Schattenkind - Mo. Moser - E-Book

Schattenkind E-Book

Mo. Moser

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Beschreibung

In einer stürmischen Nacht, beobachten Jim und Henry, wie ein Blitz auf einem hügeligen Berg in eine uralte Eiche einschlägt, die dadurch sofort Feuer fängt. Als sie am nächsten Tag die Stelle untersuchen, entdecken sie, dass durch den Einschlag der Eingang zu einer Höhle freigelegt wurde. Da der Eingang, wie es scheint, bodenlos in die Tiefe führt, beschließen sie mit einer Taschenlampe, einem Rucksack und einem Seil ausgerüstet zurückzukehren, um die Höhle zu erkunden. Als Jim in die Höhle hinabsteigt, entdeckt er keinen der erhofften Schätze, die sie sich in ihrer jugendlichen Phantasie eingebildet haben, sondern etwas völlig anderes: Das Skelett eines Kindes. Er trifft die verhängnisvolle Entscheidung, heimlich dessen Totenkopf in seinem Rucksack zu verstauen und mit nach Hause zu nehmen. Zunächst scheint seine Tat keine Konsequenzen nach sich zu ziehen, bis ihm in der Nacht der Geist des Kindes erscheint…

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2015

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1. Jim und Henry

Sommer, 1973.

Es war ein seltsamer Nachmittag, als Jim von der Schule nachhause lief. Die Sommerferien lagen vor ihm und ihn durchströmte ein ungeheueres Gefühl von Freiheit. Unendliche Weiten, wie in Raumschiff Enterprise. Die einzige Serie, die er begeistert verfolgte. Wobei man sagen muss, dass auch sonst nicht viel Besonderes lief. Die Programmauswahl war zu seiner Zeit noch sehr überschaubar und das Meiste, für Kinder ziemlich langweilig. Der Flower Power, das Feeling der USA Hippies, schien gerade langsam über den großen Teich zu schwappen, wovon er aber nichts wusste, und dennoch spürte er eine Stimmung, die in ihrer Lebendigkeit in aufregender Weise von ihm Besitz ergriff. Wie ein kollektiver Geist voll menschlicher Wärme und losgelöster Anarchie, die sich über alle eingestaubten Regeln hinwegsetzt. Ein Geist, der nicht fassbar, aber spürbar war und alles durchdrang. Jim hatte ein Gefühl, als bräuchte er nur noch die Arme ausbreiten, um auf dem Wind zu fliegen und wie ein Adler über alle Grenzen hinweg zu segeln. Unendliche Weiten. Ja, - das war`s.

Er lief an der kleinen Häuser Siedlung vorbei, die der lang gezogenen, etwas bergauf liegenden Nebenstraße nach dem Dorf mit seiner Schule folgte, als jemand seinen Namen rief. „Hey Jim, du alte Schlafmütze, wieso warst`n nicht beim Bus?“ Henry, Jims bester Freund, kam an den Gartenzaun gerannt und trug immer noch sein typisches „ich bin ja so brav Hemd“, samt brauner Kordhose mit passender Bügelfalte, das er stets in der Schule trug. Er hatte wie so oft, einen leicht sorgenvollen Blick, der alles viel zu ernst nahm und den er irgendwie von seiner Mutter geerbt hatte. Auch wenn Henry nichts dafür konnte, manchmal nervte es Jim. „Musste nachsitzen“, grinste Jim und fuhr sich durch seine braunen, halblangen Wuschelhaare, die, dafür das sie immer so aussahen, als wäre er gerade aufgestanden, ihm unglaublich gut standen. „Wie hast´n das geschafft?“ Fragte Henry und rutschte sich seine Brille zurecht. Eine Angewohnheit, die Henry auf Jim wirken ließ, als wäre er ein Arzt, der seinem Patienten seine Diagnose mitteilt. War Henry mit seinen dreizehn Jahren auch ein Jahr jünger wie er, wirkte er in manchen Momenten auf ihn wie siebzig. Dazu kamen noch seine akkurat geschnittenen, kurzen, schwarzen Haare, die so wirkten, als würden sie nie wachsen, weil seine Mutter ihn alle zwei Wochen zum Friseur schleppte und sein schmal geschnittenes Gesicht. Ein weißer Arztkittel, und das Bild wäre perfekt. „Wollte der alten Schobert noch einen Abschiedsgruß hinterlassen“, sagte Jim und grinste noch breiter. „Schöner fetter Kaugummi, gut anvisierte Schleuder und freie Schussbahn, aber ich fürchte, der Schuss war wohl doch etwas zu kräftig. Jedenfalls fasste sich die blöde Tante in ihre fetten Lockenhaare und obwohl ich meine Schleuder sofort weggepackt hab, kam sie trotzdem auf mich. Weiß auch nicht warum“, endete Jim und seine leuchtenden, blauen Augen sprachen Bände. Henry kratzte sich nachdenklich am Kopf und bedachte Jim mit einem vorwurfsvollen Blick. „Na, bessere Noten kriegst du damit aber nicht“, sagte er in einen fast schon strengen, tadelnden Ton. Jim verbesserte sich in Gedanken. Oberarzt, - neunzig! Er schüttelte den Kopf. „Ist mir doch egal. Das einzige blöde ist, das sie mir die Schleuder weggenommen hat.“ Jim schien sich kurz zu ärgern, doch dann musste er lachen. „Aber dafür hat sie mit dem Kaugummi gekämpft und ihre ganze Frisur zerzaust, aber raus bekommen hat sie ihn nicht. Und bessere Noten krieg ich von der sowieso nicht, selbst wenn du meine Arbeiten schreibst. Die konnte mich von Anfang an nicht leiden.“ Jim musste zwangsläufig an ihren entsetzten Blick denken, als sie ihn das erste Mal sah. Wie sie ihn regelrecht abmusterte, als wäre er ein kaum zu ertragender Schandfleck, in ihrem sauberen Klassenzimmer. Ein Bazillus, der sich eingeschlichen hatte, um ihre saubere Welt zu vergiften und den sie die nächsten drei Jahre zu ertragen hatte. Jim riss sich aus seinen Gedanken und wandte sich wieder an Henry. „Was soll’s. Scheiß auf die Schule jetzt sind Ferien.“ „Ja, bestätigte Henry und schnaufte tief durch, bevor er hinzufügte: Gott sei`s gedankt.“ Jim verbesserte sich erneut; hundert! „Ich hab gehört, heut soll`n richtiger Sturm kommen. Was hältst du davon, wenn du bei mir übernachtest?“ Jim hatte schon wieder so ein aufregendes Funkeln in den Augen. Eines, das Henry gar nicht gefiel, weil er es nur allzu gut kannte und es bedeutete für ihn in der Regel nur eins: Schwierigkeiten. „Ich meine, fuhr Jim fort, bei mir unterm Dach, können wir`s so richtig krachen hören wenn’s donnert. Ich sag dir, das wird der Oberhammer. Vielleicht haut`s sogar ein paar Ziegeln runter.“ Jims größter Wunsch war eigentlich, dass es sein Haus komplett wegfegt, damit sie endlich in ein neues ziehen. Ein schönes, so wie Henrys. „Also ich weiß nicht“, sagte Henry zögernd, dem die Sicherheit seines Zimmers in Erwartung eines großen Sturms zehnmal lieber war, als Jims altes Dachzimmer. „Na, dann frag mal deine Mama, vielleicht weiß die`s ja“, erwiderte Jim genervt. „Also gut“, gab Henry nach, der nicht wusste, wie er aus dieser Nummer wieder herauskommen soll. „Ich komm gleich wieder und sag dir bescheid.“ Jim schüttelte den Kopf. Jetzt fragt der doch echt seine Mutter um Erlaubnis, dachte er sich, während er Henry ins Haus laufen sah. Vorbei an dem gepflegten Rasen mit den kleinen Gartenzwergen, den hübsch verzierten kleinen Fenstern, mit den gepflegten Blumenkästen davor, durch die bunt verglaste Eingangstür, mit ihrem vergoldeten Griff und hinein in den sauber tapezierten Flur. Manchmal fragte sich Jim ernsthaft, weshalb er schon so lange mit Henry befreundet war. Sie waren so vollkommen anders, so unterschiedlich wie Tag und Nacht und dennoch, irgendwie mochten sie sich von Anfang an. Im Gegensatz zu Henrys zierlicher, beinahe femininer Figur, bei der man Angst haben musste, das ihn der Wind wegweht, wenn er zu stark bläst und man ihn vorher nicht festgebunden hat, wirkte Jim so durchtrainiert wie ein ausgebildeter Zehnkämpfer. Verglichen mit Jims klaren, blauen Augen, die aussahen, als hätten sie das Leben des Sommers eingefangen, wirkten Henrys haselnussbraune Augen, wie die eines Eichhörnchens auf ständiger Fluchtbereitschaft. Selbst in der Kleidung, konnten sie sich kaum mehr unterscheiden. Während Jim immer so aussah, als käme er gerade von einen Rockkonzert, wirkte es bei Henry so, als käme er direkt aus der Oper. Andererseits; wenn Henry sich genauso kleiden würde wie Jim, sähe es bei ihm wahrscheinlich lächerlich aus, während es bei Jim… heute würde man sagen, einfach cool aussah. Jim war einfach ein Rebell. Selbst im Gewand eines Messdieners, wäre einem das sofort aufgefallen. Er hatte etwas in den Augen das…

