die Straße.«

»Du hast dich aber gut auf die Reise vorbereitet.« Heike hatte den Blick wieder auf die Fahrbahn gerichtet. »Das finde ich prima, das hält deinen Kopf wach.« Schweigen. »Das ist komisch, finde ich«, begann Heike dann wieder zögerlich, »du hast nie von Rügen gesprochen. Ich meine, du hast nie gesagt, dass du dich so für diese Insel interessierst. Du warst doch noch nie hier, oder?«

»Nein, noch nie.« Leider.

»Und warum jetzt? Ich meine, wir hätten auch nach Scharbeutz fahren können oder so.«

»Lass deiner Mutter doch ihr kleines Geheimnis«, mischte sich Rahel ein. »Ich finde, das steht jeder Frau. Aber davon verstehst du ja nichts.«

»Ach, Kinder, werde ich es noch erleben, dass ihr eine halbe Stunde ohne Streit auskommt?« Ursula stöhnte. Sie war wild entschlossen, sich ihre gute Laune nicht verderben zu lassen, aber die beiden machten es ihr wirklich nicht leicht.

»Nee, Ur-Usch, eher singt Bushido im Kirchenchor.«

»Wer?« Ursula wartete vergeblich auf eine Antwort, denn ein Ping ertönte aus Rahels Computer, woraufhin Emily eine Grimasse schnitt.

»O Mann, ey, das wird ja ’n toller Urlaub!«

Rahels Augen flogen über den winzigen Bildschirm, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge, und sie klappte das Ding mit einem Seitenblick auf ihre Tochter demonstrativ zu.

»Muss ich hier abbiegen?« Das war eine T-Kreuzung. Geradeaus war also keine Option. Manchmal fragte sich Ursula wirklich, wie Heike durchs Leben kam.

»Ja, Kind«, antwortete sie ruhig. Schon bald tauchte ein Schild von Rügorange auf. »Da, das ist unsere Sanddornplantage«, rief sie fröhlich. »Wir sind gleich da.«

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, sagte Rahel leise.

»Gott sei Dank, ey, ich kann echt nicht mehr sitzen.«

2

Ursula

Von der Straße ging es über einen Kiesweg und dann auf die Auffahrt eines alten Hauses im berühmten Stil der Bäderarchitektur. Weiße verschnörkelte Balkone, Säulen. Hier hatte jemand mit viel Liebe und wohl auch nicht wenig Geld ein betagtes Gebäude renoviert und modernisiert. Sehr schön. Ein Stück vom Eingang entfernt stand ein großes Schild:

 

Villa Sanddorn

Auszeit mit Einsicht – Coaching, Supervision

und Familienaufstellung in den Ferien

 

Rahel, den Hartschalenkoffer hinter sich herziehend, die Aktentasche unter dem Arm, entdeckte es zuerst.

»Oma Usch, sag bitte, dass das nicht wahr ist!«

Emily kam näher, um zu sehen, worüber ihre Mutter sich schon wieder aufregte. »O nee, ey, auf so’n Psychokram hab ich auch keinen Bock.«

Heike hatte am Auto ein paar Dehnübungen gemacht, jetzt kam sie mit ihrer alten Reisetasche angeschleppt. »Was gibt’s denn Schönes?«

»Nichts Schönes, Mutter, sondern eine Falle.«

Ursula lachte schallend. »Also wirklich, liebe Rahel, du übertreibst. Ich wünsche mir von euch einen gemeinsamen Termin bei dieser Frau Marold zum Geburtstag. Ich zahle ihn sogar selber.« Ursula sah die drei der Reihe nach an. »Wir haben es nötig, meint ihr nicht? Es ist ja fast ein Wunder, dass wir vier alle lebend hier angekommen sind und sich niemand an die Kehle gegangen ist.«

»Was is’n Familienaufstellung?« Emily legte den Kopf schief.

»Das ist eine Therapie für Leute mit total gestörten Beziehungen, bei der andere Leute oder auch irgendwelche Figuren im Raum aufgestellt werden. Durch die Entfernungen zueinander, die Blickrichtungen und was weiß ich noch durchschaut der Therapeut dann im Handumdrehen«, sie schnippte, »wo die Probleme liegen und wie man sie lösen kann.« Ihre Wangenknochen waren angespannt. »Jedenfalls, wenn man dran glaubt.«

»Deshalb wolltest du unbedingt nach Rügen fahren, Mutti?« Heike sah sie betrübt an und schnaufte. »Es wäre wirklich nett gewesen, wenn du vorher mit uns darüber gesprochen hättest.«

»So, jetzt reicht’s!« Rahels Wangen waren beinahe so rot wie ihr Lippenstift. Explosion voraus! »So leid es mir tut, Oma Usch, aber ich lasse mich nicht verar… verschaukeln. Für mich ist so ein Theater nichts. Und darum fahre ich jetzt sofort wieder ab.« Sie betonte jede einzelne Silbe.

»Ach ja, und womit?« Heike triumphierte.

»Mit einem Leihwagen. Den habe ich schneller vor der Nase stehen, als du dir vorstellen kannst. Und ich meine nicht, dass ich nach Hause fahre, sondern ich suche mir ein nettes Hotel, und wir treffen uns dann ab und zu. Nachdem eure Psycho-Räucherstäbchen-Bastmatten-Sitzungen beendet sind.«

»Ich bleib hier«, verkündete Emily.

