Schattenherz - Silke Bonner - E-Book

Schattenherz E-Book

Silke Bonner

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Beschreibung

"Ein Leben für die ewige Jugend. Eine Seele für ein Monster." Ein Vampir, der durch die Nacht stolpert. Eine Welt, älter als Erinnerung und Märchen. Und die Dunkelheit, die ihn ruft – leise, unumstößlich, ewig. Valériens Leben besteht aus Nebel, Schuld und Schatten. Aus Schulden, die man nicht mit Loyalität bezahlt. Aus Strafen, die man überlebt. Vielleicht. Für ihn ist das die Ewigkeit – bis sie in sein Leben kracht wie eine Abrissbirne. Lilith. Sie stammt nicht aus dieser Welt, nicht aus dieser Zeit. Wo er noch Fragen stellt, trägt sie Antworten, Rituale und Magie, die keinen Namen mehr brauchen. Und plötzlich steht Valérien mittendrin. Ohne Anleitung. Ohne Rückfahrkarte. Ohne Schutz. Wenn ihm die Nacht ein verlockendes Angebot macht – wird er es annehmen? Oder wird die Dunkelheit, die in ihm brodelt, ihn ein für alle Mal verschlingen? Ein düster-romantischer Fantasyroman über Schuld, Verlangen und die Frage, ob ein totes Herz noch fühlen kann.

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Seitenzahl: 726

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Silke Bonner

Schatten

Herz

Roman

Eine kleine Warnung zu Beginn

Diese Geschichte ist nicht sanft.

Sie erzählt von Wunden, die niemand sehen will.

Von Schuld, die sich unter die Haut brennt.

Von Ketten, die man nicht sieht – und Stimmen, die nicht schweigen.

Hier geht es um echten Schmerz.

Keine poetischen Gedichte, die man bei Mondschein und Kerzenlicht liest.

Die Jungs werden es dir nicht sagen. Also übernehme ich das.

Wenn du diese Reise antrittst, dann pass bitte auf dich auf.

– Lilith

Für denjenigen, der als Erster an mich geglaubt hat

und mir den Mut gab, es selbst zu tun.

Auch wenn er dieses Buch niemals lesen wird.

Inhaltsverzeichnis

Rückkehr nach Avignon

Ewigkeit. …Was für ein Witz

Ein Morgen, Zwei Leben

Das Dämmerhaus

Théâtre de Noir

Verdammte Montage

Ein Morgen voller Wiederholungen

Worte im Keller

Durst

Sous le pont d'Avignon

Der Markt der tausend Dinge

Nicht Weihnachten

Yule

Ein Jahreswechsel in Blut und Schatten

Die erste Jagd

Immer noch 17

Velvet Abyss

Königskinder

Unterm Papstpalast

Die Krypta

Der Wolf mit den grünen Augen

Myrrhe und Blut

Ein Schritt voraus

Heart of Misery

Flammen der Vergangenheit

Zwischen Hunger und Wahrheit

Der Engel und sein Spiel

Schattenherz

Alter Einfluss

Ostara

Tote Herzen schlagen nicht

Tote Herzen fühlen

Night Ball

Engelsmünze

Im Schutz der Sonne

Schwerter unter Bäumen

Das Seelenmal

Beltane

Tanz mit dem Schicksal

Im Schatten der Flammen

Jack der Tausendteufel von Pencher Hill

Gefahren auf dem Friedhof

Fesseln aus geweihtem Silber

Monster

Gebrochene Mauern

Flucht

Die Zigeunerwölfe

Lupus et Sanguis

Bunte Schuppen

Keine Lügen mehr

Blutsbrüder

Feuerfunken

Der rote Drache von Wales

Kugeln & Klingen

Asche in den Federn

Nachhall

Segen eines Drachen

Keine Spielchen mehr

Mabon

Ewige Flamme

Rückkehr nach Avignon

In dieser kalten Novembernacht nieselte es in den Straßen von Avignon. Vierzig Jahre war sie fort – für einen Menschen eine Ewigkeit, für sie nur eine Welle in einem endlosen Meer. Doch selbst Wellen hinterlassen Spuren, egal ob groß oder klein. Die Stadt roch anders, fühlte sich anders an, auch wenn die alten Straßen dieselben geblieben waren.

Lilith Chandra Drekihjarta war kein Kind dieser Stadt, kein Kind dieser Welt und doch würde sie immer hier sein. Ihre Füße trugen sie einen Weg, den sie noch nie gegangen war. Dunkle Stiefel machten kaum einen Laut auf den feuchten Straßen, die ihr so unbekannt waren. Langes silbernes Haar, durchzogen von pechschwarzen Strähnen, fiel klamm vom Nebel über ihren Rücken, tiefer als der Seesack reichte, den sie über einer Schulter trug. Ihr Körper war gehüllt in einen schlichten schwarzen Mantel, unsinnig gegen eine Kälte, die sie nicht fühlte. Nötig für die Maskerade, welche Überleben bedeutete. Jadegrüne, mit goldenen Sprenkeln durchzogene Augen glühten im Licht der Laternen, während sie über Fassaden und Kreuzungen huschten.

Der Seesack, der über ihrer rechten Schulter hing, rutschte ein Stück auf dem klammen Mantel herunter und sie zog ihn wieder hoch. Er war keinesfalls schwer, jedoch angefüllt mit Erinnerungen aus Jahrhunderten, die selbst diese Stadt nie gesehen hatte. Dinge, die sie niemals zurücklassen konnte. Und dennoch, sie hatte ihre Brüder zurückgelassen, als sie damals fortging.

Adeon, heute ein schwarzer Rabe mit leuchtenden blauen Augen, flatterte krächzend an ihrer Seite. Sein dichter Schatten stand in starkem Kontrast zu den trüben gelblichen Straßenlaternen dieser dunstigen Nacht. Er war der Bote, der Nachrichtenbringer und er war es auch, der ihr in dieser kalten Nacht den Weg wies. Adeon kannte den Weg, wusste, wo ihre Brüder die Nacht verbrachten.

Das Gebäude lag noch innerhalb der alten Stadtmauern. Oder innerhalb dessen, was mancherorts von diesen Mauern heute noch übrig war. Lilith erinnerte sich noch an die große Mauer, an Soldaten in schimmernden Rüstungen, die klappernd darauf Wache gingen und an flackernde Feuerschalen, die des nachts die Dunkelheit fernhalten sollten. Lang vergessen und noch länger her.

Ihr Ziel war ein mehrstöckiges Haus, angefüllt mit Wohnungen und Leben. Es lag in einer Seitenstraße, etwas ab vom Trubel der Fahrzeuge und Menschen, hinter einer kleinen Mauer mit einem gepflegten Zaun aus verschnörkeltem Metall. Die oberste Etage war ihr Ziel, das Penthouse, in dem Amelie lebte.

Lilith hatte Amelie bisher nie gesehen, kannte sie nur von den Erzählungen ihrer Brüder. Amelie ging unter Menschen arbeiten und legte viel Wert auf die Maskerade. Der Gedanke, dass ihre Brüder bei jemandem nächtigten, der so jung, so Mensch geblieben war, war seltsam. Es wirkte wie der Beginn eines schlechten Scherzes und war doch die Wahrheit.

Ihr angestammtes Heim, das Dämmerhaus, überdauerte den Zahn der Zeit nicht so gut wie die drei Geschwister. In seiner letzten Botschaft hatte Louis davon gesprochen, dass die Ghule es renovieren würden.

Es sollte etwas moderner werden, angepasst an das aktuelle Jahrhundert und doch immer noch anders. Mit besseren Sicherheitsmaßnahmen, neuen Zaubern und Räumen, in denen auch junge Wesen nächtigen wollten. So sie denn zu Besuch kamen und blieben. Es sollte neue Schutzzauber und Banne geben und, mit etwas Glück, würde das alte Gemäuer ihnen dann auf ewig ein Zuhause bleiben. Zugegeben, das alte Gemäuer zerfiel schon seit vielen Jahren, doch daran hatten sie sich gewöhnt. Zerfall war ein Teil der Ewigkeit.

⋆⋅❖⋅⋆

Die große hölzerne Tür des Appartementhauses war unverschlossen, eine Fußmatte aus Kork hieß jeden willkommen. Schlanke Finger drückten den verzierten Türknauf herunter und sie betrat unbehelligt das Gebäude.

Die Eingangshalle war hell und galt sicher als freundlich, Lilith war sie einfach nur zu viel. Es gab einen Tresen, an dem ein Portier sitzen konnte, grüne Pflanzen in großen terracottafarbenen Töpfen, deren Namen Lilith nicht wusste, abstrakte Kunst von ihr unbekannten Künstlern an den cremefarbenen Wänden und einen hellen, orangenen Teppich, der wie ein Läufer über den hellen Dielenboden in Richtung der Aufzüge und Treppen verlief.

Der helle, hölzerne Tresen, der dieselben Farben wie Wand und Teppich aufwies, war verwaist. Der Portier war sich wohl gerade einen Kaffee holen. Das sollte ihr nur recht sein, ihr war nicht nach belangloser Konversation zumute. Adeon flatterte durch den langgezogenen Raum, seine Schwingen leise wie Wind in der Nacht und sie folgte ihm.

