Schattenschlucht - Marc Blankenhagen - E-Book

Schattenschlucht E-Book

Marc Blankenhagen

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Beschreibung

Es ist eine Zeit des Umbruchs in Mírínor: Der alte König ist tot und der neue noch nicht gekrönt. Diese Phase der Unsicherheit machen sich nicht nur alte Seilschaften in Staat und Kirche zunutze, um nach der Macht zu streben, sondern auch dunkle Mächte treten zunehmend in Erscheinung. So müssen die junge Novizin Nayla, der Priester Dairé, die Bauerstochter Lia, die sich dem Casting für die Rolle als neue Königin stellt, und der ehemalige Legionär Elric jeder für sich über sich selbst hinauswachsen, um das Reich vor Chaos und Untergang zu bewahren.

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Seitenzahl: 566

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-619-1

ISBN e-book: 978-3-99130-620-7

Lektorat: Falk-M. Elbers

Umschlagfoto: Marc Blankenhagen

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Raven Abyss; vormittags

Raven Abyss – nicht mehr als eine alte, kleine Kirche schmückte das Dorfzentrum des einst strategisch wichtigen Postens der Krone fernab im Süden. Die mírosísche Kultur blätterte Tag für Tag von den mehr als hundertjährigen Wohnhäusern und dem alten Beobachtungsturm ab. Die Malereien eines seit Jahrzehnten zerfallenden Handelspostens schmückten kaum noch das steinerne Rathaus, dessen bröckelnde Steine bereits seit Jahren nur noch grob und kalt von Holzplatten zusammengehalten wurden.

»Seitdem der Nachschub für Raven Abyss abgeschnitten und doch auch ganz ausgegangen ist, zerfallen wir immer mehr«, erzählte Elric, als er dem neuen Priester Rowan Sinclair der Kirche Lumen Ecclesia, der selbst noch nie einen Fuß in das Dorf gesetzt hatte, die Lage von Raven Abyssund seiner Gemeinschaft schilderte. Rowan selbst lebte sein Leben lang in der nahe dem Wasser liegenden, von der Kultur des Reichs geprägten drevanischen Handelsstadt Ezirholdor. Ezirholdor, eine reiche Stadt am Ufer des Etimoftha-Sees, dessen Wasser noch hellblauer und gläserner war als das Blau des Himmels. Gewidmet war der See Alejandra Etimoftha, der Tochter des ersten Kaisers Paulveno.

Doch die Zeiten, in denen es einen Kaiser gab, waren schon lange verflogen. Elric selbst kannte die Kaiserzeit nur noch aus den Geschichten seiner Eltern oder aus den Bildern eines kleinen Jungen, die er noch im Kopf trug. Die Erzählung des paulvenischenKaiserreichs,das sich von den hier gelegenen Nordostschlucht-Tälern von Azynthorinüber das Morqous-Gebirge im weiten Osten bis hin zu den Sandstränden und zum Perlenmeer im Süden in der Nähe der Reichshauptstadt Celestiaerstreckte; und nicht zu vergessen das Baliuren-Sumpfgebiet und der große Paulveno-Wald im Westen des Kontinents und dessen sagenumwobene Geschichten über einen verfluchten Nekromanten, der wohl böse Zwerge unter sich vereinte, die, wenn du sie zu lange anschaust, dir die Augen auskratzen.

»Sicher, dass Ihr dieser Aufgabe gewachsen seid?«, fragte Elric den aufmerksam zuhörenden Prediger aus der Weststadt.

»Ihr seid noch recht jung für jemanden, der das Wort Gottes predigen soll. Wie alt seid Ihr?« Rowan starrte ernüchtert auf den steinernen Kirchenboden, als würde er sich für sein doch noch junges Alter wirklich rechtfertigen müssen.

»Neunzehn«, antwortete er ihm. »Aber ich hoffe nicht, dass das von großer Bedeutung ist, hier zumindest.«

»Nein, da habt Ihr recht, ich finde es dennoch sehr wagemutig von Euch, allein so weit, ohne große Lebenserfahrung von zuhause weg zu sein.« Rowan blickte zu Elric hinauf und die beiden tauschten jetzt erst wieder den ersten Blickkontakt nach Minuten.

»Ihr wisst doch, ich bin nie allein.« Er schmunzelte. »Allein wäre ich wahrscheinlich auch nie hier gelandet. Es war letztlich der Bischof aus der Hauptstadt, der mich hierhin schickte«, erklärte Rowan.

»Natürlich«, platzte es aus Elric heraus. Er hätte sich auch schlecht vorstellen können, dass Menschen wirklich aufgrund der guten Luft oder der angegrauten Gebäude hierherkommen würden.

»Wie lange lebt Ihr hier schon?«, preschte der Neuankömmling vor. Elric nahm einen tiefen Atemzug. »So lange, wie ich mich erinnern kann, wahrscheinlich mein gesamtes Leben schon.«

»Zu lange«, fügte er hinzu. »Das Dorf damals verlassen habe ich nur für meine Arbeit.« Rowan starrte von der Seite.

»Und als was? Damals gab es hier doch noch viel mehr Arbeit, als noch reger Handel zwischen dem Osten und dem Südwesten stattfand.«

»Ich arbeitete für den damaligen König und für seine Handlanger und für deren.« Er erwiderte Rowans forschenden Blick. »Und mehr braucht Ihr darüber nicht zu wissen«, bedeutete Elric ihm streng, aber mit ruhiger Ader, so als würde ein Lehrer seine Schüler belehren.

»Was hindert Euch, heute einfach von diesem Ort zu verschwinden? Ich meine, wollt Ihr nicht mal einen Tapetenwechsel und Sonne?«, löcherte Rowan ihn.

»Warum sollte ich«, begann Elric. »Hier habe ich alles, was ich brauche, Freunde, meine Frau Aurora und die Lebensaufgabe, dieses kleine Häufchen Elend von Gemeinschaft am Leben zu halten. Und Ihr könnt mir womöglich bei all euren Westlandserfahrungen keinen Wald zeigen, in dem das Jagen so befriedigend sein kann wie hier.«

Die beiden liefen über die Türschwelle der einzigen noch verbliebenen Sehenswürdigkeit des Dorfs und verabschiedeten sich fürs Erste voneinander.

»Also, mein lieber Bruder, ich hoffe, wir sehen uns am Sonntag. Und möge Gott bei allem, was Ihr tut, bei Euch sein«, predigte Rowan fast schon.

»Und möge Friede mit Euch sein«, verabschiedete Elric sich und lief über den von Karren gezeichneten Erdweg zu sich nachhause.

An manchen Stellen ließen sich hier und da noch Kopfsteinpflasterwege erkennen, die aber durch den Dreck und den Verschleiß der Zeit für fremde Augen nicht weiter sichtbar waren. Auf dem Weg blickte er auch fernab nach oben, ob Raben oder Vögel über ihm kreisen würden. Doch nicht einmal das, einfach nichts. Nur der gewohnte dauergraue Himmel, der so gut wie wolkenlos und sonnenlos war. Schon als er Kind war, war so etwas wie Sonne oder Wärme trotz der damaligen doch recht wohlhabenden Bewohner eine Seltenheit. Das Wetter, das hier üblich herrschte, konnte man teilweise an der grauen, verblassten Haut der Dörfler ablesen, die damit fast schon etwas Verfluchtes hatten.

Der graue Himmel, der Nebel und das kalt-nasse Klima, das hatte immer schon etwas Verfluchtes, dachte sich Elric, der jetzt an dem alten Beobachtungsturm vorbeikam. Der Turm, damals erbaut, um die Karawanen und die Handelswege in die Schlucht und aus ihr heraus zu bewachen, war heute höchstens noch gut, um die Lage des Wilds im nahegelegenen Azyn-Waldauszumachen. Heutzutage steht dort so gut wie niemand mehr.

Besser für Elric. Er stieg vorsichtig die alten Stufen zum Turm hinauf, darauf bedacht, nicht die bröckelnden Stellen der Treppen zu erwischen und damit dem Turm nicht noch ein bisschen mehr Stein zu nehmen. Die alten steinernen Wände hingegen hielten sich trotz der mangelnden Pflege relativ gut, anders als die Treppen fiel dort zumindest nichts herunter oder hatte in irgendeiner Form Risse. Das Tragischste, was man an den Wänden finden konnte, waren Kletterpflanzen, die sich wirr umeinander stritten, wer durch die kleinen Schlitzspalte bei einem der Steine an die kalte Luft hinauswachsen konnte.

Gleich geschafft, dachte sich Elric, als er den wachsenden Luftzug spürte und einen Hauch gesteigerter Helligkeit in seinen Augen bemerkte. Der letzte Schritt nach oben war getan. Und ungeachtet aller sonstiger Situationen hatte er heute Pech oder doch Glück? Er war nicht allein, doch es war auch kein Fremder, den er dort sah.

»Ryker«, stieß Elric aus. »Elric.« Der gut gebaute Mann im Ledermantel lächelte. »Was machst du denn hier?« Elric freute sich.

»Solltest du nicht in Vornithor stationiert sein?«, fügte er hinzu.

»Ja, sollte, aber man hat mir freigegeben, bis zur Krönung des neuen Königs«, sagte Ryker ihm mit lächelndem Gesicht, um die Freude, seinen alten Freund nach mehreren Jahren des Abstands wiederzusehen, nicht zu verbergen.

»Warte, der König ist tot?!«, unterbrach Elric mit weit aufgerissenen Augen die fröhliche Wiedersehensstimmung.

