Schattenmenagerie - Dieter Bührig - E-Book

Schattenmenagerie E-Book

Dieter Bührig

4,6

Beschreibung

Nikolaus Romanowsky fühlt sich als Erbfolger des Zaren Peter III. und plant, sich zum Herrscher eines neuen, geeinten Zarenreichs emporzuschwingen. Als Pächters der Fasaneninsel, die im Eutiner See nahe des Schlosses liegt, spinnt er seine Intrigen und beseitigt alle, die ihm im Wege stehen. Inspektor Kroll kommt in seinem neuen Fall nicht so recht voran. Doch er erhält unerwartete Hilfe von der blinden Pianistin Viviana. Inspiriert durch die Musik von Carl Maria von Weber hilft sie dem Inspektor in ihren musikalischen Visionen bei der Entschleierung der Hintergründe und Motive der Verbrechen …

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Dieter Bührig

Schattenmenagerie

Ein musikalischer Kriminalroman

nachMotiven von Carl Maria von Weber und Modest Mussorgskij

Alle Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen

wäre rein zufällig.

Um unerwünschte Assoziationen zu vermeiden,

wurden die Namen einiger Institutionen, Dienstbezeichnungen und politischer Funktionen leicht verändert.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jascha400d / sxc.hu

978-3-8392-3812-7

Dieses Buch widme ich der jungen blinden Pianistin Anja Braun,

 deren Musik mir ein lieber Begleiter beim Schreiben war.

Dieter Bührig

Kapitel 1: Auf dem Gipfel

»Verdammtes Schuhwerk! Ewig gehen diese blöden Schnürsenkel auf. Und jetzt auch noch Blasen an den Fersen. Vielleicht sollte ich mir mal ein Paar richtige Wanderschuhe leisten.«

Inspektor Michael Kroll zog sich vorsichtig seine alten Turnschuhe aus und warf sie laut fluchend gegen den nächstbesten Felsen. Dann folgten die durchweichten Socken. Gott sei Dank hatte er sich vor der Wanderung noch eine Tube Wundcreme eingesteckt, die jetzt rettende Dienste tat. Dann zog er sich Socken und Schuhe wieder an und setzte seinen Weg zum nahen Ziel fort.

Der Kriminalbeamte hatte sich den Urlaub redlich verdient. Jedenfalls war er selbst davon zutiefst überzeugt. Ob das seine Vorgesetzten und die Ganoven der Lübecker Unterwelt auch so sahen, kümmerte ihn momentan nicht.

Er hatte in diesen Osterferien seine Nichte Micha mitgenommen, damit deren Eltern auch mal etwas Ruhe vergönnt war. Die Siebtklässlerin interessierte sich jedoch nicht für seine Wanderungen. Sie lag lieber krimilesend auf dem Liegestuhl am Swimmingpool oder strolchte durch die Boutiquen im nahegelegenen Peguera. Kroll war kein Freund dieser Orte, also gingen beide arbeitsteilig vor. Er Natur, sie Kultur. Seine Aufsichtspflicht übte er dann per Handy aus. Abends trafen sie sich wieder und erzählten sich auf der Terrasse im matt glühenden Licht des Sonnenuntergangs die Erlebnisse des Tages.

Die kleine Wanderung auf den Gipfelfelsen hatte er schon öfter unternommen. Er liebte diese abgelegene und waldreiche Gegend, in die sich nur selten Touristen verirrten, obwohl die Route in einigen Wanderbüchern beschrieben wird. Von Andratx aus führte eine enge Passstraße über Capdella hoch zu dem kleinen, an steilen Felsen klebenden Dorf Galilea. Unterhalb des Ortes ging es noch einen Kilometer weiter in Richtung Puigpuyent, wo man in einer schmalen Kurve vor einem abgezäunten Wirtschaftsweg parken konnte.

Merkwürdig. Heute stand dort bereits ein anderer Mietwagen. Und gerade noch konnte Kroll beobachten, wie ein weiteres Fahrzeug den engen Parkplatz verließ und in Richtung Nordosten verschwand. Ein gelber Ford Focus mit einem Aufkleber von einem Autoverleiher. Mit seinem kriminalistischen siebten Sinn merkte sich der Inspektor das Kennzeichen und die Uhrzeit. Er fand diese Anhäufung von Mietwagen ungewöhnlich. So viele Wanderer an einem Wochentag im April, also nicht gerade zur Hochsaison?

