SchattenZorn - Nané Lénard - E-Book

SchattenZorn E-Book

Nané Lénard

4,0

Beschreibung

WEHE IHM! SIE HABEN IHN EINGEHOLT ... Spätsommer an der Rodenberger Windmühle: Das Leben eines Mannes endet auf mysteriöse Weise – er wurde mit verbotener Kriegsmunition erschossen. Hauptkommissar Wolf Hetzer entdeckt in Tatortnähe ein graviertes Metallschild aus dem Jahr 1880, das er zunächst für einen Fund aus frühen Mühlenzeiten hält. Als jedoch weitere Spuren in die Vergangenheit böhmischer Büchsenmacher weisen, kommen Hetzer Zweifel, ob er nicht doch etwas Tatrelevantes an sich genommen hat. Aber wie passt alles zusammen? Eigene, heimliche Recherchen lassen ihn zunehmend unruhig werden. Hat seine Verlobte etwas mit dem Fall zu tun? Nachforschungen führen ihn nicht nur ins Erzgebirge, sondern auch in die Abgründe unmenschlichen Handelns. ... DIE SCHATTEN DER VERGANGENHEIT.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Widmung

Vorwort

Prolog

Unter der Frankenburg

Von Kleinenbremen nach Stadthagen

An der Mühle

Ein schwerer Gang

Gedanken

Bleiberecht

Wunden

Veränderungen im Spätsommer 1872

Babuschka

Die Eheschliessung

Moni

15. Oktober 1872

Auszeit

Heiligabend 1872

Babuschka

Neujahr 1873

Bruchstücke

Die Taufe

Brisante Neuigkeiten

Veränderungen

Keine Entscheidung

Das Schicksal

In Monis Haus

Keine gute alte Zeit

Der Koffer

Heimlichkeiten

Grübeleien

Nebenher

Das Schild

Eine schlimme Nacht

Im Büro

Umzug

Nachforschungen bei der SpuSi

Paul

Wenig Schlaf

Endlich Nachwuchs

Forschen in der Vergangenheit

Veronika

Zu Kreuze

Der Turnschuh

Der Rüffel

Vroni

Mysteriöse DNA

Die Untersuchung

Verblüffende Ergebnisse

Verheiratet und doch allein

Identität

Das Versteck in Haus 998

Nachforschungen

Schrecken

Haarige Angelegenheit

Zum Katharinafelsen

Die Idee

Ausnahmezustand

Funkzelle Rodenberg

Lebenswendungen

Baier und Lenhard

Zukunftsgedanken

Im Haus

Die Entscheidung

Das Gewehr

Die Flucht

Abschied

Übereinstimmung

Ein letztes Mal in der Feldstrasse

Der Mord

Epilog

Danksagung

Nané Lénard

SchattenZorn

 

 

 

 

 

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits

folgende Bücher der Autorin erschienen:

SchattenHaut

SchattenWolf

SchattenGift

SchattenTod

SchattenGrab

SchattenSchwur

SchattenSucht

SchattenGier

FriesenNerz

FriesenGeist

KurzKrimis und andere SchattenSeiten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2017 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

eISBN 978-3-8271-8330-9

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Nané Lénard wurde 1965 in Bückeburg geboren, ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung im medizinischen Bereich studierte sie später Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Neue deutsche Literaturwissenschaften. Ab 1998 arbeitete sie als freie Journalistin. Von 2009 an war Lénard im Bereich Marketing und Redaktion für verschiedene Unternehmen tätig. Seit 2014 ist sie freiberufliche Schriftstellerin und verfasst neben Kriminalromanen auch Kurzgeschichten und Lyrik. Einige ihrer Werke wurden prämiert. Nané Lénard ist auf Lesungen, Buchmessen und in sozialen Netzwerken für ihre Fans präsent. Mittlerweile sind ihre SchattenThriller rund um die Kommissare Hetzer und Kruse sowie ihre heiter-skurrilen OstfriesenKrimis mit Oma Pusch im gesamten deutschen Sprachraum bekannt.

Weitere Informationen auf www.nanelenard.de

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Für meine Oma, die dieses Buch gerne gelesen hätte

Haus der Familie Gahlertin Weipert Grund Nummer 998Erbaut 1925

Meine Großmutter Monika Gisela Anna Gahlert im Buch Veronika oder Vroni genannt

Hochzeit der Eheleute Lenhard am 15. Juni 1937

(Das einzige noch erhaltene Bild von Fritz Lenhard)

VORWORT

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

normalerweise schreibe ich kein Vorwort, aber in diesem Fall ist es mir ein inneres Bedürfnis.

Die Geschichte dieses Buches, an dem ich seit Jahren arbeite, ist in weiten Teilen tatsächlich passiert. Alle Geschehnisse des 19. Jahrhunderts habe ich anhand alter Aufzeichnungen, Kirchenbücher, Katasterpläne und Adressbücher recherchiert, sodass man sagen kann, dass die Fakten stimmen. Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten, Wohnorte, Paten, Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch Todesursachen und Berufsbezeichnungen konnte ich den Kirchenbüchern entnehmen. Man muss den Hut vor den Geistlichen ziehen, die so exakte Details aufgeschrieben haben. Ohne die Kenntnis medizinischer Bezeichnungen, teilweise historisch, und der Fähigkeit Sütterlin zu lesen, wäre ich allerdings nicht weit gekommen.

Um diese Fakten habe ich nun Lebensgeschichten gesponnen, die so hätten passiert sein können. Vieles ist sogar wahrscheinlich. Während des Schreibens habe ich ständig weiterrecherchiert. Teilweise mussten ganze Passagen umgeschrieben werden, wenn ich bei meinen Nachforschungen plötzlich neue Details entdeckte. Es sollte so authentisch wie möglich sein. Das war mein Anspruch. Bis zu meinen Urgroßeltern habe ich die Namen der handelnden Personen so gelassen, wie sie tatsächlich waren. Das mag beim Lesen zunächst verwirrend sein, da dieselben Vornamen in den Familien immer wieder vorkommen. Aber das war eben damals so. Man war wenig einfallsreich. Zur besseren Übersicht habe ich selbst erstellte Stammbäume beigefügt, die ich aufgrund der Kirchenbücher anfertigen konnte.

