SARVASSAM – Geschichten aus dem NIRGENDWO - Bernd H. Goetz - E-Book

SARVASSAM – Geschichten aus dem NIRGENDWO E-Book

Bernd H. Goetz

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Beschreibung

Wer kennt das nicht, von einer Erzählung so gefangen zu sein, dass man das Gefühl hat, sie zu erleben? Oder gar in und mit den Geschehnissen zu leben. Eine romantische Wunschvorstellung. Für Ferdinand Hergert jedoch war das nicht nur ein Traum. Der Wunsch, in diese Welten einzutauchen und sie zu erleben, wurde zum Inhalt all seiner Bemühungen. Die Verfolgung irrwitziger Ideen und der Erforschung der absonderlichsten Theorien brachten ihm am Ende ein zweifelhaftes Bündnis, das ihm den Weg ebnete, sein Ziel zu erreichen. Ein verpflichtender Schwur gewährte ihm den Eintritt in das verborgene Universum der Imagination.  Und Ferdinand Hergert wurde zu einer der wenigen Personen, die Fiktionen zu Gestalt verhelfen. Er lernte, aus erdachten Welten Realitäten zu formen. Er wandelte Visionen in feste Substanz, um sie zu betreten und darin zu existieren. Aber der Preis dafür war hoch. Für alle Zeit verbunden mit den von ihm ausgeformten Welten, blieb er verpflichtet, darin zu verharren. Was einst als erstrebenswert begann, hatte sich zu einem Gefängnis gewandelt. Ein gefährliches und von Entbehrungen bestimmtes Leben zwischen den Welten begann. Es wurde ein verzweifelter Kampf darum, irgendwann dem selbst verschuldeten Bündnis zu entrinnen. Immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, in die eigene, angestammte Realität und Gegenwart zurückzukehren.

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Seitenzahl: 293

Veröffentlichungsjahr: 2022

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BERND H. GOETZ

Sarvassam

Geschichten aus dem NIRGENDWO

 

Impressum

 

Originalausgabe Juni 2022

Text © Bernd H. Goetz

Copyright © 2022 der E-Book-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Minden

 

Cover © Axel Blotevogel

Korrektorat: Andrea Velten, Factor 7

 

ISBN ePub 978-3-86305-310-9

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

Inhalt

Auftakt ‒ Erinnerungen

Gegenwart ‒ Rückblick

Vergangenheit ‒ Aufzeichnung

Gegenwart ‒ Erinnerung

Vergangenheit ‒ Aufzeichnung

Gegenwart ‒ Erinnerungen

Ferdinand Hergerts Erzählung ‒ Sarvassam

Gegenwart

Ferdinand Hergerts Erzählungen

Der KERN der Spur

Das Rätsel der Spur

Das Wesen der Spur

Sarvassam ‒ Das Wirken der Spur

Gegenwart ‒ Bericht

Ferdinand Hergerts Erzählung ‒ Der Weg ZURÜCK

Gegenwart ‒ Das Ende seiner Reise

Erkenntnis

Der Fremde ‒ eine Hoffnung

Am Ende ein Anfang

 

BERND H. GOETZ

Sarvassam

 

 

Geschichten aus dem NIRGENDWO

 

 

 

 

 

In einer Welt, in der nur das

Rationale und Materielle

im Vordergrund allen Strebens liegt

und Beachtung findet,

ist es schwer,

glaubhaft zu vermitteln,

dass nur dem Natürlichen

alles Wunderbare entspringt.

 

Mit Vorstellungskraft und Empathie ausgestattet,

sollten durch Fantasie

und Ideenreichtum

jedem Wesen genug Möglichkeiten

zur Verfügung stehen,

Realitäten zu erschaffen,

deren Existenz von Dauer ist.

 

Ferdinand Hergert

 

 

Auftakt ‒ Erinnerungen

 

Als ich Ferdinand Hergert zum ersten Mal begegnete, hielt ich ihn für einen Spinner. Einen liebenswerten, aber dennoch einen wilden Fantasten mit allzu überbordender Fantasie.

Mehr als ein halbes Leben ist das jetzt her. Und es wundert mich noch immer, dass ich, zu der damaligen Zeit eher introvertiert, denn kontaktfreudig, mit Ferdinand vom ersten Augenblick an in ein vergleichsweise angenehmes Gespräch verstrickt war. Ein Gespräch geprägt von einer Vertrautheit, die durch nichts zu erklären war.

Nun, er machte es einer Person wie mir, die damals eher dem Zuhören, als der Kommunikation zugeneigt war, nicht allzu schwer, da er ohnehin beständig von diesem, jenem und allem am Reden war. Er kam, wie es so schön heißt, vom Stock aufs Stöckchen, was sehr häufig in ellenlange Monologe ausuferte. Anstrengend war es und ermüdend zuweilen. Aber in all der langen Zeit, seit wir damals unseren jugendlichen Spinnereien nachhingen, habe ich genügend Erfahrung gesammelt und Möglichkeiten gefunden, seinen Redefluss, wenngleich nicht zu stoppen, so zumindest zu unterbrechen, um ein Gespräch neu zu gestalten oder wieder in die ursprünglichen Bahnen zurückzulenken.

Damals, mit Anfang zwanzig, eher noch ein Schweiger, denn ein Redner, fand ich es trotzdem seltsam, dass er ausgerechnet dann neben mir stand, als ich mich intensiv mit einem der ausgestellten Original-Panels aus François Schuitens Graphik-Novelle »Les Cités obscures / Die geheimnisvollen Städte« eingehend befasste und gedankenverloren damit auseinandersetzte.

»Faszinierend, wie Monsieur Schuiten eine fremdartige Atmosphäre mit vertrauter Architektur kombiniert«, sprach er mich von der Seite her an. Es waren seine ersten an mich gerichteten Worte.