Einer der Aufzüge mit goldenen Gittern wartete bereits wie bestellt auf die Rückkehrerin. Als wüsste sogar dieses Haus, was der Grund ihrer Anwesenheit war. Adeons Schnabel betätigte den Obersten der vielen Knöpfe und der Aufzug setzte sich ruckartig in Bewegung. Er war ein Schatten, der an Masse zunehmen konnte, so er es denn brauchte.

Die Melodie im Hintergrund sollte wohl beruhigend sein, doch Lilith machte sie nervös. Je höher der Fahrstuhl kletterte, desto schlimmer wurde der Kloß in ihrem Hals. Ein Kloß aus Vorfreude und Schuld. Sie war so lange fort, hatte lange nichts von sich hören lassen, zu lange.

In den letzten Jahren waren die Wege der Kommunikation stetig einfacher geworden, dennoch zog sie Feder und Papier bis heute den seltsamen kleinen Geräten vor. Diesen Telefonen, die man sich inzwischen sogar in die Taschen stecken konnte. Sie besaß eines, ein violettes, etwa so groß wie ihre Hand, das mit blauem Licht beleuchtet wurde. Die Marke stand darauf, doch sie sagte der Silberhaarigen wenig bis gar nichts. Benutzt wurde es allerdings nicht sonderlich oft und könnte es das, würde es wohl Spinnweben ansetzen wie ein altes Buch. Ihr großer Bruder hatte sie erst vor wenigen Wochen dafür gescholten, dass er ihr dieses Gerät zukommen ließ und sie sich dennoch nicht meldete, viel zu wenig meldete.

Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich mit einem leisen Geräusch, wie ein Messer, das gegen ein Glas schlug. Der Flur dahinter war denkbar kurz. Dieselben cremefarbenen Wände, helles Holz und ein orangener Teppich.

Die Tür zum Penthouse war verschlossen, Lilith öffnete sie nicht, Lilith klingelte nicht. Adeon verschwand von ihrer Seite und durch die Tür. Es würde sicher nicht lange dauern, bis er Louis fand oder dieser ihn bemerkte. Im Stillen hoffte Lilith darauf, dass ihr großer Bruder kein Wort sagen würde, doch die Hoffnung schwand mit jeder Sekunde, die sie auf die verschlossene Türe blickte.

⋆⋅❖⋅⋆

Nicht bedeutend später öffnete sich die Tür und Liliths grüngoldene Augen erblickten das erste Mal seit vielen Monden ihren Bruder. Dort stand er, Louis Christian Drekihjarta, größer und breitschultriger als seine nicht biologischen Geschwister, denen er dennoch auffallend ähnlichsah. Seine Augen musterten sie streng, aber in ihnen lag auch eine Erleichterung, die er nur schwer verbergen konnte. Ein Krieger aus den alten Tagen, als die Welt noch Magie dem elektrischen Licht vorzog, gekleidet in dunkles Rot und schwarzen Hosen.

»Schön, dass du es geschafft hast, Schwester«, sagte er, seine tiefe Stimme klang ruhig, fast ein wenig zu ruhig. Dennoch entging ihr der anklagende Unterton nicht. Seine Augen, dunkel wie Bitterschokolade, musterten sie eindringlich, während er die Arme vor der Brust verschränkte. »Vierzig Jahre sind lang, selbst für unsereins.«

»Das ist mir bewusst, Louis.« Ihre Worte klangen dünn, das Eingeständnis einer Schuld, die sie seit Jahrzehnten trug. Sie hatte nicht erwartet, dass die Konfrontation so bald kommen würde. Doch dass sie kommen würde, war so unvermeidlich wie die Jahreszeiten, »Aber jetzt bin ich zurück.«

Louis’ Stirn legte sich in Falten, doch dann seufzte er leise.»Du hast lange nichts von dir hören lassen.« Es war kein Vorwurf in seiner Stimme, nur eine ruhige Feststellung. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte sie angeschrien, doch der Ältere schrie nicht, seit hunderten von Jahren nicht mehr. »Leander hat die letzten Jahre fast ausschließlich damit verbracht, auf deine Rückkehr zu hoffen und zu warten.«

Lilith senkte den Blick. Sie wusste, dass ihr Zwillingsbruder schwer mit ihrer Abwesenheit zu kämpfen hatte. Mehr als sie es je wollte, mehr noch, als sie mit der Trennung gekämpft hatte.

»Wo ist er?«, fragte sie leise und sah nicht wieder auf. Sie wollte den anklagenden Blick der dunklen schokoladenbraunen Augen nicht mehr sehen. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab, Luft, die sie nicht mehr zum Atmen brauchte. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihrer Ärmel, nur um eine Beschäftigung zu haben.

»Hinten, in seinem Gemach, bitte tritt ein«, antwortete Louis gleichbleibend ruhig und trat zur Seite. Doch als Lilith an ihm vorbeigehen wollte, legte er eine Hand auf ihre Schulter. Mit einer fließenden Bewegung nahm er ihr den Seesack ab, ganz der Gentleman, der er immer gewesen war. »Er hat die Hoffnung fast gänzlich aufgegeben, Lilith. Wenn du wirklich zurück bist, dann bleib diesmal.« Es war ein Vorwurf in diesen Worten, alt wie die Zeit selbst. Er musste nicht laut werden, um deutlich zu sein.

Lilith nickte nur und hängte ihren Mantel an die recht leere Garderobe. Darunter kam ein schlichtes, graues Kleid zum Vorschein, praktisch zum Reisen, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg. Ihre Absätze klangen dumpf auf dem modernen Holzfußboden des Penthauses, das so sehr im Gegensatz zu ihrer alten, dunklen Welt stand. Es war so kompakt, so modern und hell und doch für menschliche Verhältnisse ausladend und geräumig. Immerhin bestand die gesamte oberste Etage nur aus dieser Wohnung.

Im vorderen Teil gab es eine große Küche, ein Esszimmer, ein ebenso ausladendes Wohnzimmer und ein Bad für Gäste. Im hinteren Teil lagen die Schlafräume und zwei weitere Bäder für die Bewohner. Auch wenn Amelie hier zugegeben für gewöhnlich allein lebte. Am Ende des hellen Flurs, in dem die beiden keine Lampe entzündeten, öffnete Louis leise die Tür zu Leanders derzeitigem Gemach.

Es war dunkel darin, dunkler als im gesamten Rest der Wohnung. Eine einzelne Kerze brannte auf dem von Zetteln und Notizbüchern überladenen Schreibtisch, fast zur Gänze heruntergebrannt und vergessen.

Ihr Zwillingsbruder lag auf dem Rücken in seinem Bett, gekleidet in ein graues Hemd und dunkle Hosen, die Augen ausdruckslos zur Decke gerichtet. Seine etwa schulterlangen, silbernen Haare, die sich an den Spitzen wie eine Calathea schwarz verfärbten, wirkten ungepflegt, als hätten sie seit Tagen keine Bürste gesehen. Seine Kleidung wirkte unfertig, verlottert, dieselbe Kleidung wie seit Tagen, seit Wochen schon.

Das Zimmer roch nach Trauer und Verzweiflung. Der Geruch überdeckte fast den unverkennbaren Geruch ihres Bruders nach Eibenholz und Rauch. Nach einem alten Wald und Erinnerungen an eine Ewigkeit, die kaum jemand verstand.

»Leander«, flüsterte sie, aber er reagierte nicht, schien sie gar nicht gehört zu haben. Der Anblick ihres Bruders, so lethargisch und verletzt, ließ ihr Herz schwer werden. Sie hätte nicht so lange fortbleiben dürfen, egal, was zwischen ihr und den Brüdern geschehen war. Leander Christopher Drekihjarta war immer noch ihr Zwilling und die beiden waren sich so gleich und so verschieden, wie nur Zwillinge es sein konnten.

Louis, der ihr gefolgt war, trat neben sie, stellte ihren Seesack ab und räusperte sich. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass er ihn mit sich genommen hatte.

»Leander.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich will allein sein«, knurrte Leander, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Seine Stimme war rau und erschöpft, und Lilith konnte den Schmerz darin hören. Ein tiefer, alter Schmerz, der ihr einen Stich versetzte, als hätte er ihr einen Dolch zwischen die Rippen gerammt. Ungesehen verzog sie das Gesicht und drückte ihre Zunge von hinten gegen ihre Zähne, um keinen Laut von sich zu geben.

»Du solltest aufsehen, Bruder«, sagte Louis jedoch unverändert ruhig. Es war die Ruhe von jemandem, der es gewohnt war, sich um andere zu kümmern. Die Ruhe von jemandem, der schon viel zu lange mit dieser Trauer konfrontiert war. Lilith senkte kurz den Blick, blinzelte aufkommende Tränen weg. Jetzt war nicht die Zeit für Trauer oder dafür, die Emotionen in diesem Raum die Oberhand gewinnen zu lassen. Emotionen, die so stark waren, dass einem schwindelig werden konnte.

»Lass mich in Frieden!«, fauchte Leander und schlug mit der Hand gegen die Bettkante, sodass das Holz laut knackte. »Ich will es nicht hören!«

Er wandte den Kopf, wohl um Louis besser aus dem Zimmer weisen zu können. Da fiel sein Blick auf Lilith, die neben dem größeren Bruder im dunklen Zimmer stand.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Seine ungleichen Augen – das rechte in der Farbe flüssigen Goldes, das Linke Grün wie Jade – weiteten sich. Lilith konnte sehen, wie seine Lippen sich zu einem ungläubigen Laut verformten. Einen Laut, den man sehen, jedoch nicht hören konnte.