Alles was zu späterer Zeit spielt, habe ich namentlich und teilweise auch handlungstechnisch verfremdet. Auch verwandtschaftliche Beziehungen wurden verändert. Den Namen Fritz Lenhard habe ich absichtlich belassen. Die Beschreibung seiner Folter und seines Todes ist mir mündlich überliefert worden. Im sächsischen Staatsarchiv befindet sich die Erklärung seines Todes. Des Weiteren liegen mir zwei eidesstattliche Erklärungen von Augenzeugen vor. Fritz Lenhards Namen findet man heute noch auf dem Friedhof von Bärenstein auf einer Stele zusammen mit den anderen Hingerichteten, die ebenfalls im Buch mit korrektem Namen benannt sind. Das war mir wichtig. Auch wenn ich genetisch nicht mit Fritz Lenhard verwandt bin, fühle ich doch eine Verbundenheit mit dem Ermordeten, der der erste Mann meiner Großmutter war. Krieg, Kriegsfolgen, Hunger, Flucht und Vertreibung sind immer ein aktuelles Thema. Es wechseln nur Orte und Protagonisten.

Denn sieh, es spannt die Flügel weit …

 

Mit riesengroßen, scharfen Krallen

schlägt lautlos dich das Tier,

und noch im Flug lässt es dich fallen,

als seist du bloß Papier,

doch nur um wieder aufzufangen,

was nicht genügend litt.

Bereit, um nochmals zuzulangen

genießt es jeden Schnitt,

mit dem die Klauen dich verzieren,

ungnädig ist sein Horn.

Zu guter Letzt wirst du verlieren,

durchbohrt vom SchattenZorn.

 

… als Fluch aus der Vergangenheit.

PROLOG

Eine Windböe zerzauste die Haare des Mannes, der auf einer Bank vor der Rodenberger Windmühle saß. Und auch die Sparren der Flügelbretter ächzten unter der plötzlichen Last. Man spürte zwar schon, dass der Herbst nahte, aber es war ein schöner Spätsommerabend. Einer von jenen, an denen die Sonne in verschwenderischen Farben über dem nordöstlichen Zipfel des Bückeberges unterging. Die Luft war noch lau und versprach es zu bleiben, bis die Feuchtigkeit mit der Nacht aus den Wiesen steigen würde. Liebespaare kamen gern an diesen romantischen Ort, wenn sich der Himmel blutrot färbte. Auch heute senkte sich die Sonne wohlwollend auf das Stillleben vor der Mühle und nahm dem Anblick seinen Schrecken. Denn in dem warmen, schwächer werdenden Licht fielen die Spritzer gar nicht mehr auf. Auch die Wunde nicht. Alles verschwand im Farbton des sterbenden Tages. Es sah so aus, als sei der Mann nur eingenickt. Sein Kopf war leicht nach vorn auf den Tisch gesunken. Nicht nur, weil er tot war, sondern auch, weil ein Teil des Geschosses seine linke Halsseite zerfetzt hatte.

UNTER DER FRANKENBURG

Es war derzeit nicht gut Kirschen essen mit Hauptkommissar Wolf Hetzer. Unzufrieden und darum nicht gerade bester Laune stand er in der Küche seiner alten Kate und drückte auf den Knopf seines Kaffeeautomaten. Es war kurz nach sechs. An und für sich war er eine Frohnatur, aber seit seiner schweren Verletzung war fast ein Jahr vergangen, und das Gefühl kam nur langsam und auch nur teilweise zurück. Trotz Reha und monatelangen Übungen hing sein linker Arm wie ein unnützes Anhängsel unter der Schulter. Ein Fremdkörper, der ihm im Weg war, wenn er ganz alltägliche Dinge neu erlernen musste. Simple Verrichtungen fielen ihm schwer, manches schien unmöglich geworden zu sein.

Kochen war eines seiner Hobbys gewesen, aber wer ließ sich schon gerne seine Zwiebeln von anderen schneiden oder seine Kartoffeln schälen? Ihm gelang nur noch die Kür des Würzens und Abschmeckens. Selbst das Wenden des Fleisches war zur Herausforderung geworden, weil die Pfanne durch sein Stochern auf dem Gasherd davonglitt. Und nachdem er sich beim Abgießen der Spaghetti an der Brust verbrannt hatte, gestand er sich ein, dass er sich den Realitäten stellen musste. Er war ein Krüppel. Ja, das sagte man nicht. Es war diskriminierend, aber genau so empfand er sich. Abgestempelt und ausgegrenzt. Nicht mehr in der Lage, die einfachsten Dinge des Lebens selbst zu bewältigen. Er war ein Ex-Hobbykoch.