»Hm?« Fragend tauchte ich aus meiner Betrachtung und blickte in amüsiert blitzende Augen. Er war etwas größer als ich. Offensichtlich in gleichem Alter, wenn ihn auch eine eigenartige Aura von Erfahrung umgab, die keinesfalls typisch zu nennen war. »In der Tat.« Nicht unfreundlich, aber doch deutlich verstimmt über die Störung, fiel meine kurze Antwort aus.

Doch anstatt mich wegzudrehen, wie es sonst der Fall gewesen wäre, wandte ich mich diesmal nicht von dem Störenfried ab und ging meiner Wege. Nein, ich blickte in das offene Gesicht meines Gegenübers und gab meine gewonnenen Eindrücke zum Besten. So entspann sich eine angeregte Unterhaltung über feine Strichführung, klare Linien, Ausdrucksstärke, frühe und moderne Architektur, reale Welten und jene, die, fantasiegeboren, dennoch existieren konnten ‒ irgendwo im Nirgendwo.

Ja, nirgendwo. Exakt dieses NIRGENDWO sollte, ist und wird auf ewig wohl unsere gemeinsame Freundschaft und die daraus resultierende Verbindung beschreiben.

Was auch immer uns damals zusammengeführt hatte, sei es nun Zufall, Fügung, Schicksal oder Bestimmung, egal, was dieser ersten Begegnung folgte, war eine sehr lange, zeitweilig lose und doch immer intensive Freundschaft. Im Verlauf unserer unzähligen Treffen hatte Ferdinand Hergert begonnen, mir von einer realen Imagination zu berichten. Von einer Realität, die der uns umgebenden nicht unbedingt fremd ist. Sie wäre wohl am ehesten vergleichbar mit den fiktiven Szenarien einer Film- oder Spielewelt. Der Unterschied läge jedoch in ihrer tatsächlichen Existenz.

Dem Unbegreiflichen schon immer zugeneigt, musste Ferdinand schon damals meine Bereitschaft gespürt haben, absonderlichen Dingen, wenn schon nicht Glauben zu schenken, so doch vorbehaltlos daran teilzuhaben. War ich doch selbst oft genug mit unbegreiflichen Geschehnissen konfrontiert, von denen nur wenige, mir sehr nahe stehende Personen, Kenntnis hatten. Eines Tages nahm ich ihn auf in den Kreis der Eingeweihten, als ich wieder einmal in die Verlegenheit kam, Erläuterungen abzugeben. Meist in Form von bruchhaften Informationen, um sie vor dem Befremdlichen zu schützen, oder weil sie unfreiwillig Zeuge verstörender Ereignisse geworden waren. Keiner jedoch wusste die ganze Wahrheit, wodurch ihr Leben allerdings nicht zwangsläufig weniger kompliziert beeinflusst wurde. Als Ferdinand mir aber zu vermitteln versuchte, dass es ihm gelungen war, dieses, in unseren unzähligen Gesprächen, oftmals als NIRGENDWO bezeichnete Reich entdeckt zu haben und in dessen Realität eingetaucht zu sein, war ich dann doch mehr als nur skeptisch.

Ferdinand war schon immer ein genialer Erzähler gewesen. Er konnte ganze Romane so lebendig nacherzählen, dass niemand, dem er davon berichtete, das Buch oder die Geschichte zur Hand nehmen musste. Dieser fantasiebegabte Träumer konnte mit seinen Geschichten Stunden füllen, ohne zu langweilen. Sie aufzuschreiben hätte gelohnt. Allein die Inhalte waren flüchtig, wie die Worte, die in atemloser Stille zwischen den Zuhörern verklangen. Keiner dachte in diesen Momenten daran, sie festzuhalten und zu bewahren.

Meine unausgesprochenen Zweifel verletzten ihn tief, das spürte ich. Doch er wurde es nicht müde, mir zu beteuern, dass alles von dem, was er versuchte, mir mit eindringlichen Worten zu schildern, tatsächlichen Erlebnissen entsprach.

Eines Tages, viele Jahre später, erzählte mir Ferdinand von der Einsamen Stadt, wie er sie nannte. Einer Stadt, die auf dem Bruchstück einer zerborstenen Welt durch das Dunkel des Æthers trieb. Ich war zu verblüfft, als dass ich ihn nach der Herkunft seines Wissens fragte. Denn exakt dieses Szenario hatte ich entworfen, um für meine bis dahin verfassten Geschichten und dem daraus entwickelten Brettspiel ›Weltenbaum‹ einen zentralen Hintergrund zu schaffen.

Eine Situation, die noch in weiter Ferne lag und wovon noch zu erzählen ist.

Trotz aller Skepsis lauschte ich dennoch, fasziniert von seinen Ausführungen, und tat sie nicht rundweg als Humbug ab. Bald erinnerte ich mich, es immer bedauert zu haben, seine früheren Erzählungen nicht bewahrt zu haben, und so begann ich, unsere Gespräche auf Tonband heimlich mitzuschneiden.

So ging es lange Zeit, bis die Abstände zwischen unseren regelmäßigen Treffen immer größer wurden. Die Gemeinsamkeiten blieben, doch die Interessen verschoben sich. Verantwortlichkeiten drängten dazwischen. Die Vertrautheit im Wissen um unsere Freundschaft blieb davon unberührt. Aber aus einst nächtelangen Gesprächen waren inzwischen kurzweilige Stunden geworden, in denen die Erörterung der Aspekte des NIRGENDWO nur noch selten unsere Unterhaltung beherrschte.

Es verstrichen Wochen, später lagen Monate zwischen unseren vereinbarten Begegnungen. Irgendwann erschien Ferdinand Hergert nicht an dem üblichen Treffpunkt. Es kam immer wieder mal vor, dass er die Termine aus irgendwelchen Gründen hatte verschieben müssen. Da seine beständigen Reisen ihn rastlos von Ort zu Ort trieben, hatte er bislang alle Zusammenkünfte organisiert und bestimmt. Niemals zuvor war er einem Treffen fern geblieben, ohne sich zu melden. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich also nicht, wo in aller Welt er sich diesmal aufhielt. So blieb mir nichts anderes übrig, als auf ein Lebenszeichen von ihm zu warten.