Jim erinnerte sich noch gut daran, wie Henry in der Schule Schwierigkeiten hatte, mit so `nem Typen Namens Leo. Mann, dachte er sich, das war noch in der Grundschule. Leo war neu. Typischer Angebertyp. Wollte sich aufspielen, indem er sich den Schüchternsten schnappt und fertig macht. Schupste ihn aus irgend so `nen blöden Grund auf den Boden und Henrys Brille schlitterte über den halben Pausenhof. Er konnte es jetzt noch vor sich sehen, wie Leo langsam hinläuft und genüsslich seinen Fuß auf Henrys Brille stellt. „Sag es. Sag, Leo ist der König der Schule.“ Wie er seinen Fuß mehr Gewicht verleit, so dass schon der raue Sand unter Henrys Brille knirscht. „Sag es, du Flasche. Leo ist der König der Schule!“ Jim musste breit grinsen, bei der Erinnerung, wie er ihm auf die Schulter tippt, ihm, als er sich herum dreht seine Faust ins Gesicht schmettert, so dass er mit blutender Nase zu Boden geht und wie er ihm erklärt das es nur einen König an dieser Schule gibt und das der Thron schon besetzt sei. Ach, dachte sich Jim, das waren noch Zeiten. Henry bewunderte ihn dafür und Jim wusste das. Weil er eine Härte hatte, die ihm fehlte und das gefiel Jim. Gleichzeitig war Henry nie unterwürfig, oder demütig vor Jim kriechend, sondern eher... gerissen. Ja, das war das richtige Wort. Ein Angsthase, sicher, aber einer der das Dynamit unter deinem Stuhl versteckt und dich unschuldig anlächelt, während die Lunte bereits brennt. Er war eigentlich das ideale Opfer. Der kleine, schmächtige Intellektuelle mit Brille, aber nur, wenn man ihn nicht kannte. „Ok“, sagte Henry, als er wieder zurückgelaufen kam. „Aber erst nach dem Abendessen.“ Jim musste wieder grinsen. Na das war ja klar. Mamilein hat bedenken. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie Henrys Mutter in ihrer Blümchenschürze und mit ihren perfekt toupierten Haaren, ihm früh seine Haferflocken anröstet, bevor sie, sie mit Zucker kandiert und mit Milch serviert. Wie sie befürchtet, er könnte jemals etwas bei den „Bauers“ zu sich nehmen. Die mit dem alten Haus, mit dem alten Auto und mit dem verschimmelten Brot, wobei er das letztere ihrer Fantasie zuschrieb. „Dann bis heute Abend“, sagte er kurz gebunden aber nicht unfreundlich, sondern eher in froher Erwartung und lief nachhause. Er warf einen freudigen Blick auf die aufkommenden Wolken am Horizont, dachte an Blumenkästen und Gartenzwerge, die ein Tornado mit sich in den Himmel riss und an Henrys Mutter, wie sie kreischend hinterher flog und mit ihrer Blümchenschürze in der Dunkelheit verschwand. Captain Kirk! Unbekanntes Flugobjekt gesichtet. Jim grinste noch breiter. Voller Beschuss.