Langsam floss der Kaffee in seine Tasse. Toll, so ein Kaffeeautomat, dachte er. Selbst für einen Einarmigen bedienbar. Und während Wolf sich im Selbstmitleid suhlte, setzte sich Lady Gaga vor die Küche, legte den Kopf schief und sah ihn an. Die altdeutsche Schäferhündin, nach der sich die bekannte Sängerin benannt hatte, war in die Jahre gekommen. Das brachte neben einer leichten Augentrübung eine gewisse innere Ruhe mit sich und vielleicht auch ein wenig Weisheit. Denn sie bellte einmal kurz und forderte Wolf zum Spaziergang auf. Bewegung an frischer Luft war das Beste bei depressiven Verstimmungen. Nicht, dass Wolf geglaubt oder zugegeben hätte, dass er an einer litt. Seine Wut auf die Ungerechtigkeit des Schicksals mussten die anderen doch verstehen. Ihm entging, dass er unleidlich war, weil er sich selbst nicht mehr ausstehen konnte, und leider ließ er das auch seine Umgebung spüren. Die Kollegen gingen ihm mittlerweile aus dem Weg oder ignorierten seine Launen, sein Sohn dachte über eine Versetzung nach und selbst seine Nachbarin Moni war mittlerweile verzweifelt, weil er abweisend zu ihr war, obwohl sie nie aufgegeben hatte, ihm ihre Zuneigung zu zeigen. Der Hochzeitstermin stand in den Sternen. Wolf hatte nach der Verlobungsfeier nie mehr ein Wort darüber verloren. Vorsichtige Andeutungen von Moni ignorierte er einfach, bis sie es schließlich aufgab und beschloss, auf bessere Zeiten zu warten.

Nachdem Wolf seinen Kaffee getrunken hatte, pfiff er nach der Lady und zog sich im Hauswirtschaftsraum Jacke und Schuhe an. Heute Morgen war es nach der sternenklaren Nacht ziemlich kühl, fand er, als er ins Freie trat. Man konnte fast schon über einen Schal und Handschuhe nachdenken. Aber da würde er ja nur noch den rechten brauchen. Ob die linke Hand kalt wurde, konnte ihm egal sein. Er spürte sie sowieso nicht. Das brachte ihn auf eine Idee, die weiter in ihm reifte, während er mit seiner Schäferhündin durch den Wald ging. Entschlossen zog er sein Telefon aus der Tasche und rief die Rechtsmedizinerin Dr. Nadja Serafin an.

„Wolf hier“, sagte er knapp, als sie sich meldete. „Ab wann bist du in Stadthagen?“

„Ich wollte gleich losfahren“, erwiderte sie, „gibt es was Wichtiges?“

„Nein, nur eine medizintechnische Frage“, erklärte er. „Geht auch ganz schnell. Kann ich kurz rumkommen?“

„Sicher“, sagte sie etwas verdattert, weil es doch etwas Spezielles sein musste, wenn er sein Anliegen nicht am Telefon schilderte, sondern extra dafür zu ihr in die Rechtsmedizin kam.

„Sag Peter, dass ich später komme. Liegt ja sowieso nichts Besonderes an.“ Dann legte er auf.

VON KLEINENBREMEN NACH STADTHAGEN

Nadja grübelte. Was konnte Wolf von ihr wollen? Irgendwie war ihr die Sache unheimlich. Es gab keinen aktuellen Fall. Vielleicht wusste Peter etwas. Leise schlich sie ins Schlafzimmer zurück, aber er hätte sie ohnehin nicht gehört, denn er schnarchte wie ein Bär. Dabei lag er eingerollt auf der Seite wie ein Baby im Mutterleib. Vorsichtig hob sie die Decke an und kitzelte ihn an seiner Fußsohle, aber er schmatzte nur und drehte sich auf den Rücken.

„Peter“, sagte sie sanft, und er musste sie wohl gehört haben, denn er murmelte etwas Unverständliches, aber sie hatte nicht ewig Zeit. Daher entschloss sie sich zu einer Radikalmethode und zwickte ihn in die Wade.

Mit einem wütenden Aufschrei fuhr Peter hoch und stieß sich den Kopf an der Dachschräge. „Verdammt!“, fluchte er. Dann fixierte er sein Gegenüber mit einem bösen Blick. „Kannst du mir mal sagen, was das soll?“

„Ich will dich was fragen“, sagte Nadja und lächelte ihn mit einer Unschuldsmiene an.

„Hätte das nicht Zeit gehabt, du Folterknecht?“

„Nein!“, erwiderte Nadja mit Nachdruck. „Mit Wolf stimmt irgendetwas nicht.“

„Mit dem stimmt schon lange nix mehr“, sagte Peter und rieb sich seine Stirn. „Deswegen brauchtest du mich aber jetzt nicht so unsanft aufzuwecken.“

„Er will zu mir nach Stadthagen kommen“, erklärte Nadja.

„Und wozu soll das gut sein? Er hätte doch auf dem Weg nach Bückeburg hier vorbeikommen können“, wandte Peter ein.

„Eben“, stimmte Nadja zu.

„Geht er mir aus dem Weg?“, überlegte Peter.

„Das glaube ich nicht. Du hast wie alle anderen Rücksicht auf ihn genommen“, sagte Nadja.

„Vielleicht war das ein Fehler, und ich hätte ihm mal richtig die Meinung geigen sollen, damit er aus dieser Heulsusennummer wieder rauskommt“, grübelte Peter.

„Na ja, so ganz einfach ist das auch nicht, wenn du dich mit dem Gedanken abfinden musst, dass ein Arm nicht mehr wirklich funktioniert“, gab Nadja zu bedenken.

„Schon, aber er hätte auch tot sein können. Oder stell dir vor, er säße im Rollstuhl. Aber es ist nur der linke Arm, nicht mal der rechte. Er sollte anfangen, sich daran zu gewöhnen“, sagte Peter, „anstatt uns alle dafür zu strafen, dass wir sein Schicksal nicht teilen müssen.“

„Ich weiß, was du meinst, aber ich denke, du urteilst ein bisschen zu hart. Niemand, der nicht in der Situation ist, weiß, was es mit einem macht. Die Demut, für etwas dankbar zu sein, was einen nicht getroffen hat, bringt noch lange keine Dankbarkeit oder Akzeptanz für das kleinere Übel“, antwortete Nadja. „Na, wie dem auch sei. Ich werde jetzt nach Stadthagen fahren und sehen, was mich erwartet.“

„Soll ich mitkommen?“, fragte Peter und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.