Es kam keine Nachricht. Er blieb verschwunden.

All den Spuren, die ich aus spärlichen Erkenntnissen nachverfolgen konnte, verliefen im Sand. Ferdinand blieb unauffindbar.

Ein seltsamer Zufall vor ein paar Jahren brachte mir dann die traurige Gewissheit, dass ich Ferdinand Hergert wohl nicht mehr würde begegnen können. Im Zusammenhang mit dem Aufarbeiten der von mir über lange Jahre archivierten Manuskripte des Ætheronauten Maark Bendart stieß ich auf eine Erzählung, in der eine Person namens Ferdinand Hergert eine nicht unwichtige Rolle spielt.

Es war wenig tröstlich, auf Umwegen über diesen verschlungenen Informationspfad zumindest ein Lebenszeichen meines Freundes zu erhalten. Und eine späte Einsicht traf mich wie ein Blitz: Ich hatte ihm unrecht getan, all seinen Beteuerungen zum Trotz, ich hatte ihm nicht geglaubt. Es beschämt mich immer noch, auch in diesen Momenten, da ich dies niederschreibe.

Doch bei all meiner Trauer darüber, ihm wohl nie mehr in die Augen schauen zu können, erfüllt es mich doch mit Freude, dass er im NIRGENDWO seinen Platz gefunden hat.

Unter diesem Eindruck und auch als Zeichen verspäteter Einsicht, den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung zu akzeptieren, dass es ihm tatsächlich gelungen war, einen Weg in die Realität des NIRGENDWO zu finden, habe ich beschlossen, nach den vergessenen Tonbändern zu suchen.

So hatte ich damals gedacht und entsprechend gehandelt und damit begonnen, das Material zu sichten und zu bearbeiten. Die Realität jedoch sollte meinem Vorhaben sehr bald schon ein verblüffendes Ende bereiten.

Doch möchte ich an dieser Stelle nicht den Geschehnissen vorgreifen.

 

 

Gegenwart ‒ Rückblick

 

In heutigen Tagen kann sich wohl kaum jemand vorstellen, welcher Aufwand noch betrieben werden musste, um mit Tonbandgeräten heimlich Aufzeichnungen zu bewerkstelligen. Geräte in den Ausmaßen eines heute gerade noch zulässigen Handgepäcks für Flugreisen und Mikrofone, die kaum kleiner waren, als eine Zigarettenschachtel. Ebenso der Platzbedarf, der vorzusehen war, um all das zu verbergen. Improvisationstalent war gefragt und davon nicht wenig.

Der Karton, in dem ich die Bänder vermutete, hatte die notwendigen Ortswechsel, bedingt durch veränderte Lebensumstände, fast unbeschadet überstanden und schien auch nie in Gefahr gewesen, dem mit jedem Umzug verbundenen Schrumpfungsprozess zum Opfer gefallen zu sein. Wohl wegen des Hinweises Wichtige Unterlagen, der inzwischen mit fast verblichenen Großbuchstaben darauf zu lesen war. Nie zuvor in all den Jahrzehnten, die seit damals vergangen waren, hatte ich einen Blick auf den Inhalt dieser verstaubten Kiste geworfen. Die harten, grauen Kunststoffkassetten (Format 19 mal 19 Zentimeter), schienen kaum gelitten zu haben. Ihr Inhalt, achtzehn Zentimeter Spulen dünn aufgerolltes Magnetband, dagegen hatte das noch zu beweisen. Auf den ersten Blick wurde mir klar, dass es keine leichte Aufgabe werden würde, die Aufzeichnungen ihrer ursprünglichen Chronologie wieder zuzuordnen, hatten doch die angebrachten Klebeschilder an den Klapprücken im Laufe der Zeit an Haftung eingebüßt.

Was sich jedoch als sehr viel schwieriger gestalten sollte, war, das angestaubte Abspielgerät wieder in Betrieb zu nehmen. Galt es doch, die Funktion eines kompakten Gerätes von der Größe eines mittleren Reisekoffers zu prüfen und wieder herzustellen. In Folie gepackt, herrschte es über den Großteil einer ausgemusterten Schrankwand, die im Verbund mit allerlei anderen Elektrogeräten, vermutlich in einem Anfall von Nostalgie, dort eine Heimat gefunden hatte. Ich fand es wohl ratsam, sozusagen als Beispiel frühzeitlicher Analogtechnik, das aufzubewahren, was in meiner Jugend an Equipment notwendig gewesen war, was heutzutage ein winziges Smartphone zu dokumentieren in der Lage ist.

Die Qualität der Magnetbänder entsprach leidlich dem mühsamen Betrieb des Abspielgerätes. Nachdem der Tonkopf gereinigt und das Laufwerk, Antriebsräder, Andruckwalzen und Spulenteller, nach Öffnen der Verkleidung freigelegt, manuell von ihrer Jahrhundertstarre erlöst wurden, vernahm ich erstmals seit vielen Jahren die mir so vertraute Stimme von Ferdinand Hergert. Stark verrauscht und schwankend verzerrt durch den unrunden Lauf des Antriebs. Aber doch deutlich und klar in seiner Aussage.

Es ist schön, mein Freund, wo auch immer du inzwischen sein magst, deiner Stimme zu lauschen und an deinen lebhaften Schilderungen teilzuhaben.

 

 

Vergangenheit ‒ Aufzeichnung

 

»Ich weiß, was du mir jetzt sagen wirst.« Ferdinands Stimme, kräftig und, wie immer, von einem Lächeln begleitet, ließ mich nicht zu Wort kommen. »Nein, ich habe dir nicht nur einmal erklärt, dass ich von dem Weg, den ich seinerzeit eingeschlagen habe, unter keinen Umständen abweichen werde.«

Dass er, wie ich ihm damals schon, und das zu Recht, vorwarf, einem dunklen Pfad folge, ließ er zum wiederholten Male nicht gelten.