»Ihr werdet alle hierbleiben!« Ursula war selbst ein bisschen von ihrem Ton überrascht. Den Gesichtern nach zu urteilen, hatte er die Wirkung, die sie sich wünschte. »Ich schlage vor, wir gehen erst mal hinein und sehen uns die Wohnung an, die ich für uns gebucht habe. Ihr habt mich hundertmal gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Nun wisst ihr es. Geschenke müssen übrigens nicht zwangsläufig dem Schenkenden gefallen. Ein einziger Termin«, wiederholte sie. »Davon abgesehen ist das hier eine ganz normale Ferienunterkunft.« Sie hatte nicht übel Lust, die drei einfach stehen zu lassen, doch da entdeckte sie eine Frau, die gerade über den Hof auf sie zukam. Ursula beschirmte ihre Augen mit der Hand.

»Gottchen, was kommt wohl noch alles auf uns zu?«, flüsterte Rahel.

»Das erfahrt ihr noch früh genug«, antwortete Ursula. Sie freute sich diebisch über die verunsicherten Mienen.

 

»Guten Tag und herzlich willkommen in der Villa Sanddorn!« Die Frau, Ursula schätzte sie auf Anfang dreißig, war nun bei ihnen. »Mein Name ist Franziska Marold, nennen Sie mich gerne Franziska. Ich freue mich sehr, Sie hier bei uns an der Nordspitze Rügens begrüßen zu dürfen. Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Es ging so.« Heike lächelte etwas gequält.

»Hätte besser sein können.« Rahel.

»Ganz schön weit hierher«, kommentierte Emily.

»Wir sind unfall- und pannenfrei angekommen, das ist die Hauptsache«, stellte Ursula fest.

Franziska nickte. »Ich zeige Ihnen jetzt erst einmal Ihre Wohnung.« Sie machte Anstalten, Ursulas Koffer zu nehmen, sah sie kurz an und zwinkerte. Dann hielt sie inne. »Ich muss Ihnen unbedingt sagen, wie toll ich es finde, dass Sie sich für dieses gemeinsame Abenteuer entschieden haben. Eine Frauenfamilie, die aus vier Generationen besteht, das allein finde ich schon faszinierend. Ich habe nur einen Halb- und einen Fastbruder.« Ursula fand ihr Lachen sehr sympathisch. »Aber das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls hat mir Frau Henrici am Telefon schon so viel über Sie alle erzählt.« Unsichere bis erschrockene Blicke. »Sie scheinen eine ganz außergewöhnliche Truppe zu sein. Auf den ersten Blick so verschieden, aber wenn es darauf ankommt, unzertrennlich und füreinander da wie die Musketiere. Und trotzdem haben Sie Lust und den Mut, Ihre Beziehung noch einmal auf den Prüfstand zu stellen, um zu sehen, ob Sie vielleicht noch etwas besser machen können. Wirklich, Respekt, die Damen!« Sie deutete eine knappe Verbeugung an. Wieder sah sie dabei kurz zu Ursula hinüber, die ihr verstohlen zunickte. »Aber jetzt erst mal hinein in die gute Stube.«

»Franziska Marold?« Rahel hatte schon eine Weile einen sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Sagen Sie, es kann wohl nicht sein, dass ich im Manager Magazin etwas über Sie gelesen habe?«

»Wenn es schon ein paar Jahre her ist, so drei oder vier, dann ist das gut möglich.«

»Das glaube ich doch wohl nicht.« Na, das war auch für Ursula mal eine Überraschung! »Hatten Sie Ihre Praxis nicht in Hamburg?«

»Hatte ich, ja. Tja, mein Coaching-Konzept ist damals eingeschlagen wie eine Bombe. Damit hatte ich selbst gar nicht gerechnet.« Emily trollte sich. Sie blieb zwar in der Nähe, aber ab der Sekunde, in der ihre Mutter sich für Franziska Marold zu interessieren begonnen hatte, ging sie demonstrativ auf Abstand. »Ich bekam mehr Klienten, als ich verkraften konnte. Eine gefährliche Spirale. Je mehr man macht, desto mehr Empfehlungen und immer mehr Presseberichte.«

»Ist doch fantastisch. So etwas nennt man Erfolg!« Rahels kehliges Lachen hallte von der Fassade des alten Hauses wider.

»Ach wissen Sie …«

»Rahel.«

»Wissen Sie, Rahel, der Erfolg ist ein süßes Gift. Ich gebe zu, ich habe Nik überredet, meinen Namen anzunehmen, weil der in bestimmten Kreisen noch immer einen guten Klang hat. Mir ist durchaus klar, wie wichtig ein gewisser Erfolg insbesondere für Selbstständige ist. Aber damals war ich geradezu süchtig danach und wollte so viel davon, wie ich nur haben konnte.«

»Natürlich, man weiß schließlich nie, wie lange so ein Lauf anhält.«

»Da haben Sie recht, so dachte ich damals auch. Bis ich merkte, wie ausgebrannt ich war und wie wenig Freude mir meine Arbeit manches Mal machte. Darum habe ich beschlossen, eine Auszeit zu nehmen.« Wieder lachte sie fröhlich und deutete auf ihr Firmenschild. »Ich wollte auch Einsichten gewinnen, allerdings habe ich mir mehr Zeit gegönnt als nur normale Ferien.«

»Und, haben Sie die Einsichten gewonnen, die Sie sich erhofft hatten?« Wenn Ursula sich nicht täuschte, lag ein Hoffnungsschimmer in Heikes Augen.

Franziska nickte. »Kann man wohl sagen. Wie Sie sehen, berate ich noch immer Menschen bei speziellen Fragestellungen oder an Scheidewegen. Aber ich habe meinen Lebensmittelpunkt von Hamburg hierher nach Rügen verlegt. Und ich mache mit meinem Mann noch ein paar andere Dinge, die uns riesig Spaß machen.« Plötzlich bekamen ihre Augen einen ganz besonderen Glanz. »Dazu gehört, dass wir uns um unsere Zwillinge kümmern, die vor sechs Monaten auf die Welt gekommen sind.«

»Voll süß!«, rief Emily.