„Nee, lass mal. Wer weiß, was es ist. Ich rufe dich dann später an. Und vielleicht hast du recht. Wir müssen aufhören, ihn mit Samthandschuhen anzufassen. Das lässt ihn nur tiefer in seiner Opferrolle versinken. Nimm ihn doch mal bei einem Bier ins Gebet“, schlug sie vor.

Peter nickte, obwohl er dazu im Moment so gar keine Lust hatte. Er musste Wolf schon auf der Dienststelle ertragen. Aber das war natürlich auch kein Zustand. Er war sein Freund. So konnte es auf Dauer nicht weitergehen. Für Wolf gab es momentan nur ihn selbst. Höchste Zeit, dass er sich daran erinnerte, dass um ihn herum auch Menschen waren. Er kuschelte sich wieder in die Kissen.

Nadja lachte, gab ihm einen Kuss auf seine Beule an der Stirn und zwickte ihn zum Abschied leicht in seinen großen Onkel, der unter der Bettdecke herausragte. „Schlaf nicht wieder ein. Du musst auch gleich raus!“

„Ja, ja“, brummte Peter und streckte sich.

Als Nadja in Stadthagen eintraf, schloss sie die Tür zur Rechtsmedizin auf. Sie war morgens gerne einen Moment allein. Diese Ruhe war herrlich. Auf dem Weg zu ihrem Büro warf sie einen Blick in den Spiegel im Sektionssaal. Das Kämmen hatte wie immer nichts genutzt. Die Natur hatte ihr Haare in die Wiege gelegt, über die jede andere Frau geweint hätte. In alle Richtungen standen sie vom Kopf ab, ohne jemals eine Frisur abzugeben. Aber Nadja grinste nur. Das hatte doch was, das konnte nicht jeder vorweisen. Als Jugendliche war sie dazu übergegangen, den Schnitt so kurz zu halten, dass die Pracht nirgendwo hinwachsen und man das Muster ihrer vielen Wirbel sehen konnte. Später hatte sie sich einfach damit abgefunden, dass sie war, wie sie war, und Peter liebte es ohnehin. Im Büro setzte sie einen Kaffee auf und sah in ihren Terminplan. Ziemlich tote Hose im Moment. Nur ein paar alte Fälle, die mit neuen Spuren abgeglichen werden sollten. Man starb lieber auf natürliche Weise im Schaumburger Land und Umgebung. Das sollte nicht heißen, dass sie den Menschen etwas anderes wünschte.

Es klingelte an der Tür. Durch die Glastür sah sie schon von Weitem, dass es nur Wolf sein konnte. Sie war gespannt, was er von ihr wollte.

„Hallo Wolf, komm rein!“, begrüßte sie ihn.

Er nickte nur.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie und ging voran.

„Mal sehen“, sagte er. „Können wir in dein Büro gehen? Ich möchte mit dir allein sprechen.“

„Es ist zwar noch niemand außer mir hier, aber klar, setzen wir uns und schließen die Tür. Du machst es aber spannend.“

Wolf nahm ihr gegenüber am Schreibtisch Platz. „Danke.“

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte Nadja. „Frisch gebrüht.“

„Nein danke“, erwiderte Wolf wortkarg.

„Was führt dich denn nun her? Ich bin wirklich neugierig. Du hättest doch auch zu uns nach Hause kommen können“, sagte Nadja.

Wolf schüttelte den Kopf. „Ich möchte, dass das Gespräch hier unter uns bleibt. Kannst du mir das versprechen?“

„Kommt ganz drauf an“, gab Nadja ehrlicherweise zu.

„Ach, ist im Grunde auch egal“, erwiderte Wolf und zuckte mit den Schultern. Der linke Arm hing wie eine reife Frucht am Baum.

„Kommst du denn mit deinem neuen Wagen gut klar?“, fragte Nadja einige Zeit später, weil Wolf stumm blieb.

„Ist ein Krüppelmobil.“ Er lachte bitter. „Ein Wort, das sich eigentlich selbst ad absurdum führt. Aber ja, es hat Automatik und am Lenkrad ist ein Knauf, damit ich einhändig kurbeln kann. Ich brauche den linken Arm also gar nicht mehr. Und darum bin ich auch hier. Ich wollte dich bitten, dass du ihn mir abnimmst. Als totes Gewebe stört er mich nur. Baumelt überall rum. Besser, wenn er ganz weg wäre.“

Nadja atmete tief durch. Mit so etwas hatte sie nicht im Entferntesten gerechnet. „Wie stellst du dir das denn vor?“, fragte sie völlig perplex.

„Na, du wirst es doch wohl können“, sagte Wolf, „gib mir eine Narkose und such dir aus, wie du ihn abtrennen wirst. Das ist deine Sache. Ich will es auch gar nicht so genau wissen. Sauber und ordentlich. Zweckmäßig. Vielleicht lässt du ein kleines Stück Oberarm dran wegen der Optik.“

Mechanisch wie ein Roboter beugte sich Nadja vor. Bei ihrer Größe von einem Meter fünfundachtzig hatte sie ebenfalls lange Arme. Sie holte aus und verpasste Wolf eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte.

Für einen Moment hörte er gar nichts mehr, dann klingelten ihm die Ohren. Verdattert und völlig geschockt wollte er aufstehen.