2. Der Sturm.

„Jim, machst du bitte auf? Ich glaube es ist Heinrich.“ „Er heißt Henry“, entgegnete Jim gereizt. Sie konnten es beide nicht leiden, wenn man sie mit ihrem richtigen Namen rief. Johannes und Heinrich, das klang für Jim, wie Arsch und Friedrich. Also hatten sie sich Namen ausgesucht, die zu ihnen passten. Wie Jeans und Coca Cola, wie heiße Autos und Rock and Roll und nicht wie Kuhmilch und Landeier. Auch wenn seine Mutter es nur widerwillig zur Kenntnis nahm, schien sie sich doch die meiste Zeit daran zu halten. Aber eben nur meistens. Er warf vom rustikalen Flur aus einen Blick ins Wohnzimmer und sah das immer gleiche Bild, eingemeißelt für die Ewigkeit. Eine Frau die sich seine Mutter nennt und strickend vor dem Röhrenfernseher sitzt, während der Mann der sich sein Vater nennt, ein Bier nachschenkt und aufpasst das es nicht überläuft und den alten Korkuntersetzer benässt. Das alte und bewährte weißbraune Sofa, mit den kleinen Brandlöchern von Papas Zigaretten. Der abgenutzte Wohnzimmertisch, wo man noch sehen konnte, wo Mama einen zu heißen Topf hastig abgestellt hatte. Die völlig unpassenden giftgrünen Gardinen mit psychedelischen Spiralmustern und die völlig abartige Tapete, entworfen von einen Heroinsüchtigen auf LSD. Jim hatte Verständnis für jeden Terrorristen, der blindwütig versucht die Welt in die Luft zu jagen, wenn er nur in einem Wohnzimmer wie dem ihren aufgewachsen war. Vom Holzesel, dessen Hintern Zigaretten ausspuckt, bis zum potthässlichen, polizeigrünen Telefon, auf einem alten, mit Spitzendecke überzogenen Beistelltisch, war alles dabei, um einen astreinen Psychopaten heranwachsen zu lassen. Die geschmacklosen Wanderpokale und goldverzierten Teller an den Wänden und die kleinen Puppen mit ihren selbst gestrickten Kleidchen samt engelsgleichen Grinsen, die Mama wohl die Tochter ersetzen sollen und einen aus jeder Ecke mit großen toten Glasaugen anstarrten, gaben dem Ganzen den Rest. Der blöde rote Kippvogel, der angeblich für alle Ewigkeiten Wasser aus einem Schnapsglas trinken kann und schon lange nicht mehr funktionierte, hatte da noch etwas tröstendes an sich. „Hy Henry, begrüßte ihn Jim ebenfalls, gehen wir nach oben.“ Jims Zimmer hatte zumindest eine einigermaßen neutrale Tapete mit braunem Schilfmuster, wenn auch die mit buntem Karomuster versehene, altmodische Deckenlampe, das Ganze in ein surreales Licht tauchte. Von der Tür aus gesehen gegenüber, links unter der schrägen Wand und einem kleinen Dachfenster, stand sein gebrauchtes Jugendbett mit passendem Nachttisch, das sein Vater vor Jahren beim Sperrmüll entdeckt hatte. Gleich rechts neben der Tür, stand ein abgeranzter, alter Schreibtisch. Zu seinen weiteren Schätzen gehörte ein großes, grünes Sofa mit aufgerissener Naht an der Seite, das seinem Bett auf der rechten Zimmerseite gegenüberstand und auf das Henry immer übernachtete wenn er zu Besuch war. Dazu kam ein alter, brauner Ledersessel vor einem immerhin! Man höre und staune, gut erhaltenen Tisch. Sein hellbrauner Kleiderschrank, der gleich links neben der Tür an der flachen Wand stand, war mit Stickern voll geklebt, um den abgeplatzten Lack zu überdecken und an seinen Wänden hingen unzählige Poster. Sein ganzer Stolz war eine Fahne der USA, sowie eine selbst gefertigte Bleistiftzeichnung der Enterprise und natürlich seine unzähligen Comics. „Ich kann richtig spüren, das heute noch was kommt“, sagte Jim begeistert und blickte aufgeregt aus dem Fenster. Der Himmel hatte eine seltsam unwirkliche Farbe, wie Kupfer und am Horizont zogen immer mehr dunkle Wolken auf. Selbst die Luft roch irgendwie metallisch. Das funkeln in Jims Augen, machte Henry spürbar nervös. „Habt ihr einen Blitzableiter?“ Fragte er, nur um seine Gefühle auf eine für ihn sichere, wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Das Jims altes Haus so weit abseits lag, nur umringt von Bäumen und Wiesen, quasi schutzlos dem Sturm ausgeliefert, half ihm nicht gerade dabei sich zu entspannen. „Ja, leider“, entgegnete Jim missmutig. Das war immerhin etwas, fand Henry, aber entspannen konnte er sich trotzdem nicht. Irgendetwas näherte sich ihm, wie ein bedrohlicher Schatten und es war nicht nur das Gewitter, das mit seinen dunklen Wolken heranzog. Es hing beinahe spürbar, greifbar in der Luft. Als würde sich etwas nähern, das über das natürliche hinausging. Etwas mächtiges, unkontrollierbares und bedrohliches. Henry schrieb es seinen gereizten Nerven zu, doch wäre Jim nicht da gewesen und damit die Aussicht sich komplett lächerlich zu machen, - er wäre ohne zu überlegen auf der Stelle nachhause gerannt und hätte sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Da sich längere Zeit nichts bemerkenswertes Tat, hörten sie eine Platte von Little Richard, spielten Karten, unterhielten sich über Bekannte, Klassenkameraden und Außerirdische. Zum Schluss unterhielten sie sich über Klassenkameraden die aber in Wirklichkeit Außerirdische waren, eine Invasion aus dem Weltall und die Möglichkeit mit Lichtgeschwindigkeit zu fliegen. Doch die Unterhaltung endete abrupt, als ein greller Blitz den nächtlichen Himmel durchzuckte, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. Sofort sprang Jim ans Fenster und Henry folgte ihm. Der Himmel war inzwischen pechschwarz. „Das wird ja besser als ich dachte“, freute sich Jim, als er sah, wie ein heftiger Wind aufkam und die Bäume sich darin bogen, als würden sie gleich umknicken. „Jim!“ Rief seine Mutter von unten herauf. „Ich mache die Sicherung heraus. Nur zur Sicherheit, falls der Blitz einschlägt.“ Seine Mutter hatte irgendwann einmal gehört, dass der Blitz durch die Leitungen kommen könnte und wertvolle elektronische Geräte, wie Fernseher, Radio oder die Waschmaschine zerstört, und da Geld in diesem Haus so selten war, wie Afrikaner in ihrem kleinen Dorf, war das ihre Methode dem Schlimmsten zuvor zu kommen. „Aber wir haben doch einen Blitzableiter!“ Rief ihr Jim sichtlich enttäuscht zu. „Ach das alte Ding“, rief seine Mutter zurück, wer weiß ob das überhaupt noch funktioniert.“ Das wiederum war Musik in Jims Ohren, auch wenn kurz darauf das Licht ausging. Henry hingegen überkam die blanke Panik. „Lass uns das Fenster aufmachen!“ Rief Jim aufgeregt. Er hatte ein Glänzen in den Augen, als wäre er wahnsinnig. „Aber Jim, der Donner war viel zu nah und bei dem Sturm zerwüstet der Wind dein ganzes Zimmer“. „Ja!“ Rief Jim begeistert und riss das Fenster auf. Er ballte die Faust und jubelte mit gestrecktem Arm dem Wind entgegen. Henry war fassungslos. Wieder blitzte es auf und wieder donnerte es, schneller folgend, lauter und gnadenlos. Henry hatte das Gefühl, er stünde schutzlos im Freien. „Jim, flehte Henry, lass uns das Fenster zu machen. Bitte, das ist kein Spaß.“ „Für dich vielleicht nicht“, sagte Jim und lachte. „Schau mal dort drüben.“ Tatsächlich war der Wind jetzt so stark in einen Baum gefahren, das Teile seiner Äste brachen, als wären es Streichhölzer. Die Ziegel auf ihrem Dach klapperten mehr als verdächtig und das Haus ächzte, die Dielen knarrten, als würde es gleich davonfliegen. Ein starker Windstoß fegte Jims Comics vom Regal und schleuderte sie durchs Zimmer, doch Jim schien es gar nicht zu bemerken. Er war wie weggetreten. Henrys Nerven flatterten wie die Dachziegel im Wind. Für ihn war das, das Ende der Welt. „Jim!“ Schrie er panisch und umfasste seinen Körper, um ihn vom Fenster wegzuziehen, als ein gewaltiger Blitz nicht weit entfernt von ihrem Haus, auf einem freistehenden, hügeligen Berg, in eine uralte Eiche einschlug, die sofort Feuer fing. „Wuha, es brennt!“ Rief Jim außer sich vor Freude. Das Henry mit aller Kraft an ihm zog, nahm er kaum zur Kenntnis, auch wenn er sich deshalb am Fensterrahmen festhalten musste. „Bitte“, flehte Henry, und es war der Klang in seiner Stimme, der Jim aufhorchen ließ. Henry weinte. Jim sah ihm ins Gesicht und sah die nackte Angst, die sich darin spiegelte. „Ok, sagte er, schließen wir das Fenster.“ Er hatte es kaum geschlossen, als ein starker Regen einsetzte. Das war kein normales Gewitter. Es war, als hätte sich eine infernalische Naturgewalt entfesselt, die mit ihrer zerstörerischen Kraft alles mit sich reißt. Gnadenlos, wie ein hasserfüllter Dämon, der über sie hinweg zieht und seine Krallen an die Fundamente des Hauses legt, um es einfach aus dem Boden zu reißen und in den Himmel zu schleudern. Der Regen peitschte regelrecht gegen die Mauern des Hauses und so direkt unter dem Dach, hörte es sich an, als würden sie von einem Maschinengewehr beschossen, dessen Kugeln gegen die Ziegeln hagelt. Dazu kam der aufheulende Wind, der das Ganze, wie ein Orchester des Wahnsinns begleitete. Pfeifend, tobend durch die Ritzen des Daches ziehend, wie eine Symphonie des Grauens, die in Interwallen lauter und leiser wird, bis sie plötzlich verstummt, nur um mit einem gewaltigen Tusch zurückzukehren und sich mit dem knarren und ächzen des Hauses, auf einen neuen Höhepunkt zu begeben. Henry saß apathisch auf dem Sofa, die zitternden Beine nah an den Körper gezogen und wartete einfach nur noch auf das Ende. Er hatte es längst aufgegeben seine Gefühle zu kontrollieren. Eine Mischung aus Furcht und Resignation lag in seinen Augen. Furcht davor, wie es sein würde, wenn hier gleich alles zusammen fällt und Resignation, weil er eh nichts mehr daran ändern konnte. Noch immer blies der Wind wie ein fauchender Drache und zerrte am ganzen Haus, doch Jim beachtete es nicht mehr. Selbst als der Sturm langsam nachließ, dauerte es noch lange, bis Jims tröstende Worte endlich zu Henry durchdrangen.