»Nun gut, vielleicht treffen wir uns ja. Offenbar handelt es sich um Gleichgesinnte. Da ergibt sich bestimmt die Gelegenheit zu einem Schwätzchen.«

Die Route war hier so eindeutig, dass man eigentlich nicht aneinander vorbeigehen konnte. Der letzte Teil der Wanderung erwies sich als etwas anstrengend. Kroll musste einen unwirtlichen, steilen und nur spärlich markierten Pfad über Geröll und Felsen hinaufklettern. Wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht abrutschen. Dennoch gelangte er zum Gipfel, ohne jemandem zu begegnen. Aber mit seiner ausgeprägten Kriminalistennase spürte er, dass er hier nicht der Einzige war.

Oben angelangt, streifte er sich den Rucksack von den Schultern und machte es sich auf einem breiten Felsvorsprung gemütlich. Wieder entledigte er sich seiner Schuhe, denn seine Füße schmerzten noch. Dann öffnete er seinen Rucksack. Wie immer hatte er selbst geschmierte Stullen sowie zwei Plastikflaschen dabei, eine mit Mineralwasser und eine, die er in seinem apartamento in Camp de Mar mit vino tinto gefüllt hatte. Natürlich durfte auch nicht die kleine Isomatte fehlen, schließlich bekommt man es als Ü 50 schnell im Rücken, wenn man längere Zeit auf einem kalten Stein sitzt. Auch ein Weinglas zauberte er aus dem Rucksack. Genüsslich mischte er sich eine Weinschorle und biss in seine Stulle.

»Wird Zeit, dass die Spanier lernen, vernünftiges Brot herzustellen!«, murmelte er leise vor sich hin. Die ›Stulle‹ war nichts weiter als die übliche längliche barra de pan, ein brötchenartiges Weißbrot, das ihn eher an ein überdimensionales Kaugummi als an ein Brot erinnerte. Trotzdem fühlte er sich hier oben vollends glücklich. Denn eigentlich gehörte für ihn dieses fade spanische Brot zum Urlaub dazu. Hinten am Horizont erahnte er die Umrisse der Insel Sa Dragonera, deren Erkundung er sich für die morgige Wanderung vorgenommen hatte. Er entdeckte sogar ein Segelboot, das sich langsam an der Insel vorbeischob.

»Der wird sich beeilen müssen, wenn er heute noch Port de Sóller erreichen will.« Das ist nach Port d’Andratx über eine lange Strecke entlang der felsigen Nordküste hinweg die erste Möglichkeit, um sicher die Nacht in einem geschützten Hafen zu verbringen. Friede und Geborgenheit, das war es, was auch er hier im fernen Mallorca suchte. Zu Hause in Lübeck erwarteten ihn nur Mord und Totschlag und all die Schattenseiten der menschlichen Seele.

Jetzt ließ er sich und sein lichtes Haupthaar von der mallorquinischen Frühjahrssonne verwöhnen. Der Osterhimmel zeigte sich hier oben von der besten Seite. Kroll wusste nicht, was er mehr bewundern sollte: das cremeblaue, wolkenlose und unendliche Himmelszelt oder das türkisblaue, grenzenlose und glitzernde Meer, das sich von seinem Standpunkt aus fast über den gesamten Norden, den Westen und den Süden ausbreitete.

Eigentlich könnte ich mich für einen Posten bei der hiesigen Kriminalpolizei bewerben, träumte er. Eine passende kleine Finca würde er schon finden. Sie musste ja nicht unbedingt am Meer liegen. Für so etwas würde sein bescheidenes Gehalt sicherlich nicht ausreichen. Er liebte das romantische Landesinnere der Insel sowieso viel mehr als die touristisch überlaufenen Küstenstriche.