„Nichts da!“, donnerte Nadja und drückte ihn in den Stuhl zurück. „Wir reden jetzt Tacheles! Ich hab schon lange die Schnauze voll, aber das hier ist der Gipfel. So eine Unverfrorenheit und Rücksichtslosigkeit, die aus grenzenlosem Egoismus resultiert. Ich habe selten so einen Egozentriker wie dich erlebt. Was ist nur aus dir geworden? Schau dich an: Ein Jammerlappen, der nur an sich selbst denkt. Glaubst du, die Menschen um dich herum haben überhaupt keine Gefühle? Seit Monaten benimmst du dich wie die letzte Sau. Lässt deine Unzufriedenheit an uns allen aus. Was denkst du denn, wer du bist? Nur weil einer deiner Arme versehrt ist, tickst du vollkommen aus? Willst ihn sogar abnehmen lassen? Du weißt doch noch gar nicht, ob sich deine Lage nicht noch bessert. Warte doch einfach noch mal ab. Die meisten Kriegsopfer lassen sich Prothesen machen, damit sie nicht einarmig rumlaufen müssen. Aber der Herr Hetzer will sein Anhängsel loswerden. Ich fasse es nicht. Ist dir eigentlich klar, wie viel Glück du gehabt hast? Du lebst, du kannst laufen, du hast Freunde, die dir helfen, wenn du sie lässt. Du kannst sogar trotzdem weiter arbeiten. Anstatt im Selbstmitleid zu versinken, könntest du zur Abwechslung auch mal dankbar sein.“

„Bist du fertig?“, fragte Wolf und wollte wieder hoch.

„Nein“, wetterte sie, „noch lange nicht. Mein Opa hat seinen Arm im Zweiten Weltkrieg verloren. Mit sechzehn. Und wenn du jetzt denkst, das sei lange her, dann sieh dich um, oder schalte den Fernseher ein. Werde demütig und füge dich in dein Schicksal. Nimm es endlich an. Mach das Beste daraus. Erst dann wird es wieder bergauf gehen. Und vielleicht entwickelt sich alles besser, als du denkst. Aber hör verdammt noch mal auf, dich selbst zu bemitleiden. Wo ist Wolf, der Kämpfer? Unser Freund, der sagt: Jetzt erst recht! Stell dir vor, Peter wäre in deiner Situation. Was würdest du ihm sagen?“

Zu einer Antwort kam Wolf nicht, denn Nadjas Telefon klingelte. Einen Moment zögerte sie, dann entschuldigte sie sich und nahm ab.

„Serafin … ja, ist gut, ich komme raus. Windmühle Rodenberg. Welche Straße? … Okay, das müsste mein Navi finden. Ich bin in ungefähr zwanzig Minuten da.“ Dann legte sie auf und seufzte.

Wolf sah sie fragend an.

„Ein Toter in Rodenberg. Offensichtlich erschossen. Tut mir leid, unser Gespräch muss warten“, erklärte sie.

„Gespräch ist gut. Monolog meinst du“, sagte Wolf.

„Du hättest ja vielleicht noch etwas dazu sagen wollen“, erwiderte Nadja und stand auf, um ihre Tasche zu holen.

„Das könnte ich auch jetzt noch, wenn du mich mitnimmst“, schlug Wolf vor.

Nadja sah ihn skeptisch an. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es nicht besser wäre, wenn wir uns vertagen. Dann bliebe etwas Zeit zum Nachdenken.“

„Du würdest mich nach dieser Standpauke einfach so zurücklassen?“, beschwerte sich Wolf auf dem Weg nach draußen.

„Na gut“, gab Nadja zu, „hast ja recht. Das wäre unfair, also los, steig ein. Wir können auf der Fahrt weiterreden. Allerdings weiß ich nicht, ob die Nenndorfer Kollegen begeistert sind, wenn ich dich mit anschleppe.“

„Wir sagen einfach, wie es ist“, schlug Wolf mit einem Augenzwinkern vor, „dass ich gerade bei dir im Auto saß und du mich nicht einfach so auf weiter Flur aussetzen konntest. Außerdem werden sie mich bestimmt nicht als Konkurrenz empfinden, so als Krü …“

„Wenn du das aussprichst, schmeiße ich dich wirklich raus“, drohte Nadja.

Wolf spürte, dass sie es ernst meinte und sagte: „Ihr müsst schon verstehen, dass sich mein Leben von jetzt auf gleich total verändert hat. Das geht doch nicht spurlos an einem vorbei.“

„Da gebe ich dir recht, und das ist auch alles verständlich“, antwortete Nadja, „auch, dass man sich für eine Zeit auf sich selbst konzentriert, um diesen Schicksalsschlag zu bewältigen, aber das darf keine Endlosschleife oder Sackgasse werden. Am Ende muss dieser Prozess doch zu etwas führen, weil das Leben auch nicht Halt macht. Es kann nur die Suche nach einem Weg sein, auf dem es weitergeht. Ein Arrangement mit der neuen Situation, damit ein positiver Blick in die Zukunft möglich wird.“

Wolf lachte bitter. „In der Theorie gebe ich dir hundertprozentig recht. Aber stell dir mal vor, du hättest plötzlich nur einen Arm. Die Konsequenzen erfährst du in allen Bereichen: Beruf, Privatleben, Autofahren … Wer holt denn jetzt zum Beispiel den schweren Korb mit Holz rein, wenn der Kaminofen angemacht wird? Niemand! Ich mache ihn nur noch halb voll und gehe zweimal. Ähnlich mit Wäschewannen und Einkaufs- oder Bierkisten. Was ich damit sagen will, ist, dass ich Moni überhaupt keine Hilfe mehr bin, eher eine Last, weil sie mir noch Dinge abnehmen muss.“

„Ich habe nicht bestritten, dass das ein schlimmes Los ist, aber es kann auch leichter oder gravierender empfunden werden. Nehmt doch jeder einen Henkel. Du musst wie gesagt neue Wege finden. Außerdem ist der Arm noch dran!“ Sie funkelte ihn böse von der Seite an. „Im besten Fall wird doch dein Zustand von jetzt noch nicht das Endstadium der Genesung sein. Darauf solltest du hoffen.“

„Hoffen, hoffen“, äffte er sie nach, „um am Ende noch mehr enttäuscht zu sein. Das kann auch nur jemand vorschlagen, der topfit und unversehrt ist.“ Schon in dem Moment, als er es sagte, tat es ihm leid.