»Du magst vielleicht recht behalten«, gab er mir zu verstehen, »trotzdem wirst du mich nicht davon abbringen. Zu viele Möglichkeiten haben sich mir eröffnet, dem NIRGENDWO teilhaftig zu werden und darin meine Erfüllung zu finden. Wenn du bereit wärst, mir einmal dorthin zu folgen, würdest du anders darüber denken und mich verstehen.«

Eine Pause entstand. Ganz sicher nur deshalb, weil ich überlegte, mit welchen Argumenten ich am besten meinen Freund davon überzeugen konnte, dass er im JETZT ‒ wie wir unsere angestammte Realität inzwischen bezeichneten ‒ zu bleiben hatte und seine Pläne nicht weiter verfolgen sollte.

»Junge«, so nannte er mich immer, denn er spürte genau, wann ich verzweifelt nach Argumenten suchte und dabei nicht weiter kam, »bleib ruhig. Lass dir erzählen, und höre mir einfach zu.« Wieder stahl sich dieses mir so vertraute Lächeln in seine Stimme. Es war ebenso entwaffnend, wie es mich, selbst in diesem Moment, über den Abgrund der Zeit hinweg, immer noch verärgerte. Zeigte es mir damals, wie heute, deutlich seine Überlegenheit und mir mein Unvermögen in meinem Widerspruch zum wiederholten Male, zu schwach argumentiert zu haben.

Aber ich wollte nichts mehr hören von seinen Fantastereien, die ihn immer weiter der Gegenwart entfremdeten und seine geistige Gesundheit gefährdeten.

»Du nennst mich einen Fantasten, einen Spinner. Meinetwegen. Aber im Gegensatz zu dir Träumer sehe ich nicht die nur pure Fantasie und reine Vorstellungskraft, sondern erkenne darin eine substanzielle Realität dahinter. Was ich dir auch eines Tages beweisen werde.«

Bis heute hatte ich vergessen, dass mir unsere damalige, sehr ernsthafte und heftige Auseinandersetzung noch lange im Gedächtnis geblieben war, markierte sie doch einen Wendepunkt innerhalb unserer bis dahin spekulativen Diskussionen.

Über die Distanz der Zeit hinweg konnte ich das Gespräch anders bewerten.

Trotzdem versuchte ich, der damaligen Situation nachzuspüren. Was war anders gewesen als sonst? Doch die Aufzeichnung war zu verrauscht und undeutlich, als dass ich hätte erkennen können, was die Nebengeräusche bedeuten konnten, die unser plötzliches Schweigen begleiteten. Die Stille trug etwas Endgültiges, Unwiderrufliches mit sich, was ich damals jedoch nicht erfasste. Selbst heute, im Abstand der vielen Jahre, kann ich nicht nachvollziehen, was damals mit uns geschah.

»Hör mir zu, Hardie.« Ferdinands Stimme war jetzt ernst, es fehlte das übliche, so gewinnende Lächeln darin. Damals begriff ich es nicht. Heute, im Rückblick, ist mir natürlich klar, dies war ein Abschied. Nicht für immer, wie ich inzwischen wusste, aber doch eine Trennung, die nur durch das starke Band einer tiefen Freundschaft überdauern konnte. »Du wirst mich nicht umstimmen können. Zu keinem Zeitpunkt kann und werde ich die Chancen aufgeben, was mir der Pakt mit dem Seelenbund ‒ ich hatte ihn bereits einmal erwähnt ‒ ermöglicht, um dorthin zu gelangen, wohin mein Streben gerichtet ist.«

»Das NIRGENDWO zu erreichen«, flüsterte ich in die entstandene Pause hinein. Und auch, wenn die Aufnahme von damals meine Antwort nur unverständlich wiedergab, waren es exakt diese vier Worte resignierter Feststellung gewesen, die ich gemurmelt hatte.

Dann, als hätte dieser Augenblick der Wahrheit nie zwischen uns gestanden, sagte er in seiner unübertroffenen Art, Schwerwiegendes achtlos beiseitezuschieben: »Also komm schon. Lehn dich zurück und lausche, wovon ich dir zu berichten habe. ‒ Zuhören«, und da war es wieder, dieses unvermeidliche Lächeln voller Optimismus und Zuversicht in seiner lebhaften Stimme, »ist doch ohnehin deine Stärke.«

Unweigerlich musste ich lächeln, wobei mir Tränen in den Augen standen.

Erst in diesen langen Augenblicken des Erinnerns wurde mir klar, dass es dieser Abend, mit all seinen Kontroversen und heftigen Diskursen, gewesen sein musste, der Ferdinand Hergerts Entscheidung darin bestärkte, dem steinigen Weg seiner Suche nach Erkenntnis weiter unbeirrt zu folgen.

Ich schaltete das Gerät ab.

 

 

Gegenwart ‒ Erinnerung

 

Sein Pakt mit dem Seelenbund, ich erinnere mich vage. Ferdinand hatte mir davon erzählt. Vor vielen Jahren. Damals, als er unvermittelt vor mir gestanden hatte. Hager, kantig und sichtlich gealtert. Ich hatte ihn nicht gleich erkannt, sondern den Möbelpackern zugeordnet, die mir bei meinem Umzug in eine andere Stadt behilflich waren, Schachteln, Kisten und alles andere Inventar in den Lkw zu laden.

Er wirkte nicht mehr wie der gleichaltrige Freund, den ich etwa zehn, fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen hatte. Niemand, der mein Gegenüber und mich betrachtete, hätte angenommen, dass wir beide die Vierzig gerade mal überschritten hatten. Dieser Mann, drahtig, mit kantigen Zügen, musste viele Jahre unter widrigen Umständen gelebt haben.

Ferdinand Hergert war zurückgekehrt, von wo auch immer. Ohne festen Wohnsitz, hatte er mein Angebot angenommen, sich bis auf Weiteres in meinem neuen Domizil aufzuhalten.