»Ja, der gute Veldor, Zweiter seines Namens«, spottete er, »hat vor etwa zwei Wochen im Alter von fünfzig den Löffel abgegeben.«

»Wahrscheinlich besser so«, fügte er ungerührt hinzu.

»Den Zuhälter und seine Huren mochte eh keiner.«

»Und weiß man schon, wer der neue Erbfolger des paulvenischen Reichs wird?«, fragte Elric, als würde er Ryker gerne in eine politische Diskussion führen wollen, auf die beide eigentlich keine Lust hatten.

»Naja«, fing er an. »Er hat zwei Söhne, von denen der ältere ein Bastard ist und der andere ein Zwanzigjähriger mit Wutausbrüchen, der, obwohl er der jüngere ist, aufgrund seiner Herkunft einer legitimierten Ehe der neue König sein wird.«

Er sprach weiter, wie ein Lehrling zu seinem Meister, darauf bedacht, alles richtig zu erzählen und nichts außer Acht zu lassen.

»Wie es die drevarianische Kultur in der Sache nun verlangt, muss jetzt die neue Königin aus dem Volk ausgesucht werden. Und jetzt findet auf Vornithor das Auswahlverfahren statt, welche der Frauen, die sich freiwillig gemeldet haben, zur Königin wird.«

»Also wieder wie auf dem Viehmarkt«, fügte Elric hinzu.

Nickend spottete Ryker: »Nur ist das, was man auf dem Viehmarkt bekommt, wesentlich erträglicher.«

Der Nebel legte sich. Endlich konnte man auch mehr sehen als die weiße Nebelbank, die zuvor den Blick auf den Wald und das Gebirge vor ihnen verdeckt hatte. Und da plötzlich ein Hirschrudel, es rannte von den nahegelegenen Feldern der Bauern in den Wald. So, als würden sie jetzt schon von jemandem oder etwas verfolgt.

»Siehst du die?«, sagte Elric und deutete auf das rennende Rehrudel.

»Eins davon nehme ich mir heute mit nachhause.«

»Na dann viel Spaß, wird bestimmt was werden, so wie du Bogen schießen kannst«, neckte Ryker ihn.

»Willst du dann nicht mitkommen und mir eine Lehrstunde in Sachen Zielen und Treffen geben?«, konterte Elric mit dem Hintergrundwissen, dass Ryker zwar ein Meister mit dem Schwert war, aber genauso grottig wie er mit dem Bogen.

»Ich will dir den ganzen Spaß nicht nehmen«, witzelte er. »Ich werde mir dein Versagen von hier oben ansehen.«

»Na gut, sei aber nachher nicht neidisch, wenn alle weg sind.«

Elric ging wieder zu den bröckelnden Stufen, über die er hochgekommen war, Schritt nach Schritt ging er mehr und mehr der Dunkelheit entgegen. Der erste Lichtkegel ließ sich wieder blicken, gleich war er wieder unten. Bevor er jedoch hinaus ans Tageslicht treten konnte, nahm er ein lautes Flügelschlagen neben sich wahr und dann ein Krachen, das sich direkt neben seinem Ohr abspielte.

»Scheiße, was war das«, stieß er aus und blickte zu seiner Rechten, wo das Geräusch herkam.

»Ein Rabe!«, sagte er mit Nachdruck, um es sich mit seiner Stimme klarzumachen, dass da gerade wirklich ein Vogel in einer der schmalen Lücken der Turmsteine steckte. Sein Schnabel war von der Enge des Schlitzes verbogen und sein schwarzer Kopf passte, so gepresst er auch in dem Spalt war, fast schon perfekt zu den Steinen.

Elric beschloss, den Raben noch etwas länger anzustarren, als würde er sich wirklich noch bewegen können.

Der ist dann wohl tot, dachte er sich, nachdem er die weißen Augen des im Volksmund bekannten Unglücksbringers sah.

Doch falsch gedacht, als er dabei war, seine Augen von dem Tier abzuwenden, begann es zu krächzen. Elric wich erschrocken zurück und fiel auf den Treppenstufen zu Boden. Er sah den Raben gebannt an und konnte, so sehr er auch wollte, nicht die Augen von ihm lassen.

Seine milchig weißen, angegrauten Augen begannen sich ins Schwarze zu färben. Auf einmal schaffte es der Rabe doch wirklich, einen seiner Flügel, der derartig beschädigt war, dass man schon fast den Knochen sehen konnte, aus dem Spalt zu winden, in dem er verklemmt war, und mit diesem wild herumzuflattern.

Wenige Sekunden später folgte der zweite zerrupfte Flügel. Dann auf einmal wie ein Pfeil schoss der Rabe nur knapp an Elric vorbei und knallte mit seinem Schnabel auf die entgegengesetzte Mauer des Turms. Elric warf nur einen kurzen Blick auf den Vogel, um festzustellen, ob nun dieser ganze Spuk vorbei war.

Die Augen des Raben hatten sich wieder milchweiß gefärbt. »Danke Gott, es ist vorbei«, sagte er erledigt, als hätte er gerade zwei Holzstämme auf einmal tragen müssen. Er stand auf, als das Krächzen des Viechs vom einen auf den anderen Moment wieder anfing.

Nein, nicht nochmal, schoss der Gedanke ihm durch den Kopf und er zerquetschte den Raben unter seinem Stiefel, bevor der weitere Laute von sich geben konnte. Endlich schaffte Elric es nun, aus dem Turm hinauszulaufen und sich auf den Weg zu seinem Haus zu machen, um seine Jagdausrüstung zu holen.

Ezirholdor; mittags

»Nayla, kommst du?«, rief die Frau im Ordensgewand ihr zu.

»Wir sind jetzt schon zu spät«, fügte sie hinzu.

»Und ich will die Mutter nicht noch länger warten lassen, du weißt doch, wie sie reagiert, wenn wir zu spät kommen, vor allem jetzt, wo sie gesagt hat, dass es so wichtig ist.«

Nayla ignorierte ihre Worte noch immer, starrend beobachtete sie einen der Toreingänge Ezirholdors, der schräg von einer ein paar Meter langen Mauer für die Frau im Ordensgewand verdeckt wurde. Täglich passierten das mit Sandstein erbaute Tor Hunderte von Menschen, Soldaten und Händler aus allen Ecken und Enden des Reiches.

Die Frau mit dem Gewand wandte sich nun eilig Nayla zu, die bisher alle Versuche der Frau, sie aus ihrer halben Trance wachzurütteln, abgewehrt hatte. Mit eiligen Schritten ging sie auf sie zu und nur auf Nayla fokussiert fragte sie: »Alles gut bei dir?«

»Guck mal, Jula«, sagte Nayla verängstigt, nachdem sie anscheinend erst jetzt ihre Freundin hörte.

Jula wandte ihren Blick Naylas Augen folgend schräg hoch auf den Wall über dem Tor.

»Mein lieber Himmel«, stieß sie aus und bekreuzigte sich mit der rechten Hand.

Die Sache, auf die Nayla die ganze Zeit den Blick richtete, war nichts Geringeres als ein aufgeknüpfter Mann mit geöffnetem Bauch, in dem sich durch das Dahinfaulen schon die ersten Maden ihr zeitweises Zuhause einrichteten. Dazu kamen noch die ausgepickten Augen, die wohl das Werk einiger Vögel waren.

In jenem Moment lief eine Soldatenwache über den Wall. Sie hatte etwas Stroh in der linken Hand und ging zielgerichtet mit großen Schritten auf den dahinwesenden Körper zu. Aber anders, als Novizin Nayla es sich erhoffte, kam der Mann nicht, um jenen Körper von dort oben herunterzuholen, sondern stattdessen nahm er das Stroh in seiner Hand und drückte es als runde Kugeln in die fast leeren Augenhöhlen des Gesichts, damit ihn die Vögel auf dem Wall bei der Aufgabe des Wachens über die Menge nicht störten.

Der Aufgeknüpfte selbst trug für die Verhältnisse des Teils der Stadt, in dem er hing, wohlhabende Kleidung. Seine grüne Robe war nur von seinem eigenen Blut bekleckert und von ein paar grauen und schwarzen Federn. Seine Schuhe bestanden aus Leder und teilweise Tierfell und liefen vorne Spitz zusammen. Über seinem Hals trug der Körper ein Holzschild. »Lang lebe der König« stand auf ihm mit roter Farbe geschrieben.

»Komm, lass uns gehen«, sagte Jula mit lauter Stimme. Sie packte Nayla an der zittrigen Hand und riss sie einfach mit.

Die beiden liefen weiter durch die von Erde und Schmutz bedeckten, mit dunkelgrauen, achteckigen Kacheln gepflasterten Straßen der Unterstadt, für die es typisch war, dass sich zwischen den kriminellen und gefährlichen Schwarzmärktlern auch an so gut wie jeder Ecke prostituierte Seelen befanden. Die Prostitution allgemein war in Ezirholdor in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich gesehen immer wichtiger geworden.

Die Einnahmen mancher Freier ernährten ganze Familiendynastien und brachten bei den strengen Auflagen der sacristischen Kirche auch manchen Kontrolleuren und Stadtwachen gute Bestechungsgelder ein. Die Bordelle, zwar von außen für ein fremdes Auge so gut wie unsichtbar und meist als Wohnhäuser oder Schmieden getarnt, reihten sich hier jedoch zu zweit und dreifach aneinander.

