Sarah Boils Götterkrieger - Nicole Laue` - E-Book

Sarah Boils Götterkrieger E-Book

Nicole Laue`

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Beschreibung

Sarah wird erneut von einer Botschaft aus der Unterwelt dazu gezwungen zu handeln. Der angebliche Herrscher Novus aus der Zwischenwelt verlangt die Rückgabe eines bronzenen Käfigs, von dem niemand weiß, was es damit auf sich hat, geschweige denn wo sich dieser Käfig befindet. In ihrer Not ruft sie ihre beste Freundin Mary zu Hilfe. Auch Iris, die moderne Hexe, die sich der weißen Magie verschrieben hat, schließt sich den beiden an. Als Sarah und Mary unerwartet dem Altvampir Lionel begegnen, beginnt ein neues Abenteuer. Lionel, der selbsterkorene Wächter von Köln, macht ihnen begreiflich, dass der bronzene Käfig vermutlich eine weitere Pforte in die Unterwelt ist. Sarah ist das Amulett, geboren, um die Pforten geschlossen zu halten. Lionel führt sie daraufhin nach Wien in ein neues Abenteuer. Von dort aus geht die Reise weiter nach China, wo Sarah, Mary und Iris vor Lionel flüchten und einen abgelegenen Tempel aufsuchen. Dort begegnen sie dem seltsamen Götterkrieger Chan. Sarah muss feststellen, dass nicht nur Vampire und sie selbst über enorme, nicht natürliche Kräfte verfügen. Schnell muss sie erkennen, dass ihr Leben dort nicht sicher ist. Mary erlangt auf seltsame Weise eine Fähigkeit, die sie dringend benötigen wird. Richard, ein Altvampir, der Sarah bereits das Leben zur Hölle gemacht hat, scheint ebenso auf der Suche nach der zweiten Pforte zu sein. Ein Spießrutenlauf beginnt.

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Impressum

Sarah Boils Götterkrieger Nicole Laue published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2015 Nicole Laue

GÖTTERKRIEGER

Der Schmerz, dieser unsagbare Schmerz, des Verlustes. Wer ihn nicht kennt, hat die Liebe niemals erfahren. Doch wenn der Tod dir etwas nicht geben kann, was dir lieb geworden ist, dann nimmt er einen Teil deiner Seele mit sich und zieht genau diesen Teil in tiefste Abgründe deines Selbst. Dort beginnt ein unerbittlicher Sturm und reißt alles mit sich, wofür du je glaubtest gelebt zu haben…

Zuweilen bringt er etwas Neues, doch wird es nie mehr dasselbe sein.

Man muss manchmal sogar ein altes Leben sterben, um in ein neues hineingeboren zu werden.

Ich fühlte noch am anderen Ende des dunklen Ganges seine Anwesenheit schwinden und rannte so schnell ich konnte hinterher. Ich versuchte ihn mit letzter Kraft einzuholen, doch der Abstand war einfach zu groß. Mein Herz schlug immer schneller, das Blut in meinen Venen pulsierte und der Schweiß perlte von meiner Stirn. Der Weg schien endlos und, egal wie sehr ich mich auch bemühte, meine Beine wurden immer schwerer und langsamer, bis ich endlich zu laufen schien, ohne mich von der Stelle zu bewegen. In diesem Augenblick verschwand Lionels vorher deutlich spürbare Anwesenheit. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Rundherum herrschte eine tödliche Stille. Vor mir lag, wie aus dem Nichts aufgetaucht, eine Art unterirdischer See. Ich befand mich in einer dunklen Höhle, die mich mit ihren kalten Wänden erbarmungslos einschloss. Die Wasseroberfläche vor mir war mit einem schwarzen und trüben Film überzogen, und der Geruch von totem Fisch brannte sich in meine Schleimhäute. Fäulnisgase, die mir auf penetrante Weise meine Atemwege verschlossen, ätzten sich nun auch tiefer in mein Gehirn.

Wo bin ich hier?

Ich fuhr mit der Hand durch mein Gesicht und mit den Fingern meinen Hals entlang. Es fühlte sich nass an. Ich warf einen Blick auf meine Hand. Blut sickerte aus vielen kleinen Wunden. Hektisch glitt ich über meinen Hals. Mit der Fingerkuppe konnte ich zwei kleine Wunden dicht nebeneinander ertasten. Mein Verstand war matt und getrübt, doch ich wusste sofort, was geschehen war. Ein Zittern durchfuhr meine Glieder.

Man hatte mich gebissen!

Was war nur passiert? Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Eben lief der Wächter der Stadt noch vor mir her, ich versuchte ihm krampfhaft zu folgen, und im nächsten Moment war er verschwunden. Ich blutete, und die Wunden schienen sich nicht schließen zu wollen. Was war nur geschehen? Der Geruch nach verfaulten Innereien und Kadavern war immer noch so aufdringlich, dass ich würgte.

Das ist ja nicht auszuhalten!

Ich beugte mich nach vorne und aus meinem Mund lief eine klebrige gelbe Suppe, die auf den steinigen, dunklen Boden aufklatschte. Danach folgte ein Schwall von frischem Blut. Wieso hatte der Altvampir mich gebissen, und was machte ich in dieser Höhle? Und wo verdammt noch mal war der Ausgang? Ich sah mich um. Alles drehte sich und ich musste feststellen, dass mich meine Kräfte verlassen hatten. Es gab nun keinen Eingang und auch keinen Ausgang mehr. Ich war eingeschlossen von felsigen Wänden, die bedrohlich näher zukommen schienen. Überall glitzerten Stalaktiten von der Decke und aus dem Boden schossen verschieden große Stalakmiten in die Höhe, die in verschiedenen Farben glimmten und somit in die trübe Dunkelheit ein schwaches Licht brachten. Ich versuchte zu atmen, rang nach Luft, der Sauerstoffgehalt schien immer knapper zu werden und der Geruch brannte sich unerträglich tief in meine Nebenhöhlen ein. An den felsigen Wänden spiegelte sich plötzlich tausendfach Lionels Gesicht. Er lachte laut auf!

Wie ein dämonischer Schatten kreiste er um mich herum, sah auf mich herab, tapezierte die düsteren Steinwände und leckte sich Blut von seinen Eckzähnen.

Wie hatte er mich bloß hier hin gelockt? Hektisch sah ich mich um. Wo war der Gang geblieben, durch den ich eben noch hier her gekommen war?

Ich muss irgendwie hier raus!

Meine Lunge schnürte sich zu. Die Wunde an meinem Hals begann zu brennen und ich presste meine Finger auf die heiße Haut. Blut strömte aus der Halsarterie und spritzte heftig auf mein Shirt. Die Blutung war nicht zu stoppen und mir wurde schwarz vor Augen.

Wo sind meine eigenen Kräfte nur hin? Warum heilt es nicht einfach?

Dann tat sich unter mir der Boden auf und ich fiel durch eine Öffnung hindurch, direkt in eine schwarze, nach Teer schmeckende Dunkelheit hinein, immer tiefer und immer schneller.

Mit Todesangst im Nacken versuchte ich den Fall zu stoppen, breitete die Arme aus und hoffte irgendwo Halt zu finden, doch ich riss mir lediglich die Fingerkuppen an etwas hartem, scharfkantigem auf und stürzte weiter in rasendem Tempo in die Tiefe.

Dann wurde es plötzlich hell und heiß. Gelbrotes, leuchtendes Licht peitschte mir brennend in die Augen. Unter mir schlugen Flammen in die Höhe und ich fiel mitten in das glühende Spektakel hinein. Ich schrie auf. Meine Kleidung fing sofort Feuer und in sekundenschnelle brannte ich lichterloh. Durch die Flammen erschien erneut Lionels Gesicht und mit einem breiten Grinsen sah er mich herausfordernd an.

„Mach es gut, Amulett. Wir sehen uns in der Hölle.“

Mit pochendem Herzen und einem nassgeschwitzten Nachthemd saß ich kerzengrade im Bett.

Meine Glieder zitterten und ich schnappte nach Luft. Schweiß rann mir die Halsschlagader entlang, die aus meiner Haut zu springen drohte. Sie pochte unaufhaltsam und ich musste aus dem Bett springen, um das Fenster aufzureißen. Mein Herz schlug wie ein Dampfhammer gegen meinen Brustkorb. Durch das Fenster fiel fahles Mondlicht. Ich versuchte tief ein und aus zu atmeten, meine Lungen blähten sich auf und ich begann zu schreien „Born into the light“, um die Spuren der Nacht aus meiner Seele zu wischen.

Einen Augenblick später stand ich bereits unter der Dusche und ließ das heiße Wasser über mich laufen. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dort gestanden habe um die alten Kacheln anzustarren, doch als ich das Bad verließ, war der kleine Raum durch den heißen und feuchten Dampf so vernebelt, dass man die Luft hätte schneiden können.