Nadja bremste und hielt am Rand. Sie waren eben von der B65 in Richtung Rodenberg abgebogen. „Steig bitte aus!“, sagte sie freundlich, aber ihre Augen waren feucht.

„Entschuldigung, Nadja, ich habe es nicht so gemeint“, stotterte Wolf, der sich plötzlich erinnerte.

Sie war jetzt ganz ruhig. „Ein guter Freund denkt nicht nur an sich“, begann sie. „Er überlegt, wie es den Menschen geht, die ihm wichtig sind. Weißt du, manche Behinderungen sieht man einfach nicht, weil sie verborgen sind. Das heißt aber nicht, dass sie den Betroffenen nicht belasten. Glaubst du, Peter und ich sind gerne kinderlos? Was meinst du, wie wir uns gefühlt haben, als ich trotz meiner maroden Eierstöcke schwanger geworden bin? Das war für uns das größte Glück. Ein Geschenk, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Ich galt als unfruchtbar, erinnerst du dich?“

Wolf nickte.

„Und damit nicht genug. Dann verliere ich unter Lebensgefahr unser Kind in der sechsten Woche, weil es sich anstatt in der Gebärmutter im Eileiter eingenistet hat. Verstehst du? Es lebte. Es war alles an ihm intakt. Nur verpflanzen konnte man es nicht. Das war sein Todesurteil. Und Peter musste in die OP einwilligen, weil ich nicht mehr ansprechbar war. Wir hatten keine Wahl. Der Verlust war nicht zu verhindern. Es war nur die Frage, wie groß er sein würde, falls ich nicht zu retten gewesen wäre.“

Sie atmete tief durch, und Wolf öffnete die Beifahrertür. „Es tut mir sehr leid, Nadja. Ich bin ein echtes Arschloch.“

„Warte“, sagte sie, „ich bin noch nicht fertig. Das damals hätte uns unsere Beziehung kosten können. Ich bin einige Zeit genauso in mir versunken wie du jetzt, aber ich habe gespürt, dass es Peter schlechter ging als mir, dass er doppelt litt, weil er Angst hatte, mich nun doch noch auf andere Art und Weise zu verlieren. Das hat mich aufgerüttelt. Nicht nur ich war wichtig. Es ging uns beide an. Auch er brauchte Trost, und den konnte ihm niemand so gut spenden wie ich, die es auch betraf. Uns hat es damals stark gemacht, als ich endlich aus meinem Selbstmitleid aufgewacht bin. Man neigt dazu zu vergessen, dass das eigene Leid dem Nächsten und Liebsten genauso zu schaffen macht wie einem selbst. Hilf Moni, indem du ihr zeigst, dass du das Beste aus deinem momentanen Zustand machst. Nimm ihr ein bisschen von der Sorge um dich. Und lass dir verdammt noch mal helfen. Von ihr, von deinen Freunden. Du bist und bleibst doch der alte Wolf, mit einem oder anderthalb Armen.“

Einen kurzen Moment schwiegen beide.

„Danke“, sagte Wolf dann und wollte eigentlich gerade aussteigen.

„Mach die Tür wieder zu“, befahl Nadja. „Wenn du wüsstest, wie gut ich dich verstehen kann. Aber das bringt dich nicht weiter. Du hast dich lang genug vergraben. Es ist an der Zeit aufzuwachen. Versprich mir, dass du das versuchen wirst!“

„Hoch und heilig!“, erwiderte Wolf.

„Gut, dann lass uns jetzt zur Mühle hochfahren und sehen, was uns dort erwartet“, schlug sie vor.

„Eine Bitte habe ich noch“, sagte Wolf vorsichtig, „könnte das vielleicht unter uns bleiben?“

„Das kann ich dir nicht versprechen. Peter wird schon wissen wollen, warum du zu mir in die Rechtsmedizin gekommen bist, anstatt uns zu Hause zu besuchen“, wandte Nadja ein.

Wolf nickte. „Dann erzähl ihm von mir aus das mit dem Arm und dass du mir deshalb den Kopf gewaschen hast. Ist ja nicht gelogen.“

„Dass dir das andere peinlich ist, ist schon mal ein guter Anfang.“ Nadja grinste und parkte hinter der Polizeiabsperrung unterhalb der Mühle.

AN DER MÜHLE

„Was für eine Sauerei“, stöhnte Hauptkommissar Lutz Brinke gerade, als Nadja und Wolf auf den Fundort der Leiche zugingen. Er versuchte, sich dem Mann von der linken Seite zu nähern, ohne in das Blut auf dem Boden zu treten. Aber das war nahezu unmöglich.

„Wieso? Geht doch noch“, sagte Nadja mit fachmännischem Blick auf die Wunde, „ich hätte bei der Verletzung eine größere erwartet.“

Brinke zuckte mit den Schultern. Ihm reichte es.

„Hast du jetzt einen Lakaien, Nadja?“, fragte Brinke und grinste breit. „Da hätte ich an deiner Stelle einen jüngeren und frischeren genommen. Grüß dich, Wolf. Was verschafft uns die Ehre? Ich dachte, du bist vorübergehend zum Bürohengst geworden.“

„Reine Neugier, ich war zufällig bei Nadja, als du angerufen hast“, entgegnete Wolf und gab Lutz Brinke die Hand, „aber schön, dass wir uns mal wiedersehen.“

„Schade, ein bisschen Unterstützung könnten wir gut gebrauchen, jetzt, wo Imke krank ist, aber was soll’s.“ Brinke wandte sich wieder Nadja zu. „Kannst du schon was sagen?“

„Hochbetagtes Opfer. Ich schätze mal, zwischen achtzig und neunzig Jahre alt. Die Leichenstarre ist komplett ausgeprägt, das Blut größtenteils verkrustet oder trocken. Könnte gestern Nachmittag, am Abend oder in der frühen Nacht passiert sein. Deutliche Schusswunde an der linken Halsseite, höchstwahrscheinlich mit Arterienverletzung, wenn man den Radius der Blutspritzer betrachtet. Interessanterweise ist die Menge dann aber eher klein, die herauskatapultiert worden ist. Der Exitus ist wohl ziemlich schnell eingetreten. Keine Ahnung warum. Dazu muss ich ihn aufmachen.“

„Vielleicht hat er vor Schreck oder aus Todesangst einen Herzinfarkt bekommen“, mutmaßte Wolf.