»Lilith...?« Seine Stimme klang brüchig, überschlug sich fast, als könnte er kaum glauben, dass sie wirklich vor ihm stand.

Von einer Sekunde auf die andere schlug die Stimmung im Raum schneller um, als eine Uhr ticken konnte. Leander lachte plötzlich laut auf, und bevor sie auch nur reagieren konnte, war er aus dem Bett gesprungen und stürzte sich auf sie.

Blutige Tränen liefen über seine blassen Wangen, während er seine Schwester fest umarmte. Sie beinahe zu Boden warf und so fest an sich drückte, als wollte er sie in sich selbst aufnehmen. Dann riss er sie an der Hüfte in die Höhe wie ein Tänzer, das Gewicht seiner Schwester nichtig unter der eigenen Kraft. Ihr Lachen mischte sich mit seinem, als er sie mühelos im Kreis wirbelte und ihre langen Haare wie ein silberner Schleier um sie herumflogen.

»Ich begann zu glauben, dass du nie mehr zu mir zurückkehrst«, flüsterte er, als er sie schließlich wieder absetzte. Seine Hände krallten sich in ihre Taille und sein Kopf vergrub sich in ihrem Haar.

»Ich bin hier, Leander. Und dieses Mal werde ich bleiben«, antwortete sie sanft, während sie den Arm hob und ihm durch die verknoteten Haare fuhr. Ihre Augen suchten von unten hinauf die Seinen. Er hob den Kopf, ein schwaches Lächeln auf dem Gesicht, das noch von den roten Tränen gezeichnet war.

»Versprich mir, dass du mich niemals mehr so allein lässt.« Leanders ungleichen Augen fixierten sie, suchten in ihrem Gesicht nach dem kleinsten Anflug von Zweifel, nach der kleinsten Lüge.

»Ich schwöre es.« Ihr Lächeln offenbarte ihre Fangzähne, als sie ihre Hand aus seinem Haar nahm und ein symbolisches Kreuz in ihre Brust ritzte, direkt über ihr totes Herz. Nun lächelte auch ihr Zwilling, sodass man auch die Spitzen seiner Fangzähne sah. »Ich bleibe bei dir.« Dann legte sie ihre Stirn an seine.

Louis stand hinter den Zwillingen im Türrahmen, schweigend. Einzig seine dunklen Augen verrieten, dass auch er sich über das Wiedersehen freute, wenn auch auf seine eigene, zurückhaltende Art. Denn er war immer der Älteste gewesen, der, der Verantwortung trug, erwachsener war und wirkte als die Zwillinge. Mit seinen langen, glatten, kohlschwarzen Haaren und schokoladenbraunen Augen, die so viel Wissen in sich bargen, war er der Fels, der Anker in ihrer chaotischen, dunklen Welt.

⋆⋅❖⋅⋆

Lange sprach niemand ein Wort und sie standen still wie ein Gemälde, so wie nur Draugar es konnten. Ein leises Zischen verriet, dass die Kerze erlosch und nur noch das Licht der Nacht erhellte die vereinten Geschwister.

Irgendwann jedoch lösten sich die Zwillinge voneinander und Leander nahm Liliths Hand. Dann zog er sie schweigend mit sich zurück zu seinem Bett, in dem sie problemlos zu dritt Platz gehabt hätten. Es brauchte keine Worte zwischen den Zwillingen, damit sie einander verstanden, egal wie lange sie einander nicht gesehen hatten.

Lilith zog ihre Stiefel aus und stellte diese irgendwo neben dem Bett ab, während Leander bereits durch das Bett krabbelte, um ihr Platz zu machen. Mit einem Lächeln legte Lilith sich auf die Seite und spürte, wie Leander sie von hinten an sich zog. Sie an sich zog wie ein Ertrinkender, der einen rettenden Anker gefunden hatte.

»Ruht friedvoll, kleine Drachen«, erklang Louis dunkle Stimme von der Türe her, bevor er diese hinter sich schloss. Lilith spürte das Seufzen in ihrem Nacken, spürte, wie Leander sie gegen seine Brust drückte, seine kalte Hand auf ihrem Bauch. Sie legte ihren Kopf auf seinen Arm und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren mit dem Gefühl, sicher und zuhause zu sein.

Ewigkeit. …Was für ein Witz

Valérien Théodore Lefevre, der es für gewöhnlich vorzog, wenn der Rest der Welt ihn einfach ›Rien‹ nannte, lag rücklings ausgestreckt auf der Couch und starrte an die Decke. Der Rauch seiner Zigarette waberte durch die Luft und der Geruch mischte sich mit den Gerüchen von Leder und Alkohol zu etwas, das an eine dunkle Eckkneipe erinnerte.

Im Hintergrund lief leise Musik. Der tiefe Bass vibrierte dumpf aus den Lautsprechern, während draußen die Stadt ihre üblichen nächtlichen Geräusche beisteuerte.

He cannot live, neither die in this world, burning sensation inside, you know how that hurts?

Der Text waberte durch den Raum, ohne dass jemand darauf hörte, darauf reagierte. Die kleinen blauen LEDs der Anlage und die Laternen draußen auf der Straße waren das einzige Licht in dieser regnerischen Novembernacht. Auf dem alten zotteligen Teppich mitten im Zimmer lag Dragon, sein Rottweiler, und schnarchte leise. Der einzige treue Begleiter in Riens anhaltender Einsamkeit.

Er war allein, doch er war fast immer allein. Abseits der wöchentlichen Bandproben gab es nichts außer Einsamkeit, die sich zäh, wie ein Lavafluss durch jede Nacht zog. Er blies den Rauch gegen die dunkle Decke, legte die Hand wieder auf der Lehne der Couch ab und griff mit der freien Hand nach der Whiskeyflasche neben ihm auf dem Tisch.

Die Flasche war fast leer, doch seine Gedanken waren immer noch klar und seine Bewegungen fließend. Rien trank einen großen Schluck, die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle. Die Flasche stand unverschlossen, früher oder später wäre sie sowieso leer. Mit einem dumpfen Geräusch stellte er sie wieder auf den Tisch, Glas auf Holz, kein Rhythmus für ein Lied. Die Asche der Zigarette fiel hinter der Lehne der Couch zu Boden, doch das interessierte ihn nicht.

Es war eine von diesen Nächten, in denen die Stunden sich einfach unendlich hinzogen, wie zäher alter Kaugummi oder eine Oper, die niemand wirklich sehen wollte. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal in dieser Nacht oder in diesem Leben, ob die Ewigkeit immer so verdammt langweilig sein würde.

Er schnitt der Dunkelheit eine Grimasse. Seine freie Hand, die wieder auf seinem Bauch lag, spielte die Melodie des Liedes im Hintergrund mit, wie auf den Saiten einer unsichtbaren Gitarre, während er gedankenverloren auf seiner Unterlippe kaute. Seine Fangzähne drückten sich in die blasse Haut, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.

Er hatte vier. Zwei kleinere, direkt neben seinen Schneidezähnen – kaum länger als die übrigen Zähne, aber scharf wie Messer. Und zwei größere direkt daneben, die sich über die unteren Zähne legten, sobald er den Mund schloss. Sie waren nicht weniger spitz als die kleineren, eher noch gefährlicher – mehr wie Skalpelle. Beim Sprechen störten sie ihn nicht, als wären sie schon immer ein Teil von ihm gewesen.

Seit sechs Jahren war er jetzt 17 und seit drei Jahren ein Vampir. Das war jetzt sein Leben, und die meiste Zeit kam er ganz gut damit klar.

Im Gegensatz zu den Vampiren aus Filmen starb er allerdings nicht im Sonnenlicht und Knoblauch machte ihm ebenfalls herzlich wenig aus, auch wenn der Geruch widerlich war. Auf einen Wochenmarkt zu gehen, war die letzten Jahre ziemlich anstrengend geworden. Er konnte schneller laufen als viele Autos fuhren, war stark genug, um diese hochzuheben und es gab nichts, was ihn noch töten konnte. Verletzen ja, töten nein. Es heilte und verschwand, hinterließ nicht einmal Narben. Sein Körper, sein gesamtes Aussehen blieben immer gleich, als wäre er ein Foto an einer Wand. Ein Foto, das immer mal wieder andere Klamotten trug.

Anfangs hatte es kaum etwas Besseres gegeben, als neben der Autobahn herzulaufen und die Sportwagen abzuhängen. Oder am Güterbahnhof die Wagons aus den Schienen zu heben, sich dann zu verstecken und zu beobachten, wie die Bahnmitarbeiter vor einem unlösbaren Rätsel standen. Aber der Reiz des Neuen war irgendwann verflogen. Was ihm geblieben war, war nichts als eine endlose Dunkelheit, die sich durch jede Faser seines Körpers fraß.

»Ewigkeit. ...Was für ein Witz«, murmelte er. Seine Stimme war rau vom Alkohol und seinem langen Schweigen. Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette, während seine Gedanken ziellos umherwanderten.

Nichts Aufregendes war passiert, nicht seit Wochen. Der letzte Auftrag? Ein einfacher Botengang. Etwas von Punkt A nach Punkt B bringen. Rien wusste nicht einmal, was er transportiert hatte und wahrscheinlich war das auch besser so. Nicht fragen, nicht hinterfragen, einfach machen. Das hatte er von Neo gelernt, dem Barbesitzer und Anführer der Unterwelt, der ihm gezeigt hat, wie man sich durch die Schattenwelt bewegte, ohne Spuren zu hinterlassen.