»Und wir haben unser Coaching bei Ihnen?« Ach nee, auf einmal leuchteten Rahels Augen.

»Ja.«

»Gottchen, das ist ja … Meinen Sie denn, eine Stunde bringt schon was?« Ursula sah Franziska schmunzeln und musste sich beherrschen, nicht loszuprusten.

»Ich reserviere grundsätzlich sicherheitshalber immer ein paar mehr Termine für meine Gäste«, erklärte Franziska freundlich. »Sie haben schon recht, in einer Sitzung tauchen oft noch Fragen auf. Es wäre doch schade, wenn die unbearbeitet bleiben müssten. Wenn Sie also weitere Termine wünschen, gern. Wenn nicht, ist es auch in Ordnung.« Nun hob sie endlich Ursulas Koffer an. »Gehen Sie ruhig schon vor, es ist die Wohnung Kap Arkona, wenn Sie reinkommen gleich links.«

Wie im Gänsemarsch gingen Rahel, Heike und Emily ins Haus. Schon drollig, je jünger die Frauen in ihrer Familie, desto größer war offenbar das Gepäck, das sie mitschleppten. Sie selbst hatte nur einen ledernen Reisekoffer im DIN-A3-Format. Darin hatte sie 1957 bereits all ihre Habseligkeiten nach Hamburg gebracht, als sie die Stelle bei der Post angetreten hatte. Heike hatte ihre abgewetzte Reisetasche dabei. Jede Wette, die hatte sie in diesem Eine-Welt-Laden erstanden, in dem sie fast alle ihre Kleidungsstücke kaufte. Rahel reiste mit elegantem anthrazitfarbenem Metalltrolley auf Rollen. Den Extraschminkkoffer, der mindestens halb so groß war wie der Trolley, konnte sie oben mit einem Klick befestigen. Sehr praktisch. Emily schließlich hatte für die nicht einmal zwei Wochen, die sie auf Rügen verbringen würden, ein Monstrum mitgebracht, das sie sich anscheinend auf den Rücken schnallen konnte und das Ursula verdächtig an einen Sarg erinnerte. Dem Umfang nach zu urteilen, hatte Emmchen den gesamten Inhalt ihres Kleiderschranks darin beerdigt.

»Das haben Sie prima gemacht«, sagte Ursula sehr zufrieden, ehe auch Franziska und sie ins Haus gingen.

3

Rahel

Ein Coaching bei Franziska Marold! Rahel konnte ihr Glück kaum fassen. Bezahlt von Oma Usch. Mit ein bisschen Geschick kamen noch ein paar Termine hinzu, die sie raffiniert nutzen würde, um vor allem ihre Fragestellungen zu lösen. Es war schließlich nicht so, dass alles in ihrem Leben wie geschmiert lief, wie die anderen wahrscheinlich dachten. Von wegen, du hast gut reden, du hast einen gut dotierten interessanten Job, wie ihre Mutter meinte. Oder Emily, ihr liebes Töchterlein. Die sah nur das Geld, das ihre Mutter Monat für Monat nach Hause brachte, ohne eine Vorstellung davon, was man dafür leisten musste, geschweige denn, wie viel davon übrig blieb. Von ihrem verkorksten Liebesleben ganz zu schweigen. Gut, was Männer anging, hatten die Frauen in dieser Familie anscheinend alle kein glückliches Händchen.

Rahel war angenehm überrascht von der Wohnung, die Franziska ihnen kurz gezeigt hatte, ehe sie losgelaufen war, um weitere Schlüssel zu holen. Moderne Möbel, ein großes Wohnzimmer mit Esstisch vor dem bodentiefen Panoramafenster, das sich zu einem geräumigen Balkon öffnen ließ. Von dort hatte man einen traumhaften Blick über die weiten Sanddornfelder. Was musste das im Herbst für ein Anblick sein, wenn die orange leuchtenden Beeren noch größer waren, die dicht an dicht an den Sträuchern saßen! Dahinter die beiden Leuchttürme. Dort war man schon am Meer. Ihr entfuhr ein Seufzer. Fast wünschte sie sich, sie hätte tatsächlich Urlaub. Doch Rahel war nicht nur wegen Oma Usch mitgekommen. Das hatte sie bisher aber hübsch für sich behalten. Mutter und Großmutter würden sich noch früh genug aufregen. Emily sowieso.

»Alles da, was man braucht«, rief Heike gerade aus der Küche. Was brauchte man denn schon? Sie würden doch sicher essen gehen, oder etwa nicht? Womöglich wollte ihre Mutter sie auch im Urlaub mit ihren scheußlichen Dinkel-Tofu-Frischkost-Pampen quälen.

»Und das Badezimmer ist sehr schick!« Das war Oma Usch in einem ziemlich beeindruckten Ton. Da musste Rahel doch gleich mal gucken gehen.

»Nicht schlecht!« Sie nickte anerkennend und besetzte gleich mal ein Regal mit ihrer Kosmetiktasche.

»Cooles Zimmer, das nehme ich!« Alle drei stürzten gleichzeitig in die Richtung, aus der Emilys Stimme gekommen war.