Kapitel 1

Es war Herbst. Dunkle Wolken zogen schleierhaft am Firmament entlang. Wasser prasselte unaufhörlich gegen die leicht ergrauten und mit Schlieren versehenen Scheiben des alten Küchenfensters. Die Kaffeemaschine brodelte wie eh und je. Im Hinterhof hatte sich eine mystische Dämmerung eingeschlichen,die so gar nicht zur Uhrzeit passte. Die Sonne schien nicht zu existieren und der Schleier der Nacht lag immer noch über den Häusern und bettete sie in schläfrige Trübe. Meine Füße waren kalt. Mit angewinkelten Beinen hockte ich auf meinem kleinen, braunen Barhocker, an meinem kleinen, braunen Bartisch und starrte kleine runde Löcher in die Luft. Selbst die flauschigen Kaschmirwollsocken, die meine Mutter mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, wärmten meine Füße nicht. Weihnachten, ich durfte gar nicht daran denken. Letztes Jahr war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Letztes Jahr war meine Mutter zum heiligen Fest bei mir und Martin gewesen. Martin, er hatte mich verlassen, weil ich ihn mit Lionel betrogen hatte. Vielleicht hätte er mir sogar verziehen, aber ich hatte mich so sehr verändert, dass es wohl nie wieder zwischen uns funktioniert hätte. Mein Erbe, das zugleich zu meinem Fluch geworden war, und Lionel, dieser gottlose Sohn des Teufels, hatten mich regelrecht verdorben.

Seit Wochen schon saß ich da und wartete auf eine Antwort von Gott.

Dass es eine höhere Macht gab, wurde mir in diesem Jahr des Öfteren bewiesen, doch welche grausame Wahrheit sich dahinter verbarg, wurde mir erst bewusst, als ich Lionel an der Schwelle des Todes im Rosengarten zurück gelassen hatte. Der Gedanke an den Altvampir jagte mir einen Schauer über den Rücken. Die Erinnerung und das Gefühl wandelten sich in unbändige Wut. Jeden verdammten Abend hatte ich gebetet und um Antworten gefleht. Doch Gott sprach nicht mit mir. Dabei war gerade er mir immer noch eine Antwort schuldig. Man hatte mir eine Last aufgebürdet, die ich nicht tragen konnte. Ich war ein Mensch, bis zu dem Tag, als meine Gene mutierten und das Erbe meines Vaters erbarmungslos immer tiefer in meine Eingeweide wuchs. Wie ein bösartiger Tumor metastasierte diese Macht in mir und breite sich aus, nahm Besitz von meinem Körper und von meiner Seele. Diese schier unbändige und gewaltige Quelle des Ur-Bösen. Von diesem besagten Tag an mutierte ich langsam zu einem Monster. Man hatte mich nicht gefragt, es wurde mir einfach aufgezwungen.

Gott hatte nicht eingegriffen, teilnahmslos hatte er zugesehen, er hatte sogar zugelassen, dass Lionel mir zu nahe kam. Er hatte mich weder gewarnt, noch hatte er mich vor dem Altvampir beschützt. Es war mein gutes Recht zu erfahren, warum er mir das antat. Ich war zornig, verbittert und suhlte mich seit dieser besagten Nacht, als ich Lionel das letzte Mal gesehen hatte, in meinem Weltschmerz.

Mal waren es Albträume, mal stand ich irgendwo im Süden in der Sonne, der Himmel war blau, Martin an meiner Seite, und wir blickten gemeinsam auf das vor uns liegende friedvolle Meer. Dann verwandelte sich Martins Gesicht in Lionels markantes Gesicht. Die Gicht schäumte auf und schlug gegen die Felsen links von uns am Strand.

Manchmal träumte ich einfach nur von beliebigen Orten, von beliebigen Dingen , von einer undefinierbaren Flut von Augenblicken, die sich in meine Träume schlichen. Gott hatte mir mein Leben genommen, mein echtes Leben. Es hatte lange gedauert, zu begreifen, dass ich nicht verrückt war, sondern dass all das um mich herum wirklich geschah.

Nach der Schließung der Pforte, nach der Erkenntnis über Lionel, den Vampir von Köln und nach dem Wissen, dass es für ihn keine Heilung gab und dass er seine Seele nicht zurückbekam, brauchte ich die Abgeschiedenheit. Im Stillen hatte ich manche Nacht gehofft, Lionel würde ebenso wie mein Vater einestages seine Seele zurückbekommen. Er hatte Köln schließlich vor dem Untergang gerettet und wenn man es genau nahm, die ganze Welt. Bis heute hatte ich mir immer noch nicht erklären können, wo genau diese andere Dimension lag, in die die Hexen vor vielen hundert Jahren die Untoten verbannt hatten. Magie und Fiktion waren scheinbar nicht immer zu erklären. Für manche Fragen gab es vielleicht einfach keine Antwort. Und doch suchte ich danach.

Mary hatte die ersten Tage wiederholt angerufen, doch ich wollte niemanden sehen und niemanden hören. Ich brauchte Zeit. Zeit, um durch den Schmerz zu gehen.

Wer bin ich und was bin ich?

Eine Frage, die ich mir immer wieder stellte, sie riss mich nachts aus dem Schlaf, jagte mich durch unzählige Albträume, umhüllte mich in kalte Schweißbäder, hielt mich vom Alltag fern und verzerrte mein Spiegelbild. In der Ruhe die ich suchte, türmten sich gleichzeitig Widersprüche auf, trieben mich an den Rand des Wahnsinns, betteten mich in Zweifel und raubten mir zuweilen den Verstand. Ab und zu fragte ich mich immer noch, ob ich vielleicht gar nicht existierte oder mich in einer anderen Welt oder sogar in einer Zeitschleife befand. Ich schloss in jenen Momenten einen Aufenthalt in der Psychiatrie jedoch aus, da die Realität mich schneller einholte, als mir lieb war.

Meine Kräfte und Fähigkeiten prägten sich immer rascher aus, je wütender und verletzter ich war, desto stärker nahmen sie Gestalt an. Ich hatte immer noch nicht richtig gelernt, mit ihnen umzugehen. Lionel hatte mir gezeigt, dass sie stärker waren, wenn ich mich auf meine Emotionen konzentrierte und dank ihm, konnte ich zwar kämpfen, jedoch fehlte mir immer noch jegliches Feingefühl. Es gab Tage, in denen ich einfach nur Mensch war und Mensch sein wollte. Doch die innere Kraft und düstere Macht schwappte sinnlos über mich hinweg und zwar schneller, als ich fähig war, sie zu kontrollieren, so dass ich dummerweise Teller und Tassen zerbrach. Meine Kochtöpfe hatten bereits Beulen und einigen Kleidungsstücken fehlte der Reißverschluss. In meiner ungestümen Art hatte ich sie einfach herausgerissen. Ich musste eine Menge Energie aufbringen, um meine neu gewonnenen Kräfte unter Kontrolle zu halten. Je länger ich allein war, desto länger musste ich mich mit mir selbst beschäftigen, desto tiefer geriet ich an meine eigenen, inneren Grenzen. Wut, Enttäuschung, Zorn, Angst, Hass, Sehnsucht, Erinnerungen, Liebe und Angst waren eine brutale Mischung, die meine dämonische Seite immer weiter herausforderte. Das machte mir zu schaffen und ich hielt mich daher in meiner eigenen Wohnung gefangen. Ich hatte mir selbst schwere Eisenketten umgelegt. Dazu kam diese widersprüchliche Berührung mit dem Tod. Mein Körper fühlte sich so lebendig an, lebendiger als je zuvor, doch irgendetwas in mir schien ebenso alt und tot zu sein. Was immer dort in der Tiefe in mir lauerte, versuchte langsam Formen anzunehmen und das machte mir eine Scheißangst.

Ich hatte niemanden darum gebeten, das zu sein, was ich nun war. Es wurde einfach entschieden. Wurde mir aufgezwungen von irgendwelchen fremden Mächten. Es war nicht das grüne Monster unter dem Bett oder das Gespenst im Kleiderschrank, das mir Angst machte, es war viel schlimmer. Es war real. Und ich war nun das Monster in meinem eigenen Bett.

Ich verschanzte mich zuhause, riss die kompletten Tapeten runter, renovierte wie eine Wahnsinnige meine Wohnung, schrubbte jeden verdammten Winkel meiner einsamen und leeren Wohnung, verwischte Martins Spuren und flüchtete mich in die Isolation.

Ab und zu dachte ich an Mary, was sie wohl gerade tat und ob es ihr wohl gut ginge.

Ich hatte sie in den letzten Wochen einfach zu sehr vernachlässigt.