Doch wie die Zukunft aller Menschen war auch die der Zuhälter ab der Krönung des neuen Königs ungewiss. Bisher profitierten beide Seiten, Krone und Etablissements. Die Krone garantierte den Freudenhäusern Sicherheit und Arbeitsfreiheit für die Prostituierten. Und die Krone erhob dafür Steuern und Abgaben bei den wohlhabenden Bordellbesitzern.

Nach wenigen Minuten gingen sie dem nächsten Tor entgegen, dieses Mal ohne einen Toten, der über den Mauerwall ragte. Sie waren nun auf den Märkten der Stadt angekommen, die sich links und rechts von ihnen aneinanderreihten. Zwar hat Ezirholdor nicht mehr länger den Glanz der damaligen Kaiserzeit, dennoch fand man noch immer Waren, Händler und Menschen aus allen Teilen des zusammengeschrumpften Reichs.

An der einen Ecke ein Mann, der seine Gewürze aufgrund der hohen Preise nur schwer verkaufen konnte, neben ihm eine ärmliche Frau, die anscheinend versuchte, falsche Silberarmbänder an wohlhabendere Frauen zu verhökern. Der nächste Stand, den Nayla und Jula passierten, war ein ganz gewöhnlicher Gemüsestand, wie es ihn überall im Reich hätte geben können. Dennoch handelte auch hier jeder so gut, wie er nur konnte, um einen gesenkten Preis.

Nayla und Jula gingen nun zielstrebig rechts in eine kleine Seitengasse, die sie oftmals nutzten, um nicht den ganzen Bettlern und Armen an der nächsten Kreuzung entgegenzulaufen. Die kleine Gasse war zwar nur schmal und oftmals von Fäkalien beschmutzt, dennoch empfanden sie es als sicherer, sich und ihre Kleidung kurz durch die Scheiße zu drücken, anstatt von betrunkenen Bettlern, so leid sie ihnen auch taten, ausgeraubt oder wegen ihrer Gutmütigkeit ausgenommen zu werden.

Zurück auf dem Pflasterweg mussten sie nun nur noch an den Menschenmengen vorbei, um zu einem runden Marktplatz zu gelangen, auf dem sich inmitten der vielen Seiden- und Wollläden eine vierhundert Fuß hohe Kathedrale befand, die sich mit ihren drei Türmen am östlichen Anfang und am westlichen Ende die höchste Anlage des gesamten Reiches nennen durfte.

Die aus Sand- und Graustein bestehenden Türme und das gesamtschiff der Kirche, das wie eine ovale Pyramide geformt war, wurden bereits seit einhundertelf Jahren gebaut und standen auch kurz vor der Vollendung. Den Anstoß zum Plan und zum Bau der Regnum Coelestis hatte Benet Etimoftha gegeben. Er selbst war dritter Kaiser des paulvenischen Reichs und zweiter Enkel von Paulveno Etimoftha.

Die zwölf Fuß hohen Eingangstore des Bauwerks bestanden aus geschliffenem, schwarzem Marmor und die großen Türen aus Eichenholz bildeten in Kleinformat die Kaiserlinie der paulvenischen Kaiser ab. An erster Stelle ganz links des Tores sah man die Abbildung eines Mannes, der vermutlich den ersten Kaiser Paulveno Etimoftha darstellen sollte, der sein Kaiserreich durch Kriegseroberungen und geschickte Diplomatie gründete, hielt und erweiterte.

An nächster Stelle stand dessen Sohn Rovan Etimoftha, bekannt für seinen großen Familienbaum und seine dreizehn

Kinder. Er hatte sechs Söhne:

Paulveno den Zweiten, Benet, Asrael, Aramael, Maèl und Sarazel Etimoftha.

Und sieben Töchter:

Amara, Alba, Éva, Sylva, Sibyll, Josetta und Ravenna Etimoftha.

Der Dritte in der Blutslinie war Rovans zweiter Sohn Benet, da sein erster Sohn Paulveno aufgrund seiner Lepra-Erkrankung verzichtete und dem Orden der Nymphara beitrat, einem Orden, wo die kränksten, aber doch gottesfürchtigsten Adeligen und Kämpfer aus allen Teilen der Welt zusammenkamen, um ihre letzten Jahre in den Dienst Gottes zu stellen.

Unter Benet wurde die fast in der ganzen mírínorischen Welt bekannte Regnum Coelestis geplant und gebaut. Der Vierte der Linie war Marel, der erstgeborene Sohn Benets. Er war der Kaiser mit der kürzesten Regierungszeit, mit gerade einmal drei Jahren. Marel war bekannt für seine sanftmütige und ruhige Ader, manche sagten, genau das sei der Grund gewesen, weshalb ihn sein Bruder Meric erstach.

Unter Meric, der seinem kinderlosen Bruder Marel nachfolgte, geriet das Kaiserreich aufgrund von immer wiederkehrenden Bauernaufständen gegen die hohen Steuern in eine wirtschaftliche Rezession. Das veranlasste Meric dazu, den wohlhabenden Bordellbesitzern im Gegenzug für Geld politischen Einfluss innerhalb des Kaiserreis zu gewähren.

Anders als sein Sohn Kesar hatte Meric sein Volk nie absichtlich unterdrückt oder sich gewünscht, gefürchtet zu werden, trotz der vielen Aufstände, die er gewaltsam niederschlug. Kesar Etimoftha war hingegen für viele ein Unterdrücker, der sich den Namen auch wirklich verdienen wollte.

»Der einzige Weg, sein Reich unter Kontrolle zu haben, ist dafür zu sorgen, dass die kleinen Menschen sich mehr vor mir fürchten als vor irgendeinem Feind!«

Neben vielen Hinrichtungen, die er mit der Axt, dem Feuer oder dem Aufhängen verantwortete, führte er auch zeit seines Lebens einen Krieg gegen die Paulvener, einen in seiner Zeit gegründeten Kampfverband, dem verschiedene Söldner, Mönchskrieger, Kämpfer und Untergrundadelige bei Hofe angehörten und dessen Ziel es war, das paulvenische Reich vor Gestalten wie Kesar zu schützen.

Am Ende der Paulvener stand jedoch nach acht Jahren des Widerstands und der Rebellion jene Anklage auf Hochverrat und das lange Ende aller Paulvener in der Folter- oder der Hinrichtungskammer. Doch genauso schnell, wie das Ende der Paulvener anrückte, sollte auch das Ende Kesars bevorstehen. So starb er nur drei Wochen nach der Exekution des letzten Paulveners, mit einer Klinge jener Fraktion im Hals. Manche erzählen sich, dass es der Geist eines Paulveners war, der ihn umbrachte. Manche waren etwas weniger abergläubisch und verdächtigten eine seiner Leibwachen oder wen auch sonst.

Bessere Zeiten sollten kommen. Fran Etimoftha, Erster seines Namens, bestieg zwei Wochen nach dem Tod seines gehassten Vaters den Thron. Er führte das Land aus seinen Krisen und machte das Leben im Kaiserreich für jeden etwas Lebenswerter. Unter ihm wurde die Handelsstadt Ezirholdormit ihren großen Häfen und Docks ausgebaut und somit neben der Hauptstadt Celestia zu einem der größeren Wirtschaftsstandorte des heutigen Mírínor. Seine Herrschaft endete, als er im hohen Alter von einundsiebzig Jahren ähnlich friedlich eingeschlafen ist, wie sein Reich die ganzen Jahrzehnte seiner Herrschaft über wuchs.

Sein Sohn Paulveno der Vierte bestieg den Thron. Er war unzufrieden mit den Autonomiegesetzen, die sein Vater verabschiedet hatte und die den verschiedenen Völkern des paulvenischenReichsund ihrer eigenen Kultur unter seiner Herrschaft das Recht auf Existenz gaben. So beschloss Paulveno, jedem Volk – den Silvari, denen oftmals unterstellt wurde, sie würden für ihre Schönheit einen Pakt mit dem Teufel eingehen, denSedúren,dem südlichen Fischer- und Handelsvolk, das jenseits des Etimoftha-Seesheute sein eigenes Reich pflegte,und denMakopen,welche im Südwesten des paulvenischenReichs lebten und insbesondere für ihre Architektur aus Sandstein bekannt waren, aus jenem Stein, aus dem auch der Großteil der Hafenstadt Ezirholdorbestand – seine Autonomie und sein Recht auf eine eigene Kultur, die jene Völker schon seit Jahrhunderten pflegten, zu nehmen.

Die Silvari, die Sedúrenund die Makopen sollten die Kultur Mírínorsakzeptieren und leben. Somit wurde unter Paulveno gewaltsam versucht, die drevanischeKultur in jene Teile der paulvenischen Welt zu bringen, die andere Bräuche, Traditionen oder Sprachen hatten, selbst wenn die um alles gewobene Religion des Sacrismusschon das gesamte Reich irgendwie verband.

Letztlich stand für zwei der Völker fest: Bevor sie ausgerottet werden würden, lösten sie sich lieber durch die große Sommerrevolution als zwei unterschiedliche souveräne Staaten ab. Die Makopenriefen das Mauzunen-Königreich aus und die Sedúrendie erste Zevilische Republik. An den Silvarianernwurde ein Völkermord verübt und damit ging das gesamte Volk der Silvari,dem zu Zeiten des Eroberers Paulveno noch zwei Millionen Menschen angehörten, zum Ende des paulvenischen Reichs auf null zu.