»Das könnte dir so passen, Fräulein.« Rahel wusste sofort, dass dieses Schlafzimmer genau richtig für sie war, schön groß, und es hatte einen Schreibtisch. »Hier schlafe ich. Ich brauche einen Arbeitsplatz. In den anderen Räumen gibt es keinen, glaube ich.«

»Ja, klar«, brummte Emily. Wenn sie sich diesen schrecklichen Ton nur abgewöhnen würde. »Definiere Urlaub!«

»Denkt ihr nicht, dass Ursula sich ihr Zimmer aussuchen sollte?« Heike mal wieder. Wie es aussah, wollte sie in diesem Leben noch zur Mutter Teresa von Bad Bevensen gekürt werden.

»Schon gut, Kind, ich nehme das hier«, rief Oma Usch gerade aus dem anderen Schlafraum. Na also!

»Ist das nicht ein bisschen klein, Mutti? Und der Blick auf die Lagerhalle und das Büro von dieser Sanddornfirma ist auch nicht gerade schön.«

»Lass sie doch!« Rahel konnte es nicht fassen, sie redete Oma Usch ja förmlich ein, das größere Zimmer zu nehmen. Nur weil sie es ihrer Tochter nicht gönnte.

Glücklicherweise hatte Oma Usch ihren eigenen Kopf. »Mir gefällt’s.«

Emily und Heike bezogen zwei Zimmerchen in der über ihnen liegenden Etage. Für die beiden reichte das, kleine gemütliche Schlafkammern, was brauchten sie schon mehr?

»Mein ehemaliges Büro und unser früheres Gästezimmer«, hatte Franziska bei dem kurzen Rundgang erklärt. »Sie sind zwar nicht sehr groß, aber ich habe den Blick aus den runden Giebelfenstern immer sehr genossen.« Und tatsächlich, darum beneidete Rahel die beiden wirklich, denn von dort oben konnte man sogar das Meer sehen.

 

Franziska kam mit den Schlüsseln zurück und drückte jeder von ihnen einen in die Hand.

»Meine Tochter braucht keinen«, wandte Rahel ein.

»Bist du bescheuert?«

»Emily, nicht in diesem Ton!«

»Sie werden bestimmt sowieso alle viel Zeit zusammen verbringen«, sagte Franziska unbekümmert, »aber so ist es doch praktischer. Mir scheint, Emily geht ganz gerne mal ihrer Wege, hm? Wenn jeder einen Schlüssel hat, müssen Sie sich nicht dauernd absprechen.«

»Es ist noch hübscher als auf den Bildern im Internet.« Oma Usch hatte online gebucht? Nicht zum ersten Mal hoffte Rahel, dass in ihren Genen mehr von ihr als von ihrer Mutter steckte.

»Freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Das war ursprünglich unsere Wohnung, also meine und Niks. Das ist mein Mann und Herr über die Plantage. Den werden Sie früher oder später auch kennenlernen.«

»Und wo wohnen Sie jetzt?«, wollte Emily wissen.

»Wir sind nach Vitt gezogen, das ist ein kleiner Fischerort keinen Kilometer von hier unten am Strand.«

»Ach, wie schön!« Mutter verdrehte die Augen wie ein Kalb, das gerade abgestochen wurde.

»Wir hatten geplant, unsere Jobs zu reduzieren. Das hatte ich vorhin ja schon erzählt. Fischer Heinrich hat in Vitt ein für ihn viel zu großes Haus bewohnt, und er hat dort eine Räuchereibude geführt. Das macht er immer noch, aber er steht nicht mehr täglich selbst hinter der Theke. Dafür fährt er an manchen Tagen mit Gästen hinaus zum Fischen.«

»Könnten wir da auch mal mitfahren?« Oma Usch sah doch wahrhaftig begeistert aus. Rahel fiel nur eine Beschäftigung ein, die langweiliger war als Angeln. Das war: Zugucken beim Angeln.

»Wenn Sie Frühaufsteher sind, sicher.«

»Ich bin raus«, erklärte Emily bestimmt.

»Mein Mann hat vor Jahren als Naturführer im Nationalpark gearbeitet. Er weiß alles über diese Insel.« Sie lachte. »Er macht die Touren zusammen mit Fischer Heinrich. Der ist eher nicht so gesprächig.« Sie hob vielsagend eine Augenbraue. Dann schien ihr einzufallen, was sie eigentlich erzählen wollte. »Dass wir so schnell nach Vitt umziehen, war eigentlich nicht geplant, aber als mein Gynäkologe auf die Frage, ob es wohl ein Mädchen oder ein Junge wird, beides geantwortet hat, mussten wir umdenken.«

»Sie sagten, Sie seien nach Rügen gekommen, um Abstand von Ihrer Arbeit zu haben. Aber jetzt sind Sie doch schon lange hier, oder?« Mutter konnte ihre Neugier natürlich mal wieder nicht zügeln.

»Nein, zwar kommt es mir manchmal selbst so vor, doch es sind erst drei Jahre.«

»Was is’n eigentlich ’n Fastbruder?« Rahel hatte mal wieder keine Ahnung, was im Kopf ihrer Tochter vorging. Die anderen auch nicht, so wie sie sie ansahen. »Sie ham vorhin gesagt, dass Sie ’n Halb- und ’n Fastbruder haben.« Emily kräuselte die Nase wie immer, wenn sie konzentriert nachdachte. Das hatte einmal sehr süß ausgesehen, als sie sich noch nicht mit diesem Ring verunstaltet hatte wie Schlachtvieh.

»Tja, das war eine ganz sonderbare Geschichte, die wirst du mir vielleicht nicht glauben. Ich darf doch du zu dir sagen?«

»Klaro.«

»Gut. Du natürlich auch.«

»Cool!« Emily hielt der Marold eine Hand hin, die klatschte dagegen. Sie konnte anscheinend gut mit Kindern umgehen, war bestimmt nicht nur attraktiv und super erfolgreich, sondern obendrein noch eine Topmutter. Rahel biss die Zähne zusammen. Kunststück, sie hatte eben einen Mann, mit dem sie sich die Last teilen konnte.