Außerdem schwärmte er für die mallorquinische Küche. Aus diesem Grunde mietete er sich schon seit Jahren statt in einem All-inclusive-Hotel lieber in einem kleinen Aparthotel in der Bucht von Camp de Mar ein. Hier gab es außer einem paradiesischen Ausblick auf die romantische Felsenbucht eine praktische Küchennische, welche ihm alles bot, um sich eine seiner heiß geliebten Tapas zu brutzeln. Die Lebensmittel holte er sich gern in den beschaulichen tiendas der nahe gelegenen Ortschaften Andratx oder Calvià. Dank seiner guten Spanischkenntnisse pflegte er gern gesellige Kontakte zu den Einheimischen. Wobei er sich jedes Mal höflich entschuldigte, nicht des Mallorquí kundig zu sein. Nun saß er oben auf dem Gipfel des Bauçà und nahm sich vor, im nächsten Urlaub einen Grundkurs in der Inselsprache zu belegen.

»Hm, heute Abend werde ich mir eine Handvoll gambas anschmoren, mit viel ajo, dazu milde grüne pimientos. Und eine Flasche vino tinto aus Benissalem.« Die Vorfreude ließ ihn seine Fußschmerzen vergessen. Das Picknick auf dem Gipfel des Bauçà wollte Kroll genüsslich mit einer Zigarette abschließen. Er kramte in seinem Rucksack, fand aber nur ein altes Feuerzeug. Da erinnerte er sich, dass er die Packung, die er heute Morgen an der Tankstelle von Andratx gekauft hatte, in seine hintere Hosentasche gesteckt hatte. Und nun saß er darauf! Enttäuscht schaute er auf die zerquetschte Schachtel und brachte etwas ans Tageslicht, das ihn stark an die Überreste der Tempotücher erinnerte, die er zu Hause für gewöhnlich in seiner Jeans vergaß, bevor diese sich der unerbittlichen Gewalt der Waschmaschine unterwarf. Vorsichtig strich er den ›krummen Hund‹ gerade und ließ sein Feuerzeug spielen. Es gab nur ein paar müde Funken von sich.

»Verdammtes Ding!«, fluchte er, diesmal weithin hörbar. Aber das half nichts. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ein paar Krümel in den Mund zu stecken und den Tabak kauend zu genießen.

»Na ja, Rauchen ist hier ja sowieso wegen der Waldbrandgefahr verboten«, tröstete er sich.

Sein lauter Ruf erinnerte ihn daran, dass hier noch irgendwo jemand in der Nähe sein musste. Er packte seine Sachen zusammen, schulterte den Rucksack und vergewisserte sich, dass er keine Abfälle hinterlassen hatte. Plötzlich bemerkte er hinter einem Busch einen Hut.

»Hm. – Lodenhut. – Was für Jäger. Gute Qualität. Gepflegt und sauber. – Richtig. Hier, das Abzeichen am Hutband: DJV – 50. Deutscher Jagdschutzverband. Fünfzigjähriges Jubiläum. Muss ein älterer Herr sein. Vielleicht der unbekannte Wanderer, der hier oben Rast gemacht hat. – Aber ein erfahrener Jäger lässt doch nicht seinen Hut unbemerkt zurück. Und dazu noch so ein gutes Stück. – Merkwürdig.«

Mit einem grübelnden Seufzer legte er die Kopfbedeckung deutlich sichtbar auf einen Stein.

»Vielleicht kommt er ja wieder. So wird er seinen Hut finden.«

Dann machte sich Kroll an den Abstieg. Diesmal wollte er den weiter nördlich gelegenen Pfad versuchen, der in den Wanderführern verschwiegen wird, weil er wesentlich unbequemer zu begehen ist.

Auf halbem Wege stutzte er. Was steckte da unten zwischen den Felsen? Haben da wieder Touristen ihre Abfälle hingeworfen? Kroll kletterte vorsichtig in die Felsmulde. Dort lag ein wie ein Jäger gekleideter Mensch regungslos mit blutendem Kopf zwischen dem Geröll. Dessen Rucksack entdeckte Kroll mehrere Meter weiter den Geröllhang abwärts.