3. Auf Entdeckungstour.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war Jim zwar enttäuscht, weil ihr Haus noch stand, aber gleichzeitig auch aufgeregt, weil er sehen wollte, welchen Schaden der Blitz oben auf dem Hügel angerichtet hatte. Er konnte jetzt noch das zersplittern des Holzes hören, hatte den schwefeligen Geruch sengender Hitze in der Nase, auch wenn vieles davon seiner Einbildung entsprang. Das der Regen so schnell das Feuer löschte, war für ihn ein herber Rückschlag, doch so blieben am Ort des Geschehens zumindest die meisten Spuren der zerstörerischen Naturgewalt erhalten. Er war sich sicher, dass sie die Einzigen waren, die davon wussten. Es sei denn, seine Eltern hätten sich im Schlafzimmer aufgehalten, ebenfalls nach draußen gesehen und bemerkt, was gegenüber ihres Hauses vor sich ging. Henry, der einfach nur froh war, dass er noch am Leben war, fand es übertrieben, die Sache wie ein Staatsgeheimnis zu betrachten, und doch musste er Jim feierlich versprechen, niemand etwas davon zu erzählen. Beim Frühstück, es gab Marmeladenbrote mit Milch, versuchte Jim so unverfänglich wie möglich, auf das Unwetter zu sprechen zu kommen. Doch weder seine Mutter, noch sein Vater erwähnten den brennenden Baum. „Ich geh dann mit Henry ein bisschen nach draußen“, verkündete Jim. „Wollt ihr nicht warten bis der Regen aufgehört hat?“ Fragte seine Mutter verwundert, während sein Vater, wie fast immer am Morgen, vertieft in seiner Zeitung seinen Kaffee trank. „Wird uns schon nicht umbringen“, entgegnete Jim genervt. Er hasste es bemuttert zu werden und er hatte es ihr schon oft und deutlich genug zu verstehen gegeben. Das sie es immer noch tat, konnte für Jim nur zwei einfache Gründe haben. Entweder war sie strunzdumm, was er keinesfalls ausschloss, oder sie legte es bewusst darauf an, ihn zu provozieren. Nach reichlicher Überlegung, kam er zu dem Schluss, dass beides zutraf. „Ich kann euch aber nur einen Regenschirm mitgeben, den anderen braucht dein Vater“, setzte sie nach. Er wusste nicht warum, aber niemand schaffte es ihn so auf die Palme zu bringen, wie seine Mutter. „Regenschirme sind für Weicheier“, entgegnete er trotzig, worauf hin sein Vater kurz von seiner Zeitung aufsah, bevor er sich wieder stillschweigend darin vertiefte. „Wenn du schon keinen willst, dann gib ihn wenigstens Heinrich. Müssen ja nicht alle deine Einstellung vertreten“, fügte sie bissig hinzu. Wenn sie Krieg will, dann kann sie ihn haben, dachte sich Jim. „Tut er aber“, konterte er wütend und stand auf. „Aber du hast ja noch nicht mal aufgegessen!“ Rief sie ihm entgeistert hinterher, während Jim die Treppe zu seinem Zimmer hoch stapfte, um auf Henry zu warten. Der stopfte sich so schnell es ging sein Brot in den Mund, versuchte irgendwie gleichzeitig den Kaffee in sich hineinzukippen, wodurch er kräftig husten musste als er sich verschluckte und schaffte es gerade noch ein „danke fürs Frühstück“ herauszupressen, bevor er Jim mit hochrotem Kopf folgte. Henry war ein Harmoniemensch. Er mochte keinen Streit und das hauptsächlich, weil er nicht dazu fähig war, den damit einhergehenden Stress auszuhalten. Es brachte ihn komplett aus dem Konzept und führte in der Regel zu einer tiefen Verunsicherung. Wenn er mal richtig wütend war, dann überrollten ihn seine Gefühle mit einer solchen Wucht, dass er gleich gar nichts mehr sagen konnte. Er hätte es keine Minute mehr länger ertragen, die Spannung am Tisch auszuhalten und dann vielleicht auch noch, für die eine oder andere Position Partei ergreifen zu müssen. Jims Mutter schüttelte nur den Kopf, als sie ihm hinterher blickte. „Und du Hans, sagst wieder mal gar nichts dazu“, sagte sie mit entrüsteter, sorgenvoller Miene an Jims Vater gewandt. Der sah nur kurz von seiner Zeitung auf, schüttelte mit einen Ausdruck den Kopf, als wäre sie reif für die Männer mit den weißen Kitteln, um anschließend in aller Ruhe weiter zu lesen. Er hatte andere Probleme im Kopf, als Kinder im Regen. Logistik. Lagerverwaltung. Rückgehende Verkaufszahlen. Ein mickriges Gehalt und eine blonde Sekretärin, mit der er sich am Wochenende vergnügt, wenn er angeblich einen Fortbildungskurs besucht.