Am Ende stand für Paulveno den Vierten der Zerfall eines knapp zweihundert Jahre alten Kaiserreichs. Mit nur noch der Hälfte der Landmasse und einem Verlust von rund einem Drittel der gesamten Bevölkerung wurde das neue Mírínor ausgerufen. Ein Königreich-Titel, der damals unter dem Kaiserreich eben auch nur das war. Paulveno der Vierte dankte nach dem Zerfall und der Gründung des neuen Königreichs, fünf Monate nach der Krönung zum König, ab. Sein Sohn Veldor Etimoftha übernahm im Alter von einunddreißig die Geschäfte des Reichs und wurde eine Woche nach der Abdankung seines Vaters zum ersten gebürtigen König Mírínorsgekrönt. Kürzlich war auch er gestorben und die Krönung des neuen Königs blieb aus.

Nun betrat auch Nayla die Monastery.

»Jetzt komm doch«, rief Jula ungeduldig.

»Ich will nicht, dass sie uns schon wieder zum Putzdienst verdonnert, nur weil du wie ein Narr eine Tür anglotzt.«

»Tut mir leid … ich bin nur immer wieder von den Geschichten und den Menschen der Vergangenheit gefesselt.«

»Ja, aber nicht jetzt, in Ordnung?«, keifte Jula schon fast mit

ihrer eigentlich immer so ruhigen Stimme.

Nayla nickte nur mit dem Kopf, als würde sie sich dafür schämen, ihre Ordensschwester und Vorgesetzte zu stressen. Jula führte Nayla wie immer durch die verwinkelten Gänge der Kathedrale. Viel gab es hier nie zu sehen, außer ein paar Fackeln als Licht- und Wärmespendern hingen in den kargen und steinernen Gängen nur selten Bilder an den Wänden. Meistens zeigten diese ein bestimmtes wichtiges Ereignis im Leben Jesu oder doch nur ältere Damen, die für ihre Aufopferung und Arbeit in der Monastery gewürdigt wurden.

Nun öffnete Jula hektisch eine der beiden mit Holzschnitzereien verzierten Holztüren, die in das Kirchenschiff und die dahinter liegenden Gemächer und Arbeitszimmer der Nonnen und der Generaloberin führten.

In dem eckigen, aber rund wirkenden Hauptraum erstreckte sich über dem vorspringenden Altar, der aus weiß gefärbtem Sandstein bestand und mit der Inschrift

»Gelvenstew narvoso Paulvex seen sevorius Retto Jesa in derexa Machtorium«

verziert war, eine große, mit Mosaikglas gestaltete Kuppel.

Zwar war Nayla den Anblick der großen, runden, mit farbigem Glas verzierten Kuppel schon lange gewöhnt, dennoch blieb sie wie auf magische Weise immer kurz inmitten des ovalen Kirchenschiffs stehen, um die sich weit und hoch erstreckende Sonne, die sich im lila, grünen und weißen Mosaikglas spiegelte, zu betrachten.

Das Mosaik war so angeordnet, dass sich ein Bild aus drei Personen ergab: Die eine richtete ihre Hand nach vorne, während die anderen zwei neben ihr auf etwas scheinbar vor sich deuteten. Wer die Figuren waren oder auf was sie zeigten, wusste man nicht, selbst Jula und die anderen Nonnen der Monastery waren ahnungslos.

»Echt jetzt.« Jula stöhnte gut hörbar durch den Hall des Raums.

»Du könntest echt Architektin sein, so sehr, wie du dich anscheinend für Baukunst interessierst.«

»… tut mir leid … du weißt ja, wie ich bin«, entgegnete Naylaauf die sarkastische Bemerkung ihrer Ordensschwester.

»Schon gut …, wenn wir nachher den Boden reinigen müssen, schau ich dir einfach dabei zu«, meinte Jula mit einem ironischen Lächeln.

Nun gingen sie einen weiteren Korridor entlang. In dessen Wände waren hellgelbe Kacheln und Mosaikbilder von Ikonen eingelassen. Danach ging es jedoch – anders als von Nayla immer erwartet – nicht geradeaus durch einen großen Torbogen, der in diesem Fall in die Abtei der Mönchsarbeiter geführt hätte, sondern es ging nach rechts weiter durch eine unscheinbare Holztür, die sich am Ende des Korridors in der Ecke befand.

Jula öffnete sichtlich nervös die Holztür und betrat den runden Abteiraum der Generaloberin Leandra.

»Mutter, wir sind hier, wie Ihr befohlen habt.« Jula räusperte sich erschöpft.

»Ja, das sehe ich … und das auch nur elf Minuten zu spät«, sagte die Generaloberin streng, aber mit ruhiger Stimme, während sie auf ihre Taschenuhr schaute.

»Wurdet ihr aufgehalten?«, wollte sie mit nachbohrender Stimme wissen.

Bevor Jula sich eine halbwegs gute Ausrede einfallen lassen konnte, die Nayla nicht direkt die Schuld für das späte Erscheinen geben würde, schritt Nayla selbst mit ihren Worten ein.

»Die Bettler haben uns wieder aufgehalten, und die Baumeister meinten, dass wir einen Umweg gehen müssten … tut uns leid.«

»Bettler … ja?«, sagte Leandra skeptisch.

»Höchste Zeit, dass die Soldaten sich um diese Menschen kümmern und nicht unnötig kleinen Geheimbünden hinterherjagen«, spottete sie.

»Natürlich«, antwortete Nayla aus Nervosität.

»Also … ihr fragt euch bestimmt, was mich dazu veranlasst, euch an so einem schönen Tag zu mir zu bitten, nicht wahr?«, stellte die Generaloberen rätselhaft in den Raum.

Keine, weder Jula noch Nayla, wollte wirklich auf diese Frage, die eigentlich gar keine richtige Frage war, antworten. Das Einzige, was Nayla tat, war, mit ihrem gesenkten Kopf einmal zu nicken.

»Also«, begann sie, »der Grund, weshalb ihr hier seid, ist, dass ich euch für eine Geheimmission brauche … nichts Großes, ihr müsst nur für mich ins Valandria-Faelnor-Kloster. Schafft ihr das?«

»Das alte Kloster, das neben dem Paulveno-Wald liegt?«, meinte Jula mit aufgerissenen Augen.

»Ja«, antwortete die Generaloberin. »Ihr werdet nach Westen reisen. Der Grund, weshalb ihr dort für mich stellvertretend erscheinen werdet, ist, dass Gerüchten zufolge von Oberin Hérra eine dunkle, erdrückende und bösartige Präsenz innerhalb der Klostermauern vernommen wurde … und ihr sollt nun hingehen und einige Wochen dort verbringen.«

Jula und Nayla mussten schlucken. Dunkle, bösartige Präsenz – als wären sie Exorzisten, die nun einen Dämon aus einem Kloster vertreiben sollten. Genau das waren die beiden eben nicht. Nayla, die sich noch immer in ihrer Ausbildung befand, und Jula, welche selbst kaum Latein oder die gelehrte Theologensprache Scar beherrschte, beide hatten von Besessenheit keine Ahnung und wussten auch nicht mehr als das Vaterunser. Doch die Generaloberin war noch nicht fertig.

»Ihr werdet nach eigenem Ermessen handeln und erst dann zurückkehren, wenn ihr nach eurem Ermessen genug Beweise für oder gegen eine Heimsuchung des Klosters habt!«, forderte sie und schlug währenddessen ein altes Buch auf, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag, welcher aus Eschenholz bestand. Sie blickte Jula und Nayla an. Beide sahen nicht beindruckt oder zumindest nicht begeistert von ihrer Mission aus.

»Euch bedrückt doch etwas, meine Kinder. Sprecht es ruhig aus, dafür hat der Herr euch einen Mund gegeben«, meinte sie, als könnte sie in die Köpfe ihres Gegenübers schauen.

»Bei allem Respekt, Mutter«, begann Jula auszuführen, »Nayla befindet sich noch immer in der Phase, in der sie lernt und den Rang einer Novizin innehat. Ich denke nicht, dass sie schon bereit wäre, an den Ort einer Besessenheit zu gehen.«

Die Generaloberin starrte zu Nayla, die im ersten Moment nicht realisierte, dass jene ein bestätigendes Nicken von ihr erwartete oder doch ein gegenteiliges Kopfschütteln. Nayla nickte, in der Hoffnung, damit Jula zuzustimmen, dass sie allein wegen der Geschichten des verfluchten Waldes und seiner Bewohnern nicht in die Nähe dieses Klosters wollte.

»Und trotzdem sprichst du nur von ihr«, begann die Generaloberin Jula bewertend abzustufen. »Wenn es für Nayla ein großes Problem darstellen sollte, kannst du ja allein gehen.«

Jula warf ihr nur ihre weit aufgerissenen Augen als Antwort entgegen und begann wie eine Statue, die steinhart geworden war, auf sie zu starren, als würden ihre grünen Augen versuchen, der Generaloberin den Gedanken der Reise auszutreiben.

»Also doch nicht so heldenmutig … Schade«, ergänzte Leandra als Reaktion auf Julas Blick, welchen diese mit einem Kopfsenken nach unten abbrach.

»Nun gut«, fuhr sie fort, »dann macht euch bereit. Morgen in aller Frühe geht es los. Ihr werdet mit Ramon reisen, er wird für eure Sicherheit zuständig sein.«

Nayla schluckte. Was meinte sie mit Sicherheit? Die alten Handelswege, die nach Osten und auch nach Westen führten, waren doch mit Wachposten versehen. Scharmützel oder Überfälle auf Karawanen oder Händler gab es maximal selten, vor allem jetzt, da der alte König tot war und der neue erst gekrönt würde, waren alle Soldaten und ihre Generäle in Alarmbereitschaft. Keiner würde so offensichtlich einen der meistgenutzten Wege des Reichs angreifen.