„Möglich“, sagte Nadja.

„Kann er denn abtransportiert werden?“, fragte Brinke.

„Nein, noch nicht“, bat Nadja, „die Bestatter sollen ihn mir noch kurz da auf eine Plane legen. Ich will noch seine Rektaltemperatur messen und seinen Gesamtzustand unter die Lupe nehmen.“

Lutz Brinke nickte und gab die entsprechenden Anweisungen. Dann zog er Wolf zur Seite. „Komm, wir gehen ein Stückchen. Ich kann diese knackenden Geräusche schlecht ertragen, wenn sie die Leichenstarre in den Muskeln lösen, damit er in den Transportsarg passt.“

„Kann ich verstehen“, erwiderte Wolf, „inspizieren wir halt ein bisschen das Gelände. Wer hat ihn eigentlich gefunden?“

„Ein Fotograf “, antwortete Brinke. „Der wollte mit seiner Drohne zeitig am Morgen Bilder machen. Die Rodenberger Mühle im Sonnenaufgang oder so. Aber jetzt ist ihm schlecht. Er sitzt dort hinten. Ich wollte ihm ein bisschen Zeit zum Sammeln geben, bevor ich weiter in ihn dringe. Wahrscheinlich bringt das sowieso nichts. Wenn das gestern Abend passiert ist, kann er nichts gesehen haben.“

„Es sei denn, dass er da auch schon mal hier war“, wandte Wolf ein.

Lutz Brinke nickte. „Ich überlege schon die ganze Zeit, warum jemand so einen alten Mann erschießt.“

„Das Verbrechen macht doch vor keinem Alter halt“, überlegte Wolf laut, „Zorn, Eifersucht, Rache, Wut, Macht, Enttäuschung, Schmerz oder Gier sind alles Kräfte, die zu Mord führen können.“

„Ja, das ist schon klar, aber wenn ich ihn erstickt im Seniorenheim oder im eigenen Bett vorgefunden hätte, wäre ich weniger irritiert gewesen“, erklärte Brinke.

„Ich weiß schon, was du meinst, aber das ist es doch, was uns unser Beruf immer wieder lehrt: Es gibt absolut nichts, was es nicht gibt“, sagte Wolf.

„Viel Lebenszeit wäre ihm wahrscheinlich sowieso nicht mehr geblieben. Wieso dann noch umbringen?“, sinnierte Brinke, ohne eine Antwort zu erwarten. Plötzlich stutzte er, weil ihm wieder einfiel, dass Wolf dem Tod nur so haarscharf von der Schippe gesprungen war. „Wie geht es dir denn inzwischen? Bestimmt nicht einfach, das alles zu vergessen.“

„Vor allem nicht, wenn einen der Arm immer wieder daran erinnert“, entgegnete Wolf, dem Nadjas Standpauke noch beim Sprechen wieder einfiel. Also fügte er „Kann ja aber noch besser werden“, hinzu. „Ich will ja nicht ewig nur am Schreibtisch sitzen.“

Brinke dachte, dass es am besten sei, nicht weiter in den Kollegen zu dringen. Dessen Trauma saß tief. Das konnte jeder verstehen, der davon gehört hatte. „Manches braucht seine Zeit“, sagte er aus eigener schmerzlicher Erfahrung und klopfte Wolf auf die gesunde rechte Schulter. „Ich will dann mal den Fotografen befragen.“

„Danke. Ich schlendere hier noch ein bisschen rum“, erwiderte Wolf.

„Wie du möchtest“, sagte Lutz Brinke. „Bis bald mal wieder und weiterhin gute Besserung, Wolf.“

Die Luft war herrlich an diesem frühen Morgen. Hier, ein Stück abseits der Mühle, war alles friedlich. Der Geruch des Todes drang nicht hierher. Geräusche erreichten ihn nur aus großer Ferne. Sie blieben undeutlich und verebbten wie der Wind, der in den Kronen über ihm flüsterte. Das Gefühl, am Leben zu sein, war auf einmal für ihn spürbar. Sein leer gebranntes Ich wollte sich aus der Asche erheben und schlug mit den Flügeln. Er konnte sich fühlen, endlich wieder. Die Spitzen der Federn berührten sein Innerstes. Nicht alles war tot an ihm. Warum dies nun genau hier geschah, wusste er nicht. Ganz in der Nähe des Ortes, wo man sich seiner entledigt hatte. Das war kurios. Aber vermutlich war eher das Gespräch mit Nadja der Auslöser gewesen. Dennoch: Etwas kehrte in ihn zurück. Der geschundene Wolf richtete sich auf und zeigte die Zähne. Nachdenklich schlenderte er weiter. Mittlerweile sah er die Mühle nicht mehr. Eine Baumgruppe versperrte den Blick. Er sollte lieber bald zurückkehren. Nadja würde fahren wollen, wenn sie mit ihren Untersuchungen vor Ort fertig war.