Er holte das Handy aus seinem Rucksack. Um die teuren Fernrufe zu umgehen, hatte er es sich angewöhnt, bei seinen Spanienreisen eine spanische Prepaidkarte in sein Handy einzulegen. Die Notrufnummer kannte er auswendig. Sofort war er mit der spanischen Polizei verbunden. Jetzt erwies es sich als Vorteil, dass er so gut Spanisch konnte. Er erklärte dem Beamten kurz den Sachverhalt. Man versprach ihm, einen Hubschrauber zur Bergung des Verunglückten zu schicken. Er selbst solle vor Ort bleiben, um die Rettungsmannschaft einzuweisen.

Vorsichtig näherte er sich der Person. Kroll hatte schon zu oft Tote gesehen, um zu wissen, dass hier Erste Hilfe fehl am Platze war. Einen kurzen Moment reizte es ihn, die Taschen des Mannes zu durchsuchen. Aber als Profi wusste er, dass er das den Leuten von der Spurensicherung überlassen sollte. So konnte er nichts anderes tun, als auf den Hubschrauber zu warten. Er nahm den Rucksack ab und setzte sich auf einen Felsbrocken.

Stille herrschte, eine beklemmende Stille. Selbst die Natur war verstummt. Kroll wagte es nicht, sich zu bewegen, um die Ruhe des Toten nicht zu stören. Er betrachtete beiläufig seinen vor ihm abgelegten Rucksack. Am liebsten hätte er jetzt einen unverdünnten Schluck Rotwein zu sich genommen. Aber das empfand er als pietätlos.

Plötzlich schoss ihm ein bohrender Gedanke durch den Kopf: Wieso liegt sein Rucksack so weit weg? Wieso hat er ihn nicht umgeschnallt? Man wandert nicht mit dem Rucksack in der Hand durch eine so bergige Gegend! – Meinen Rucksack nehme ich doch nur ab, wenn ich Rast mache. – Wenn der Mann unglücklich gestürzt wäre, hätte er ihn doch bestimmt noch auf dem Rücken. – Und dann der Hut oben auf dem Gipfel. Wahrscheinlich gehört der zu dem Verunglückten. Aber man stolpert doch nicht, und der Hut fällt nach oben! Höchst merkwürdig, das alles.

Unfall oder Mord? Der Instinkt des Kriminalisten war in Kroll erwacht. Wieder hatte ihn sein Beruf eingeholt. Von Urlaub konnte nun keine Rede mehr sein. Er fischte sein Handy erneut aus dem Rucksack und ließ sich mit der Mordkommission in Palma verbinden. Dort wies er sich als Kollege aus und erläuterte seinen Verdacht. Auch vergaß er nicht, den gelben Mietwagen zu erwähnen, der bei seiner Ankunft vom Parkplatz fortgefahren war. Vielleicht ergab sich da eine Spur, die man weiterverfolgen konnte.

Die örtliche Spurensicherung wurde sofort auf den Weg geschickt. Zunächst musste dafür gesorgt werden, dass die Rettungsmannschaft des Hubschraubers keine Spuren verwischte und das einsame Auto auf dem Parkplatz am Eingang der Route sichergestellt wurde. Außerdem bot der spanische Kollege den Einsatz einer Spürhundestaffel an, die sich bei der Spurensuche in wildem Terrain bewährt hatte. Kroll sollte den telefonischen Kontakt auf jeden Fall aufrechterhalten.

Gut, dass ich jetzt meine spanische Prepaidkarte habe, dachte er. Das wären teure Gespräche geworden. Er machte es sich auf einem umgefallenen Baumstamm bequem und genoss ein letztes Mal die herrliche Ruhe der Natur.

Nach etwa 20 Minuten näherte sich unter ohrenbetäubendem Lärm der Helikopter. Er konnte nur auf einem niedriger gelegenen Felsplateau landen. Dort wartete dann die Mannschaft, bis die Leute der Spurensicherung und der Mordkommission mit ihren nicht besonders weniger lauten Landrovers eintrafen und die ganze Gegend mit einer dichten Staubwolke bedeckten. Der Zauber der Insel war für Kroll nun endgültig gebrochen. Ihm kam es so vor, als hätte seine Trauminsel ihre Jungfräulichkeit verloren.