Nach Marys Trennung vor einigen Jahren von Piet, ihrer ersten großen Liebe, war sie meist bei mir gewesen um die Einsamkeit nicht mehr zu spüren.

Jetzt war sie allein, ganz allein.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster, es war Zeit, wieder aufzustehen und ins Leben zurückzukehren. Ich versuchte mir einzureden, dass meine neugewonnene Freiheit auch etwas Gutes hatte.

Ich musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, konnte nach Hause kommen, wann ich wollte. Partys schmeißen ohne Ende, ein und ausgehen, ohne Rechenschaft abzulegen.

Ach verdammt, ich schmeiße keine Partys und ich gehe auch nicht aus.

Ich verbrachte also meine Zeit damit, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen, abends vor der Glotze zu liegen und in Selbstmitleid zu versinken, ein Buch zu lesen, oder wie eine Wahnsinnige den Rhein rauf und runter zu laufen. Laufen, das einzige, was mich derzeit am Leben erhielt. Ich lief meinem Schmerz einfach davon.

Anfangs hatte ich versucht, den Wahnsinn in Alkohol zu ertränken, doch als ich merkte, dass selbst eine Flasche Wodka nicht mehr richtig anschlug, ließ ich es frustriert bleiben. Das einzige, was ich nicht versucht hätte, um mich zu betäuben, waren Drogen. Aber die hätten vermutlich auch nicht die gewünschte Wirkung gezeigt.

An diesem Morgen erwachte nach langer Zeit das Gefühl in mir, dass etwas fehlte. Eine Aufgabe die mich wieder Mensch sein ließ.

Ich hatte mir nach der Dusche lediglich einen Morgenmantel übergeworfen. Die Tageszeitung lag vor mir und ich saß mit einem viel zu starken Kaffee immer noch an meinem Bartisch in der Küche. Die Zukunft lag trostlos vor mir. Was konnte ich schon tun? Ich hätte an verbotenen Boxkämpfen teilnehmen können. Ich hätte eine gute Stange Geld verdient, aber vermutlich hätte ich meinen Gegner glatt umgebracht. Solange ich meine Fähigkeiten nicht vollkommen unter Kontrolle hatte und solange ich Löcher in die Wand starrte, würde mir niemand auf dieser Welt einen handfesten Job anbieten. Spätestens nach einer Stunde wäre ich gefeuert.

Ich schüttelte den Kopf und schlürfte frustriert an meinem bereits kalten Kaffee weiter.

Ich hatte Lionel lange nicht mehr gesehen. Zuweilen spürte ich seine Anwesenheit, er war dort draußen, irgendwo in den Straßen von Köln und er beobachtete mich. In mancher Nacht erwachte ich, glaubte seinen Schatten an meinem Fenster zu sehen, doch ehe ich überhaupt reagieren konnte, dass er da war, verschwand er schon wieder. Die Nacht hüllte mich dann ein und ich fiel zurück in die Lethargie der letzten Wochen. Ich hätte ihn nur zu rufen brauchen, ich hätte ihn aufsuchen können, aber wozu hätte das gut sein sollen?

Gedankenversunken begann ich lustlos in der Zeitung zu blättern und ging halbherzig die Stellenanzeigen durch.

Warum tue ich das bloß? Wo liegt der Sinn? Kann ich mich selbst auslöschen, wo doch die Gene eine Untoten in mir erwacht waren?

Ich wollte weder als Spülhilfe in einem Kakerlakenrestaurant enden, noch das Messegeländer schrubben, geschweige denn auf eine Horde vierjähriger Kinder aufpassen, bis sie mir die letzten, lebenden Zellen aus meinem Gehirn herausbrüllen würden. Nicht dass ich keine Kinder mochte, ich mochte sie sehr, wenn sie nicht in Rudeln auftraten. Hätte ich mit Martin Kinder bekommen, dann wäre ganz klar gewesen: nur zweie. Ein Junge und ein Mädchen.

Diesen Gedanken muss ich schnellstens loswerden, Vampirkinder, genetische Mutanten, das kommt gar nicht in Frage.

Schon schoss mir die nächste Frage in den Kopf. Konnte ich überhaupt noch Kinder bekommen? Und wie wären sie dann? Tot? Lebendig?

Mein Leben war wirklich nicht mehr lebenswert. Ich schob den Gedanken schnell beiseite und fuhr mit dem Finger eine Stellenanzeige nach der anderen nach. Plötzlich begannen die Buchstaben zu verschwimmen. Ich musste mich konzentrieren, um den Inhalt des Textes lesen zu können:

„Ein Bühnenreifer Auftritt. Gratulation. Und da du so ein braves Mädchen bist und so viel Verantwortung für deine Artgenossen gezeigt hast, habe ich einen Auftrag für dich. Sieh es als Wiedergutmachung dafür, dass du die Pforte geschlossen hast. Ich erwarte deinen Anruf.“

Dann folgte eine Telefonnummer. Meine Hände begannen zu zitterten. Ich spürte tief in mir etwas Düsteres empor steigen. Diese Annonce war nicht von einem Menschen verfasst.

Wie kann das möglich sein? Woher wusste ich das?

Ich spürte mein Herz schneller schlagen und rang um Luft.

Mein erster Gedanke galt Richard. Ich wusste nicht, ob er in der besagten Nacht im Rosengarten in den Flammen umgekommen war oder nicht. Doch genauso gut hätte es auch Lionel sein können.

Einen Augenblick zögerte ich, dann griff ich entschlossen zum Telefon und wählte die besagte Nummer. Ein merkwürdiges Rauschen und Knistern tönte wie aus der Ferne, dann zischte es in der Leitung. Der Klingelton blieb jedoch aus. Stille.

„Hallo? Ist da jemand?“

Meine Stimme schien zwar in den Hörer hinein zu gelangen, wie durch eine Art Trichter, aber er verstummte irgendwo am anderen Ende der Leitung. Ich legte auf. Ich wollte einen weiteren Blick auf die Zeilen werfen um die Nummer noch einmal zu vergleichen. Vielleicht hatte ich mich auch verwählt.

Wo sind denn jetzt die Ziffern geblieben?

Mein Finger ruhte noch immer auf der selben Stelle. Die Anzeige war verschwunden. Hektisch überflog ich noch einmal jede Zeile die auf der Seite dieser gottverdammten Zeitung stand. Nichts!

Sie blieb verschwunden. Und dafür gab dafür nur eine einzige plausible Erklärung:

Ich bin doch verrückt!

Ich legte die Stirn in Falten und kräuselte meine Nase. Das tat ich häufig, wenn ich nachdachte. Eine mehr zweifellos unschöne Macke, deren Resultat zwei schrecklich hässliche Denkerfalten mitten auf meiner Stirn waren. Zugleich packte mich der nächste Gedanke: Würde ich denn jetzt noch Falten bekommen? Oder regenerierte sich meine Haut wie bei Lionel? Diese makellose und wunderschöne seidige Haut, die seinen muskulösen und athletischen Körper so perfekt zur Geltung brachte. Würde ich altern? Und wenn nicht, dann wäre es der erste Vorteil, der mir ein kleines, fast schon schelmisches Lächeln ins Gesicht zauberte. Zumindest war das ein Trostpflaster im Gegensatz zu all den anderen Nachteilen. Plötzlich klingelte mein Telefon.

Auf dem Display erschien keine Nummer. Ich nahm das Gespräch an und wartete.

„Sarah“, flüsterte eine raue und dunkle Stimme am anderen Ende. Ich fühlte, wie sich meine Nackenhaare hoch stellten. Das war nicht Richard und auch nicht Lionel.

„Wer ist da?“

„Du kennst mich nicht“, hauchte die Stimme ins Telefon zurück.

Ach, darauf wäre ich jetzt gar nicht gekommen.

Es klang so ähnlich, wie in einem alten Video von Marielle Mains, in dem ziemlich viele Stimmverzerrer eingesetzt wurden. Dunkel und monoton hallte es am anderen Ende durch die Leitung. Wie durch einen Filter rasten die Töne in meinen Gehörgang, sodass sich das Flimmerepithel mit seinen kleinen feinen Härchen umgehend hochstellte. Einen Moment stutzte ich. Meine Nummer konnte doch niemand sehen. Wer auch immer der Anrufer war, er musste bereits meine Rufnummer besitzen. Aber woher hatte er sie? Und was noch viel wichtiger war: Wer hatte sie? Ich starrte erneut auf die Zeitung, die Anzeige blieb verschwunden.

Entweder wurde ich langsam wirklich schizophren oder hier war Magie im Spiel. Wobei ich immer noch Schwierigkeiten hatte, mich damit anzufreunden, dass Magie existierte. Ich fragte noch einmal eindringlicher.

„Wer ist da?“

Und wieder jagten diese seltsamen Geräusche durch die Leitung.