Darüber, dass die erste Zeit, bis er für sich eine geeignete Bleibe gefunden hatte, für uns beide nicht gerade einfach war, braucht nicht weiter gesprochen zu werden. Ein rascher Schnitt war der sicherste Ausweg aus der zerstörerischen Situation. Unsere Lebenswege hatten eben längst völlig gegensätzliche Richtungen eingeschlagen.

Es dauerte somit eine ganze Weile, bis unsere Treffen und Gespräche wieder in dem Gleichklang verliefen, in denen wir uns den uns vertrauten, spekulativen Themen mit derselben Leichtigkeit widmen konnten, wie in den Jahren vor seiner Wanderschaft.

Dann kam der Abend, an dem er mir zum ersten Mal von Sarvassam berichtete. Einer Stadt, die inmitten eines öden Weltenbruchstückes aufragte und durch den Æther trieb. Und er hätte im NIRGENDWO ‒ dem Universum der Imagination, wie er es auch nannte ‒ dieses Dunkel entdeckt und darin eingebettet Sarvassam aufgespürt. Ich war sprachlos, denn in meinen Geschichten bezeichnete ich dieses alles umhüllende Medium eben genau so: Æther.

Nicht zum ersten Mal hielt ich ihm vor, dass er sich mit meinen Manuskripten beschäftigte, wenn ich die Wohnung verlassen hatte und er unbeobachtet gewesen war. Ein Vorwurf, den er jedoch entschieden zurückwies. Er wusste davon, behauptete er schlichtweg, wollte sich aber nicht näher erklären.

Also vermutete ich, dass er wieder einmal den Beweis schuldig blieb.

Doch damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Denn selbst wenn er die bis dahin eher spärlichen Aufzeichnungen gesichtet hätte, was würde er berichten können? Also forderte ich ihn nochmals auf, mehr über Sarvassam zu erzählen. Mein Konzept der verlorenen Stadt bestand bislang aus vagen Ideen, einer Handskizze seiner Lage und einem Vorwort zu dem Brettspiel, das ich damals entwickelt hatte. Alles andere waren Gedankenspielereien, die noch mit keiner Zeile beschrieben waren.

Seine Erklärungen würden sich also von selbst in Luft auflösen, ohne mich auf einen neuerlichen Diskurs einzulassen, an dessen Ende nichts anderes als ein weiteres fruchtloses Ergebnis stehen konnte.

Im Stillen belächelte ich noch immer die Spinnerei meines Freundes. Meine Neugier aber überwog in diesem Moment meine Skepsis. Mein vorrangiges Interesse war und blieb, zu erfahren, wie es ihm überhaupt gelingen konnte, innerhalb des NIRGENDWO, wenn es dieses Universum der Fantasie denn tatsächlich gab, auch nur einen Funken meines Sarvassams gefunden zu haben.

Ferdinand aber wollte mir keine weitere Information geben. Ich würde es nicht verstehen, gab er mir verdrossen zu verstehen. ‒ Noch nicht, wie er beschwichtigend einschränkte. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, erklärte er weiter, und ohne die Kenntnis dessen, was er, zu gegebener Zeit, noch offen legen würde, bliebe ich doch nur darin bestärkt in meiner skeptischen Haltung gegenüber seinen Worten. Eswäre also nichts gewonnen.

Dann schwieg er und starrte für eine Weile reglos vor sich hin.

In der folgenden Pause, die er anscheinend nutzte, um Argumente zu finden, wie er meine Zweifel zerstreuen konnte, überlegte ich es mir anders. Wollte ich wirklich meine Ideen durch irgendwelche Spekulationen meines Freundes über Sarvassam verwässern lassen? Warum sollte ich ihn dazu zwingen, etwas zu erfinden, nur um mir zu beweisen … ja, was eigentlich?

Unbewusst schüttelte ich den Kopf, denn mein Gegenüber blickte auf und sah mich fragend an. »Wohl besser, du beantwortest meine Frage nicht«, gab ich mich versöhnlicher, als ich es eigentlich war. »Sag mir lieber, was es mit Seelenbund auf sich hat.«

Aber auch hier blockte er. Zum wiederholten Male bedrängte ich ihn mit gezielten Fragen. Auf welchem Wege er denn dorthin gelangt war. Wie er den transzendentalen Zustand erreichte. Und, wie es ihm dann gelungen war, einen physischen Körper zu transformieren, um die Welten zu betreten. Diese und andere Fragen stellte ich ihm, doch er wies mich ab. Es sei sein dunkles Geheimnis, sagte er. Er dürfe den Schwur, den er dem Seelenbund geleistet hatte, nicht brechen. Er sei eine tödliche Verpflichtung eingegangen mit der Loge der realen Imagination, hätte mit dem Eid einen Pakt geschlossen, der selbst mit dem Tod seine Gültigkeit nicht verlor.

Welchen Versuch ich auch unternahm, an diesem Abend wollte er auf keine meiner Fragen mehr antworten. Wenn ich mich recht erinnere, war das eines der ganz wenigen Zusammentreffen, an denen unsere Freundschaft hätte zerbrechen können. Unruhig grübelnd und still, wie es in manchen Stunden, da wir um unsere Argumente rangen, der Fall gewesen war, hatten wir dagesessen und uns angeschwiegen. Wir spürten beide, dass an diesem Abend kein Thema mehr zu finden war, das als Brücke zwischen uns hätte dienen können.

So brüteten wir beide in stummer Eintracht und versuchten, unsere inneren Beweggründe zu analysieren. Er, so vermute ich, sann darüber nach, wie er mir schlüssig erklären konnte, weshalb er die Hintergründe seiner Vereinbarung mit dem Seelenbund nicht offenlegen durfte. Und mir wurde einfach nicht klar, weshalb Ferdinand so standhaft behauptete, meine Manuskripte nicht gelesen zu haben.