Rien gähnte mehr aus Langeweile als vor Müdigkeit und schloss kurz die Augen. Doch der Gedanke, dass seine Blutkonserven zur Neige gingen, ließ ihn schon seit Stunden nicht los. Er musste bald wieder losziehen. Musste er, wenn er nicht verdursten wollte. Alkohol war auf Dauer nicht genug, leider.

Legal kam er an die Konserven nicht heran. Man konnte eher schlecht irgendwo in einen Laden oder eine Apotheke gehen und solche Dinge bestellen. Doch wie er sich diese Dinge beschaffen konnte, das hatte Neo ihm beigebracht. Auf seine diskrete Art. Es war Routine geworden, so wie alles andere auch. Eine von vielen Routinen in einer Welt, in der Legal eher ein Vorschlag als eine Regel war.

Take me down to a higher ground to survive your mindless sound. If you know all the people, why are you alone? erklang aus den Lautsprechern und er schnaubte, wie gut der blöde Text doch gerade zu seiner Stimmung passte.

Rien nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette im ziemlich vollen Aschenbecher aus. Sein Blick wanderte zu Dragon, der tief und ruhig schlief, völlig unberührt von der inneren Unruhe seines Herrchens.

Valérien musste nicht jede Nacht schlafen, auch wenn er das nach wie vor konnte. Oft war er wochenlang wach. Doch das machte die Ewigkeit auch nicht erträglicher. Er drehte sich auf die Seite und lag einen Moment lang still. Völlig still, wie nur jemand es konnte, der nicht mehr am Leben war. Ließ die Bilder der Vergangenheit vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, wie einen Film, den er schon viel zu oft gesehen hat.

⋆⋅❖⋅⋆

Die Nacht, in er sich alles verändert hatte, würde er niemals wieder vergessen. Sie war in seine Gedanken eingraviert wie die Songs auf einer Schallplatte.

Damals war Halloween. Das war die Nacht, in der Desiree ihm gestanden hatte, dass sie ihn betrogen hatte. Ihr kaltes Lachen, als sie ihm sagte, dass er nie genug gewesen sei, hallte noch immer in seinem Kopf wider. Wie ein Ride-Becken, das niemand nach dem Anschlagen wieder stoppen wollte.

Er erinnerte sich noch verdammt gut daran, wie sie ihn sitzen ließ. Wie sie ihre perfekten blonden Locken zurückwarf und auf ihren hohen Hacken aus der Bar stolzierte, als gehöre ihr die Welt.

Er hatte ihr alles gegeben, was sie wollte. Mehr als er geben konnte. Mehr als er zu geben hatte und es war doch nicht genug, nie genug gewesen. Alles, was sie ihm noch ließ, waren Schmerzen.

Sein Herz brach in tausend Einzelteile und allein die Erinnerung an das Stechen ließ ihn fast heute noch nach Luft schnappen. Damals breitete es sich aus wie ein Feuer. Es war eiskalt und das Schlimmste, was er bis dahin je gefühlt hatte. Der einzige Ausweg, die einzige Flucht vor den Schmerzen, die er an diesem Abend noch gesehen hatte, war, sich zu betrinken.

Der Rest der Nacht lag in einem dichten Sumpf aus Alkohol und Wut. Er wusste nicht mehr, wie er unter der alten Brücke gelandet war. Nur, dass er als Mensch die Nacht zuhause begann und als Vampir am nächsten Morgen dort aufgewacht war. Aufgewacht mit Schmerzen, einem höllischen Kater, klammen Klamotten und keinerlei Erinnerung an die letzten sechs Stunden.

Ein leises Schnauben entwich ihm, als die Erinnerung ihn einholte. Die ersten Tage nach seiner Verwandlung waren seltsam, als wäre er plötzlich in einem Videospiel. Er fühlte sich damals, als hätte jemand die Handbremse gelöst und den ersten Gang eingelegt, um Vollgas zu geben. Es gab nichts, was ihn aufhalten konnte, zumindest glaubte er das anfangs.

Aber mit dieser Macht kam der Durst. Ein unstillbarer, alles verzehrender Durst, der die Gedanken benebelte und ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätte, bevor Neo ihn fand.

»Ein Vampir, hm?« Rien sprach leise in den leeren Raum hinein und drehte sich wieder auf den Rücken, starrte wieder an die dunkle Decke. Als ob die getäfelte Decke irgendwelche Antworten oder Lösungen hätte.

Ja, er hat sich mit dem Gedanken abgefunden. Mit einer Ewigkeit im Schatten. Vampire gehören in den Schatten. Aber manchmal, in Nächten wie diesen, fragte er sich, ob es nicht einen anderen Weg hätte geben können. Einen besseren Weg. Einen Weg ohne Schatten und Verstecken, ohne Lügen und diese unerbittliche Einsamkeit.

Sein Blick fiel wieder auf Dragon, der im Schlaf leise schnaufte, als würde er in einem Traum einem unsichtbaren Gegner nachjagen. Rien seufzte, setzte sich dann doch auf, zog das rechte Bein an und fuhr sich durch sein wildes, blutrotes Haar.

Er hatte es damals nicht zum ersten Mal gefärbt und seit er tot war, war die Farbe einfach geblieben. Ein dunkles Rot, wie frisches Blut oder reife Kirschen. Einfach, weil er seine dunkelblonden Haare damals nicht mehr sehen wollte. Heute würde ihm keiner mehr glauben, dass sie überhaupt je blond gewesen waren. Der Blick seiner sturmgrauen Augen wanderte zum Fenster, hinaus in die regnerische Nacht.

⋆⋅❖⋅⋆

Ein Piepen, eine schnelle kurze Abfolge von grellen Tönen, riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Handy klingelte vibrierend auf dem Couchtisch, ein ziemlich verlässliches rotes Nokia 3210. Ein kleiner Briefumschlag war auf dem grünleuchtenden Display aufgetaucht. Er griff nach dem Telefon, ohne von der Couch aufzustehen oder sich groß zu bewegen, und las die kurze Nachricht.

12 22 6 99

Für die meisten wäre das nur eine willkürliche Zahlenfolge gewesen, doch für ihn bedeutete es einen neuen Auftrag. Ein weiterer Botengang. Dringend.

Er verdrehte die Augen, stand auf, steckte das Handy in seine Hosentasche und zog seine schwarze Lederjacke über, die auf dem Sessel gelegen hatte. Bei denen war doch immer alles dringend. Dringend, sofort, am besten gestern. Allein bei dem Gedanken verdrehte er die Augen nur noch mehr. Dragon schlief weiter, unbeeindruckt. Es interessierte den großen Hund nur selten, wenn sein Herr nachts das Haus verließ.

Rien verließ das Zimmer, ging hinunter in den Flur, zog seine alten schwarzen Turnschuhe an und ging rüber zu dem Unterstand, wo sein rot-schwarzes Motorrad auf ihn wartete. Er hatte sich die große Rennmaschine damals von seinem Taschengeld selbst gekauft, sehr zum Leidwesen seiner Eltern. Bis heute brachte ihn die Erinnerung daran, wie wütend sie reagiert hatten, zum Grinsen.

Ohne auch nur einen Gedanken an einen Helm zu verschwenden, er hatte nicht einmal mehr einen, schwang er sich auf die Maschine. Der Motor brüllte auf und durchbrach dröhnend die Stille der Nacht.

Make me believe that this place isn't plagued by the poison in me, plötzlich war der Textfetzen in seinem Kopf und er wusste nicht, wie er ihn abstellen sollte, wie so oft. Before you can breathe, breathe into me.

Die Musik in seinem Kopf mischte sich mit dem Geräusch des Motors und erzeugte ein Konzert, das nur er verstand, während er durch die nassen dunklen Straßen zu seinem Ziel fuhr.

Ein Morgen, Zwei Leben

Der Morgen dämmerte und beleuchtete zwei denkbar schlecht gelaunte Draugar vergraben unter Kissen und Decken. Es war nicht das Morgenlicht, das den beiden die Laune verdarb. Nein. Es war mehr die Bedeutung des Tages an sich. Heute jährte sich der Tag, an dem sie in ihr ewiges Leben gestoßen worden waren. Heute feierten sie ihren unendlichen Geburtstag.

Ein Jahrtausend und zwei Jahrhunderte waren vergangen, seit sie frischen Atem und fließendes Blut, grüne Hügel und Kinderlachen für das eingetauscht hatten, was sie heute waren. Ihre Herzen hatten aufgehört zu schlagen, doch die Zwillinge waren immer noch da.

Louis hatte ihnen einst diese Chance gegeben, hatte seinen Preis genommen, ohne je zu fragen, ob die Zwillinge bereit waren, ihn zu geben. Ein Leben für die ewige Jugend. Eine Seele für ein Monster.

Lilith lag auf der Seite, eingerollt wie eine Katze, den Kopf auf dem Laken. Jedoch gegen Leanders Brust gedrückt, als wäre er ein Kissen. Sie war schon einige Zeit wach, Geräusche in der Wohnung hatten sie geweckt. Geräusche, die sie auf Anhieb nicht zuordnen konnte und die ihr entschieden auf den Geist gingen. Alles war ihr zu viel an diesem ohnehin schon schwierigen Morgen. Doch sie bewegte sich nicht, bewegte sich überhaupt nicht, als wäre sie aus Stein gemeißelt.