Nayla verwarf schnell den Gedanken. Sicherlich würde man ihnen einen der Karawanenwächter nur für alle Notfälle zur Seite geben. Sicherlich war es nichts als eine Formalie.

»Was die Verpflegung angehen wird, ist für euch im Kloster gesorgt. Worum ich euch aber bitte, ist, dass niemand aufgrund der schäumenden Gerüchte in den Paulveno-Wald geht«, ließ die Generaloberin streng zum Ende ihrer Exposition anklingen.

Nayla und Jula hatten zwar von den Legenden und den Märchen des Paulveno-Walds gehört, allerdings dachten sie nicht, dass die Generaloberin jene Märchen und Erzählungen von den bösartigen Zwergen und dem verfluchten Nekromanten meinte. Oder vielleicht doch, dachte sich Nayla und musste genauer nachbohren.

»Warum denn nicht?«, fragte sie mit beklommener Stimme. Leandra schwenkte überrascht ihren Kopf. Nachfragen dieser Art wie warum, weshalb, weswegen gab es bei ihr nur selten. Die meisten Ordensschwestern oder Novizinnen machten einfach das, was ihnen aufgetragen wurde, ohne zusätzliches Wissen über bestimmte Aufträge oder gar Geheimmissionen zu wollen. Allerdings mochte es Leandra auch ein bisschen, wenn ihre Schülerinnen wissbegierig und lernfreudig waren, weshalb sie dieses Mal eine Ausnahme machte und ihr nicht das übliche »mach einfach das, was ich dir gesagt habe« entgegenwarf.

»Es ist euch und den anderen Schwestern bestimmt noch nicht zu Ohren gekommen, glücklicherweise«, begann die Generaloberin sich mit ihren Händen auf ihrem Arbeitstisch abstützend auszusprechen.

»Unsere Spione, die Augen und Ohren unseres Ordens und die unseres Königs, Jesu habe ihn Selig, berichteten uns von Vorkommnissen im Westen, besonders im Arial rund um den Wald unseres ewigen Kaisers Paulveno. Eine ›Vereinigung‹ aus Soldaten und Bauern soll ihr Unwesen treiben, es wird von einem Aufstand gesprochen, aber keiner weiß Genaues.«

Nayla wendete ihren Kopf und sah panisch zu Jula, welche auf die Beichte ihrer Ordensmutter mit einem zusammenfassenden »Also Rebellen?« antwortete.

»Rebellen, Verschwörer, Aufständische, Ketzer, Heiden, Scheusale«, keifte Leandra durch den Raum.

»Du kannst sie nennen, wie du willst. Was ich weiß, ist, dass sie unsere gesamte Ordnung zerstören wollen und mit ihrem neuen Satanismus den wahren sacrisischen Glauben vernichten wollen. Für euch ist es daher wichtig, dass ihr euch an Ramon haltet, falls etwas Bedrohliches geschehen sollte. Zudem muss ich euch bitten, das, was ihr hier gehört habt, niemand anderem zu erzählen. Diese Information ist eigentlich nur für hochrangige Ordensmitglieder, Soldaten, Generäle und Mitglieder der Königsfamilie gedacht. Habt ihr das Verstanden!«

Leandra sah die beiden mit maximal streng zusammengedrückten Augenbrauen an, so als würde das Verziehen ihre Mine helfen, ihre Forderung der Geheimhaltung zu unterstreichen.

»Natürlich«, antwortete Jula und wenige Millisekunden danach auch Nayla mit heiserer Stimme.

»Gut.« Die Generaloberin begann ihr Gesicht wieder zu entspannen und schlug ihr Buch zu, das vor ihr lag. Das Buch hatte einen auffällig schwarzen Einband und eine geringelte Verzierung, welche sich am Buchrücken abzeichnete.

»Dann macht euch bereit, morgen geht es los.«

»Natürlich, Mutter«, sagte Jula, drehte sich zur Eichentür, die aus den Gemächern von Leandra hinausführte, und öffnete sie.

Nayla ließ derweil ihre Augen durch den rund zulaufenden Abteiraum der Generaloberin wandern. Der Raum besaß mehrere große Bücherregale, welche sich an den mit Mosaiken verzierten Wänden aneinanderreihten. Die Regale waren, wie auch die Bibliothek, die sich neben der Krypta in den ehemaligen Kerkern befand, voller Bücher. Jedoch waren die Bücher nicht geordnet, anders als die in der Krypta.

Lateinische Schriften der heiligen Cesare standen teilweise neben ausgefransten kirchlichen Theologiebüchern, deren Einband zerfallen war. Apokryphen waren nicht sorgfältig zwischen Glas- oder Edelsteinscheiben gelegt, um sie leserlich zu erhalten und zu schützen, sondern lagen gesammelt in aus Papier bestehenden Einbänden, die man einfach zerreißen konnte.

Und dann waren da zwei Bücher, die besonders wegen ihres Einbands herausstachen. Ähnlich wie das Buch, welches Leandra auf ihrem Tisch hatte, besaßen auch diese Schriften schwarze Einbände. Auf einem der Buchrücken zeichneten sich blumenartige Muster ab. Stängel, die in die Höhe schossen und auf deren Spitze ein Blumenkopf saß, der so aussah, als würde eine Sonne oder doch ein Mond oder vielleicht auch nur ein Kreis aus ihm herauswachsen.

Auf dem Einband des zweiten Buchs schien ein Drache abgebildet zu sein, jener schien etwas in seinem Maul zu halten, es war dünn, lang und hatte eine Wölbung in seiner Mitte. Ein Ast vielleicht, eine Schlange oder ein Mensch, dachte Nayla sich und kniff die Augen zusammen, um aus der Entfernung vielleicht einen besseren Blick auf den Buchrücken zu bekommen, aber keine Chance, das Regal war zu weit entfernt.

Jula trat aus dem Raum der Generaloberin, welche sich langsam an ihren Tisch setzte. Nayla realisierte erst jetzt, dass Jula sie verlassen hatte. Fast schon panisch verließ sie den Abteiraum und eilte Jula hinterher, die anscheinend dachte, dass Nayla direkt hinter ihr lief.

»Was hältst du davon?«, redete sie vor sich hin, wartend auf eine Antwort von Nayla, die jedoch nicht direkt hinter ihr war, sondern ihr noch immer nacheilte. So drehte Jula sich, um das stillschweigende Nichts hinter sich zu untersuchen.

»Ich bin schon da …«, rief Nayla mit ausgetrockneter Stimme und leerer Lunge.

»Mutter Maria, warum läufst du so schnell …« Und sie reihte sich neben Jula in den Korridor ein.

»Hast du dir wieder die vielen Bilder um uns angeschaut?« Jula reagierte fast schon sarkastisch auf das schwere Atmen von Nayla.

»Ja … so ähnlich«, antwortete Nayla hier und fing sich wieder in ihrer normalen Atmung, während Jula ein kleines Schmunzeln aus dem Mund entfloh.

»Also, was denkst du … über den Auftrag«, fragte Jula Nayla und entwirrte währenddessen ihren Rosenkranz in ihren Händen.

»Ich weiß ja nicht, mit alldem, was sie uns erzählt hat. Sollten wir das wirklich tun? … Und wer ist überhaupt dieser Ramon, kann man ihm vertrauen?«, begann Nayla ihre Gedanken über die Mission auszuschütten.

»Mir gefällt das auch nicht, muss ich dir ehrlich gestehen. Das ist auch mein erstes Mal, bei dem ich selbst in irgendeiner Weise als Vertreterin unserer Monastery nach meinen Überzeugungen handeln soll. Was ist, wenn ich einen Fehler mache? Angenommen das Kloster ist besessen und ich gehe und sage ›nein es ist nicht besessen‹ – oder andersrum, ich bewirke einen unnötigen Exorzismus. Was dann?!« Jula gestikulierte unkontrolliert mit ihren Händen. Nayla bekam das ungute Gefühl, dass sie sich noch eine fangen würde, nur weil Julas Hände von links nach rechts schlugen.

»Jula, Jula, Jula!«, betonte Nayla und versuchte mit ihren Händen jene von Jula zu ergreifen und unter Kontrolle zu bekommen. Als ihre Hände nicht mehr drohten, irgendjemandes Gesicht zu polieren, sprach Nayla weiter.

»Komm runter. Ich meine, du musst die Entscheidung, ob besessen ja oder nein, auch nicht allein treffen. Du hast mich und …« Nayla legte eine kurze Sprachpause ein und trat vor Jula.

»Und Gott. Damit überleben wir alles, selbst die Schreckschraube von Generaloberin.«

»Nayla!«, antwortete Jula ihrer nicht so viel jüngeren Schülerin streng.

»Was denn? Ich soll doch nicht lügen«, witzelte sie neben ihr.

»Na gut, du hast vielleicht recht«, schmunzelte jetzt auch Jula, welche sich mit Nayla auf den Weg in die Gemächer der Ordensschwestern im anderen Gebäude machte.

Vornithor; nachmittags

Wann geht es denn endlich los?!,dachte sich Lia, die noch einmal die letzten paar Antworten ihres Bruders auf mögliche Fragen wiederholte, die ihr von einigen Beratern des Königs gestellt werden könnten. Irgendwo zwischen diesen einstudierten Antworten und Reaktionen auf Fragen wie »Was macht Ihrer Meinung nach eine gute Herrscherin aus?« oder »Was, denken Sie, sind die Aufgaben einer Herrscherin?«,

mischte sich neben ihrer makopischen Muttersprache auch noch etwas schnell auswendig gelerntes Latein unter, welches sie sich von ihrem Bruder Perez aneignen musste, um den Schein einer Gebürtigen aus Mírínor zu wahren und überhaupt an diesem Wettbewerb der zukünftigen Frau des Königs teilnehmen zu dürfen.