»In der zweiten Nacht, die ich damals auf Rügen verbrachte, da habe ich von einem Jungen geträumt. Am Tag zuvor hatte ich Niklas kennengelernt. Der war sozusagen mein Chef für die nächsten Monate. Ich hatte mit ihm vereinbart, so eine Art Praktikum zu machen. Er konnte mich im Büro einsetzen und später bei der Ernte, dafür hat er mir meine Ferienwohnung bezahlt. Ich wollte ja nur raus, etwas ganz anderes machen, als Leute zu beraten. Jedenfalls war unsere erste Begegnung schon … Wie soll ich es sagen?«

»Du hast dich verknallt!«

»Emily!« Ob dieses Kind jemals lernte, was Diskretion oder Intimsphäre bedeutete?

Franziska lachte. »Das behauptet Niklas auch immer.« Dann wurde sie ernst. Man konnte direkt sehen, wie sie sich erinnerte und wie es sie noch immer aufwühlte. »Nein, es hat mich zwar erwischt, aber ganz anders. Das war mir in dem Moment natürlich noch gar nicht klar. Dann kam die besagte Nacht, und ich träumte von einem Jungen, den ich aus meiner Kindheit kannte. Zumindest war ich davon überzeugt, als ich am nächsten Morgen wach wurde. Ich wusste sogar noch seinen Namen: Jürgen. Mir fiel etwas ein, was ich völlig verdrängt hatte. Als kleines Mädchen hatte ich immer behauptet, dass ich einen Bruder hätte. Meine Eltern haben das allerdings immer vehement bestritten.« Sie zuckte kurz mit den Schultern. Rahel hing an ihren Lippen. Was für eine bizarre Geschichte. Auch die anderen hörten ihr fasziniert zu. »Tja, da musste ich beinahe dreißig werden und nach Rügen fahren, um die Wahrheit zu erfahren.« Sie lächelte versonnen. »Mein Vater hatte nämlich wirklich einen Sohn aus erster Ehe. Jürgen lebte bei uns, bis ich etwa zwei oder zweieinhalb war. Dann tauchte seine Mutter bei meinem Vater auf und verkündete, dass sie ihren Sohn zu sich holen wolle. Sie hatte inzwischen auch eine neue Beziehung, wie mein Vater, und hatte mit ihrem zweiten Mann einen weiteren Sohn.« Sie sah in die Runde. »Niklas.«

»Der Chef der Plantage ist Ihr Halbbruder?« Während sie die Frage stellte, fiel selbst Heike auf, dass das nicht sein konnte. Immerhin war er Franziskas Mann, das hatte die schon erzählt. Rahel seufzte. »Ach nee, das …«

»Am Anfang dachte ich das tatsächlich, und das war gar nicht lustig.« Sie zwinkerte Emily zu. »Ich habe mich nämlich ziemlich schnell in ihn verknallt. Es klingt ein bisschen kompliziert, ich weiß, ist es im Grunde aber nicht. Nik und Jürgen haben dieselbe Mutter, Jürgen und ich haben denselben Vater.«

»Haben Sie Ihren Bruder denn auch hier wiedergefunden, wenn ich fragen darf?« Oma Usch hatte ganz feuchte Augen. Alte Leute! Total rührselig.

»Ja, mein Vater hat mir endlich reinen Wein eingeschenkt. Jürgen lebt zwar nicht auf der Insel, aber auch nicht so furchtbar weit weg.« Sie räusperte sich. »O je, wenn ich an unsere erste Begegnung denke. Nach immerhin fast achtundzwanzig Jahren. Ich habe nur geheult.«

»O Gott!«, sagte Emily gedehnt. Mutter und Oma Usch tupften sich Tränen weg. Also wirklich. Das war doch albern. Blöd, dass Rahel ausgerechnet jetzt etwas im Auge hatte. Sie zwinkerte dagegen an.

»Jetzt habe ich mich aber gründlich verklönt. Morgen Nachmittag findet ein kleiner Begrüßungscocktail unten im Aufenthaltsraum statt. Und direkt danach haben wir ja auch schon unsere Coaching-Einheit. Ich bin schon sehr gespannt. Was Frau Henrici mir am Telefon geschildert hat, klang jedenfalls sehr interessant. Also, jetzt kommen Sie erst mal in Ruhe an und genießen Ihren ersten Abend.«

 

»Voll cool, die Tussi.« Gottchen, wie sollte sie aus ihrer Tochter noch einen zivilisierten Menschen machen, der sich für einen vernünftigen Beruf im Management eignete?

»Ja, wirklich sehr sympathisch«, sagte Oma Usch.

»Sag mal, Mutti, was hast du der denn über uns erzählt? Was kann denn da so interessant sein?« Da musste Rahel ihrer Mutter ausnahmsweise mal recht geben.

»Allerdings, Oma Usch. Du hast doch wohl nicht einen Seelenstriptease veranstaltet, das ist doch peinlich.«

»Was soll das’n sein?« Emily fläzte sich auf das Sofa.

»Ich habe ihr gar nichts über euch erzählt, kein einziges Wort. Nicht weil ich das peinlich gefunden hätte, sondern weil sie das nicht wollte.«

»Aber was hat sie denn dann gemeint, Mutti?«

»Das wüsste ich auch gern.« Rahel verschränkte die Arme vor der Brust. »Was Frau Henrici mir am Telefon geschildert hat, klang jedenfalls sehr interessant«, wiederholte sie. »Also, Oma Usch?«

»Ich habe ihr von dem anderen Grund erzählt, der mich nach Rügen führt.«

»Willst du Kiten lernen?« Emily lachte sich scheckig.