Es klang wie ein entferntes, blechernes Scheppern, als würden unzählige Schrauben in einer Betonmischmaschine durcheinander geschüttelt und immer wieder gegen stählerne Wände schlagen. Es dröhnte mit abnormaler Geschwindigkeit in meinen Gehörgang und ich zuckte sichtlich zusammen.

Ein lautstarkes Pfeifen brachte mein Trommelfell fast zum platzen. Ich riss den Hörer für einen kurzen Augenblick weit von meinem Ohr weg und war versucht aufzulegen, als die dunkle und gewaltige Stimme sich noch einmal meldete.

„Wer ich bin tut nichts zur Sache. Du bist das Amulett. Und das ist das Einzige, was zählt. Wolltest du nicht schon seit langem wissen, wo dein Vater wirklich ist?“

Einen Moment hielt ich den Atem an. Das konnte doch nur ein mieser Trick sein. Kein Sterblicher außer Mary und meiner Mutter wussten, wer mein Vater war. Und natürlich Martin. Aber er würde es nicht wagen, sich einen derartigen Scherz mit mir zu erlauben.

Und wenn es kein Sterblicher ist?

Ich fragte genauer nach, doch dieses Mal zynischer und energischer: „Wer verdammt noch mal bist du und was willst du? Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist es ein verdammt schlechter.“

„Ich bin alles, und doch nichts“, hallte es durch die Leitung.

„Ich kann deinen Vater sehen, kleine Sarah, er ist im Neriot. Hier bei mir. Willst du ihn retten, oder soll ich ihn euch zurückbringen? Soll ich ihm seine Seele nehmen und ihn euch als mordenden Vampir zurück auf die Erde schicken? Wie gefällt dir dieser Gedanke?“

Eine Gänsehaut jagte die nächste und sammelte sich auf meiner Kopfhaut zu einem unangenehmen Kribbeln. Draußen in den Straßen konnte ich gegen Dämonen oder Vampire kämpfen, gegen eine abgrundtief fühlbar bösartige und machtvolle Stimme ohne Körper konnte ich nichts ausrichten. Ich musste herausfinden, wer dahinter steckte.

„Das ist Erpressung“, zischte ich durch die Zähne. Und was zum Teufel ist Neriot?

„Lionel, wenn das auf deinem Mist gewachsen ist, dann hör sofort auf damit. Hast du mich verstanden?“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, gab es einen furchtbar lauten Knall. Eine riesige Energiewelle strömte wie aus dem Nichts in meine Küche, wirbelte meine langen Haare auf und breitete sich rasend schnell im Raum aus. Ich konnte sie nicht sehen, dafür fühlte ich sie umso deutlicher. Die Luft war elektrisiert und mir schien, als tanzten winzige Lichtmoleküle wild und hektisch vor meinen Augen hin und her.

Wie ist das möglich?

Meine Sinne waren angespannt, hektisch schweifte mein Blick umher und hielt erst auf den Kochplatten meines Ceran-Herdes inne, auf denen plötzlich kleine Flammen tanzten.

Ach du dickes Ei!

Dort, wo sich die runden Markierungen für die Töpfe befanden, waren im Bruchteil einer Sekunde lichterloh vier Feuerkreise entflammt. Die Stichflammen schossen bis zur Dunstabzugshaube hoch. Langsam begann der Kunststoff zu schmoren und tropfte auf das Ceranfeld hinunter. Beißender Gestank machte sich breit. Ich starrte erschrocken auf das Feuer, unfähig mich zu bewegen. Der Raum hüllte sich in ätzenden, schwarzen Qualm und verschleierte mir die Sicht.

Das kann doch alles nicht mehr wahr sein.

Am anderen Ende der Leitung wurde es laut, in meinem Kopf baute sich ein Druck auf, gegen den ich mich kaum wehren konnte. Mein Herz begann wie wild in meiner Brust zu schlagen und ich krampfte die Hände zur Faust zusammen. Aber hier war kein Gegner, den ich mit reiner körperlicher Kraft besiegen konnte. Und genau das macht mir eben Angst.

„Du wagst es, mich mit diesem Versager zu vergleichen? Meine Macht steht weit über diesem niedrigen Wesen. Und auch du bist mir nicht im geringsten gewachsen.“

Im gleichen Moment war das Bild meiner Küche wieder das Selbe wie noch vor wenigen Augenblicken. Das Ceranfeld glänzte und die Dunstabzugshaube hatte nicht einen Kratzer.

Ich bin wohl verrückt. Ich bin total irre.

Mein Hals war trocken, meine Zunge schwer und pelzig. Die Panik in mir brachte meinen Körper zum Beben und ich schnappte hektisch nach Luft.

„Was willst du von mir?“, rief ich laut und versuchte so gefasst und stark wie möglich zu klingen.

Und wieder grollte die Stimme und brach wie ein Steinschlag über mich ein.

„Such den bronzenen Käfig und bring ihn mir oder dein Vater kehrt in die Welt zurück, in der du lebst. Ohne Seele! Ein blutrünstiges Monster, so wie er einst erschaffen wurde.“

Akustisch verstand ich zwar die Worte, doch ich begriff nicht, was man mir damit sagen wollte. Meine Stimme war matt und leise, als ich flüsterte: „Ich versteh das alles nicht, wer bist du und wo ist mein Vater?“

Die kurze Stille ließ die zerreißende Spannung kaum ertragen.

Ich fühlte mich zweigeteilt, zerrissen, seltsam leer und machtlos. Die anfängliche Hilflosigkeit wandelte sich allmählich in Zorn und Wut.

„Bring mir den bronzenen Käfig!“

Mein Hals schnürte sich noch einmal kurz zu. Ich verkrampfte von Kopf bis Fuß. Ich rang nach Luft und versuchte schnell und tief Luft zu holen um die Verkrampfung in mir zu lockern.

Ich blickte auf meine Kaffeetasse. Ich war Sarah, die Tochter Christophers. Niemand setzte mich unter Druck. Ich trug das Erbe meines Vaters in mir und im Blut waren wir miteinander vereint. Ich hatte genug in den letzten Wochen erlebt, dass mich eigentlich nichts mehr aus der Fassung bringen durfte. Ich besann mich auf meine Fähigkeiten, konzentrierte mich auf meine innere Macht und ehe ich es selbst begreifen konnte, hatte ich mich wieder gesammelt und aus der anfänglichen Ängstlichkeit wuchs eine unglaublich dominante Stärke und ich rief mit gewaltiger Stimme:

„Was für ein Käfig ist das und was willst du damit?“

„Finde den Käfig, sonst siehst du Christopher bald auf Erden wieder.“

„Sag mir erst, wer du bist.“

Ich rief die Worte in die Leere die mich umhüllte.

Nach einer kurzen Pause erklang noch ein letztes Mal die Stimme am anderen Ende, bevor die Leitung einfach unterbrochen wurde.

„Ich bin Novus, Fürst der Finsternis, Herrscher über das Neriot.“

Dann war Ruhe.

„Wo verdammt soll dieser Käfig sein? Und was hat das mit diesem Teil auf sich?“

Es knackte noch einmal in der Leitung, dann war Stille.

Es gab einen Herrscher in der Zwischenwelt? Und er war Böse? Er meldete sich übers Telefon?

Das ist doch lächerlich.Sarah, jetzt drehst du durch, die Einsamkeit macht dir wirklich zu schaffen.

Ich griff nach meinem Kaffeelöffel und schlug mir mit aller Kraft auf die Hand. Ich traf den Knochen meines Mittelfingers, das leise Knacken und der stechende Schmerz, der mir bis ins Gelenk schoss, als mein Knochen leicht anbrach, verdeutlichte mir noch einmal, dass ich hell wach war. Ich biss die Zähne zusammen. Sekunden verstrichen. Der Schmerz wich langsam und ich pustete den angesammelten heißen Atem ins Telefon.

Einatmen und Ausatmen. Nachdenken und ruhig bleiben.

War es möglich meinen Vater aus dieser ominösen Zwischenwelt zurück in unsere Welt zu befördern? Konnten wir ihn mittels Magie eventuell selber zurückholen? Oder war es nur diesem Novus möglich? Oder war es nur der Versuch einer Täuschung?

Herrscher der Zwischenwelt, aber das war doch alles komplett hirnrissig.

Und was in Gottes Namen ist der bronzene Käfig?

Ich lief ins Wohnzimmer, schmiss mein Airbook an und googelte. Erfolglos. Nirgends gab es einen Eintrag über einen Novus, geschweige denn über eine Zwischenwelt. Nachdenklich rieb ich mir durchs Gesicht.

Die Kälte war mittlerweile aus meinen Füßen verschwunden. Ich glühte.