Latein zu beherrschen sowie offensichtlich eine junge, gebärfähige Frau zu sein und nicht die gebräunte Haut einer Sedúrin zu besitzen, waren schon einmal Ausschlusskriterien, die Lia erfüllen konnte, wenn sie es mit dem Latein nicht vergeigen würde.

Plötzlich, während sie noch ganz in ihren Gedanken war, öffnet sich die große Eingangstür zum Thronsaal. Wie aus heiterem Himmel fiel ihr eine Frau fast auf die Füße. Der Soldat hinter ihr schien ihr einen starken Schubser gegeben zu haben. Wer ist das, fragte sich Lia, und warum würde man sie so behandeln?

Die Frau, die ihr vor die Füße fiel, war in etwa in ihrem Alter, vielleicht etwas jünger, vielleicht aber auch etwas älter, wer konnte das schon genau sagen. Sie trug ein grünes Gewand mit weißen Ärmeln, klassisch für Bauernfrauen, wenn sie sich mal für einen größeren Anlass wirklich schönmachen wollten. Lia trug in jenem Moment ein knielanges, ebenfalls grünes Gewand, welches durch die verschiedenen Knoten, die sie sich gemacht hatte, auf ihren Schultern befestigt war.

Hinter dem Soldaten, der in vollmontierter Rüstung hinter der zu Boden gegangenen Frau stand, kam eine weitere Frau laufend aus dem Thronsaal heraus. Ihr folgten zwei Männer, welche auch die silberne Rüstung eines mírinorischen Ritters trugen, deren Gesichter allerdings nicht durch einen Helm verborgen waren.

»Sir Jelwek«, begann die ältere Frau hinter dem voll gerüsteten Soldaten zu sprechen, »ich glaube, unsere liebe Lyra hat vergessen, wo der Ausgang ist, geschweige denn, wie man richtig läuft … Könntet Ihr sie rausbringen, damit ich mir dieses Häufchen Elend von Bauerntölpel nicht mehr weiter ansehen muss!«

Der grobe Mann vor Lia griff nach den Haaren der am Boden liegenden Frau, deren Name anscheinend Lyra war, und zog sie dann an diesen hoch. Als sie vor Schmerzen schrie und der Mann sie endlich hochgezogen hatte, griff er ihren Arm und packte sie an diesem in Richtung Torbogen, wo bereits zwei Wachen standen, um ihnen das Burgtor zu öffnen.

Nun näherte sich auch die ältere Dame, die zuvor den Befehl zum Rausschmiss der Frau gegeben hatte. Sie war vermutlich Mitte, Ende fünfzig und hatte eine eher kalte und gleichgültige Ausstrahlung, die Lia sogleich spüren sollte.

»Und du, komm mit«, warf sie Lia als Randnotiz uninteressiert entgegen und machte sich wieder auf in den Thronsaal.

Lia war noch immer aus der Fassung nach dem, was der anderen Frau, die vermutlich zuvor dort drin war, geschehen war. Was hatte sie wohl falsch gemacht? Hatte sie gelogen, hatte sie eine Frage falsch beantwortet? Und vor allem: Was konnte sie selbst machen, damit sie nicht an ihren Haaren aus der Burg hinausgeworfen würde?

Wie sie in ihre Gedanken versunken war, wurde einer der Ritter neben ihr ungeduldig. Seine Herrin war bereits wieder im Thronsaal und Lia saß noch immer wie ein erschrockenes Kleinkind auf einer aus Fichtenholz bestehenden Bank.

»Hast du sie nicht gehört? Du sollst reingehen!«, befahl er mit lauter Stimme, nahm auch ihren Arm und zog sie von der Bank, auf der sie gerade noch saß, auf ihre zwei Beine und zerrte sie in den Saal.

»Ahh … lass los … ich kann auch selbst gehen!«, keifte Lia ihn erfolglos an. Ein weiterer Ritter, der hinter ihr stand, warf ihr als Antwort auf ihre Forderung ein gleichgültiges »Dann tue nächstes Mal einfach das, was man dir sagt, und dann müssen wir dir auch nicht wehtun« entgegen.

Wenige Sekunden später ließ der andere Ritter sie vor einem Stuhl und einem Tisch, die sich links inmitten des Saals befanden, fallen. Der Burgsaal selbst war riesig und bestand, wie auch die Burg selbst, aus Schieferstein und hatte trotz seiner Größe und der durchsichtigen runden Fenster, welche mit goldig anmutendem Bernsteinglas verziert waren, etwas Erdrückendes.

Die Decke war anders als im Regierungssitz der Kaiser und Könige im Etimoftha-Palast in Celestia nicht mit kulturellen Malereien von Bildhauern und Malern versehen. Auch reihten sich keine Bilder von Ikonen oder Herrschern an den Gängen oder in den vielen Sälen, wie es dort der Fall war. Es war alles einfach nur dunkler Stein, der am Tag von den grauen Sonnenstrahlen durch die Wolken erhellt und abends durch Fackeln oder Laternen hin und wieder sichtbar wurde.

Lia stand vom Boden auf, erhob sich und nahm auf dem Stuhl, vor den sie geworfen worden war, Platz. Ihr gegenüber saß, vermutlich schon wartend, die ältere Dame, welche ihr ein Seufzen entgegenblies. Vor jener lag ein Stück Pergament, rechts daneben eine dunkelblaue Feder, welche einen eierschalenweißen Schaft hatte, welcher sich umso mehr einer dunkelgrauen Farbe annäherte, je weiter er dem Ende der Feder, der Spule, kam. Noch weiter rechts davon ein kleines, weißes Tintenfass, an dessen Rändern schon Tinte versprenkelt war.

»Also, ich frage, du antwortest. Verstanden?«, sagte die ältere Dame und sah Lia kühl an. Lia antwortete ihr mit einem leichten Kopfnicken und versuchte sich auf ihrem Stuhl möglichst aufrecht aufzusetzen.

»Name?«, begann die Frau Lia auf das Pergament starrend auszufragen.

»Lia ist mein Vorname … und Píras ist mein Familienname«, antwortete sie, nervös werdend in der Angst, ihr eingeübtes Latein irgendwo dort auf dem Boden vergessen zu haben.

»Píras … das ist nicht mírínorisch, oder?«, analysierte die Frau vor ihr, hob ihren Kopf und legte ihre Feder zur Seite.

Nervös und in der Hoffnung, dass ihre ethnische Herkunft doch bitte kein Ausschlusskriterium sein möge, antwortete die von den meisten Menschen auf der Straße als eigentlich mäßig weiß betrachtete Lia: »Nein, das ist es nicht.« Die Frau vor ihr sah sie nun mit noch missbilligenderem Blick an.

»Ist es vielleicht sedúrisch?« Sie schätzte sie mit zugekniffenen Augen ab.

Lia bekam Schnappatmung, war es ihr doch klar, dass Sedúren für so eine Stellung nie in Frage kamen und laut Anordnung des königlichen Aufrufs als Untermenschen galten, weshalb sie auch bei jenem Wettbewerb keinesfalls auftauchen durften. Immerhin blühte jedem, der einen Sedúren tötete, keine Strafe, sondern eine Einmalzahlung von achthundert Paulvaner Talern, genug, um damals eine ganze Rüstung zu kaufen, heute genug, um eine vierköpfige Familie gerade einmal drei Sonnenaufgänge lang zu versorgen.

»Nein, Euer … Ehren … ist es nicht«, flüsterte sie schon fast mit trockenem Mund.

»Mhh … gut …«, kommentierte sie Lias für sich selbst noch unzureichende Behauptung, nicht dem Volk anzugehören, welches schweren Verrat gegenüber der Königsfamilie begangen hatte.

Die Frau senkte erneut ihren Kopf, um sich mit ihrer Feder wieder dem Blatt Pergament zu widmen. Lias Mund wurde in den wenigen Minuten, seitdem sie auf dem Stuhl saß, immer trockener, sie schwitzte trotz des milden Sommers, den es im Westen gab. Gegenüber von sich sah sie einen Becher, mit hoher Wahrscheinlichkeit jener der wohlhabend aussehenden Frau vor ihr. Vielleicht bekomme ich ja auch einen Becher mit Wasser, wenn ich nur nett frage.

»Könnte ich vielleicht bitte etwas Wasser bekommen?«, bat sie mit hoher Stimme.

Von dem Pergament nicht aufschauend, ob einer ihrer Diener in der Nähe war, schrie sie »Wasser!« auf das Pergament starrend und legte ihre Feder zur Seite.

Ein Bursche, vielleicht fünfzehn, der auf der anderen Seite des Saals zusammen mit zwei anderen Männern stand, bewegte sich mit einer Kanne auf Lias Tisch zu, stellte einen Becher dort ab und goss mit einer Kanne aus dunklem Holz Wasser hinein.

»Danke«, sagte Lia, was der Bursche mit einem kurzen Kopfnicken entgegennahm.

»Nun gut … dann machen wir weiter«, ordnete die Frau vor ihr an, während Lia einen großen Schluck nahm.

»Alter?«, ließ sie es gelangweilt verlauten.

»Ich bin achtzehn … Euer Ehren …«, antwortete sie ihr, verunsichert, wie sie jene Frau vor sich nun ansprechen musste.