Comisario Alejandro Ruiz-Valdés machte sich mit einem Assistenten allein auf den Weg zum Fundort der Leiche, wo Kroll wartete. Die beiden Profis waren sich auf Anhieb sympathisch. Kroll gefielen die wachen, aber dennoch verträumt wirkenden Augen des Comisario. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute redete er nur wenig und verzichtete weitgehend auf das für die Spanier typische Gestikulieren. Alejandro hingegen musste innerlich schmunzeln, als er den Deutschen mit seiner verbeulten Jeans und den klobigen Turnschuhen musterte.

»Ihre Schnürsenkel haben sich gelöst, mein Lieber. Wenn man drauftritt, kann man leicht ins Stolpern kommen, und eine Leiche genügt uns vorläufig.«

Kroll schämte sich ein wenig wegen seiner Nachlässigkeit. »Oh, diese verflixten Schuhe! Wirklich keine gute Qualität, diese Schnürsenkel. Immer rebellisch!«

Der Spanier lachte herzhaft und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Wenn das Ihr einziges Problem ist, würde ich gern mit Ihnen tauschen. – Gut, dass ich hier gleich auf einen Profi gestoßen bin. Die normalen Touristen hätten uns alle Spuren verdorben.«

Kroll freute sich heimlich über das Lob.

Dann näherten sich beide vorsichtig der Leiche und musterten sie von allen Seiten. Der Hinterkopf wies eine schwach blutende, offene Wunde auf. Merkwürdigerweise konnte man am restlichen Körper, außer einigen Fallspuren, auf den ersten Blick keine größeren Verletzungen erkennen.

Der Mann war – für einen Wanderer in dieser Gegend etwas ungewöhnlich – mit einer teuren Jägerbekleidung ausgestattet. Die grüne Kniebundhose aus Baumwolle passte stilgetreu zur farbgleichen Lodenjacke aus Schurwolle. Die Füße steckten in schweren Nubuklederschuhen. Der Jagdrucksack aus natogrünem Segelleinen lag geschlossen einen Steinwurf weiter entfernt. Alles wies, abgesehen von Schleifspuren, nur wenig Abnutzung auf.

»Hm«, brummte Kroll vor sich hin. »Eigentlich keine typische Kleidung für einen Wandervogel auf Mallorca! Entweder ein spleeniger deutscher Tourist oder ein pensionierter Jäger aus dem Landadel, den es hierher verschlagen hat.«

»Ein Einheimischer ist es sicher nicht«, meinte der Comisario. »Unsere Jäger sehen anders aus. Außerdem fehlen jegliche Jagdutensilien. – Aber das mit dem Rucksack ist, wie Sie bereits am Telefon bemerkten, in der Tat auffällig. Außerdem kann ich auf den ersten Blick keine Blutspuren an den Felsen entdecken. Wenn der Mann wirklich unglücklich gestürzt wäre, hätte das bestimmt Abdrücke hinterlassen.«

»Ja, und außerdem gefällt mir nicht, dass sein Hut fehlt. Oben auf dem Gipfel liegt einer, der zu dem Toten passt. Der Mann wird doch nicht von dort hinuntergefallen sein. – Ich denke, man sollte das Gebiet weitläufig absperren und auf weitere Spuren hin durchkämmen.«

»Genau. Das hatte ich auch vor.« Der Comisario rief seinen Assistenten und befahl ihm, Wache zu halten. Dann machten sich die beiden Profis auf den Weg zu den anderen, die unten auf dem Felsplateau warteten. Dort wurde ein kurzer Kriegsrat abgehalten, und nach kurzer Zeit wusste jeder, was er zu tun hatte. Dann wandte sich Alejandro an seinen deutschen Kollegen:

»Kommen Sie mit auf ein Tässchen Kaffee nach Galilea, bei María in der Bar Parroquial. Dort können wir uns stärken und den weiteren Gang der Dinge besprechen. Hier stehen wir sowieso nur im Weg. Und außerdem, wissen Sie, arbeiten meine Leute viel besser, wenn ich nicht dabei bin. Mein Assistent wird mir dann Bericht erstatten.«

»Wenn das mit meinem Assistenten Hopfinger auch so gut klappen würde …«, träumte Kroll vor sich hin.