Leander neben ihr lag mehr oder weniger auf dem Bauch, den Arm über ihrem Rücken, als wollte er sichergehen, dass sie nicht wieder verschwand. Auf Anhieb konnte sie nicht sagen, ob er bereits erwacht war.

Ihre Gedanken wanderten durch die Jahrhunderte, ohne sich an einem bestimmten Ort oder Moment festhalten zu wollen. Gesichter, Orte, Freunde, Feinde, alles vergangen, lange her. Leander seufzte plötzlich und öffnete sein grünes Auge, um auf Lilith hinunterzusehen. Er drehte sich ein wenig mehr auf die Seite, ansonsten bewegte er sich nicht. Zumindest jetzt waren die Zwillinge beide wach.

»Wieder ein Jahr älter und doch auf ewig jung«, sprach er leise, seine dunkle Stimme rau vom Morgen, schwer mit den Erinnerungen der Jahrhunderte. Lilith lächelte schwach, offenbarte nur zwei ihrer vier Fänge.

»Ein weiteres Jahr voller Erinnerungen«, erwiderte sie und legte ihre Hand, die zuvor auf dem Laken knapp unterhalb ihres Kopfes gelegen hatte, auf seine Brust. Dorthin, wo sein Herz schon seit Jahrhunderten nicht mehr schlug. Und doch war etwas Vertrautes in der Berührung, die einst so viel bedeutet hatte. Die einst viel mehr bedeutet hatte als kalte Haut und totes Fleisch. Sie waren beide hier, Überlebende einer Zeit, an die sich heute niemand mehr zu erinnern vermag.

In diesem Moment durchbrach ein grelles Blitzlicht Dunkelheit und Stille, dicht gefolgt von einem viel zu fröhlichen: »Alles Gute zum Geburtstag!«

Amelie.

Lilith knurrte leise und zog sich die Decke über den Kopf. Das Blitzlicht mochte die Erinnerungen an die Jahrhunderte vertrieben haben, nicht aber die schlechte Laune. Leander blinzelte verwirrt und fuhr sich mit einer trägen Bewegung durch die zerzausten silbernen und schwarzen Haare.

»Ernsthaft, Amelie… So wünschst du unseren Tag zu beginnen?«, fragte er irritiert, ein leises Knurren in der Stimme.

»Ihr seht so süß aus! Ich musste einfach ein Foto machen!«, rief Amelie begeistert, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Ihrer Lautstärke nach konnte sie nicht weit entfernt sein, höchstens am Ende des großen Bettes.

Liliths Augen verengten sich unter der Decke, doch sie schwieg. Es war nicht das erste Mal, dass ein Wesen so jung wie Amelie sie schon am frühen Morgen reizte – doch gerade heute war es ihr wenig gleichgültig.

»Amelie«, zischte Leander, während er sich aufsetzte. Er zog die Decke mit sich, weg von Liliths Kopf, die Hand jedoch immer noch auf ihrem Rücken. »Hast du gerade wirklich…«

Eine zweite Stimme schnitt durch den Raum – ruhig, dunkel und vollkommen unaufgeregt:»Lass es gut sein, Amelie.«

Louis.

Er lehnte im Türrahmen, die Arme locker verschränkt, die Miene wie aus Stein gemeißelt. Sein Blick ruhte auf Amelie, ohne dass auch nur ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.

»Oh, Louis! Guten Morgen!«, rief sie aus, unbeeindruckt von der Art, wie der Raum in seiner Gegenwart leiser geworden war. Sie hüpfte fast auf der Stelle und schob sich eine fuchsiafarbene Haarsträhne hinters Ohr. »Ich musste das Bild einfach festhalten. Sie haben doch zu ihrem besonderen Tag auch eine besondere Feier verdient, oder nicht?«

Louis ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er schien nicht einmal zu blinzeln, als er schließlich sagte: »Amelie, die Zwillinge schätzen deine Bemühungen. Dennoch… sie hätten es vermutlich vorgezogen, auf eine weniger aufdringliche Art geweckt zu werden.«

Seine Stimme war höflich, unbewegt – so tadellos beherrscht, dass man hätte glauben können, es sei ihm gleichgültig. Doch sein Blick sagte etwas anderes. Das Funkeln in den braunen Augen wirkte, als würde man einen Rubin mit einer Fackel beleuchten – eine Drohung von Gefahr, die keiner einschätzen konnte.

Amelie verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Doch Louis wartete nicht auf eine Antwort. Er wartete überhaupt nie. Sein Schweigen war das Ende der Diskussion. Sie murrte etwas Unverständliches, was sich leise nach Protest anhörte, und stapfte schließlich wenig schwebend hinaus.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, ließen die Zwillinge ihrem Unmut freien Lauf.

»Ist sie immer so … nervtötend?«, knurrte Lilith und vergrub den Kopf wieder in den Laken. Ihre Stimme klang gedämpft, träge, als hätte sie keine Energie übrig, um sich über Amelie aufzuregen. Sie rollte sich auf die Seite, näher an ihren Bruder, weg von der Welt und diesem ekelhaften Tag.

»Es wirkt, als würde sie es genießen, uns zu quälen«, setzte Leander hinzu und fuhr sich erneut durch die völlig zerzausten Haare. Nur kurz nahm er die Hand von Liliths Rücken, legte sie jedoch Sekunden später an exakt dieselbe Stelle zurück – als würde allein diese Geste das Chaos dieses Morgens ordnen können.

Neben dem Türrahmen lehnend hatte Louis nun ein Hauch von Amüsement in den dunklen Augen. Er trat näher, seine Bewegungen ruhig, gemessen, als hätte er alle Zeit der Welt.

»Lasst sie in Ruhe, kleine Drachen«, sprach er sanft. »Sie meint es nur gut. Für sie macht es keinen Unterschied, welche Art von Geburtstag ihr heute begeht.« Er hielt einen Moment inne, ließ seinen Blick über die beiden gleiten, dann lehnte er sich mit verschränkten Armen gegen den großen Kleiderschrank. »Außerdem wäre es schön, wenn ihr heute gute Miene zum bösen Spiel machen könntet.«

Lilith schnaubte. »Louis, mit dem heutigen Tage sind wir zwölfhundert Jahre alt, nicht zwölf.« Sie warf die Decke beiseite, verdrehte die Augen und ließ den Kopf in die Kissen fallen.

»Und trotzdem seid ihr heute die Geburtstagskinder«, erwiderte Louis ungerührt. Er kam ans Bett und fuhr den beiden mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit durch die zerzausten Haare.

»Kommt, kleine Drachen. Es ist nur ein Frühstück. Benehmt euch – später habe ich eine Überraschung für euch.«

»Wie Ihr wünscht, mein König«, erwiderte Leander mit triefendem Sarkasmus.

Louis blieb stehen. Betrachtete ihn für einen Herzschlag lang mit jenem unergründlichen Blick, der jedes Mal auf unerklärliche Weise den Raum schwerer machte. Dann nickte er – langsam, kaum merklich – drehte sich um und schloss die Tür geräuschlos hinter sich.

Lilith schnitt der nun erneut geschlossenen Türe eine Fratze und Leander gluckste neben ihr.

»Komm, lassen wir ihn nicht zu lange warten, bevor er noch befindet, er müsse uns aus dem Bett zerren«, meinte Leander schließlich und setzte sich endgültig auf.

»Du meinst, wie zu unserem eintausendsten Geburtstag?«, fragte Lilith mit einem schiefen Grinsen zurück und setzte sich ebenfalls hoch.

Damals hatte ihr großer Bruder sie am Ende wortwörtlich an den Füßen aus dem Sarg gehoben, in dem sie seinerzeit nächtigten. Das war zu der Zeit, als sie komplett in der Dunkelheit gelebt hatten, in Mausoleen und auf Friedhöfen, fernab von Menschen und Wesen.

»Ich habe die Narben seiner Nägel noch fünfzig Jahre lang getragen«, gab Leander zurück, stand auf, ging hinüber und öffnete seinen Kleiderschrank.

Dieser war gefüllt mit einer großen Ansammlung edler Kleidung, Hemden, Gehröcke, passenden Hosen, Gürtel, Schmuck und sogar der ein oder andere Hut. Die Männer in Liliths Leben nächtigten schon seit Lammas vor vier Jahren in Amelies Zuflucht. Daher war es wenig verwunderlich, dass ihr Zwilling eine größere Auswahl an Kleidung vorrätig hatte, als man sie für einen Kurzbesuch einpacken würde.

Lilith zog die Beine an und beobachtete ihren Bruder dabei, wie er sich für eine enge schwarze Hose aus dunklem Stoff und ein rotes Hemd mit gerüschter Verzierung entschied, welches er oben in die Hose steckte. Seine Hand als Bürste nutzend richtete er seine wilden Haare und fixierte sie mit seinen ungleichen Augen wie ein Jäger seine Beute.

»Wünschst du deinen Geburtstag im Nachtgewand zu verbringen?«, fragte er dann und Lilith lachte leise. Sie trug noch das schlichte, graue Kleid von ihrer Reise und keinesfalls ein Nachtgewand, doch sie hatte den Wink mit dem Laternenpfahl sehr wohl verstanden.

»Keineswegs.« Dann stand sie auf und ging hinüber zu dem Seesack, den Louis am Vortag mit ins Zimmer gebracht hatte. Sie stülpte ihn auf links. Unmengen an Stoff und einige Bücher verteilten sich auf dem Boden. Daraus fischte sie ein Kleid in derselben Farbe wie Leanders Hemd.