Alles in mir schien zu pulsieren und ein seltsam, vertrautes Gefühl von Macht strömte durch mich hindurch. Ich hatte mich immer noch nicht richtig an mein ungewolltes und aufgezwungenes Erbe gewöhnt. Ich sprang auf, rannte zu meinem Handy und rief Mary an.

In kurzen Worten erzählte ich ihr von dem ominösen Anruf, worauf Mary nach Luft schnappte und japste:„Ach du meine Güte, geht das Ganze schon wieder los?“

Ich nickte, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte.

„Scheint so, ich hab keinen blassen Schimmer, was das alles soll. Ich weiß nicht, womit ich es zu tun habe. Ich weiß nicht mal, was ich machen soll.“

„Ich würde sagen, du kommst erst mal rüber. Iris kommt heut nach der Arbeit vorbei, wir werden sie fragen, vielleicht weiß sie mehr. Ist eh irgendwie langweilig geworden nach unserem letzten Abenteuer.“

Ich schüttelte den Kopf, langweilig fand ich das Ganze wirklich nicht. Ich war froh, dass der ganze Mist vorbei war und dass Ruhe eingekehrt war. Und jetzt das.

Okay, ich mach mich dann gleich auf den Weg.“

„Sarah…?“

„Ja Mary?“

„Schön von dir zu hören…. Und schön dich wieder zu sehen.“

„Ja, ich freu mich auch und jetzt beeile dich.“

Kapitel 2

Ich schlüpfte hektisch in meine Jeans, warf mir meinen hell-beigen Wollpulli über und wühlte im Schrank nach meinen Schuhen. Die weißen Turnschuhe lagen wieder mal ganz tief unter einem Berg vergraben. Himmel! Ordnung war wirklich nicht mein Talent.

Der linke Schuh war zerknautscht und ein wenig schmutzig. Es war mir egal. Hauptsache bequem. Ich riss meine braune Lederjacke von der Garderobe, verließ die Wohnung und lief zu meinem Wagen. Der einzige für mich existierende männliche Freund, der mich noch nicht verlassen hatte. Schlimm genug, dass ich manche Nacht ziellos durch die Gegend gefahren war und Selbstgespräche geführt hatte.

Unfassbar! Was war nur aus mir geworden?

Früher hätte ich versucht mit Martin zu reden, obwohl das eigentlich auch für die Katz war, er hörte meist nur den Anfang meiner Erzählung und verließ einfach mitten im Gespräch das Zimmer. Während unserer Beziehung war mir nie aufgefallen, dass wir in vielen Dingen überhaupt nicht zusammen passten. Martin war der geborene Egomane und ich eigentlich tief in meinem inneren, der absolute Herzmensch. Er hatte mich nie wirklich gesehen. Er wirkte zwar oft fürsorglich und kümmerte sich um vieles, doch eigentlich ging es ihm grundsätzlich nur darum, sich selbst daran zu ergötzen, was er doch für ein toller Partner war.

Durch Lionel wurde mir erst bewusst, wie eingefahren ich mein Leben verbracht hatte. Es war nicht so, dass Lionel besser war, nein, sicher nicht, er war noch schlimmer. Schließlich wollte er mich mehr als einmal umbringen. Lionel war einfach die Versuchung pur und dadurch, dass wir unsere Gedanken lesen konnten, wussten wir genau, was der andere wollte. Lionel war der geborene Charmeur, er war der Inbegriff der Sünde. Und eines konnte er wirklich: Zuhören. Durch ihn wurde mir zumindest bewusst, was mir bei Martin immer gefehlt hatte. Lionel gab mir das Gefühl von Schutz und Sicherheit, obwohl ich nie gefährlicher gelebt hatte, als in seiner Nähe. Ich würde wohl nie begreifen, was uns wirklich verband. In meinen Adern floss das Blut Christophers, rein und in erster Generationsfolge. Mein Vater hatte wiederum Lionel gebissen und zum Vampir gemacht, vielleicht hatte Lionel dadurch diese unerklärliche Verbindung zu mir.

Der Altvampir war in meinem Leben aufgetaucht, als hätte ich ein Leben lang nach ihm gesucht.

Oder habe ich Todessehnsucht?

Irgendwo tief in Lionels Innerem würde immer eine brutale und unmenschliche Bestie schlummern, die es nach meinem Blut dürstete. Aber alles war besser als ein Sterblicher, der mich nicht einmal wahrnahm. Einen Seufzer lang bestand die Gefahr, lethargisch zu werden.

Natürlich konnte ich keine Beziehung mit einem Untoten führen. Ein Vampir liebte nicht, ein Vampir wollte Blut, begehrte allerhöchstens das Fleisch und die Ekstase. Für eine Weile hatte ich dummerweise geglaubt, Lionel wäre fähig gewesen, so etwas wie Liebe zu empfinden. Doch nach unserem letzten gemeinsamen Kampf, bei dem sein Körper fast komplett verbrannt war, wurde mir wieder einmal bewusst, was er wirklich war. Und die Chance, dass er eines Tages seine Seele zurückerhalten könnte, war gleich Null. Zu oft, wenn er mich angesehen hatte, waren alle Zweifel wie weggewischt. Wie ein Schleier hatte die Lüge mich dann wieder in zärtliches Vertrauen gebettet. Wie eine weiche, flauschige Wolke säuselte sie mir ins Ohr, versprach mir all die Lügen, die ich zu gern hören wollte. Ich war nicht in der Lage gewesen, ihn zu töten, ich rettete ihm sogar sein jämmerliches Leben. Aber war es ein Leben, oder war es die Hölle? Wie immer ich es drehte und wendete, es kam aufs Gleiche hinaus. Ich hatte Lionel nach unserem letzten Kampf verschont und ihn seit dem auch nicht mehr wiedergesehen. Einem jedoch war ich mir sicher: Es würde der Tag kommen, an dem ich ihn töten musste.

Wenn er mir nicht vorher die Lichter ausblies, das wäre dann wohl der Preis dafür, dass ich ihn nicht gleich entsorgt hatte, als sich mir noch die Gelegenheit dazu bot.

Ich ließ den Wagen aufheulen und machte mich auf den Weg zu Mary. Es regnete in Strömen, der Himmel war immer noch dunkel und bedeckt. Das Telefonat geisterte mir immer wieder durch meinen Kopf, gleichzeitig machten sich die letzten Wochen wieder bemerkbar und wirbelten meine Gedanken wild durcheinander und mischten Bilder, Sätze, Wortfetzen und Erinnerungen, sodass sich ein buntes Spektakel in meinem Gehirn festkrallte. Alles was ich zu verdrängen versucht hatte, war präsenter als je zuvor. Ich sah Richard vor mir, einer der Altvampire und Lionel, wie er blutend und aufgeschlitzt am Rad der Weisheit hing. Es war, als wäre es gestern erst geschehen. Blutige Szenarien, brutal entstellte Wesen, dessen Gedärme herausquollen, Knochensplittern und Fleischwunden, schmerzerfüllte Schreie und immer mit dem eigenen Fuß nah an der Schwelle des Todes. Immer wieder tauchten die Bilder vor meinem geistigen Auge auf und erinnerten mich daran, dass die Welt nicht mehr das war, was sie früher war. Ein Schauer lief mir über den Rücken, die Erinnerung war in ihrer Intensität ein scharfes Schwert, das in meiner Seele steckte.

Ich war in dieser Nacht durch die Straßen gelaufen bis die Sonne aufging. Ziellos und voller Schmerz. Erst im Morgengrauen hatte ich mich erschöpft in meiner Wohnung verschanzt und versucht, alles um mich herum auszuschalten. Immer wieder aufs Neue spielten sich die Szenen in meinen Gedanken ab. Ich hatte die ersten zwei Nächte nicht geschlafen und es dauerte Tage, bis ich irgendwann auf dem Teppichboden zusammensackte und vor Erschöpfung von einem Albtraum in den nächsten fiel.

Iris war in der Nacht nach diesem besagten Abend mit Mary noch in die unterirdischen Gänge zurückgekehrt und sie hatten das Rad geholt. Es war bei Iris in guten Händen. Sie wollte dafür sorgen, dass es für immer verschwindet. Nicht auszudenken, wenn wieder jemand versuchen würde, die Pforten erneut zu öffnen.

Was immer Iris damit vorhatte, es interessierte mich nicht mehr. Ich hatte getan, was ich tun konnte und musste mich danach erst einmal zurückziehen, um all die Erlebnisse zu verarbeiten. Was ich am meisten gebraucht hatte, war Zeit. Zeit, um mich selbst neu kennenzulernen.