„Jetzt mach doch schon“, sagte Jim ungeduldig. Henry war noch keine hundert Meter gelaufen und hatte jetzt schon keine Lust mehr auf diese Erkundungstour. „Ich mach ja schon“, keuchte er und wirkte dabei mehr als nur angepisst. Jim drehte sich um und unterzog Henry einen prüfenden Blick. „Du wirst mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, du bist sauer wegen ein paar Tropfen Wasser.“ Henry wusste nicht was er sagen sollte. Der Regen sickerte ihm in seine Kleidung, die bereits unangenehm an der Haut klebte und durch seine verschmierte Brille, konnte er nur noch verschwommen sehen, auch wenn er sie ständig mit einem feuchten Taschentuch abwischte. „Ich mag das einfach nicht, das ist alles“, sagte er mit dem Blick eines trotzigen Kindes. Jim schüttelte nur den Kopf und lief weiter in Richtung des Hügels und Henry folgte ihm mit eingezogenem Kopf, als könnte er dadurch dem Regen entgehen. Vereinzelt entdeckte er abgeworfene Zweige und Blätter am Boden und in der Ferne sah er ein Weizenfeld, das für ihn aussah, als hätte ein verrückter Friseur ein neues Werk kreiert. Wenigstens ist es warm, tröstete sich Henry, als ihm Bedenken wegen seiner nassen Kleidung kamen, und hatte nicht zu Unrecht das seltsame Gefühl, Jim hätte seinen Gedankengang erraten. „Keine Angst, säuselte Jim, wenn du krank wirst, wird dich Mamilein schon wieder gesund pflegen. Kriegst dann `ne heiße Milch mit Honig und Zwieback, während du im Bettchen liegst und zum schlafen gehen singt sie dir ein Liedchen vor. Schlaf ein mein Prinz…“ Während Jim weiterlaufend ein albernes Lied zum Besten gab, das er sich gerade so ausdachte, fragte sich Henry ernsthaft und in ähnlicher Weise wie Jim es erst vor kurzem tat, weshalb er schon so lange mit ihm zusammen war. Glücklicherweise war der Hügel nicht allzu weit entfernt. Henry hatte ihn zwar immer schon zur Kenntnis genommen, wie ein unpassendes Monument aus Steinen, hineingeworfen in die Landschaft, aber im Gegensatz zu Jim, wäre er nie auf die Idee gekommen dort hinauf zu klettern, um ihn zu erkunden. Jetzt, wo er so auf ihn zuschritt, überkam ihm das eigenartige Gefühl etwas Falsches zu tun. Er war vielleicht an die acht Meter hoch und somit durchaus zu besteigen, aber das war es nicht, das ihn nervös machte. Irgendetwas ging von ihm aus, das Henry nicht gefiel. Etwas magisches, so wie bei Stonehenge. Eine Kultstätte in Salisbury in England, die angeblich aus der Steinzeit stammt. Nun, so alt schätzte er diesen Hügel nicht, aber wer weiß? Zumindest wirkte er so unpassend in dieser Landschaft, wie ein Maulwurfhaufen im Wohnzimmer und er fragte sich nicht das erste Mal, wie er eigentlich hier her kam. Das Eigenartige war nicht nur seine Ausstrahlung, sondern hinzukam, dass dort oben auf dem sandigen Untergrund so ein riesiger Baum wachsen konnte. Als würde er die Natur verspotten wollen, so wie es überhaupt der ganze Hügel tat, mit seiner seltsam ungeometrischen Form. Die Felsblöcke wirkten so schief ineinander gewürfelt, das einem schon fast die Augen wehtaten, wenn man zu lange hinsah. Als sie davor standen, konnte Henry ganz deutlich den zersplitterten Baum, oben auf dem Felsplateau erkennen. Nur den wuchtigen, breiten Stamm konnte er nicht sehen, da Felsblöcke den Blick verdeckten. So sehr Henry auch suchte, er konnte nirgends einen sicheren Weg entdecken, der zum Baum hinaufführte. Er sah nur große, moosbewachsene Felsen vor sich. „Und wie sollen wir da jetzt hochkommen?“ „Also“, überlegte Jim und grinste. „Wir können warten, bis jemand kommt und eine Seilbahn baut. Wir könnten ganz viele Luftballons aufpusten und uns daran festhalten, oder wir können jetzt einfach hochklettern.“ Jim wartete nicht auf eine Antwort und erklomm den ersten Felsen. Auch wenn es nichts im Vergleich zu einem richtigen Berg war, rutschte Henry doch ein paar Mal ungeschickt auf den moosigen Felsblöcken ab und fragte sich bereits nach wenigen Metern, wie er seiner Mutter seine schmutzige, und um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, gerade am Knie aufgerissene Hose erklären sollte. Hätte Jim ihm nicht tatkräftig geholfen, wäre er wahrscheinlich nie nach oben gelangt, (wo er eh nicht hin wollte) aber so ereichten sie dann doch, nach einem zähen Aufstieg, den höchsten Punkt des Hügels, mit seinem ebenen Felsplateau an dessen Ende, der große Eichenbaum direkt an einem Felsen stand, der wie der Finger Gottes senkrecht in den Himmel ragte. In einiger Entfernung sah Henry einen halbverkohlten Ast liegen, der wirkte, als hätte ihn jemand vom Baum gesprengt. Die Blätter waren größtenteils verbrannt, wie auch die an der Eiche. Als sie den Baum näher untersuchten, entdeckten sie seitlich eine Einkerbung, die wie abgefräst wirkte und von der Baumspitze bis zum Boden führte, wo der Blitz austrat. Jim war schwer beeindruckt. Doch schnell wurde seine Aufmerksamkeit auf einen, etwas mehr als einen Meter großen Felsblock gelenkt, der sich direkt neben dem Baum, an dem, wie eine Wand flach nach obenhin verlaufendem Felsen befand. Er war in der Mitte auseinander gebrochen und gab den Blick dadurch auf ein dahinter liegendes, dunkles, schwarzes, konturenloses Etwas preis. Das ungewöhnliche daran war, das dahinter eigentlich die Felswand sein sollte. „Was is´n da?“ Fragte Henry neugierig, während Jim durch den Spalt im Felsblock spähte und versuchte etwas zu erkennen. „Ich weiß nicht“, erwiderte Jim. „Sieht aus, wie ein dunkles Loch im Felsen.“ Als nächstes streckte er seinen Arm durch den Felsblock, der gerade so hindurchpasste, um zu schauen ob er irgendetwas dahinter erfühlen konnte. Doch da war nichts. Henry gefiel das gar nicht. Er hatte das Gefühl, das jeden Moment etwas nach Jims Hand greifen könnte, um ihn zu packen und nicht mehr loszulassen. Er hatte das Bild einer Muräne im Kopf. Eine Wasserschlange, die sich in Felsspalten verbirgt und im Dunkeln auf ihr Opfer lauert, um dann blitzschnell hervorzustoßen und mit seinen rasiermesserartigen Zähnen zu zubeißen. „Also das is ja eigenartig“, sagte Jim vor dem Stein kniend und fügte dann, von einem inneren Pioniergeist ergriffen hinzu, „aber das kriegen wir schon raus. Los pack mal mit an.“ Henry war gar nicht wohl bei dem Gedanken, die abgespaltene Hälfte des Felsblocks wegzuziehen, um herauszufinden was sich dahinter verbarg. Doch bevor er sich’s versah, zerrte er gemeinsam mit Jim, mit aller Kraft an dem wuchtigen Stein. Henrys Unwohlsein kam nicht nur von der Angst vor dem, was er dahinter erblicken würde. Sie mussten auch aufpassen, dass ihnen der schwere Steinblock nicht einfach auf die Füße fällt, sollte ihr vorhaben gelingen. Doch so sehr sie auch zogen, er bewegte sich keinen Millimeter. „Verfluchtes Drecksding“, schimpfte Jim und machte eine Pause. „Soviel kann der doch gar nicht wiegen“, fügte Henry nach Atem ringend hinzu. „Los, wir zählen bis drei, sagte Jim schließlich, und dann ziehen wir noch mal mit aller Kraft.“ Sie stellten sich in Position, zählten, zogen, und mit einem saugenden, schmatzenden Geräusch, gab der Stein schließlich nach, kippte nach hinten und auf die Seite. Dabei hatte es Henry nur seinen guten Reflexen zu verdanken, dass er ihm nicht wirklich auf den Fuß fiel. „Geschafft“, jubelte Jim und machte sich sofort daran das Loch zu untersuchen. Viel sehen konnte er nicht, nur das es wie eine Röhre schräg nach unten führte. Schließlich schauten sie beide hinunter, was auch nicht mehr brachte, denn so sehr sie sich auch anstrengten, es war zu einfach dunkel, um etwas zu erkennen. Henry gelang es nur mühsam, seine Fantasie im Zaum zu halten und auch Jim ging es nicht anders. Was immer auch dort unten war. Es schien zu ihnen herauf zu blicken… nach ihnen zu rufen… als wäre etwas nach langer Zeit aus einem düsteren Schlaf erwacht. Jim konnte es spüren und Henry ebenfalls, und obwohl es sehr warm war, bekam Henry eine Gänsehaut und Jim hatte das seltsame Gefühl, mit Lichtgeschwindigkeit durchs All zu rasen, an einen Ort, den noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat und den vielleicht auch niemals ein Mensch sehen sollte. Aber lange hielt das Gefühl bei Jim nicht an. „Hallo?“ Rief Henry nach unten. Jim schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Hör mal Henry, der Stein liegt da bestimmt schon seit einer halben Ewigkeit. Glaubst du wirklich, dass dir jemand antwortet?“ Henry lächelte unsicher und kratzte sich am Kopf. „Ich weiß auch nicht, ich hatte nur plötzlich so ein komisches Gefühl.“ Jim auch, doch davon sagte er ihm nichts, denn dafür war die Vorlage einfach zu gut. Das konnte er sich nicht entgehen lassen. „Das kommt davon, begann er einleitend, wenn man sich von Mami so verwöhnen lässt. Weißt du, da bekommt man irgendwann so komische Gefühle.“ Dann tat er so, als ob er ernsthaft nachdenkt. „Hattest du eigentlich schon mal den Gedanken Papi aus dem Weg zu räumen, um Mami ganz für dich allein zu haben? Ich meine, machte dich das nicht eifersüchtig, wenn du in deinem Babybettchen lagst und daran denken musstest, wie er an ihrer Brust nuckelt, so wie du, bevor er sie rammelt wie ein wild gewordener Osterhase?“ Henry wurde knallrot im Gesicht. „Du bist`n Arsch.“ „Entschuldige, sagte Jim, ich wollte ja nicht deine zarten Gefühle verletzen.“ Henry stand auf, lief wortlos zu den Felsblöcken zurück und machte sich an den Abstieg. Es war eigentlich gar nicht seine Art so empfindlich zu reagieren und gerade das, alarmierte Jims innere Warnanlage. Ein Teil von ihm sagte ihm deutlich, das es besser wäre ihn in Ruhe zu lassen, aber er konnte ihn jetzt unmöglich einfach so gehen lassen, ohne sich den restlichen Tag schuldig zu fühlen. Mann, war doch nur Spaß!“ Rief er Henry hinterher, bevor er ihm folgte. Obwohl er ein paar Mal ungeschickt abrutschte, gelangte Henry doch relativ schnell nach unten, so dass Jim ihn erst einholte, als er bereits über die Wiese lief. „Warte doch mal“, rief er erneut und fasste ihn von hinten an die Schulter. Mit einer blitzartigen Bewegung drehte sich Henry um und stieß Jim so heftig von sich, dass er rückwärts ins Gras fiel. Er beugte sich über ihn und schnaufte wie ein tollwütiges Tier. Sein Blick war so voller Wut, dass Jim Angst bekam, und Jim hatte fast nie Angst. Henry war ein stilles Wasser, doch sein Staudamm war gerade explodiert und ergoss sich über Jim mit voller Wucht. Jim wusste nicht, ob es Regen war, oder Tränen in Henrys Augen, nur das er bereit wäre ihn zu töten, wenn er jetzt auch nur ein falsches Wort sagt. Sie kannten sich schon so lange, doch zum ersten Mal wurde Jim bewusst, das er eigentlich nichts über Henry wusste. Noch nie hatte er ihn so erlebt. Seine Augen waren wie eisiges Feuer und sein Gesicht so weiß wie gefrorener Schnee. Henrys Atem ging immer noch stoßweise und sein flackernder Blick wanderte unruhig hin und her, als er sich plötzlich umdrehte und einfach ging. Jim blickte ihm noch lange hinterher, bevor er langsam aufstand und nachhause lief.