Es war unaufgeregt, hatte einen eckigen Ausschnitt, lange, enganliegende Ärmel und einen schlichten Rock. Als einzige Verzierung galt ein breiter schwarzer Gürtel mit silbernen Verzierungen und einer silbernen, verschnörkelten Schnalle, die jedoch nicht aus Silber gefertigt war, sondern aus Platin. Draugar und Silber vertrugen sich nicht.

»Wunderschön wie immer, Prinzessin der Drachen«, lächelte Leander, der seine Schwester keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Es war ihr nicht unangenehm, wenn er ihren Körper sah, da war nichts, was er nicht kannte.

Sie nahm zwei etwa fingerbreite Strähnen oberhalb ihrer Ohren zurück und band diese mit einem schlichten schwarzen Haarband an ihrem Hinterkopf zusammen, sodass ihre Ohren zum Vorschein kamen. Darin hingen kleine schwarze Ringe aus Metall, die sie bereits am Vortag getragen hatte. Schlichte, schmale Ohrringe aus Edelstahl, welche sie sich vor sicher zwanzig Jahren in einer Stadt im Osten Europas gekauft hatte.

»Dies Kompliment kann ich nur erwidern, Prinz Drachenherz«, zwinkerte sie und warf den Rest der langen Haare über ihre Schultern.

Leander bot ihr den Arm. »Darf ich bitten?«

»Du darfst.« Mit diesen Worten hakte sie sich bei ihm unter und sie verließen sein nach wie vor ziemlich dunkles Zimmer. Doch welcher Draugr braucht schon Licht im Dunkeln?

Leander schloss die Türe hinter ihnen und gemeinsam gingen sie den am frühen Morgen schon recht hellen Flur hinunter. Ob das nun an der Einrichtung oder dem elektrischen Licht lag, vermochte sie nicht zu entscheiden.

⋆⋅❖⋅⋆

Nur kurz darauf fanden sie sich im Esszimmer vor einem Bild wieder, das weder zu ihnen noch ihrer Welt passen wollte.

Ein bunt dekorierter Tisch überquellend mit farbenfrohen Eierpfannkuchen, Früchten aus aller Herren Länder, sogar einem Kuchen und bunten kleinen Aerostaten – wenn sie sich recht entsann, hieß das heutzutage Luftballon – erwartete die Zwillinge. Alles war bunt und fröhlich, wie für ein Menschenkind und Lilith war versucht, die Augen zuzukneifen.

Sie spürte, dass nicht nur ihr Körper sich unangenehm verspannt hatte. Wenn die beiden sich in all den Jahren je irgendwo fehl am Platz gefühlt hatten, dann war es hier. Louis dunkle Augen ruhten auf den jüngeren Geschwistern, abwartend, doch auch leicht fordernd. Er war aufgestanden, als die beiden den Raum betraten. Ein Edelmann erhebt sich, wenn eine Dame den Raum betritt.

»Das ist wirklich sehr … farbenfroh, Amelie«, schaffte Leander sich abzuringen.

»In der Tat, sei bedankt für deine Mühen«, fügte Lilith hinzu und die Zwillinge setzten identische, nicht ernst gemeinte Lächeln auf. Ein diplomatisches Lächeln, wie man es als Königskind gelernt hat. Leander zog einen der Stühle hervor und schob ihn zurück, als Lilith darauf Platz nahm. Dann setzte er sich daneben.

Louis setzte sich ebenfalls wieder und saß den beiden nun gegenüber, seine dunkle, edle Kleidung ein starker Kontrast zu Tisch, Dekoration und der ebenso bunten Amelie – mit ihren fuchsiafarbenen Haaren, dem Kleid in Regenbogenfarben und den pastelligen, regenbogenfarbenen Feenflügeln aus Stoff auf ihrem Rücken. Es war alles so falsch, so bunt und unpassend, dass es einen fast ansprang wie ein Frosch.

Die Zwillinge saßen hoch aufgerichtet, steif und gerade, wie auf einem Gemälde. Sie konnten nicht essen und tranken nur höflich etwas aus den Bechern, die auf dem Tisch standen. Lilith hatte den Verdacht, dass Louis dafür gesorgt hatte, dass sich verdünnter Wein in diesen Gefäßen befand. Bunte Gläser mit geschnörkelten Mustern, die die Farbe des Inhaltes entstellten. Amelie gehörte zu denjenigen unter den ihrigen, die essen konnten und so tat sie es mit anscheinend großem Appetit. Auch Louis vertrug kein menschliches Essen und saß daher entspannt, sein ebenfalls buntes Glas in der Hand, an einem Ende des Tisches.

Mit der Eleganz und Autorität, die nur der Sohn eines Königs ausstrahlen konnte, erhob sich Louis nach einigen Minuten angestrengten Schweigens, hob das Glas und begann zu sprechen. Seine Worte waren durchdacht wie immer und wohlformuliert. Voller Zuneigung, Stolz und einer leichten Melancholie, die nur jemand mit einem so langen Leben verstehen konnte.

»Eintausendzweihundert Jahre«, begann er. »Ein Leben voller Höhen und Tiefen, voller Schlachten und Frieden, voller Wandel und Konstanten. Doch in all dieser Zeit gibt es eines, das sich nie geändert hat: unsere Familie.«

»Hört, hört«, grinste Leander und hob sein Glas zum Gruß. Louis’ Blick wanderte zwischen Lilith und Leander hin und her.

»Der heutige Tag markiert einen weiteren großen Schritt in der Welt, die wir die Unsere nennen. Ein Meilenstein, der gewürdigt sein will. Daher schenke ich euch heute etwas, das wir schon lange nicht mehr besaßen – ein Zuhause.«

Mit diesen Worten holte er zwei Schlüssel aus seiner Tasche und legte sie behutsam vor den Zwillingen auf den Tisch. »Unser Haus ist bezugsfertig, wir können wieder zurück. Von heute an werden wir in unserer eigenen Zuflucht sein, ein Zuhause haben. Einen Ort, der nur uns gehört und der gemeinsam mit uns die Ewigkeit überdauert.«

Liliths Augen glitten über den Schlüssel, während sie sanft mit den Fingern darüberfuhr. Es war ein altmodischer Schlüssel aus vergoldetem Metall mit einem reich verzierten Griff und einem aufwendigen Bart.

Ein Zuhause – das war etwas, was sie schon viele Jahre nicht mehr besessen hatte. Leander sah zu Louis und dann zu seiner Schwester. Es brauchte keine Worte der Dankbarkeit, um dem Älteren zu zeigen, was die Zwillinge in diesem Moment empfanden.

Der Rest des Frühstücks verlief relativ schweigsam. Amelie hatte, wohl aus reiner Höflichkeit, nach einigen alten Geschichten gefragt und einige knappe Antworten erhalten. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie nicht sonderlich begeistert von den wenig ausführlichen Antworten. Die Zwillinge sprachen, rein aus Höflichkeit, von sich aus nicht. Auch nicht in ihrer Muttersprache, auch wenn sie beide mehr als versucht waren, sich ausgiebig über das viel zu bunte Frühstück zu beschweren.

⋆⋅❖⋅⋆

Das Frühstück galt als beendet, als Louis sich erhob, die Zwillinge zeitgleich mit ihm. Eine alte Angewohnheit, die sie nicht abstellen konnten.

»Wir brechen in einer Stunde auf«, war alles, was Louis sagte, als er den Raum verließ. Die Zwillinge neigten nur den Kopf, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatten. Dann gingen auch die beiden zurück in das Zimmer, in dem Leander geschlafen hatte. Lilith kniete sich auf den Boden und begann, ihre Kleider unzeremoniell wieder in den Seesack zu stopfen.

»Dir ist bewusst, dass sich die Ghule darum kümmern werden, oder? Wir brauchen keinerlei Dinge selbst zu tragen«, erinnerte Leander seine Schwester mit einem belustigten Funkeln in den ungleichen Augen, während er sich auf das Ende seines Bettes setzte. Sobald die zwei allein waren, sprachen sie kein Französisch mehr, auch wenn sie die Sprache fast akzentfrei beherrschten.

»Nun, über vierzig Jahre lang, war der einzige an meiner Seite Adeon«, gab Lilith zurück und stopfte weiter Kleider in ihren Seesack.

Wie aufs Stichwort erschien eine schwarze Katze mit leuchtenden blauen Augen aus dem Schatten des Kleiderschrankes. Das miauende Geräusch klang etwas verzerrt, wie durch Wasser, als das schwarze Tier seine Schritte lautlos zu Leander lenkte. Der Draugr lächelte und streckte seine Hand nach dem Schattenwesen aus.

»Sei gegrüßt alter Freund.« Der katzenförmige Schatten gab seine Form auf und wand sich um Leanders Arm herum, wie eine Schlange aus Schatten mit glühenden blauen Augen.

Leander lachte leise und hob den Arm auf seinen Schoß, wo die Schlange wieder zu einer Katze wurde, die sich auf seinem Schoß einrollte und dort verweilte.

»Ach, bevor es mir noch völlig entfällt, ich soll dir Grüße von Vladislaus ausrichten«, sagte Lilith nach einigen Minuten und verlegte sich darauf, statt auf den Knien im Schneidersitz zu sitzen. Ihre grüngoldenen Augen fixierten ihren Bruder, der auf dem Bett sitzend den Schatten streichelte, als wäre er eine echte Katze.