Als ich bei Mary vor der Türe parkte und klingelte, war es wieder da, dieses vertraute Gefühl, das mich ständig wie ein Nebelschleier sanft umgarnte und mir die Illusion von vertrauter Wärme erzeugte. Ich blickte mich suchend um. Er war da! Irgendwo war Lionel. Ich konnte ihn nicht sehen, doch ich nahm seine Anwesenheit deutlich wahr. Ich spürte ihn hautnah und mein Nervensystem bestätigte mir, dass ich Recht hatte. Mein Körper zitterte vor Erregung. Schemenhaft sah ich sein Gesicht vor mir, seine blauen Augen, diese verdammten Augen, die mich um den Verstand gebracht hatten. Ich nahm den Duft seines Aftershaves war. Mein Herz begann zu klopfen, mein Innerstes wurde auf seltsame Weise berührt und meine Seele begann wie ein Magnet nach ihm zu greifen. Ich klatsche ein paar Mal laut in die Hände, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen.

Schluss damit. Feierabend!

Ich atmete tief durch, versuchte ihn zu ignorieren und lief durch den langen Flur des Treppenhauses und sprang in Windeseile die Stufen hoch.

Immer drei auf einmal. Ich betrat Marys kleine Diele. Hinter mir fiel die Haustüre ins Schloss. Mary riss mich in ihre Arme und drückte mich so fest an sich, dass ich den Kopf nach hinten neigen musste und ihr ein erstauntes und fragendes Lächeln schenkte. Ihre graugrünen Augen strahlten: „Ist das schön, dass du wieder da bist. Oh Sarah, man, ich hab dich so vermisst.“

Sie schob mich ins Wohnzimmer und ich erwiderte schuldbewusst: „Ich brauchte die Zeit. Es tut mir leid, aber...“

Sie ließ mich nicht ausreden. Und es tat so verdammt gut, ausgebremst zu werden.

„Es ist ok, alles ist ok. Ich kann dich total verstehen. Du hast aber auch einen Scheiß an der Backe gehabt. Aber ich bin froh, dass du endlich wieder da bist.“

Sie schob mich durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer, legte die Hände auf meine Schultern und presste mich auf ihr Sofa. Mary selbst schmiss sich sofort daneben in ihren hellgrauen Fernsehsessel und blickte mich mit großen Augen fragend durch ihre rote Brille an. Dabei tippelte sie nervös mit den Fingerspitzen auf ihren Knien und schien die Spannung kaum noch auszuhalten.

„Gibt es was Neues von Martin oder Lionel?“

Dabei deutete sie auf eine Schale Kekse, die vor mir auf dem kleinen Tisch stand. Genüsslich stopfte sie einen nach dem anderen in ihren kleinen Mund und sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, nichts. Martin will seine restlichen Sachen holen, wenn er soweit ist und Lionel soll dahin gehen, wo er herkommt, er soll sich zum Teufel scheren.“

Mein Gesicht verdüsterte sich, leise fügte ich kaum hörbar hinzu: „Wenn er nicht schon längst dort ist.“

Der Gedanke an ihn brachte mich immer wieder zur Weißglut. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde ein glühender Pfeil in meiner Brust stecken und meine Venen schienen schon wieder unkontrolliert zu pulsieren. Ich hasste mich immer mehr dafür, dass ich ihn nicht gleich vernichtet hatte. Und ich hasste mich ebenfalls dafür, dass ich ihn vermisste. Hass und Liebe lagen scheinbar manchmal sehr nah beieinander.

Es waren nur kleine Nuancen die den feinen Unterschied machten, aber das Gefühl war in etwa dasselbe.

Wobei Hass noch mehr zu verbinden scheint als Liebe.

Aber wer hat schon die Liebe wirklich verstanden? Und was war Liebe?

Seit Lionels Auftauchen und die Gewissheit, dass meine kleine und gottbehütete Welt gar nicht so behütet war, meine angeblich große Liebe mich mir nichts dir nichts verlassen hatte, da hatte der Glaube an die Liebe ein jähes Ende genommen. Lionel war die pure Lust und mit ihm tanzten die Hormone einen ewigen Tango.

Noch immer wusste ich nicht, was er in diesem Moment tat, ob er sich an seine eigenen Regeln hielt oder wieder plante, die Menschheit auszulöschen. Wie ich den Gedanken auch drehte und wendete, ich kam zu keinem Ergebnis. Dieser Kerl machte mir schwer zu schaffen und darauf war ich wahrhaftig nicht stolz.

Mary nickte verstohlen. Sie brauchte mich nur anzusehen und wusste, wie ich mich fühlte und was in mir vorging.

„Weißt du Sarah, Martin hat dich wirklich nicht verdient. Und Lionel? Wenn er ein Mensch wäre mit Gefühlen und Empfindungen, dann wäre er schon der Richtige, obwohl…ein paar hundert Jahre zu alt.“

Schweigend und in Gedanken versunken schenkte ich ihr ein bedächtiges Nicken.

„Na ja, zu blutrünstig ist er auch“, fügte sie mit einem kecken Lächeln hinzu.

Mary zog die Augenbrauen hinter den Gläsern der Brille hoch und grinste über beide Ohren. Bei diesem Anblick musste ich einfach lachen.

„Vielleicht, aber es wäre müßig darüber nachzudenken, denn er ist kein Mensch und er wird auch nie ein Mensch werden.“

Ich ertappte mich dabei, dass ich mich immer noch mit diesem Mistkerl beschäftigte. Den Gedanken an ihn von mir weisend fragte ich, was sie zu Trinken im Haus hatte.

“Cola“?

Mary stand auf und bewegte sich auf ihren Kühlschrank zu.

Ich blickte mich um, es hatte sich einiges hier verändert. An der Wand hingen neue Bilder und über der Flurtüre prangte ein großes Pentagramm aus glänzendem Edelstahl. Es roch auch anders als früher, nicht mehr so sehr nach Marys Vanillekerzen, es war ein seltsamer Geruch von Weihrauch, Thymian und irgendwelchen Gewürzen, die mein zweites Zuhause befremdlich erscheinen ließ. Ich war nicht lange fort gewesen und doch schien sich alles verändert zu haben.

„Mary, du musst mal lüften und….sag mal, ist Iris jetzt oft hier?“

Sie drehte sich um und starrte mich an, als hätte ich etwas Verbotenes gefragt.

„Nein, oder doch….“stotterte sie verlegen.

„Warum wirst du denn gleich so nervös? War doch nur ne Frage.“

„Sie ist jetzt schon mal öfter hier, und… Ja, sie bringt mir einiges bei. Wie sage ich dir das denn jetzt? Hm... Schau mal...“, und Mary fing euphorisch zu erzählen an.

„Wenn du zum Beispiel weißt, wie man Gewürze oder Kräuter anwenden kann, was für eine Kraft dahinter steckt, und was für eine gewaltige Wirkung sie haben, du würdest dich wundern, was sich da für Möglichkeiten auftun, die Natur bietet so viele wundersame Dinge.“

Meine Augen weiteten sich und ich zog stutzig die Brauen hoch.

Was ist denn hier los?

Mary fuhr unbeirrt fort.

„Wenn du zum Beispiel Panik vor einer Prüfung hast, dann kannst du einen Zauber wirken lassen, in dem auch Anis verwendet wird. Oder Basilikum, das gibt Mut und Kraft. Und auf Wunden kann man prima Arnika schmieren, und wenn du…“

Ich unterbrach sie: „Ist ja alles gut und schön, bitte Mary, lass uns ein andermal darüber philosophieren. Wann ist Iris hier?“

„Oh, ja, sicher, ich hab sie angerufen, sie hat noch einiges zu erledigen und kommt gegen Abend. Anders geht es leider nicht.“

Ich nickte. Solange konnte dieser Novus wohl auf seinen Käfig noch warten.

„Brauchen wir einen Zauber? Ich könnte schon mal…“

Ich ließ sie nicht ausreden und winkte sofort ab.

„Bloß nicht, du kleiner Zauberlehrling, Iris Magie reicht mir völlig aus, fang du bitte nicht auch noch damit an. Wer weiß, was du sonst anstellst.“

Mary lugte wie immer durch ihre kleine, rote Brille, die ihr rundes Gesicht noch mehr betonte. Meine barschen Worte taten mir fast schon wieder leid. Aber ich kannte die Kraft und Magie, die von Iris ausging, und wusste, wozu sie fähig war. Nicht auszudenken, wo es hinführen würde, wenn Mary sich darin übte.

Sie stellte ein Glas Cola vor mir auf den Wohnzimmertisch und flegelte sich neben mich zwischen die weinroten Kissen. Mit dem Kopf an meiner Schulter begann sie zu fragen.

„Iris Kräfte sind stärker geworden, es ist unglaublich, wie sie sich entwickelt. Aber kommen wir zu dir. Was machen wir denn jetzt? Ich meine, wie finden wir denn jetzt diesen Käfig? Und was ist das überhaupt für ein Ding?“

Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Mary druckste eine Weile herum, dann senkte sich ihr Kopf bis fast auf die Knie, und dann kam dieser Blick, der mich ahnen ließ, dass jetzt etwas Unangenehmes kam.