In dieser Nacht konnte er kaum einschlafen. Zum einen wollte er die Höhle untersuchen, die er dort oben unterhalb der Röhre vermutete. Doch das wollte er nicht alleine tun. Und zum Anderen plagte ihn sein Gewissen wegen Henry. Das Zweite wog dabei mehr als alles andere, das er sich im Zusammenhang mit der Höhle ausmalte. Er war gemein zu ihm gewesen. Hat ihn in einer Art und Weise verletzt, wie er es kaum für möglich gehalten hätte. Dieser Blick, den Henry ihm zugeworfen hatte. Obwohl es überaus warm war, fröstelte es ihn. Henry war mit Abstand Jims bester Freund, doch alles was er heute in seinen Augen gelesen hatte, war ein abgrundtiefer Hass. Dabei wollte Jim eigentlich nur Spaß machen. Er konnte ja nicht wissen, auf welche Landmiene er da treten würde. Jim beschäftigte sich noch lange mit dem Gedanken und als er dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte er nur wirres Zeug. Bettlaken, die im Sommerwind flattern, aufgehängt an einer Wäscheleine. Schatten die sich dahinter bewegen. Ein Windspiel über einer alten Tür, mit silbernen Stangen die im Wind klimpern. Eine schwarze Katze die ihn vom Dach herunter anfaucht und wieder die Bettlacken im Wind, besprengt mir Blut. Dann sah er plötzlich Henrys Vater und seine Mutter, die stöhnend unter ihm aufschrie, während er schwitzend auf ihr lag, stoßweise sein Becken bewegte und seine Hände in die Bettdecke krallte. Und dann sah er Henry, wie er hinter dem Bett stand und weinte. Wie er fassungslos das Geschehen beobachtete, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, bis er endlich unter Tränen hervorstammelte, er solle Mami nicht wehtun. Und wieder sah Jim die Bettlaken, wie sie im Wind flattern. Und als eine davon vom Wind umgeschlagen wurde, sah er Henry, der aussah wie ein Zombie und Jim mit großen Augen anstarrte, bevor er die herabhängenden Hände zu Fäusten ballte, den Mund öffnete und schrie.