»Jetzt bin ich aber gespannt.« Rahel sah ihre Mutter an, die nickte. Sie waren sich selten so einig. »Und der wäre?«

»Das erfahrt ihr schon früh genug. Jetzt will ich meine Sachen ausräumen und mich einrichten.«

»So kommst du uns nicht davon.« Das wäre ja noch schöner, alle auf die Folter spannen und dann ins Kämmerlein verschwinden. »Dieser Grund muss doch etwas mit dem Coaching zu tun haben. Sonst hättest du Frau Marold doch nicht davon erzählen müssen.«

»Ich musste nicht, meine liebe Rahel, ich wollte es. Und ich gebe zu, ich habe ein bisschen geflunkert. Ich habe behauptet, dass ihr den Grund kennt und Feuer und Flamme dafür seid.« Das war es, kein weiteres Wort. Oma Usch setzte ihre typische Bis-hierher-und-nicht-weiter-Miene auf.

»Du machst es aber auch spannend«, sagte Heike seufzend. »Na gut, dann räumen wir eben erst mal unsere Zimmer ein.«

»Ich hab Hunger!« War ja klar, Emily wollte sich nur davor drücken, ihre Klamotten in den Schrank zu legen. Nachher aß sie sowieso wieder nur wie ein Spatz.

»Nach dem Auspacken gibt’s Abendbrot.« Heike lächelte sanft. Rahel ahnte Schreckliches, es hatte mit Frischkornbrei zu tun.

»Ich will essen gehen«, maulte Emily.

»Gute Idee«, stimmte Oma Usch ihr zu. »Feiern wir unsere Ankunft auf Rügen!« Rahel sah zu ihrer Mutter. Sollte sie etwa einverstanden sein?

»Ach so, ja, können wir natürlich auch. Allerdings hatte ich für den ersten Abend heute früh vor unserer Abreise noch eine Dinkelrohkost vorbereitet.«

»Kind, wann bist du denn aufgestanden?«

»Das hat mir nichts ausgemacht. Ich dachte, man muss sich doch immer erst mal orientieren. Außerdem hat doch keiner mehr Lust, heute noch mal ins Auto zu steigen, oder?« Ach, manchmal lieferte Mutter ihr aber auch das perfekte Stichwort.

»Wenn Heike extra früh aufgestanden ist und sich solche Mühe gegeben hat, wäre es doch gemein, jetzt noch in ein Restaurant zu fahren.« Rahel lächelte süß.

»Lieb, dass du das sagst.«

»Ähm, na ja, und ich müsste noch mal weg. Könnte ich dein Auto haben, Mutter?«

»Wo willst du denn hin?« Dreistimmig.

»Leider habe ich es nicht so gut wie ihr und kann hier schön entspannen. Nicht nur. Ach, Oma Usch, nun guck doch nicht so. Ich soll für meine Firma ein Hotel in Sassnitz wegen einer Umstrukturierung beraten.« Puh, wenn Blicke töten könnten. Sah nicht aus, als hätte hier irgendjemand Verständnis für ihre Situation. Aber das war auch nicht zu erwarten gewesen. »Das Hotel soll an eine große Kette angeschlossen werden. Das packen die nicht allein, das ist ein Familienunternehmen, die haben keine Ahnung vom ganz großen Geschäft. Think big!« Okay, es war raus. Rahel hatte keine Lust mehr, sich zu rechtfertigen oder etwas zu erklären. »Der erste Termin ist heute Abend, ich werde unterwegs etwas essen.«

»Ey, nee, echt nich. Dinkelrohkost und Dauerarbeit, geil, da hätte ich voll zu Hause bleiben können. Wusste ich doch gleich, dass auf dieser dämlichen Insel alles Sch…« Rahel versuchte sie mit ihrem Blick zu durchbohren. »Mist is!« Emily hatte sich aufgerappelt und wollte losrennen. An Oma Usch kam sie nicht vorbei. Die fing sie aus vollem Lauf ab und schlang ihre Arme um sie. Das hätte sich Rahel mal erlauben sollen, da wäre Krawall garantiert.

»Es wäre ganz furchtbar gewesen, wenn du zu Hause geblieben wärst, Emmilein. Ich brauche dich nämlich hier«, sagte sie. Emily knurrte etwas Unverständliches, stemmte sich aber schon weniger gegen ihre Urgroßmutter. »Du warst doch immer unser Meisterdetektiv.«

»Detektivin, auch wenn man’s nicht gleich sieht.« Das war Rahel so rausgerutscht. Verdammt! Schon fing sie einen Blick von Oma Usch ein, der töten wollte. Emily wurde rot. Keine Glanzleistung, gestand Rahel sich ein. Manchmal war ihr Mundwerk einfach deutlich schneller als ihr Hirn.