 

 

Vergangenheit ‒ Aufzeichnung

 

Eine Zuordnung der jeweiligen Tonbänder war nach mehreren Versuchen gescheitert, und ich gab es auf, weiter an den Schachteln, vergilbten Zetteln und verblichenen Etiketten nach verborgenen Hinweisen zu suchen. Also wählte ich aus der Kiste wahllos eine der Kassetten und fädelte das Magnetband in das Abspielgerät ein. Die Tonqualität war extrem schlecht, und die Straßengeräusche, die durch die geöffneten Fenster zu mir heraufdrangen, taten ein Übriges, um nach den klobigen Kopfhörern zu suchen, die ganz gewiss noch irgendwo im Kellerregal aufbewahrt wurden.

Als ich einige Zeit, mehr amüsiert als aufmerksam, unserem Disput folgte, tauchte aus dem Hin und Her plötzlich ein Inhalt auf, der mich dann doch etwas genauer zuhören ließ. Mit einem Mal war ich ganz gespannt, wohin das Wortgefecht führte und worauf das Streitgespräch zwangsläufig zusteuern musste.

Irgendwie hatte ich es damals geschafft, die Unterhaltung dorthin zu zwingen, wo mein Wissensdurst bislang keine Nahrung erfahren hatte, und so sollte ich, nach all der Zeit, noch einmal erfahren, was mir Ferdinand damals schon versucht hatte zu vermitteln.

»Es wäre zu aufwändig und ermüdend, dir die letzten mehr als zehn Jahre meiner Suche zu schildern«, hörte ich ihn langsam und zögerlich beginnen. »Auch die teils so absurden, wie gefährlichen, meist lebensbedrohlichen Situationen zu beschreiben, würde allen Rahmen sprengen und wäre letztendlich nur schmückendes Beiwerk.«

Mit jedem Wort wurde sein Redefluss schneller. Ihr Inhalt zog mich in Bann, und ich wunderte mich, dass ich seine Erzählung von damals nicht im Gedächtnis behalten hatte, wusste ich doch, dass ich ihm damals ebenso gebannt gelauscht hatte, wie in diesem Moment. Ich bin mir ganz sicher, dass ich in der gleichen Körperhaltung in meinem Sessel gelehnt hatte wie heute. In eine Ecke gelehnt, die Arme locker aufgestützt, den Kopf aufmerksam zur Seite gelegt. Verdammt, wie lange lag das wohl zurück? All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich seinen Ausführungen weiter aufmerksam zuhörte.

»Lass dir gesagt sein, dass ich mehr als nur ein Mal dem Tode näher als dem Leben war.« Ich sah es förmlich vor mir, wie ich zu einer Erwiderung ansetzte, denn er sprach ohne Pause, aber mit deutlichem Nachdruck, weiter. »Und es muss dir genügen, wenn ich dir sage, dass ich letztendlich einen Weg ‒ vorerst mental, sehr viel später physisch ‒ gefunden habe, in das NIRGENDWO vorzudringen.«

Ferdinand musste meine Zweifel und mein Staunen deutlich in meinen Zügen gelesen haben. Erstaunen darüber, sein Geheimnis zu offenbaren und Skepsis bezüglich der Wahrheiten, die darunter verborgen blieben. Er würde darauf reagieren, wie, das wusste ich nicht mehr. Es entstand eine längere Pause. Und während ich in Erwartung der rauschenden Stille des Tonbandes lauschte, versuchte ich mich zu entsinnen, wie damals unsere Gespräche verliefen. Wie saß Ferdinand Hergert mir damals gegenüber? Wie hatte er ausgesehen, sich bewegt, gestikuliert, gesprochen? Und es fiel mir ein, welch unbekannte Qualen sich in seinem zerfurchten Gesicht abgezeichnet hatten, wenn er sich unbeobachtet fühlte, während er seinen eigenen Erinnerungen nachspürte.

Ein tiefes Seufzen riss mich aus meinen Überlegungen. Dann hörte ich, wie eine Flasche geöffnet wurde. Das Zischen der entweichenden Kohlensäure und kräftige Schluckgeräusche. Vor meinem geistigen Auge sah ich den kantigen Adamsapfel in dem mageren Hals auf und ab tanzen. In meiner Erinnerung sah ich ihn, den Kopf weit zurückgeneigt, in kräftigen Zügen die Flasche leeren. Eine unbestimmte Heiterkeit stieg in mir hoch, und ein wissendes Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen ‒ solange ich Ferdinand kannte, hatte ich ihn nie ohne eine Flasche Mineralwasser in Griffnähe gesehen ‒ und wartete auf das unvermeidlich nachfolgende Rülpsen.

Verwundert war ich dann doch über mein eigenes Verhalten, wobei ich dem lang gezogenen Laut unausgesprochenen Wohlbehagens lauschte. Dass ich ihn zu keinem Zeitpunkt der langen Pause damals aufgefordert hatte, seine begonnene Ausführung fortzusetzen, war mir zuerst gar nicht aufgefallen. Ungeduldig und wissbegierig ‒ gierig, im Sinn des Wortes ‒, wie ich damals war und auch heute, in bestimmten Situationen, immer noch bin, hatte ich wohl instinktiv gespürt, dass es Ferdinand sehr viel Überwindung gekostet haben musste, das Thema bis zu diesem Punkt überhaupt angesprochen zu haben. Die Hintergründe seines Handelns waren mir damals völlig unklar und nicht nachvollziehbar. Selbst heute sind mir seine Beweggründe nicht zur Gänze klar. Damals jedoch musste ich gespürt haben, dass jegliches Drängen verhindert hätte, wozu er sich entschlossen hatte.

»Sieh mich an«, brach er dann sein Schweigen, »sehe ich aus wie ein Enddreißiger, der ich sein müsste? ‒ Nicht wirklich, wenn du es nicht besser wüsstest, oder? Diese etwa zehn Jahre, es sind deine Jahre, ein linearer Weg. Meine Zeit verlief in Bahnen, verschlungen und schmerzhaft rasant auf meiner Suche, das NIRGENDWO zu betreten. Mein Streben konfrontierte mich mit fließender und starrer Zeit. Zeitströme, substanzlos, zäh, gesplittert, sie rissen an mir, verzerrten mich, wollten mich verschlingen oder verachteten mich.