Als Jim aufwachte, lag er schweißgebadet in seinem Bett und war total verstört. Ein Teil von ihm sagte sich, das es nur ein verrückter Traum gewesen war, - völlig bedeutungslos. Ein anderer, tiefer liegender Teil in ihm, erzählte ihm das Gegenteil. Er war nicht nur nahe dran, er hatte genau ins Schwarze getroffen. Wehalb sonst sollte Henry so abdrehen. Er hatte seinen wundesten Punkt entdeckt. Treffer. Versenkt. Henry. Stilles, tiefes Wasser. Ein Bettlaken im Wind. Blutrot, - und keiner wäscht es weiß.

Bereits am frühen Vormittag machte er sich auf den Weg. Er war noch nie so nervös, wie an diesem Tag, als er zu Henrys Haus lief. Er hat ja schon so manches mal etwas verbockt, doch diesmal hatte er seinen Wagen so tief in den Sand gesetzt, dass er beim besten Willen nicht wusste, wie er ihn wieder herausziehen soll. Er hatte Angst Henry zu verlieren. Bisher war es für ihn einfach immer völlig normal, das Henry für ihn da war. Wie ein Bruder. Ein Teil seiner Familie. Es wäre ihm auch nicht im Ansatz in den Sinn gekommen, dass es jemals anders sein könnte. Bis Heute. Als er an der Haustür klingelte, zitterte seine Hand. Es dauerte etwas, dann öffnete Henrys Mutter die Tür. Sie stand vor ihm, mit verschränkten Armen, wie eine ein Mann Armee. Jim schluckte. „Ist Henry da?“ „Tut mir leid“, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. „Ich fürchte, er ist für dich nicht zu sprechen.“ Jim hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand mit voller Wucht in den Magen geschlagen. Er musste tief durchatmen bevor er wieder etwas sagen konnte. „Dann, stammelte er schließlich, möchte ich ihm wenigstens etwas da lassen.“ Er gab ihr einen länglichen Karton und ohne noch etwas Weiteres zu sagen, drehte er sich um und ging. Er konnte nichts mehr sagen. Sein Hals war wie zugeschnürt und sein Herz schien zu zerspringen und schon nach wenigen Metern musste er sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, bevor er erneut tief durchatmete und in Richtung seines Hauses lief. Henry trat vom Fenster zurück und war total verwirrt. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Sicher hatte er Jim schon einmal weinen gesehen, als er noch kleiner war, doch das war vor einer halben Ewigkeit. Das er es jetzt wieder tat und offensichtlich wegen ihm, war für Henry nicht nur überraschend, es war einfach unglaublich. Und doch konnte es nicht anders sein. Aufgeregt sprang er die Treppe nach unten, um seine Mutter nach dem Paket zu fragen. „Ach das… das liegt im Flur“, sagte sie und man merkte, dass es ihr gar nicht gefiel, das Henry davon wusste. „Und wann hattest du vor es mir zu geben?“ Fragte Henry und erwartete keine Antwort. Stattdessen nahm er sich das Paket und ging damit auf sein Zimmer. Seine Aufregung steigerte sich ins unermessliche, als er es vorsichtig öffnete, und als er schließlich den Deckel abgenommen hatte, saß er einfach nur wortlos da und starrte auf den Inhalt. Es war eine USA Flagge, eine Enterprise Zeichnung und die deutsche Spiderman Erstausgabe. Zusammengenommen war es Jims wertvollster Besitz. Er schenkte ihm buchstäblich alles was er besaß.