»Du warst in Transsylvanien?«, fragte Leander und hob eine schwarze Augenbraue.

»Ja, vor etwa fünfzehn Jahren«, antwortete Lilith und strich sich eine lose Strähne hinter das Ohr.

»Und? Residiert er immer noch auf dem Schloss im Moor und lässt sich Jungfrauen von der Bevölkerung bringen, die seinen Zorn fürchtet?«, fragte er weiter und begann zu grinsen.

»Darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte sie und die Zwillinge begannen zu lachen. Ein unwirkliches Lachen, ein kaltes Lachen. Es war nichts Menschliches an diesem Geräusch, das selbige in die Flucht schlagen würde.

Das Dämmerhaus

Auf den Zeigerschlag genau eine Stunde später, klopfte ein Ghul an Amelies Wohnungstüre. Er verneigte sich tief, als er höflich in der Türe zu Leanders Zimmer stehen blieb.

Dieses Exemplar hatte noch all seine Haut auf den Knochen, er war wohl extra dazu gedacht, sich unter Menschen bewegen zu können. Wenn auch seine Haut ein wenig gräulich war und seine Augen aussahen, wie die eines toten Fisches.

»Unser Lord wünscht, dass wir aufbrechen«, sprach er mit einer Stimme, als hätte er Wasser im Mund. Es war nicht leicht, ihn zu verstehen, doch Lilith war daran gewöhnt solche Wesen um sich zu haben. Sie hatte gelernt, deren Genuschel zu entziffern.

»Sag unserem Bruder, er soll uns unten erwarten«, sprach Leander mit einer gewissen Autorität in der Stimme. Einer Autorität, die nur jemand hatte, der es seit Ewigkeiten gewohnt war, Befehle zu geben. Der Ghul verneigte sich erneut und schlurfte davon. »Na dann, auf in die Schlacht.« Mit diesen Worten erhob Leander sich vom Bett. Lilith hatte die ganze Zeit auf dem Boden gesessen. Adeon wehte von Leanders Schoß herunter und landete als Rabe auf seiner Schulter. Sein Krächzen klang dumpf und er flatterte mit den Flügeln.

»In der Tat, alter Freund, wir sollten unseren Bruder nicht warten lassen«, erwiderte Lilith, obwohl der Schatten keiner für sie verständlichen Sprache mächtig war. Leander schnaubte belustigt und bot seiner Schwester erneut den Arm. Wieder hakte sie sich bei ihm unter, als sie das Zimmer verließen.

Im Flur stoppten die Zwillinge neben der Garderobe. Tarnung war das halbe Leben, heutzutage noch bedeutend mehr als früher. Leander nahm den Mantel von der Garderobe und hielt ihn seiner Schwester hin. Es war ein schlichter schwarzer Mantel aus dickem Stoff mit einer großen Kapuze, der ihr bis an die Knie fiel. Er half ihr hinein und zog dann seinen eigenen über. Ebenfalls schwarz und knielang, jedoch ohne Kapuze.

Adeon bewegte sich nicht, der Stoff des Mantels glitt durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da. Dann hakten die Zwillinge sich wieder beieinander unter und verließen die Wohnung und Amelie ohne einen letzten Blick zurück.

Drei weitere Ghule schlurfen in der Wohnung hin und her und packten die verstreuten Habseligkeiten derer von Drekihjarta zusammen.

Ursprünglich war das nicht der Nachname der Zwillinge gewesen. Geboren wurden die beiden einst ohne einen Nachnamen, sie waren nur die Kinder des Rhys, des Herrn von Anglesey. Es war der Beiname von Louis, den er an sie weitergegeben hatte, als er ihnen die Ewigkeit schenkte. Drekihjarta bedeutet Drachenherz.

Louis hatte sein eigenes Gefährt, ein großes, schwarzes Automobil mit getönten Scheiben, komplett mit einem Chauffeur und allem, so wie es seinem Stand entsprach. Die Zwillinge ihrerseits fuhren gemeinsam mit Leanders Wagen. Dass die beiden rein rechtlich gesehen in der heutigen Zeit nicht alt genug dafür waren, interessierte sie wenig und auch sonst niemanden.

Kutschen ohne Pferde. Licht ohne Flammen. Stimmen aus kleinen, leuchtenden Kästen. Lilith hatte sich an vieles gewöhnt, doch manches erschien ihr immer noch absurd. Die Zeit raste schneller als je zuvor. Elektrizität war nützlich, aber oft auch lästig – kalt, grell, aufdringlich. Wozu all das? Was war so falsch an Kerzen, die warmes Licht spendeten, an Stille, die nicht ständig von mechanischen Geräuschen durchbrochen wurde? Ändern konnte sie es jedoch nicht, wollte sie eigentlich auch nicht. Ihre Zeit stand still und würde immer stehen bleiben.

Die Marke von Leanders Auto hätte sie niemandem sagen können, das interessierte sie nicht. Es war grün und es war schnell, was muss man denn noch wissen? Während der Fahrt sah sie gedankenverloren aus dem Fenster, während Adeon sich als Schal um ihren Hals knotete.

Das schwarze Etwas war keinesfalls ein Vogel, noch eine Katze oder ein Kleidungsstück. Adeon war ein Mimik, ein alter Geist, der schon seit über elfhundert Jahren an der Seite der Zwillinge war. Seit dem Tag, als sie Wales damals verließen, als sie kein Zuhause, keine Zuflucht mehr hatten.

⋆⋅❖⋅⋆

Nach einer Fahrt von wenigen Minuten durchfuhr der grüne Wagen ein großes Tor aus Schmiedeeisen und ihr Blick fiel auf den Ort, den sie lange nicht gesehen und so nicht in Erinnerung hatte.

Das große Herrenhaus war alles, was sich jemand wie sie hätte wünschen können. Ein düsterer, von gotischen Zeiten inspirierter Rückzugsort, der perfekt zu ihrem Wesen passte. Es lag etwas zurück von der Straße, hinter einem Vorplatz aus Stein und großen geformten Hecken, hinter einer hohen Mauer mit dem Tor aus Metall.

Die Fahrzeuge konnten in einem großen steinernen Nebengebäude trocken stehen, wie eine Scheune für Automobile. Früher einmal standen dort Kutschen und Pferde, doch die Tiere waren lange fort.

Mitten im Hof, aus Beeten mit dunklen Blumen und dunklem Stein, stand ein großer steinerner Brunnen. Auf dessen Spitze spuckte ein dunkler, marmorner Drache mit ausgebreiteten Flügeln, hoch aufgerichtet, Wasser in endlosen Fontänen.

Hinter dem Haus mit zwei Stockwerken und einem nutzbaren Obergeschoss lag ein großer Garten voller alter, knorriger Bäume, verwinkelter Wege und sogar einem Teich. Das Haus lag in ewigem Dämmerlicht, erzeugt durch die hohen Bäume und Mauern und hatte sich damit schon vor Jahrhunderten den Namen ›Dämmerhaus‹ bei den Zwillingen verdient. Vom Verfall und Zahn der Zeit war nichts mehr zu sehen, als wäre die Zeit des Hauses zurückgedreht worden und nun ebenso gefroren wie die ihrige.

Auch im Inneren blieben für die aus der Zeit gefallenen Zwillinge keine Wünsche offen. Hohe Decken, massive schwarze Holzmöbel, schwere Vorhänge, die das Licht aus jedem Raum ausschließen konnten, so sie es wollten.

An den Wänden hingen alte Gemälde und Relikte aus längst vergangenen Zeiten. Dinge, die sie oft selbst gesammelt haben. Es roch nach Leder, nach dunkler Magie und altem Papier, und der dunkle, marmorne Kamin im großen Gemeinschaftszimmer sorgte für ein warmes, heimeliges Licht.

Lilith ließ ihre Finger über einen der hölzernen Tische gleiten, während Leander bereits begonnen hatte, einige seiner Habseligkeiten in sein neues Schlafgemach bringen zu lassen. Keiner der beiden musste hier nur einen Finger krümmen. Sie fühlte sich hier sofort daheim. Kein Vergleich zu dem grellen, menschlichen Morgen, den sie hinter sich hatten.

»Das ist ... perfekt«, flüsterte sie fast ehrfürchtig, als Leander neben ihr auftauchte. »Endlich ein Ort, der wirklich uns gehört.«

»Es wurde auch Zeit«, murmelte er und lehnte sich mit einem leichten Grinsen gegen die Wand.

Hierhin gehörten die beiden, hierher passten die beiden. Hier fielen ihre Kleider nicht auf, hier gehörten sie dazu. Hier gab es kein elektrisches Licht und grelle Farben, jedoch auch keinen Verfall und keinen Geruch mehr nach Modder und schwindender Zeit.

»Komm, ich zeige dir deine Kemenate.« Leander bot seiner Schwester die Hand. Mit einem leichten Lächeln nahm sie diese und folgte ihm die Treppe aus dunklem Holz und blutrotem Teppich hinauf. Die Schritte ihrer Stiefel waren lautlos, als sie den Gang entlang gingen, der ebenfalls mit dem dunklen Teppich verziert war.

Auch auf der nächsten Etage gab es viele Türen, Dunkelheit und Geheimnisse. Die große Treppe führte durch alle Etagen, wobei das oberste Stockwerk früher nur ein einzelner Raum gewesen war. Ein Raum, den alle drei so nutzten, wie sie es gerade wollten.