Und dann, eines Tages, erwachte ich auf dem feinen Sandstrand einer kleinen INSEL inmitten eines endlosen Ozeans, dem Zeitlosen Meer, einem energetischen Schild, das Realität und Imagination voreinander schützt, was ich erst sehr viel später erfahren sollte.

Wie ich dorthin gekommen bin? Ich weiß es nicht. ‒ Nein, ich weiß es wirklich nicht. Mir ist auch nicht mehr bewusst, welche der unzähligen, mühevoll angeeigneten Meditations- und Transformationsformen, die ich bis dahin erlernt und verfeinert hatte, ich kombiniert benutzt hatte, um meine bislang körperlosen Reisen in eine physische zu wandeln.

Unbestritten ist es jedoch, dass mir damals meine erste körperliche Reise gelungen war, wenngleich auch hinein in eine mir völlig unbekannte Welt. Eine INSEL, die auf der Barriere zum NIRGENDWO existierte und deren Einsamkeit meine zukünftige Heimat werden sollte. Mein Anker, an den ich gebunden war. Zumindest so lange, bis ich lernte, von dort aus das NIRGENDWO zu durchstreifen. Doch bis es so weit kam, musste ich erkennen und akzeptieren, dass ich ein Gestrandeter war. Von hier gab es nur ein WEITER, wenn ich die Reife des Kundigen erreichte. Die INSEL wieder zu verlassen, war nicht möglich. Ein ZURÜCK war ausgeschlossen.

Gefangen war ich, auf dieser INSEL. Ohne Kenntnis, was mich hierher gebracht und darüber hinaus hat vergessen lassen, wie ich zurückfinden konnte, dorthin, woher ich gekommen war.

Ich befand mich in einer Sackgasse, ein Schiffbrüchiger im NIRGENDWO.

Die Erklärung sollte nicht lange auf sich warten lassen: Ich hatte die erste Prüfung der Loge bestanden, denn ich hatte einen Weg zu ihrem Zentrum gefunden. Jetzt befand ich mich in der Obhut des Klosters, das verborgen in den Wäldern der INSEL uns wenige Novizen ausbildete.

In den vielen Jahren meines Lernens und Studierens der Abhängigkeiten in all den unzähligen Imaginationen, die das NIRGENDWO prägen, habe ich erfahren, dass es im NIRGENDWO keinerlei Gesetzmäßigkeiten gibt, die das Wirken der Zeit beschreiben könnten. Jede Imagination zeichnet ihre eigene Zeitebene, die abhängig ist vom Grad der Entwicklung und dem ausformulierten Entwurf der jeweiligen Realität. In diesen so unterschiedlichen Konstrukten gegensätzlicher Welten und Stadien zerren die variablen Strukturen an der ständig im Wandel befindenden Manifestation der Reisenden, die sich dazwischen frei bewegen.«

Ferdinand Hergert war nun in einem gleichmäßigen Redefluss, der durch nichts mehr unterbrochen werden konnte. Es schien mir fast, als wolle er sich seine Qualen von der Seele reden. Damals wie heute überfordert mich vieles von dem, was er in dieser Zeit durchstehen, überwinden und erleiden musste und doch in jeglicher Konsequenz mit Würde ertrug. Aber das lag nun schon mehr als dreißig Jahre in meiner Vergangenheit. Und obwohl ich wusste, dass das alles längst nur die Spitze des Eisberges beschrieb, sehe ich, rückblickend auf die Geschehnisse der letzten Jahre, vieles differenzierter. Kann ich doch, mit dem Wissen von heute, sein Verhalten inzwischen besser verstehen.

Einem Wissenden, wie ich einer bin ‒ der ich niemals werden wollte ‒ sind die Beweggründe seines Handelns mehr als nur bewusst, es ist das Lebensgeflecht seiner Existenz.

»Doch zum Zeitpunkt meines Schiffbruchs auf der INSEL«, ein schleifender, verzerrter Ton der alten Aufzeichnung brach in die Bilder, mit der seine Worte meine Gedanken fluteten, »konnte ich die Bedeutung meiner ersten erfolgreichen Körperwanderung nicht richtig würdigen, denn ich war gestrandet und hilflos. Ohne Kenntnis, wie ich zurückfinden konnte in meine Realität. Wie sollte ich jemals wieder …«

Das abrupte Ende, mitten im Satz, riss mich aus wirbelnden Überlegungen. Die Aufnahme war abgespielt, die volle Spule drehte im Leerlauf weiter, und das lose Ende des Tonbandes schlug in gleichmäßigem Takt gegen das Kunststoffgehäuse, bis ich endlich reagierte und die Stopp-Taste drückte.

 

 

Gegenwart ‒ Erinnerungen

 

Es war schon eine geraume Weile her, seit ich von Ferdinand etwas gehört hatte. Gewundert hatte es mich nicht. War doch sein Verhalten schon während unserer letzten, unregelmäßigen Treffen auffällig unruhig verlaufen. Auf meine direkten Fragen antwortete er mir ausweichend. Und als ich ihm einmal vorhielt, er wirke wie ein Junkie vor dem nächsten Schuss, wäre er mir fast an die Gurgel gegangen. Seine Augen glühten in verhaltenem Zorn, und es dauerte, bis er ruhig genug war, mir meinen unterschwelligen Verdacht zu verzeihen. Der Vorwurf hatte ihn tief getroffen. »Von all den Fehlern, die meinen Lebensweg begleiten, ist dies der einzige, den ich nicht begangen habe«, sagte er dann versöhnlich.