„Sarah“, sie blickte mich mit zerknirschtem Gesicht an.

„Vielleicht solltest du Lionel rufen?“

Ich hatte es geahnt. Und doch war mir auch klar, wenn Iris keine Lösung wusste, dann blieb es mir vermutlich nicht erspart. Aber das Wort Hilfe im Zusammenhang mit Lionel gefiel mir überhaupt nicht und war regelrecht grotesk.

Ihn wieder zu sehen, das war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

Ich spürte, dass Mary mich beobachtete und ihr Mitgefühl, das wie ein Orkan meine Sinne berührte, war so stark, dass ich kurz Luft holte und meine Augen schloss, um es zu verdrängen. Sie kannte mich einfach zu gut, ich konnte ihr nichts mehr vormachen.

Ihr Blick war mitfühlend und verständnisvoll, als sie mir ihre kleine, kräftige Hand aufs Knie legte und leise sagte: „Du hast ihn noch nicht vergessen, stimmt's?“

Ich blickte verstohlen auf den Boden.

„Wen meinst du?“, flüsterte ich in der gleichen Lautstärke zurück. Meine Stimme versagte plötzlich und ich räusperte.

Wie selbstverständlich flüsterten wir weiter, als wäre die kleine Wohnung verwanzt.

„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht mal, wen du meinst, Martin oder Lionel? Und es ist auch egal, wen du meinst, ich habe keine Antwort darauf.“

Ich hatte gelogen. Ich wusste es und Mary wusste es auch. Gerade jetzt, wo wieder etwas Unerwartetes in meinem Leben geschah, von dem ich nicht wusste, wo und wie ich es einordnen sollte, da sehnte ich mich nach Lionel. Er war stark, finster und gab mir das Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Durch ihn spürte ich meine Macht viel stärker. Anderseits war ich nie sicher, wie lange es anhalten würde, bis er mir genau diese Sicherheit wieder nahm.

Doch trotz all dieser negativen Aspekte war er das Wesen, das mir in diesen Momenten näher stand, als Martin je fähig gewesen war.

Ich blickte auf die Uhr, trank einen großen Schluck von meiner Cola, stand auf und lief hin und her. Lionel jetzt zu rufen, würde nur meine Schwäche zeigen. Er hätte wieder einmal den Triumph, dass ich ihn brauchte, und gerade das wollte ich vermeiden. Auf der anderen Seite hatte ich mal wieder keine andere Wahl.

„Vielleicht hast du sogar Recht, Lionel ist vermutlich der Einzige, der wirklich weiß, was zu tun ist. Aber es wird der letzte Ausweg sein. Ich habe ihn verschont, irrsinnigerweise sogar sein Leben, oder vielmehr sein jämmerliches Dasein gerettet, aber noch einmal werde ich nicht zulassen, dass er sich mir wieder in den Weg stellen könnte. Wir wissen doch beide, wozu er fähig ist.“

Mary runzelte die Stirn.

„Ob du mal auf eigene Faust diese komische Seherin fragst, die von diesem verrückten, italienischen Vampir festgehalten wird?“

Ich schüttelte wild mit dem Kopf. Der Typ hatte mir gerade noch gefehlt.

„Bin ich denn des Wahnsinns? Der Kerl rennt doch gleich zu Lionel. Das wäre das gefundene Fressen für Lionel, die kleine Sarah kommt mal wieder nicht allein klar. Oder Vincenzo bringt mich gleich eigenhändig um. Schließlich gibt es keinen Grund mehr für ihn, mich noch am Leben zu lassen. Die Pforte ist geschlossen.“

Wir saßen schweigend einfach nur da und taten nichts. Die Minuten zogen dahin, bis Mary die Stille nicht mehr ertragen konnte und vorschlug, ins City Center nach Chorweiler, einem nahe gelegenen, teils verruchten Viertel von Köln zu fahren. Ein Stadtteil, in dem unbescholtene Bürger nachts nicht allein unterwegs sein wollten. Große Betonblöcke und renovierungsbedürftige Hochhäuser umringten ein modernisiertes Einkaufszentrum. In den verlebten Häusern, wohnten verschiedene Mentalitäten aus den unterschiedlichsten Sozialschichten. Nachts schlichen seltsame Gestalten durch die dunklen Straßen und trieben ihr Unwesen. Die meisten von ihnen waren bis unter die Zähne bewaffnet. Drogen und Gewalt war hier kein Fremdwort. Die hiesige Polizei fuhr nächtlich Streife und versuchte die Kriminalitätsrate so gering wie möglich zu halten, Raubüberfälle oder Pöbeleien waren hier noch das geringste Übel.

Tagsüber war das Viertel eher ruhig, da die Junkies und Alkoholiker ihren Rausch ausschliefen, oder in den U-Bahnen herumschlichen.

Das City Center selbst war innen hell beleuchtet und neu renoviert. Es bestand aus zwei Etagen. Gelegentlich konnte man hier und dort ein Schnäppchen machen.

„Komm schon, lass uns shoppen gehen bis Iris kommt. So kommst du wenigstens mal raus und wir könnten Eisessen gehen.“

Bei dem Wort Eis, das sie sich genüsslich über die Zunge zergehen ließ, leuchteten ihre Augen auf.

Ich nickte, vielleicht hatte sie Recht. Alles war besser, als Trübsal zu blasen und nichts zu tun. Und da Marys Lieblingsbeschäftigung essen war, konnte ich sie von ihrem Vorschlag nicht abhalten und würde ihr gleichzeitig eine Freude machen.

Also sprangen wir hoch, verließen das Wohnzimmer und schlüpften in unsere Jacken.

Mary blieb in der kleinen, schummrigen Diele stehen und zupfte an meinem Ärmel.

„Sag mal, hast du denn generell noch irgendwas von Richard und seinen Anhängern gehört? Ich meine, wäre ja möglich…..“

Ich schüttelte den Kopf und meine Lippen pressten sich bei dem Gedanken an Richard zusammen.

„Und du hast von Lionel wirklich gar nichts mehr gehört?“, bohrte sie weiter.

„Nach dem letzten Vorfall haben sie mich alle in Ruhe gelassen, und das ist auch gut so. Trotz alledem, was vorgefallen ist, ich traue diesem ganzen Haufen nicht. Und wenn du mit mir shoppen willst, damit ich auf andere Gedanken komme, dann tu mir einen Gefallen und erwähnte die nächsten Stunden nicht mehr seinen Namen!“

Damit war das Thema für mich beendet. Ich zog Mary hinter mir aus der Wohnung und dann die Stufen hinunter.

„Was zerrst du denn so an mir? Meine Güte, du bist ja echt geladen, wenn es um diese Vampire geht.“

Ich schenkte ihr ein boshaftes Lächeln und steuerte auf meinen Wagen zu.

„Trotzdem darf ich doch wohl noch fragen, ob du den Vampir, dessen Namen ich nicht aussprechen darf, noch mal gesehen hast oder nur irgendetwas von ihm gehört hast.“

„MARY!“

„Ist ja gut, schon gut, ich schweige wie ein Grab. Nein, natürlich kein Grab. Wie eine Tote. Ach nein, auch nicht. Ich bin einfach still, ganz leise.“

Sie grinste frech.

„Lass es dann doch einfach gut sein“, zischte ich durch die Zähne.

„Mach ich doch, ich erwähne seinen Namen doch gar nicht und versuche

nichts zu sagen, was damit in Verbindung steht. --- Was sich als sehr schwierig herausstellt, merke ich gerade.“

Das kräftige Zuschlagen meiner Autotür brachte sie endlich zum Schweigen.

Kapitel 3

Zwei Stunden später schlenderten wir bereits mit vollen Taschen durch das beleuchtete, gut besuchte und multikulturelle Einkaufszentrum. Die Zeit verging wie im Flug. Für kurze Zeit hatte ich sogar meine Sorgen in den Hintergrund verdrängen können. Mary hatte mich ein kleines Stück ins Leben zurückgezogen. Anziehen, ausziehen, Klamotten runter von der Kleiderstange und wieder rauf auf die Kleiderstange. Es hat gut getan, mal eine Weile abschalten zu können.

Wir schlenderten die Gänge hinunter. Vor einem unauffälligen Schaufenster, das ich keines Blickes gewürdigt hatte, blieb Mary plötzlich abrupt stehen.

Sie deutete mit der Hand auf eine silberne Kette mit Anhänger und flüsterte: „Der ist schick, der ist so was von…. ich weiß nicht…..aber ich muss ihn haben“.

Eine kleine, runde, silberne Scheibe, die am unteren Ende halb gespalten war, lag auf einem schwarzen Samtkissen und hatte Marys Interesse geweckt. In der Mitte dieses runden Anhängers befand sich ein weiterer Kreis, der auf dem äußeren Rand mit kleinen Punkten versehen war.