Oben auf der Terrasse der Bar kamen in ihm wieder Urlaubsgefühle hoch. Sie saßen in der Sonne auf dem schönen alten Kirchplatz. Dem Tässchen Kaffee folgte schnell ein Tunel hierbas con hielo. Dazu gab es ein paar kleine Tapas. Kroll nahm sein Glas, schüttelte die Eiswürfel vorsichtig, sodass sie in der Flüssigkeit kreisten, und nippte ein wenig am süßlichen Kräuterlikör.

»Schön haben Sie es hier. Ich würde gern mit Ihnen tauschen. Sonne, Strand, herrliche Berge. Und die meisten Touristen hocken ohnehin den ganzen Tag in ihren All-inclusive-Ghettos. Da bleibt für Sie doch höchstens mal ein kleiner Ladendiebstahl.«

»Na ja, da zu arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen, ist in unserem Beruf auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Und im Übrigen macht das Kapitalverbrechen auch vor unserer Insel nicht halt. Wenn Sie wüssten, was wir mit Drogenbanden und Mafiastrukturen zu schaffen haben!«

»Ach, vergessen wir für heute unsere Klientel. Trinken wir noch einen Hierbas. Das wird wohl die letzte Stunde meines Urlaubs sein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Tote ein Deutscher ist und dass man mich zu Hause braucht, zumindest, um rasche Amtshilfe zu leisten.

So wie es aussieht, muss ich ihn frühzeitig abbrechen. Sie kennen ja uns Deutsche: Schnaps ist Schnaps – Dienst ist Dienst. Jetzt habe ich erst einmal die traurige Aufgabe, meiner Nichte mitzuteilen, dass wir unseren Urlaub abbrechen müssen. Die wird ganz schön sauer sein. Ich fürchte, ich werd ihr ein besonderes Trostpflaster schenken müssen. Sie ist jetzt in einem Alter, in dem Mädels von einem modernen Handy träumen. – Schade um den Urlaub. Aber hilft nichts. Wie gesagt: Dienst ist Dienst.«

*

Am übernächsten Tag fuhr Kroll nach Palma in das Büro des Comisario. Der präsentierte ihm die Ergebnisse der Spurensicherung und den Obduktionsbericht. Bei dem Toten handelte es sich laut Personalausweis um einen deutschen Staatsbürger, einen gewissen Ferdinand Graf zu Stolberg, wohnhaft in Eutin/Ostholstein. In seiner Brieftasche schien nichts zu fehlen: Ausweise, Scheckkarten, ein Adressbüchlein und eine beträchtliche Summe an Bargeld. Raubmord konnte weitgehend ausgeschlossen werden.

Der Tod erfolgte durch einen heftigen Steinaufschlag am Hinterkopf. Den Zeitpunkt konnten die Spezialisten aufgrund der Gehirnuntersuchungen mit einer Ungenauigkeit von etwa einer Stunde ziemlich genau angeben. Es musste geschehen sein, kurz bevor Kroll seine Bergwanderung antrat. In unmittelbarer Nähe des Fundorts fand man keinen Felsen, der als Stoßkante infrage gekommen wäre. Wohl aber entdeckten die Spürhunde auf dem Gipfelplateau des Bauçà einen blutbefleckten Brocken, an dem Haare des Toten nachgewiesen wurden. Ein unglücklicher Sturz von dort oben hätte schon zu einer tödlichen Verletzung geführt. Es war aber auch möglich, dass der Felsbrocken dem Opfer mit höchster Kraft auf den Hinterkopf geschlagen wurde. Den Schleifspuren zufolge musste jemand, falls diese Hypothese stimmte, dann den leblosen Körper den Abhang hinuntergerollt und den Rucksack hinterhergeschickt haben. Der Jägerhut wurde offenbar achtlos hinter das Gebüsch geworfen. Fingerabdrücke oder sonstige Spuren gab es nicht.

»Tja, lieber Kollege, für mich riecht das nach einem Kapitalverbrechen, obwohl alle klassischen Indizien für einen Raubüberfall fehlen. – Und Sie wären beinahe Zeuge geworden!«

Der Comisario klopfte Kroll väterlich auf die Schulter. Der sah seine Urlaubspläne endgültig davonschwimmen. Er kramte seine zerbeulte Zigarettenschachtel aus der Hose. Als sein Kollege die ›krummen Hunde‹ sah, bot er ihm aus Mitleid eine seiner eigenen an und ließ ein Tischfeuerzeug aufschnappen:

»Mein Gott, wo haben Sie die denn her? Ist das Schmugglerware aus einem Lkw-Reifen oder haben die auch einen Sturz vom Felsengipfel mitgemacht?«

Kroll achtete nicht auf den spöttischen Unterton. Er war dankbar, endlich wieder einmal eine richtige Zigarette, mit einem richtigen Feuerzeug angezündet, zu rauchen.