Liliths neues Reich lag am Ende eines Ganges der mittleren Etage auf der rechten Seite. Die Tür aus schwarzem Holz unterschied sich kaum von den anderen im Haus. Doch dahinter erstreckte sich ein großzügiger Raum, in dem dunkles Ebenholz dominierte.

Das große Bett stand an der linken Wand, mühelos groß genug für drei Personen. Sein hohes, kunstvoll geschnitztes Kopfteil zeigte eine Drachenschlange, die sich mit Efeu umrankte. Direkt darüber fiel ein Baldachin aus violettem Samt und schwarzer Spitze sanft herab, während Kissen und Decken in denselben Farben das Bett bedeckten. Neben den Kopfenden ruhten zwei Nachttische mit kleinen Krallenfüßen, ihre Schubladen schimmerten matt im Feuerschein.

Die Wände waren oben und unten mit Holz vertäfelt, dazwischen spannte sich lavendelfarbene Seidentapete. Gegenüber dem Bett war ein Kamin aus schwarzem Marmor eingelassen, in dem ein lebendiges Feuer prasselte. Darüber hing ein Gemälde in einem schwarzgoldenen Rahmen – eine stürmische Klippe, auf der eine ausladende Eiche stand. Eine Erinnerung an ihre Heimat, an den Ort ihrer Geburt.

Weitere Möbel vervollständigten das Bild: ein großer Kleiderschrank mit Drachenklauen als Füßen, eine reich verzierte Truhe, in der sie einst selbst geschlafen hatte, und ein Tisch mit einem Lehnstuhl, dessen violettes Polster im Kerzenlicht schimmerte. Die breite Fensterbank lud zum Verweilen ein und bot einen Blick auf den Garten mit seinen knorrigen Bäumen und dem stillen Teich.

Neben der Tür hingen zwei weitere Gemälde. Eines zeigte einen braunen Wolf mit glühend grünen Augen in einem dichten Fichtenwald – eine Momentaufnahme ihrer ersten Begegnung mit ihm. Das andere war ein über tausend Jahre altes Porträt von ihr selbst. Sie erinnerte sich noch an den irritierten Maler, der nicht fassen konnte, wie lange und regungslos sie hatte stehen können.

»Wessen Einfall ist es gewesen, das dorthin zu hängen?«, fragte sie und wandte sich von dem Bildnis ihrer Selbst ab.

»Du darfst gerne dreimal raten«, antwortete Leander und besah sich das Gemälde ebenfalls. Lilith verdrehte die Augen.

»Das möchte ich hier nicht haben. Es kann gerne in einem der Gemeinschaftszimmer hängen, aber nicht hier«, befand sie und wandte sich resolut von dem Bild ab.

»Das lässt sich veranlassen«, meinte Leander nur und zog an einer Kordel aus schwarzem Samt, die neben ihrer Türe hing. Nur wenig später stand einer der Ghule in der Tür. Ein weibliches Exemplar, mit dreckigem blondem Haar und Haut, die zu klein für die Knochen schien.

»Entferne mein Bildnis aus meinem Gemach und tausche es mit einem der Bilder in unserem Gemeinschaftsraum aus«, befahl Lilith, ihre Stimme kühl, doch nicht abweisend.

»Wie Mylady wünscht«, verneigte sich der Ghul. »Wünscht Mylady ein bestimmtes Gemälde als Ersatz?«

»Nein, such eines der Landschaftsbilder aus«, antwortete sie. Der Ghul nickte, hing das Bild ab und schlurfte davon. Sie wollte es hier nicht sehen, warum sollte sie auch ein solches Bildnis in ihrem Gemach wollen? Die Zwillinge sahen dem Ghul nicht nach. Leander kicherte leise, doch Lilith fragte nicht, was ihn so amüsierte.

»Ich lasse dir Zeit, dich frisch zu machen. So wie ich unseren Bruder kenne, hat er für den Abend noch einen Ball zu unserem besonderen Tag geplant«, meinte Leander dann und neigte den Kopf, bevor er die Zimmertüre hinter sich schloss. Adeon folgte ihm lautlos hinaus, als formloser Schatten durch das Schlüsselloch.

Lilith ging mit lautlosen Schritten durch ihr Zimmer und blieb vor einem der großen Fenster stehen. Sie würde sich frisch machen, sobald der Ghul ein neues Gemälde gebracht hatte. Sie hatte Zeit, sie war zuhause. Zuhause, endlich hatte sie wieder ein Zuhause.

Théâtre de Noir

Als die Sonne versank, kehrte die Dunkelheit zurück und mit ihr das wahre Wesen der Zwillinge. Louis führte seine Schützlinge durch alte Straßen und dunkle Gassen an einen geheimen Ort. Ein Ort, der nur Wesen zugänglich war, einem Musikzirkus, den kein Mensch jemals betreten würde. Von außen unscheinbar und, allem Anschein nach, ein verlassenes Theater, das keine Stücke mehr spielte. Ein vergessenes Gebäude in einer Seitenstraße Avignons.

Das Théâtre de Noir war so alt wie die Stadt selbst und seit jeher ein Ort der Dunkelheit. Im Inneren des großen Gebäudes gab es keine Regeln, keine Hemmungen, nur die Freiheiten der Nacht. In der Luft waberte der Geruch von Blut und alten Geheimnissen, von alkoholhaltigen Getränken und altem Stoff.

Der hölzerne und steinerne Boden vibrierte mit der dunklen Musik und überall feierten Draugar, Werwölfe und alle Wesen der Nacht in einem wilden, zügellosen Chaos.

Lilith trug ein blutrotes, bodenlanges Kleid mit enganliegenden Ärmeln und einer Schleppe, überzogen von schwarzer Spitze, die ihre helle Haut wie weißen Marmor schimmern ließ. Der Ausschnitt war tief, doch bedeckt mit schwarzer Spitze, die sie hoch, wie ein Kropfband schloss. In der Mitte, direkt über ihrem Sternum, klaffte ein tropfenförmiger Ausschnitt, fein umrandet, als hätte man das Dunkel gezielt eingerahmt. Dort ruhte nichts – nur nackte Haut, wie ein Versprechen, ein Fokus.

Neben ihr wirkte Leander in seinem schwarzen Gehrock mit roten Akzenten wie ein Prinz der Dunkelheit, dessen Eleganz durch die Jahrhunderte gereift war. Sein Hemd, in demselben tiefen Rot wie ihr Kleid, war mit feinen Verzierungen versehen, die perfekt mit seinem Gehrock harmonierten – eine königliche Erscheinung, passend für einen Herrscher der Nacht und der Drachen. Die obersten drei Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet, gerade so weit, dass man die goldene Kette sehen konnte, die seinen Hals schmückte – daran hing ein rubinroter Tropfen, exakt dort, wo Liliths Spitze ausgeschnitten war. Wie zwei Hälften desselben Gedankens.

Beide trugen Schmuck, der ihren Stand und den Anlass unterstrich. Liliths langes, silbernes, mit schwarzen Strähnen durchzogenes Haar war kunstvoll geflochten, und auf ihrer Stirn ruhte ein goldener, verschnörkelter Reif mit einem ovalen, blutroten Stein. Dasselbe Schmuckstück zierte auch Leanders Stirn, doch seines war schlichter, ohne Stein, nur ein sich ewig windender keltischer Knoten.

Liliths Schmuck war ebenso alt wie sie selbst: goldene Armreifen, filigrane Perlen in ihrem Haar und tropfenförmige Ohrringe mit rubinroten Steinen – ein zeitloses Erbe, das ihre jahrhundertelange Existenz widerspiegelte.

Inmitten der Feierlichkeiten verschwand die Grenze zwischen Menschlichkeit und Bestie, zwischen Neuzeit und Vergangenheit.

»Til hamingju, systir«, murmelte Louis und hielt ihr ein Glas mit tiefrotem Blutwein entgegen. Ein Gruß in der alten Sprache, eine Erinnerung an eine ferne Zeit. Lilith nahm das Glas und lächelte, eine leichte Melancholie in ihren Augen.

Sie standen gemeinsam am Rand der großen Tanzfläche, während Leander bereits mitten unter den Feiernden war. Er lachte und tanzte, war in seiner eigenen ekstatischen Welt. Für gewöhnlich war es Lilith, die niemals stillstand, doch noch stand sie still da. Jedoch nicht lange, die beiden waren Zwillinge.

Sie folgte ihrem Bruder nur kurz mit ihrem Blick, nickte dem Älteren zu und verschwand selbst in der geheimnisvollen Atmosphäre des Theaters.

Jede Ecke hier erzählte ihre eigene dunkle Geschichte, hatte ihre eigenen Geheimnisse, die so alt waren, wie die Zeit selbst. Die Schatten der Gäste tanzten an den Wänden mit ihnen um die Wette. Wände, die einst von Gold verziert waren und heute von der Zeit gezeichnet.

In dunkleren Ecken standen kleine und größere Gruppen von Wesen, vertieft in Gespräche und Gesang. Ein Werwolf mit abgetragenem Mantel – für sie vor allem erkennbar am Geruch nach Moos und nassem Hund – stand vor einer Statue, die einen Engel zeigte. Die Flügel waren gebrochen, das Gesicht halb verwittert, die Züge nicht mehr zu erkennen. Dennoch hob der Wolf sein Glas und prostete dem steinernen Bildnis zu, als sei es ein alter Freund.