»Weißt du nicht mehr?«, sprach Oma Usch ganz ruhig weiter. »Du hast immer diese Bücher geliebt. Mit Geheimtinte und Sicherung von Fußspuren.«

»O Mann, Ur-Usch, das is schon voll lange her. Da war ich noch ganz klein.« Emily wand sich aus ihrer Umarmung, lief aber nicht weg. Immerhin. »Ich bin doch kein Baby mehr, Detektiv spielen ist so was von out! Dann schon eher Geocaching oder so, das kann cool sein.«

»Die Methoden überlasse ich ganz dir. Die Hauptsache, du hilfst mir bei der Suche.« Sie sah in die Runde. Seltsamer Blick, so geheimnisvoll. »Diese Bitte richte ich an euch alle.«

Rahel musste los, wenn sie nicht zu spät kommen wollte, und sie hasste es, zu spät zu sein. Neugierig war sie nun aber auch. »Und wonach sollen wir suchen?«

»Ja, Mutti, das wüsste ich auch gern. Du sagst, du warst noch nie auf Rügen. Wonach willst du hier dann suchen?«

»Nach einem Mann.«

4

Emily

Voll krass, das alles. Wenn das so weiterging, konnte das ja noch richtig lustig werden. Ur-Usch suchte also einen verflossenen Lover. Na ja, Lover … So richtig zum Zug gekommen scheint der Typ bei ihr nicht zu sein. Oder sie nicht bei ihm. Viel hatte sie ja noch nicht verraten. Ur-Usch stand wohl auf Salamitaktik und erzählte ihre schräge Story scheibchenweise. Jedenfalls waren Mami und Oma Heike mächtig ausgetickt. Emily ging neben ihrer Mutter zu Omas schraddeligem Passat.

»Oma wird jetzt anscheinend senil«, fauchte ihre Mutter und schloss das Auto auf. »Hoffentlich werde ich nie so! Na ja, besser als so zu werden wie …« Klang so, als wäre das gar nicht für ihre Ohren bestimmt, aber Emily hatte es nun mal trotzdem gehört.

»Ich finde Ur-Usch voll cool. Senil, du spinnst voll.«

»Vorsichtig, Fräulein, du sprichst mit deiner Mutter.«

Ach nee, so’ne Überraschung. »Außerdem find ich’s irgendwie romantisch, dass Uroma nach hundert Jahren nach ihrer Jugendliebe suchen will. Voll süß.«

»Sechzig Jahre, nicht hundert.« Als ob das wortwörtlich gemeint wäre. Emily ersparte sich einen Kommentar. Während ihre Mutter ihre Lederlaptoptasche auf den Beifahrersitz legte, fischte sie ihr Sweatshirt vom Rücksitz. »Ich habe jedenfalls keine Zeit für diesen Kinderkram.«

»Nee, du musst ja arbeiten. Das hättest du Uroma übrigens mal ’n bisschen früher erzählen können. Die freut sich total, dass du mitkommst, und dann – bäm – lässt meine Mutter die Bombe platzen.«

»So einen kleinen Auftrag schüttel ich aus dem Ärmel. Ich werde schon auch Zeit mit euch verbringen.« Ja, ja, immer wie’s passt. »Ich finde das Ganze nicht romantisch, sondern einfach nur albern und sentimental.« Mann, das wurde ganz schön kühl, nachdem die Sonne untergegangen war. Emily zog sich ihr Sweatshirt über den Kopf. Der Wind roch gut, irgendwie nach Meer und Strand und Ferien. »Wo will sie denn anfangen? Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat sie doch kaum einen Anhaltspunkt.«

»Da hättest du es mit deinen diversen Lovern deutlich leichter.« Der warnende Blick ihrer Mutter spornte sie an. »Hättest gut zu tun, wenn du die alle aufstöbern wolltest.«

»Wenn du glaubst, dass du mich provozieren kannst, hast du dich geschnitten.« Und wovon träumst du nachts? »Ich muss jetzt los. Willst du etwa mit, oder was stehst du hier rum?«

»Vergiss es, Mami! Bin schon weg.« Emily drehte sich um. Bloß nicht heulen. Vielleicht merkte ihre Mutter mal, wie schroff sie gewesen war. Nee, nix, kein Wort, dass es ihr leidtat, dass sie es nicht so gemeint hatte. Willst du etwa mit? Hatte sie so gemeint, genau so. Emily blinzelte und ging zurück in Richtung Haus. Sie hörte die Autotür knallen, dann den Motor und schließlich Kies unter den Reifen. Sie hatte nicht mal Tschüss gesagt.

Als der Wagen außer Hörweite war, drehte Emily sich wieder um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Wie gut, dass Franziska ihr einen eigenen Schlüssel gegeben hatte. Es dauerte noch, bis es dunkel wurde. Also auf zur ersten Erkundungstour! Bloß, wo lang? Sie holte ihr Handy hervor und rief eine Karte von Rügen auf. Mal sehen, was es hier in der Nähe so alles gab. Nix.

»Boah, ey, voll viel Landschaft hier!« Überall nur Felder rundherum und ein paar kleine Wege. Sie legte Daumen und Zeigefinger auf das Display und zog sie auseinander. Der Ausschnitt wurde größer. Aber es gab immer noch nix anderes als Sträucher. Halt, doch. Da tauchte ein Ortsname auf. Vitt. Hatte Franziska den Namen nicht erwähnt? Wenn sie und ihr Mann, der Plantagenbesitzer, da hingezogen waren, konnte es nicht so übel sein. Bestimmt war da was los. Obwohl … es sah echt nicht so aus. Vielleicht konnte sie es noch ein bisschen mehr vergrößern. Mist, schlechtes Netz. Egal. Gleich neben dem Ort war das Meer, das hatte sie noch gesehen. Und laut Maßstab war es nicht weit. In die Wohnung wollte sie auf keinen Fall zurück. Oma Heike diskutierte bestimmt noch mit Ur-Usch darüber, dass sie von Anfang an ehrlich zu ihnen hätte sein müssen und so’n Quatsch. Auf miese Laune und ewig lange Debatten hatte sie echt keinen Bock. Da machte sie sich lieber auf den Weg zwischen den Feldern hindurch. Wär doch gelacht, wenn es nicht irgendetwas Spannendes aufzustöbern gäbe. Sie musste ganz schön aufpassen, dass sie nicht mit ihrem nagelneuen Hoodie an diesen fiesen piksigen Sträuchern hängen blieb.