Henry rannte nach unten, an seiner staunenden Mutter vorbei und aus dem Haus. Er fand Jim unterwegs, auf einem Stein neben der Straße sitzend. Seinen Kopf hatte er in seine verschränkten Arme vergraben. Als er jemand kommen hörte und sah, dass es Henry war, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. „Mann, das kannst du mir doch nicht schenken“, sagte Henry, kaum das er bei ihm war. „Mach ich aber“, sagte Jim. „Aber das kann ich echt nicht annehmen.“ „Na dann lass es doch“, sagte Jim, und schon wieder liefen ihm Tränen über die Wange. Er legte sein Gesicht in seine verschränkten Arme und schluchzte vor sich hin. „Muss es doch wieder gut machen…ist alles was ich habe…vielleicht finde ich ja noch was anderes…“ Die Sätze kamen so bruchstückhaft aus Jim, wie Wasser aus einem hin und her kippenden Eimer. „Mann, du verstehst aber auch alles falsch. Ich meine es ist zu wertvoll. Ich weiß doch wie sehr du daran hängst. Aber allein, dass du mir das alles schenken wolltest, zeigt mir, wie viel dir an meiner Freundschaft liegt und das bedeutet mir eine Menge. Auch wenn du manchmal eine echte Nervensäge bist. Also, hör auf das Gras zu bewässern und freu dich darüber, das wir wieder Freunde sind.“ „Echt?“ Fragte Jim überrascht und warf dabei Henry einen Blick zu, der selbst am Nordpol das Eis zum schmelzen bringen würde. So, dachte sich Henry, muss Jim mit fünf geschaut haben, als er sein erstes Spielzeug geschenkt bekam, und zwar vom Christkind höchstpersönlich, umringt von tausend Engeln. „Na was denkst du denn“, sagte Henry und musste einfach lachen. „Aber nur, wenn du nie wieder etwas dummes über meine Mutter sagst.“ „Versprochen“, sagte Jim und wischte sich seine Tränen ab. Die Art, mit der Jim ihm nur durch diese eine Geste erneut signalisierte, wie wichtig er für ihn war, ging Henry so nahe, das er eiligst beschloss das Thema zu wechseln. „Warst du eigentlich noch mal bei der Höhle?“ Fragte er, wobei ihm sofort wieder seine eigenartigen Gefühle durch den Kopf gingen, als er in das finstere Loch schaute, das in die Tiefe führte. „Nein, sagte Jim bedeutsam, das wollte ich mit dir zusammen tun.“ Henry wusste nicht warum, doch er fühlte in diesem Moment eine Zuneigung zu Jim, die tiefer ging als gewöhnliche Freundschaft. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Dorfspielplatz Türme bauten. Damals waren sie noch nicht mal in der Schule. Während Jim Schwierigkeiten hatte, etwas halbwegs Brauchbares zu formen, nahm sein Turm bereits deutliche Konturen an und als sie fertig waren, war er fast doppelt so groß wie Jims. Henry machte sich darüber lustig und meinte, das Jims Soldaten, (die sie übrigens beide deutlich vor sich sahen) ja in seinem Turm übernachten könnten, bevor ihrer über sie Nachts zusammenstürzt, und als Jim seinen mickrigen Turm betrachtete, wurde er auf einmal ganz rot im Gesicht und starrte Henry wütend an. Dann trat er mit seinem Fuß nach Henrys Turm und als er einstürzte, fing er (Henry) sofort an zu heulen. Er erinnerte sich wie ihn seine Mutter aufgeregt wegtrug und versuchte zu beruhigen, wobei sie Jim vorwurfsvoll ansah. Wie er zu ihm zurückblickte und wie Jims Augen verrieten, wie sehr es ihm leid tat, als wüsste er selbst nicht, warum er das gerade getan hat. Wie traurig ihm Jim hinterher blickte, als seine Mutter ihn zum Auto trug und wie Henry sich nur noch eines wünschte, den Turm bereits vergessend, - diese traurigen Augen wieder fröhlich zu machen.

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, der laut Radio warm und sonnig werden sollte, um die Höhle, wie sie es nannten, zu untersuchen. Jim versprach zu diesem Anlass ein Seil zu organisieren und Henry sollte eine Taschenlampe mitbringen. Sie hätten sie auch liebend gern sofort untersucht, doch Henry hatte seiner Mutter bereits zugesagt, mit ihr seine Tante zu besuchen die in der Stadt wohnte und vor Abends würde er nicht nachhause kommen. Bewundernswerter Weise sagte Jim nichts dazu, obwohl ihm vieles dazu eingefallen wäre. Schließlich fragte er das, was auch Henry insgeheim durch den Kopf ging. „Meinst du dort gibt es Schätze?“ „Na ja, sagte Henry nachdenklich, also ich an deiner Stelle, würde mir da nicht allzu große Hoffnungen machen, aber immerhin können wir ja einen Nacht lang davon träumen.“

Als Jim zurücklief, war er sichtlich zufrieden mit sich und der Welt. Dennoch stieg in ihm zunehmend die Besorgnis, dass jemand vor ihnen die Höhle entdecken könnte. Er musste einfach noch einmal dort hin gehen und nach dem Rechten sehen. Als er das Felsplateau erklommen hatte, sah alles noch genau so aus, wie sie es verlassen hatten. Jim war beruhigt. Dann beschloss er, den abgebrochenen Ast des Baumes davor zu ziehen, um den Eingang besser zu verbergen, auch wenn er nicht sehr groß war. Aber vorher wollte er unbedingt noch eine Idee in die Tat umsetzen, die er die ganze Zeit schon hatte. Er holte sich einen kleinen Stein, den er gleich in der Nähe fand und ließ ihn den röhrenartigen, schmalen Eingang hinunterrollen. Er hörte, wie er für einen kurzen Moment über den sandsteinbeschichteten Untergrund rollte, bevor er lautlos in der Dunkelheit verschwand, um dann nach wenigen Sekunden auf einem sandigen Boden dumpf aufzuschlagen. Das war der Beweiß nach dem er suchte. Also wirklich, es war eine Höhle. Während er noch nach unten lauschte, überkam ihn wieder dieses eigenartige Gefühl, doch diesmal war es irgendwie anders. Es ging kein Wind. Kein Vogel der irgendwo von einem Baum zwitscherte. Kein Traktor, der weit entfernt sein Feld abfuhr. Es war einfach nur still, und diese Stille hatte etwas Unheimliches. Er fühlte sich plötzlich sehr allein hier oben. Schnell zog er den halb abgefackelten Ast davor und machte sich wieder an den Abstieg.