Dennoch wollte ich wissen, weshalb er wie ein Getriebener rastlos die Welt durcheilte. »Was ist es, was dich treibt? Wonach suchst du?«

»Du weißt es. Tief in deinem Innern verzehrt es dich auch.«

»Komm schon, das ist doch lächerlich.«

»Ist es nicht. Du verleugnest deinen Traum.«

»Ferdinand, es sind Hirngespinste, romantische Vorstellungen, denen wir vor vielen Jahren nachhingen.«

»Glaubst du das wirklich? Haben dich meine Erzählungen nicht überzeugen können?«

»Dass du auf langen Reisen Fähigkeiten erworben hast, die dich in einen physischen Zustand versetzen können, Dinge zu sehen und zu erleben, die nicht real sind? Doch ja, aber, dass diese Fertigkeit eine Realität schafft, in die du körperlich eintauchst ‒ und darin lebst? ‒ Nein, ein ganz entschiedenes Nein.«

»Schade. ‒ Würdest du dich meiner Führung anvertrauen, ich würde dich dorthin geleiten, wo deine Geschichten Wirklichkeit sind.«

»Meine Geschichten sind …«

»… Realität im NIRGENDWO«, unterbrach er mich heftig. »Glaube mir, irgendwann werde ich dir einen unumstößlichen Beweis dafür liefern.«

Wie so oft nach solcherlei Gesprächen stand Schweigen zwischen uns. Wir tranken unser Bier, hingen unseren Gedanken nach und haderten mit unserer Freundschaft, die so ein seltsames Band zwischen uns geflochten hatte und das uns, trotz aller Gegensätzlichkeit und langer Abwesenheiten, bereits über sechzig Jahre miteinander verbunden hielt.

Während die Idee des NIRGENDWO für mich eine liebevoll gepflegte Spinnerei unserer Jugend geblieben war, hatte sich Ferdinand darin verstiegen und das NIRGENDWO zu einer eigenen Realität erhoben.

Wieder einmal lag ein langer Abend hinter uns, an dem keine Einigkeit zwischen unseren Ansichten zustande kommen sollte.

»Verrückter Spinner«, beendete ich die zähe Stille.

»Sturer Zweifler«, erwiderte er ebenso gleichmütig und verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Irgendwann wirst du mir glauben müssen.« Trank sein Bier aus und ging.

Dass es fast ein Jahr dauern sollte, bis er wieder in mein Leben trat, ahnte ich damals natürlich nicht.

Das Ende des letztendlich unbefriedigenden Gesprächs, das mich lange beschäftigt hatte, war längst vergessen. Die Leere, die es hinterlassen hatte, jedoch nicht. Meine Zweifel, Ferdinand in irgendeiner Weise Unrecht getan zu haben, waren geblieben. Dass er meine geheimsten Wünsche angesprochen hatte, war mir zu dem damaligen Zeitpunkt zu peinlich gewesen, als dass ich sie freiwillig eingestanden hätte. Hatte er doch instinktiv meine tief verborgene Sehnsucht nach den Welten offen gelegt. Welten, die ich mir wünschte und sie zu erleben meine Vorstellungskraft beflügelte. Die Geschichten und Erzählungen, die ich versuchte, auf Papier zu beschreiben, legten ein überdeutliches Zeugnis dafür ab.

Sie alle waren Beschreibungen von Welten, wie ich sie mir wünschte, dass sie existierten. Fantastereien eines Tagträumers, die ich sorgsam in den unteren Schubladen meines alten Schreibtisches aufbewahrte.

Doch die Realitäten und Zwänge der Gegenwart ließen keinen Platz für das Geschriebene und drängten sie, wie auch meine letzte Begegnung mit Ferdinand Hergert, hinter den Vorhang des Vergessens im Alltag.

Eines Abends, der Tag war von heftigen Regenfällen bestimmt, trat ich abgespannt und durchnässt bis auf die Haut in den dunklen Hausflur. Froh darüber, endlich zu Hause zu sein und ein paar freie Tage vor mir zu haben. Zwei Wochen Urlaub von den Zwängen der Gesellschaft.

Wieder einmal war nur ein Teil der ohnehin spärlichen Beleuchtung im Stiegenhaus aktiv. Ich fand den Weg auch so und stapfte die Treppe hoch in den dritten Stock. Dann erlosch die Flurbeleuchtung ganz. Im Dunkeln stieg ich weiter, suchte blind den Schalter und erschrak, da ich im flackernden Licht eine hagere Gestalt vor mir auf dem Boden liegen sah.

Ein Penner, war mein erster Gedanke, bevor ich im spärlichen Licht den Mann erkannte, der, an einen Seesack gelehnt, vor meiner Wohnungstüre schlief. Es berührte mich tief, Ferdinand Hergert kauernd vor mir liegen zu sehen. Diesen Freund, der mir ebenso vertraut wie fremd war. Dieses Bild trug etwas Verletzliches, Hilfloses, dass es mir schwerfiel, diesen offensichtlich vor Erschöpfung Schlafenden zu wecken.

Ferdinand Hergert war so schwach, dass ich ihn stützen musste, um ihn in meine Wohnung zu bringen.

In solch elendem Zustand hatte ich meinen Freund noch nie gesehen. Ich bugsierte ihn in das kleine Nebenzimmer, wo immer ein Schlafplatz gerichtet war für überraschenden Besuch. Danach zerrte ich den schäbigen Tornister aus abgewetztem Segeltuch in meine Wohnung und verstaute ihn in einer Ecke neben seinem Bett. Mein Freund war in einer bejammernswerten Verfassung. Abgemagert, hohlwangig, die Kleidung nicht mehr als verschlissener Stoff. Hergert sprach kaum, starrte vor sich hin, schien völlig desorientiert zu sein. Dankbar nahm er die Flasche Wasser entgegen. Trank gierig und nickte nur, als ich ihm sagte, ich würde uns Essen bereiten.

Mein Freund schlief bereits tief und fest, als ich mit den Broten zurückkam. Zusammengerollt wie ein Kleinkind lag er auf dem Sofa. Reglos, einzig sein rasselnder Atem zeigte, dass er noch in dieser Welt weilte.

Die Nacht und der folgende Tag blieben ereignislos. Hergert schlief bereits mehr als vierundzwanzig Stunden, und meine Sorge um seinen Gesundheitszustand wuchs, als mich ein grässlicher Schrei in das Zimmer nebenan stürzen ließ.