»Hoodie? Ich dachte, das ist ein Kapuzenpullover«, hatte Ur-Usch gesagt. Voll süß. »Gefällt mir. Endlich mal etwas Fröhliches, nicht immer nur Totenköpfe.« Dabei waren die Strichmännchen von The Cure alles andere als fröhlich. Aber so genau hatte Uroma wohl nicht hingeguckt. Überall war dieser Sanddorn. Emily war schon eine Weile gelatscht, und sie sah nichts anderes. Nur Sanddorn. Hinter ihr, vor ihr, links und rechts, einfach überall nur Sträucher in langen Reihen mit kleinen orangen Beeren dran. Wie die wohl schmeckten? Mussten ja der Hammer sein, wenn man die in solchen Massen anbaute. Mal probieren. Nee, lieber doch nicht. Nachher sind die roh giftig oder so. Quatsch, dann müssten die bestimmt Warnschilder aufstellen oder das Gelände einzäunen. Eins von den Früchtchen würde sie schon nicht umbringen. Emily griff zu.

»Aua! Scheiße, tut das weh«, murmelte sie. Selbst schuld, musst eben aufpassen. Die Dinger heißen nicht ohne Grund Sanddorn. Sie suchte sich eine Beere an der Spitze eines Zweiges aus, die sie gefahrlos pflücken konnte. Ha, geschafft. Na dann …

»Iihh! Bäh!« Sie spürte, wie sich ihr Mund zusammenzog. Sofort spuckte sie auf den Boden. Was hatte Uroma gesagt? Die haben mehr Vitamin C als Zitronen? Die waren auch mindestens dreimal so sauer. Widerlich! Emily schlich weiter zwischen den Strauchreihen entlang. Mann, das war alles voll öde.

»Scheiß Insel«, fluchte sie vor sich hin. »Scheiß Ferien!« Plötzlich raschelte es. Das war ganz in der Nähe gewesen. Instinktiv tauchte sie ab und lugte zwischen dicht mit Beeren bewachsenen Ästen hervor. Da war ein Typ, groß war der und ganz schön kräftig. Wie diese Kerle, die ständig in ’ne Muckibude rannten. Obwohl … Der hatte nicht das peinliche Schrankformat, sondern war eher schlank. Aber die Arme, die in kurzen Ärmeln steckten, erinnerten total an Popeye. Nur dass der hier eine Haut wie Zartbitterschokolade hatte. Was der hier wohl machte? Von der Insel stammte der jedenfalls nicht, das war mal klar. Er ging ganz langsam eine Reihe nach der anderen ab. Zwischendurch blieb er immer wieder stehen und zupfte auch mal ein Blättchen von einem der Sträucher. Jetzt riss er eine dieser quietschsauren Früchte ab. Emily grinste breit. Der würde gleich schön das Gesicht verziehen. Mist, der hielt das Ding nur dicht vor seine Nase und guckte es sich ewig lange an, als ob es daran etwas zu entdecken gäbe. Er schob es sich nicht in den Mund. Schade. Sah aus, als ob der Zartbitter-Popeye hier arbeitete. Emily ging weiter in die Knie. Besser, er bemerkte sie nicht. Sie wusste ja nicht mal, ob sie hier überhaupt durchlatschen durfte. Wieso war der um diese Zeit eigentlich noch auf dem Feld, konnte der nicht mal Feierabend machen? Vielleicht so’n Arbeitstier wie ihre Mutter. Jetzt drehte der auch noch um und kam in ihre Richtung. Emily hockte sich schnell auf den Boden. Dabei kam sie einem Busch zu nah. Die Ärmel ihres neuen Hoodies hatte sie hochgeschoben, die Dornen erwischten also direkt ihre nackte Haut.

»Aua!«, flüsterte sie und setzte in Gedanken noch alle Flüche hinzu, die ihr nur einfielen.

Während sie ihn nicht aus den Augen ließ, fiel ihr die Szene wieder ein, die sich vorhin in der Ferienwohnung abgespielt hatte. Ur-Usch hatte einen flachen Pappkarton aus ihrem Koffer hervorgeholt. Das war echt der Hammer! Dieser Koffer war sowieso schon so klein, dass Emily sich nicht vorstellen konnte, wie Ur-Usch ihre Klamotten da reingekriegt hatte. Und dann war da auch dieser olle Karton drin. Das lila Blumenmuster war schon voll verblichen, und an den Rändern war er gelblich und total abgegriffen. Oben drauf klebte ein Schnipsel Zeitungspapier. Das war echt nur ein Schnipsel, stand ja auch nicht viel drauf. Aber an der Schrift und an dem Papier hat man sofort gesehen, dass der voll alt war.

»Das ist eine Kontaktanzeige«, hat Ur-Usch verraten. Vom 1. April 1955! Voll krass. Tja, und dann hatte sie die berühmte Katze aus dem Sack gelassen. Sie war siebzehn, als sie die Anzeige in einer Zeitung gefunden hat. Nicht dass sie in dem Alter Zeitung gelesen hätte, sie war Lehrling bei der Fischereigenossenschaft Heiligenhafen gewesen. Wusste Emily gar nicht. Mann, auf so einen Job hätte sie überhaupt keinen Bock. Das muss doch voll gestunken haben. Echt eklig. Jedenfalls durften die Lehrlinge sich Fisch mit nach Hause nehmen, wenn der runtergefallen und deswegen ’n bisschen kaputt war oder so. Den hat Ur-Usch in das Zeitungspapier gewickelt, und dabei hat sie diese Anzeige entdeckt, in der ein junger Handwerksgeselle Brieffreunde in aller Welt gesucht hat.