»In seinem Rucksack fanden wir zwei Ansichtskarten. Der Tote war wohl nicht mehr dazu gekommen, sie abzuschicken, obwohl bereits Briefmarken darauf klebten. Eine an eine gewisse Barbara von Bülow in Eutin-Uklei. Auf den ersten Blick belanglose Urlaubsgrüße. Aber da stand noch ein Nachsatz, den wir im Auge behalten sollten: ›Habe was Ideales für unser Projekt gefunden.‹ Die andere an einen gewissen Friedrich Georg Herzog von Altenburg auf Gut Altenburg. Nur mit der Bemerkung: ›Alles klar. Es kann losgehen.‹ – Ich weiß nicht, was der Graf damit meinte, aber die deutschen Kollegen sollten sich dahinterklemmen.

Übrigens hat uns Ihr Hinweis auf den gelben Mietwagen weitergeholfen. Er war auf einen gefälschten Namen gebucht, aber nach Recherchen in der Mietwagenzentrale und in Abgleich mit den Listen der Flugzeugpassagiere konnten wir den Burschen eindeutig zuordnen. Es handelt sich um einen in einschlägigen Kreisen wohlbekannten Auftragskiller einer russischen Mafiabande, wohnhaft in Hamburg, den Interpol schon lange im Visier hat, dem man aber bislang nichts nachweisen konnte. – Nun, das hat sich jetzt dank Ihrer Beobachtungsgabe geändert. Auf den Mann ist ein internationaler Fahndungsbefehl rausgegangen. – Pech für den Kerl, dass er ausgerechnet in der abgelegensten Gegend unserer Insel einem deutschen Kriminalbullen über den Weg laufen musste! – Bueno, wir hätten zwar einen Täter, aber weder ein Motiv und erst recht keinen Auftraggeber. Der wird ja allem Anschein nach in Deutschland zu suchen sein.«

Je länger der Comisario redete, umso mehr sackte Kroll in sich zusammen. Er spürte Unheil auf sich zukommen.

»Eutin – wo liegt das? Kennen Sie den Ort?«, fragte der Comisario.

»Nun ja«, druckste der Deutsche, »Sie werden es nicht glauben, aber das liegt in der Nähe meiner Heimatstadt Lübeck und gehört in meinen Zuständigkeitsbereich. Wenn sich der Fall als Mord herausstellen sollte, muss ich wohl oder übel Ihre Arbeit weiterführen.«

»Na prima, dann kann ich ja mal eine Dienstreise ins schöne Deutschland antreten. Vorher muss aber der örtliche Untersuchungsrichter entscheiden, ob die Unfalltheorie zugunsten einer Mordtheorie aufgegeben wird.«

Wenige Tage später war es offiziell: Die spanischen Behörden ersuchten die deutschen, namentlich die Regionale Kriminalbehörde Lübeck, um Amtshilfe.

Also doch: Anfangsverdacht auf Mord.

Kapitel 2: Michas E-Diary – 1. Teil

Eins – zwei – … eins – zwei … Hallo! – Mist, warum nimmt das verdammte Ding nicht auf? – Eins – zwei – drei … Aha, jetzt schlägt die Anzeige aus. Da muss man wohl erst bis drei zählen, damit es anspringt. Steht aber nicht in der Gebrauchsanweisung!

Egal. Jetzt geht’s los. – Also. Hier spricht Micha. Eigentlich Michaela, aber alle rufen mich nur Micha. Und mein neues Walkman-Handy nenne ich Ela. Denn es soll meine – wie sagt doch Papa immer zu Mama? – meine bessere Hälfte sein. Heute ist mein 14. Geburtstag, und jetzt, wo ich groß geworden bin, kann ich schließlich nicht mehr in ein Poesiealbum schreiben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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