»Ehmm … was ist denn Ihr Titel … oder wie darf ich Sie ansprechen, wenn ich fragen darf?«

Unsicher, ob die Frage zur Dame ihr gegenüber durchgedrungen war, versuchte sie noch einmal anzusetzen, bevor sie von jener unterbrochen wurde.

»Als Erstes, alles, was du über mich wissen musst, ist, dass ich die Macht habe, dein Leben zu ruinieren, und zweitens«, keifte sie Lia an, »wirst du nicht reden, etwas sagen oder tun, wenn man es dir nicht erlaubt. Verstanden?!«

Lia antwortete ihr nur mit einem Nicken und einem daraufhin folgenden Kopfsenken.

»Kannst du schreiben?«, befragte die Frau sie weiter mit gleichgültigem Ton.

»Ja«, antwortete Lia zielgerichtet. Nachfolgend waren auch die nächsten Fragen einfach mit einem Ja oder Nein zu beantworten.

»Kannst du lesen?«, fragte sie auf ihr Pergament starrend.

»Ja, ich lese sehr gerne, Euer …«, fügte sie hinzu, bevor sie von jener uninteressierten Stimme gegenüber unterbrochen wurde.

»Kannst du Latein?« Lia schluckte. Für sie würden die einzelnen Wörter, die sie gelernt hatte, ausreichen, um als »Latein sprechend« durchzugehen, vielleicht anders als für die Frau. Die jedoch schien völlig desinteressiert an anderen Fähigkeiten und konzentrierte sich hauptsächlich auf ihre Feder und ihr Pergament. Da würden hoffentlich auch nur grundlegende Kenntnisse genügen. Bisher hatte sie sich ja auch nicht wirklich dafür interessiert, was Lia zum Verhör beizutragen hatte.

»Ja«, sagte sie mit zittriger Stimme.

»Gut, dann kannst du ja das hier übersetzen.« Die ältere Dame holte unter ihrem Blatt Pergament ein noch kleineres Blatt hervor. Es war ein kleiner Fetzen, der auch gut als Geheimnachricht an Spione weitergegeben werden könnte. Sie schob den kleinen Papierfetzen mit ihren Fingern zu Lia, die nun noch aufgewühlter wurde, als sie es schon war.

Sie nahm den Fetzen an sich und begann für sich zu lesen:

Vivat Mírínor, Patria magni Paulveni

»Aber natürlich«, flüsterte Lia vor sich hin, als sie realisierte, welcher für sie einfache Satz auf dem Pergament geschrieben stand. Es war nichts Geringeres als »Es lebe Mírínor, Land des großen Paulveno«, eher bekannt als das Motto der Soldaten und der Flotte Mírínors. Jenes wusste sie durch ihren Vater, der sein halbes Leben lang bis zu seinem Tod Seemann für jene Flotte gewesen war.

»Ich warte«, giftete währenddessen die Frau ihr gegenüber, die insgeheim hoffte, den Kreis ihrer Kandidatinnen zu reduzieren. Lia sah das erste Mal direkt zu ihr auf und antwortete ihr mit Genugtuung im Blick: »Es lebe Mírínor, Land des großen Paulveno … das ist unter anderem auch das Motto unserer Flotte und das der Armee.«

Die Frau vor ihr setzte sich nach Lias korrekter Übersetzung gerade auf und lehnte sich gegen die hölzerne Lehne ihres Stuhls.

»Und was ist dann hiermit … Dominari et servire non solum necessariis, sed etiam utilibus rebus pertinent, et multa pariter ab initio suo ita sunt distincta, ut alterum ad dominandum, alterum ad serviendum destinatum sit.«

»Ähm …« Lia verlor ihre gerade aufgebaute Stellung des Sieges und diese wandelte sich in eine Haltung des Entsetzens, nachdem die Frau vor ihr nun anfing, mit ihr Latein zu reden. Das Einzige, was sie verstand, waren Worte wie »necessariis«, was so etwas wie »notwendig« hieß. Einzelne Bindewörter wie »sit« für »ist« oder »et« für »und«konnte sie verstehen. Der Rest allerdings hörte sich so unverständlich an, dass sie nicht einmal wusste, ob dieser Satz nun eine Einladung zu einer Unterhaltung war oder irgendein böswilliger Kommentar.

»Keine Ahnung? Mmh«, spottete die Frau. Lia rührte sich nicht. Jetzt war sie aufgeflogen und würde wahrscheinlich genauso enden wie das Mädchen vor ihr, an den Haaren von Wachen rausgezerrt werden und als Enttäuschung wieder zu ihrem Bruder zurückkehren.

»Wusste ich’s doch!«, kommentierte sie das Schweigen Lias.

»Herrschen und Dienen gehört nicht nur zu den Dingen, die notwendig sind, sondern auch zu den Dingen, die nützlich sind. Schonmal gehört? … Vermutlich nicht.«

Die Frau setzte sich wieder gerade hin und richtete nun ihren Blick auf die Tür des Thronsaals und dessen zwei Ritter, die daneben standen.

»Dann müssen wir also nicht weiterverfahren, gut zu wissen«, sprach sieund steckte ihre Feder wieder in das Tintenfass zurück. In diesem Moment spürte Lia die Präsenz von zwei Soldaten immer näherkommend und bemerkte das Wackeln des Tisches, als die Dame vor ihr ruckartig aufstand.

Sie war geliefert, egal was nun kommen möge, sie sah sich schon wieder in dem kleinen Farmhaus ihrer verstorbenen Eltern und ihres Bruders, der sie wahrscheinlich voller Wut und Frustration auf irgendeinem Frauenmarkt verkaufen würde, damit er noch für die nächsten Monate oder Wochen die Steuern der Farm bezahlen konnte.

Die Vorstellung, für das Geld eines alten Bordellbesitzers und dessen zehn Nebenfrauen verkauft zu werden, war ihr ein solcher Graus, dass sie noch einmal versuchte, alle Register zu ziehen, auch wenn sie nicht wusste, ob es überhaupt etwas bringen würde.

»Ich kann Makopisch!«, schrie sie. Die Frau, deren edles Gewand nun zum Vorschein kam, drehte sich aufmerksam zu ihr und blieb stehen.

»Góróyürsun, sàz äün da tac igin Faydaíylím … ricándö«, bettelte sie in Makopisch, indem sie sagte: »Seht Ihr, ich bin nützlich für die Krone … bitte.«

Die Frau, die nun ihre Faust hob und einen bestätigenden Blick zu den Schritten hinter Lia gab, die nun nicht mehr weiter auf sie zukamen, konnte zwar kein Makopisch sprechen, verstand allerdings die nur noch selten aufzufindende Sprache sehr gut.

»Dann sag mir, Makopin … bist du eine befleckte Hure oder eine reine Jungfrau?!«

»Sáz köfé (Ich bin rein)«, antwortete Lia in einer Mischung aus Frustration und Wut.

»Und wer sind deine Eltern!?«, keifte nun auch wieder mehr die Frau vor ihr.

»Namlyn ólmayan insanylar, byri síradan big ciftcís, dégerily gürürlü byr dänizcién, filonuza katılıyór! (Menschen ohne Namen, die eine normale Bäuerin, der andere stolzer Seemann in Eurer Flotte.)«

»Gut … ich glaube, wir haben genug gehört. Wachen!«, rief sie mit einem Blick hinter Lia, von einem aufs andere Mal packte ein Mann ihren Arm, ein anderer fixierte ihre rechte Schulter und packte sie dort.

»Ihr wisst, wohin.« Und sie nickte ihnen wohlwollend zu.

»Lasst mich los!«, schrie Lia gereizt und versuchte sich von den groben Griffen der Ritter loszureißen, während diese sie aus dem großen Saal zerrten.

»Verdammt, packt mich nicht an!« Sieschlug um sich, bis einer der Männer in der Rüstung seine Hand nahm, damit ihre Haare packte, daran zog und ihren Kopf nach hinten riss.

Fast schon unbemerkt folgte ihr auch die Frau, von der sie gerade noch verhört worden war. In ihrer Hand trug sie sichtbar zwei Bücher, keine Ahnung, welche es waren, sie waren klein und hatten einen wollig anmutenden Einband.

»Ahhh … verdammt … Ihr tut mir weh«, kreischte Lia durch die leeren, sich weit erstreckenden, aus Schieferstein bestehenden Gänge der Burg.

»Weißt du … du hättest dich nicht wehren müssen. Meine Wachen tun nichts, wenn man ihnen keinen Grund dafür gibt … anders als dein Volk sind sie beugsam und loyal und hören auf die Anweisungen ihrer Herrin«, schritt die Dame hinter ihnen her.

»Dann sagt ihm, er soll das lassen … bitte«, wimmerte sie, als die Ritter sie einige Treppen zu einem Turm hinaufschleiften und eine kleine Träne aus ihrem Auge rollte.

»Kaév«, sagte die Angesprochene mit klarer Stimme. Nun drehte sich der Kopf eines der Ritter mit dem Gesicht zu seiner Herrin, welche ihm bestätigend zunickte. Er ließ Lias Haare vorsichtig los, wodurch diese wieder volle Kontrolle über ihren Kopf bekam. Sie richtete ihren Kopf auf.

»Danke«, richtete sie sich an die fremde Frau, die ihr nachlief.

»Für was, ist die Frage.« Diese schmunzelte. »Am Turmende, da müsste noch frei sein«, wies sie ihre Soldaten in militärischem Ton an, als sie die Treppen des Turms bezwungen hatten und nun wieder in einen langen Gang mit wenig Licht traten.