„Das habe ich schon mal irgendwo gesehen, glaube ich“, nuschelte Mary.

Ich trat neben sie und betrachtete es genauer: „Ich denke, es ist ein Omega. Ja, das müsste ein Omega sein.“

„….ein Omega….ahhhh ja.“

Sie blieb wie angewurzelt vor der Schaufensterscheibe stehen. Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte sich die Nase an dem gräulich schimmernden Glas platt gedrückt. Den kleinen Anhänger anstarrend, als läge dort ein lupenreiner, großer Diamant vor ihr, flüsterte sie plötzlich seltsam andächtig: „Wieso habe ich das Gefühl, dass ich das Ding kenne?“

Der Inhaber trat unerwartet und wie ein plötzlich auftauchender Geist durch die Ladentüre. „Kann ich ihnen behilflich sein?“

Ich nickte dankend ab, doch bevor ich mehr als ein `wir kommen klar` sagen konnte, höre ich Mary fragen, wobei sie den Blick von der Kette nicht löste: „Wissen sie, was das Omega für eine Bedeutung hat?“

Der Mann war recht klein und alt, ich schätzte ihn um die siebzig Jahre. Sein lichtes Haar und seine gegerbte Haut ließen darauf schließen, dass er in seinem Leben viel in der Sonne war. Er erinnerte mich an einen südländischen Plantagenpflücker in den großen Olivenhainen auf Kreta. Er lächelte und schien sich über die Frage zu freuen, denn augenblicklich begann er euphorisch zu erzählen: „Ja, das Omega steht im griechischen für das Ende des Alphabets. Bei Tieren wird zum Beispiel das letzte Tier der Rangordnung das Omega-Tier genannt. Es ist aber auch das Zeichen für das Ende der Zeiten.“

Bevor er weiter sprudeln konnte, unterbrach ihn Mary: „Was kostet das Teil?“ Erstaunt blickte ich sie an.

Das olle Ding willst du kaufen?

Er lächelte verschmitzt.

„Nun ja, es ist nicht ganz billig, sie sehen ja, wie alt es ist, und mit wieviel Liebe es im Detail gemacht wurde. Es ist schon ein kleines Meisterwerk.“

„Hey“, dieses Mal fiel ich ihm ins Wort. „Das Ding ist gebraucht, niemand will es kaufen, es liegt hier zwischen lauter anderem Zeugs. Ich bitte Sie, treiben Sie jetzt nicht den Preis hoch, was wollen Sie für das Ding?“

Strafend trafen mich seine Blicke, er nickt burschikos und bat uns, ihm zu folgen. Er verschloss hinter uns die Ladentür und öffnete mit einem kleinen Schlüssel die Schaufenstervitrine. Ich stupste Mary mit dem Ellbogen in die Hüfte, beugte mich zu ihr und flüsterte: „Was willst du mit dem alten Teil?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich hab keine Ahnung, echt nicht. Ich will es einfach nur haben.“

Der Verkäufer holte es sachte und vorsichtig von dem kleinen, dunklen Samtkissen herunter und legte es Mary um den Hals.

„Schauen sie genau hin und fühlen Sie in sich hinein, es ist wie für Sie geschaffen.“

Er flüsterte die Worte sanft in Marys Ohr, dass einem unheimlich werden konnte. Dann rückte er ein Stück von ihr ab, seine mystische Miene wich einem stolzen Lächeln und er rief: „Ich mache Ihnen ein spezielles Angebot, geben Sie mir fünfhundert Euro und wir sind quitt.“

Er grinste wieder verschmitzt über beide Wangen.

„Sind sie wahnsinnig?“, sprudelte es aus mir heraus.

„Das ist kein Platin, das ist Silber, 925 Sterling Silber und sie wollen ein Vermögen dafür? Wo kommt das Teil überhaupt her?“

Meine Stimme wurde lauter, diese Unverschämtheit brachte mich aus der Fassung. Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Keine Ahnung, ich bin nur Verkäufer und vertrete den Besitzer, er ist leider momentan nicht erreichbar. Urlaub, Sie verstehen? Ich bessere nur meine Rente auf und wenn ich gutes Geld mache, dann bekomme ich den Job hier auf Dauer. Wissen Sie, der Besitzer ist etwas anspruchsvoll. Wenn der Umsatz während seiner Abwesenheit nicht stimmt, war es das für mich, ansonsten dann darf ich bleiben.“

Sein kecker Blick sprach Bände.

„Aber schauen Sie sich das gute Stück doch mal genauer an, es sieht sehr alt aus. Es ist sicherlich antik und wertvoll.“

Er nickte Mary wohlwollend zu.

„Schauen Sie noch einmal in den Spiegel, spüren Sie denn nicht die Magie, die sich im Omega gesammelt hat? Die alten Sagen der Zeitgeschichte sind vereint in diesem kleinen Anhänger.“

Daher wehte also der Wind, der gute Mann will die Einnahmen in die Höhe treiben.

„Hören Sie zu, das Teil ist keine 100 Euro wert und wenn wir es nicht kaufen, verdienen Sie keinen Cent. Also machen Sie uns einen vernünftigen Preis.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, Sie verstehen nicht, schauen Sie sich mal diese filigrane Arbeit an, das ist reine Handarbeit, ich habe keine Ahnung woher es stammt, aber eigentlich gehört es ja fast schon in ein Museum.“

Er beugte sich ein wenig vor, kniff die Augen zusammen und starte Mary aufs Dekolleté. Er begann auf seltsame Weise vor sich hin zu überlegen und nuschelte dann, wobei ich langsam begann, ihm jedes Wort zu glauben.

„Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Es ist wirklich ein exquisitesTeil, aber gut, solange bin ich ja noch nicht hier im Laden, um jedes einzelne Stück zu kennen.“

Ich blickte auf Marys Hals, er hatte Recht, es wirkte bei genauerem Betrachten wirklich recht antik.

„Also was wollen sie dafür?“

Er beugte sich langsam zurück, sein Kopf blickte nach links, als müsse er überlegen, dann wieder nach rechts um Zeit zu gewinnen und plötzlich schoss es aus ihm heraus: „Geben sie mir 299 Euro und es gehört Ihnen.“

Seine kleinen, unter den schweren, faltigen und gebräunten Liedern verborgenen graugrünen Augen blitzten mich lausbubenhaft an.

Ich schenkte ihm ein übertrieben verzücktes Lächeln und erwiderte: „Wir geben Ihnen 150 Euro und damit haben Sie ein sehr gutes Geschäft gemacht.“

Mary stieß mir mit ihrem Ellbogen in die Seite und murmelte: „Kann ich mir nicht leisten, Sarah. Sieht gerade etwas schlecht aus.“

Ich zückte meine Bankkarte und legte sie auf die kleine Theke: „Nehmen Sie, oder lassen Sie es.“

Seine Miene wurde ein wenig düster, aber er griff schlussendlich zu.

Mary fiel mir um den Hals und erdrückte mich fast: „Danke Sarah, du bekommst das Geld so schnell wie möglich zurück.“

Ich winkte ab.

„Neee, lass mal stecken, das ist mein Dankeschön für all die Dinge, die du mit mir ertragen musstest.“

Strahlend betrachtete sie sich im Spiegel und blickte auf ihren schlanken Hals. „Es siehst toll aus, dieses Omega. Einfach toll.“

Für einen Moment fühlte sich das Leben wieder gut und rein an. Der Tag hatte ein neues Gesicht bekommen. Allein Marys strahlende Augen waren Anlaß genug, zu wissen, dass alle Dinge, die einem im Leben widerfahren, auf die eine oder andere Weise wirklich Sinn machten. Der Tod ist ein Zustand, der Spuren hinterlässt. Das Leben gibt jedem einzelnen etwas zurück, selbst in den kleinsten Momenten der Glückseligkeit.

Wir verließen das Geschäft und beschlossen,uns auf den Heimweg zu machen. Mary lief beschwingt und glücklich neben mir her und tänzelte vor Freude durch die Passage.

Kapitel 4

Eine männliche Stimme hinter uns traf mich wie ein Blitzschlag.

„Hey Mary, na, wie läuft`s denn bei dir? Alles im Lot auf dem Boot?“

Einer dieser Momente, in dem ich mir unsicher war, ob ich mich gerade in einem meiner schlechten Träume befand oder die Realität grausam zugeschlagen hatte.

Inzwischen müsste ich es eigentlich besser wissen.

Wir blieben abrupt und geschockt stehen. Sehr langsam drehten wir uns mit der Geschwindigkeit einer Rennschnecke in die Richtung aus der die Stimme kam. Das war niemand Unbekanntes und die Frage mit dem Boot hatten wir unzählige Male gehört, dass sie uns zum Hals raushing.