Am Ende des Gangs angekommen, ließ einer der Soldaten Lia schließlich los und öffnete ruckartig die Tür zu einem gemachartig anmutenden Abstellraum, in dem sich ein einfaches Bett mit weißen Laken und Kissen befand, ein kleiner, gerümpelartiger Beistelltisch und ein mit weißem Glas verziertes Fenster.

Der andere Soldat gab ihr einen Ruck, ließ sie los und in jenes Zimmer auf den kalten steinernen Boden fallen.

»Die kannst du haben«, meinte die Frau in der eleganten Kleidung zu ihr und warf die zwei Bücher, die sie in der Hand hatte, auf die am Boden liegende Lia.

»Nimm dir die Zeit und versuche wenigstens etwas Latein zu lernen. Diesen Raum verlassen wirst du nur, wenn man dich dazu auffordert, Essen wird dir gebracht. Morgen nach Sonnenaufgang werden wir uns wiedersehen, für deine Disziplinen!«

Bevor Lia ihr wirklich zuhören konnte und sich auf dem Boden gesammelt hatte, schlossen die Ritter den Raum hinter sich ab und ließen Lia für sich. Noch immer überrumpelt und verwundert darüber, was gerade geschehen war, setzte sie sich auf das nachlässig vorbereitete Bett und realisierte, dass sie weder vor den Burgtoren stand noch in irgendeiner Zelle ihr Dasein fristete. Im Gegenteil, sie war noch immer in der Festung, und zwar in einem Raum, in dem sie, solange noch die Sonne schien, Licht hatte und auch nicht auf dem Boden schlafen musste.

Noch immer schmerzend von den Handgriffen des Mannes, der sie an den Haaren gezogen hatte, drehte sie ihren Kopf und Nacken in der Hoffnung, die Schmerzen, die sie hatte, damit loszuwerden.

Plötzlich fielen ihr die Bücher auf, die vor ihr auf dem Boden lagen. Was das wohl für welche sind?, dachte sie sich und hob sie behutsam auf.

Sacristical Biblia iuxta Jezare

stand auf dem ersten Buch, es war etwas dicker, trotzdem nur etwas größer als Lias Hand. Es hatte einen gelbgoldenen Einband und auf dem Einband vorne war eine Zeichnung eines Kreuzes abgebildet. Am unteren Ende des Rands in einer Art Fahne geschrieben stand der Name Jezare. Die Verfasserin wurde von vielen als Heilige angesehen.

Es war die lateinische Form der offiziellen kirchlichen Schrift der sacrasischen Versammlung. Sie selbst besaß eine Ausgabe davon, jedoch in ihrer makopischen Muttersprache, was ihr auch nichts bringen würde, da diese bei ihr zuhause lag.

Und was ist das?, spukte es in ihrem Kopf herum und sie hob das zweite, deutlich dünnere Buch auf.

»Historia magni Alejandra Etimoftha, imperatoris filia«

stand auf dem. Es hatte einen weißen und wolligen, fast schon felligen Buchrücken, als hätte man dafür ein weißes Kaninchen gerupft. Als Verfasser war ein gewisser Jean Révio angegeben, bekannt dafür, der Kaisertochter Mann und Liebhaber gewesen zu sein. Um sie ging es dem Anschein nach auch in diesem Buch, um Prinzessin Alejandra Etimoftha.

Lia begann ein bisschen zu blättern, Texte über Texte und … Zeichnungen einer Frau mit hochgesteckten Haaren und schlankem Körper, einem Gesicht mit vollen Wangenknochen und einem feurigen Blick. Das muss sie dann wohl sein, dachte sich Lia, als sie eine Zeichnung jener Frau sah, auf der diese eine förmliche Krone und ein großes, prächtiges Kleid trug.

Sie schloss das Buch und legte es zusammen mit dem anderen neben sich. Sie erinnerte sich nun wieder an das, was die Dame ihr gesagt hatte: etwas mit Disziplinen oder Prüfungen. Sie überlegte, was für Disziplinen sie ablegen sollte, wenn es nach der Frau ging. Vielleicht eine Art Verhaltenstest, kam in ihren Gedanken zum Vorschein. Doch was noch?

Bevor ihr Kopf allerdings wieder anfangen würde wehzutun, beließ sie ihre Gedanken und Sorgen und versuchte tief ein- und auszuatmen.

»Ich schaffe das«, redete sie sich ein. »Vater, lass mich das schaffen«, begann sie zu sagen, bevor sie in ihrer Sprache betete.

»Rés benjamy olsun … éwy et Jesú Chrístje …«

Celestia; nachmittags

»Und ich hab schon wieder gewonnen«, prahlte Juhan und räumte mit seinem Arm den Tisch mit den Münzen frei.

»Komm schon …«, fing Luan an, müde über die Siegesserie von Juhan, und warf seine Karten auf die alte, steinerne Tafelplatte, auf der sie spielten. Jene Tafeln waren überall in der Hauptstadt verteilt, um eine kurze Geschichte über jedweden historischen Standort zu präsentieren.

»Du verarschst mich doch. Wie viel Glück kann ein Mensch haben?« Und er fuhr sich mit seinen Händen durch sein Gesicht, welches schon von dem Dunkel der Gasse, in der sie seit Stunden saßen, gezeichnet war.

»Da du immer noch nicht pleite bist«, fing Juhan an zu scherzen, »wahrscheinlich nicht genug.«

Luans Blick wanderte der Gasse entlang, in der sie saßen, nach draußen zu dem prächtig anmutenden Brunnen, der inmitten einer Menschenmasse erbaut worden war. Hinter dem Brunnen war die Statue eines Kriegers zu sehen, der sein Schwert siegreich in die Höhe streckte. Direkt hinter ihm, fast schon in seinen Rücken einlaufend, stand die Abbildung einer Frau, welche sich in Furcht hinter jenem Mann mit dem Schwert versteckt hielt.

Die Abbildung des Mannes, dessen Statue sich sieben Fuß hoch erstreckte, wurde unter der Herrschaft Kesars des Ersten errichtet. Sie sollte ein Erinnerungsmonument für den Bürgerkrieg gegen den Paulvener-Orden sein, der sich damals gegen Kesar und dessen Vater Meric erhoben hatte. Aus heutiger Sicht haten viele Soldaten, auch Luan und Juhan selbst, gemischte Gefühle über diesen Teil ihrer Geschichte.

Einerseits konnten sie sich schlecht ein Leben ohne ihre Monarchie vorstellen. Die Krone selbst setzte sich, egal wie brutal oder böse die Herrscher auch waren, immer für das Wohl des mírínorischen Volkes und seiner Beschützer ein. Der abgebildete Mann sollte einen Ritter namens Gabil darstellen, offiziell »der Beschützer Celestias«, auch wenn Silvarier oder Sedúren ihn als »Schlächter von Tauséss« betitelten, jener Stadt auf den Franischen Inseln vor Ezirholdor, welche damals als Frontlinie zwischen Paulvenern und Mírínoren galt. Erstere versuchten sich in der umstellten Stadt einzubunkern. Nach Wochen der Belagerung soll es dann für den Frieden Mírínors zum Großangriff gekommen sein, bei dem so gut wie alle Bewohner und Verteidiger der Stadt starben.

Hier allerdings unterschieden sich jedoch die Geschichten der Völker. In mírínorischen Schulen und Klöstern wurde gelehrt, dass die Paulvener, die Sedúren und Silvari, die sich ebenfalls mit in der Stadt befanden, die Achttausend-Einwohner-Metropole nicht verlassen wollten und selbst Geiseln in Form von Soldaten, Händlern und Bewohnern hatten, welche sie bei jedem Tag, der aufzog, töteten und über den Stadttoren und deren Mauern aufhängten.

Sedúren und Silvari, wenn Letztere überhaupt noch existieren sollten, lehrten eine andere Geschichte, genauso auch die, die den Paulvenern nahestanden, welche man an ihrer Einritzung eines roten Kreuzes und eines Lorbeerkranzes erkannte. Wenige Stunden vor dem Großangriff soll ein ranghoher Paulvener aufgrund von zahlenmäßiger Unterlegenheit, Hunger und des Fakts, dass sich viele Zivilisten in der Stadt befanden, die Kapitulation der Rebellen bekannt gegeben haben.

Die Paulvener sollen ihre Waffen niedergelegt und weiße Fahnen geschwenkt haben. Für den damaligen Anführer der Belagerung, Gabil, soll das der Zeitpunkt gewesen sein, an dem sie angreifen würden. Aber nicht frontal oder laut, sondern eher diplomatisch.

Er soll so getan haben, als würde man die Kapitulation der Rebellen annehmen und ihnen keinen Schaden zufügen, sofern die mírínorisch geborenen Untertanen die Stadt verlassen würden und die Tore als Zeichen der gewaltfreien Übergabe der Stadt öffnen würden. Sein Versprechen der gewaltlosen Übernahme soll er damals mit den Worten »Das schwöre ich beim Frieden unsere Völker« versprochen haben.

Später, als die Rebellen die Tore öffneten und alle Mírínoren, die selbst nicht verstanden, weshalb sie aus ihrer Stadt gehen sollten, diese verlassen hatten, griff Gabil mit seinen Soldaten und dem Signal eines brennenden Pfeils die nun wehrlose Stadt an.

Absichtlich und auf Befehl Merics sollen sie mehr als fünftausend Sedúren abgeschlachtet, vergewaltigt oder verschleppt haben. Die fünfhundert Silvari wurden aufgrund des Vorwurfes der Ketzerei unter tosendem Applaus verbrannt oder gehängt.