Plötzlich warf etwas im hohen Gras am Wegesrand das Sonnenlicht zurück. Beinahe hätte er es nicht beachtet. Die Leute warfen so viel Müll in die Natur. Aber da er sich in Reichweite eines Tatortes befand, bückte er sich. Der matt scheinende Gegenstand sah aus wie ein kleines Türschild. Alt und fleckig, leicht geschwungen. Wolf nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, hob das Teil mit dem Fingernagel hoch und drehte es um. Kurios. Es war sogar graviert. Die Schrift war altertümlich. Kein Wunder. Für Paul 1880 las er, darunter stand Gustav Fükert und in der dritten Zeile Weipert. Eine Antiquität oder etwas, das von einer abgefallen war. Vielleicht von einer Truhe oder einer Kiste. Oder einem Schrank mit Aussteuer, der zur Hochzeit geschenkt worden war. Möglicherweise hatte auch einer der Müller hier etwas vergraben. Eine Verbindung zu dem Mord war unwahrscheinlich. Aber das alte Stück hatte etwas. Wolf hob es vorsichtig mit dem Tuch auf und steckte es in seine Tasche. Mit dem Begriff „Weipert“ konnte er überhaupt nichts anfangen. Womöglich ein Ort. Wer aber war Gustav Fükert, der einem Paul etwas widmen wollte? Was es sein mochte, blieb im Dunkeln. War 1880 eine Jahreszahl? Und wieso lag das Metallschild hier? Wolf konnte nicht aus seiner Haut. Mysteriöse Dinge faszinierten ihn. Nicht umsonst war er Kriminalhauptkommissar geworden. Er hatte Witterung in Sachen „unbekanntes Objekt“ aufgenommen. Seine Neugier war geweckt. Einen kurzen Augenblick überlegte er, ob der Gegenstand für die Ermittlungen relevant sein könnte. Aber selbst wenn der Erschossene uralt und an die neunzig Lenze zählen mochte, wäre er trotzdem erst so rund um 1927 geboren, also fast fünfzig Jahre später, als auf dem Schild angegeben, wenn es sich denn dabei überhaupt um eine zeitliche Angabe handelte. Es konnten auch Höhenmeter sein, oder wer weiß was. Mal sehen, was er im Internet herausfand. Dann würde er entscheiden, ob es sich lohnte, das Stück Metallblech zu behalten.

„Mensch, wo bleibst du denn?“, sagte Nadja etwas ungeduldig, als er den Wagen erreichte.

Die Bestatter hatten den Leichnam längst mitgenommen und auch der olle Brinke, der etwas älter sein musste als er selbst, war fort. Von Ferne winkte er Seppi von der Spurensicherung zu und ignorierte den immer noch abweisenden Blick seiner Kollegin Mimi, die er nach einer rasanten Nacht nie wieder angerufen hatte.

„Entschuldige bitte. Ich hab ein bisschen nachgedacht und dabei die Zeit vergessen“, erwiderte Wolf.

„Wenn’s denn was gebracht hat“, antwortete Nadja versöhnlich. „Ich habe hier sowieso noch ein paar Einzelheiten in mein Smartphone gesprochen. Ist also nicht weiter schlimm. Aber wir sollten jetzt los.“

Wolf nickte. „Wisst ihr denn schon, wer der Mann ist?“

„Das ist etwas kurios“, begann Nadja, „also, Papiere hatte er keine dabei. Es steht auch kein Wagen von ihm an der Mühle, sodass wir eine Halterabfrage machen könnten.“

„Klingt bisher ganz normal. Was ist jetzt das Kuriose an der Sache?“, hakte Wolf nach.

„Hmm, ich weiß nicht genau, aber ich glaube, ich habe den Mann schon mal gesehen“, erklärte Nadja. „Ich habe nur spontan keine Ahnung wo und in welchem Zusammenhang.“

„Vielleicht hat er Ähnlichkeit mit einer Person, die du kennst“, vermutete Wolf.

„Möglich, aber ich irre mich selten“, sagte Nadja und grübelte weiter.

„Auf dem Tisch hattest du ihn jedenfalls noch nicht. Da bin ich mir ganz sicher“, entgegnete Wolf und erntete dafür einen tadelnden Seitenblick. „Es wird dir schon wieder einfallen. Hast du ein Foto von seinem Gesicht? Vielleicht habe ich ihn auch schon mal gesehen.“

Nadja nickte. „Ich zeige es dir, wenn wir wieder in Stadthagen sind, aber ich halte das für ziemlich unwahrscheinlich.“

Kurz vor Stadthagen klingelte Nadjas Smartphone. „Kannst du mal gucken, was da auf dem Display steht?“, bat sie Wolf.

„Babuschka“, sagte Wolf und schmunzelte.

„Die rufe ich später zurück“, erklärte Nadja und schlug sich mit einem Mal die Hand vor die Stirn. „Ich hab’s!“

EIN SCHWERER GANG

Aus dem Tal war es ein anstrengender Marsch bergauf, den sie schweigend zu Fuß zurücklegten. Die Luft war schwül und lag schwer auf den Wiesen. Sie folgten dem Karren, der zwei Särge trug, einen großen und einen kleinen. Es war nur eine winzige Trauergemeinde, die da zum Friedhof zog. Fünf Menschen in Schwarz.

Aloisia, nun Witwe nach nicht einmal sieben Jahren Ehe, begleitet vom sechsundfünfzigjährigen Johann, der zugleich ihr Schwiegervater und ihr Schwager war. Ja, das war wirklich so. Ihre Schwester hatte damals einen alten Mann geehelicht und sie später dessen erwachsenen Sohn Edmund.

Sie kamen nur langsam voran. Edmunds Bruder, ebenfalls mit dem Taufnamen Johann, stützte seinen Vater. Der trug schwer an dem Verlust. Eltern sollten ihre Kinder nicht begraben müssen, aber das war ein frommer Wunsch. Immerhin hatte Edmund das Erwachsenenalter erreicht. Hinter Vater und Bruder gingen Aloisias eigene Geschwister Rupert und Anna. Die Kinder waren daheimgeblieben wie immer. Man nahm sie nicht mit.

Ihre Töchter Josepha und die kleine Marie mussten zurechtkommen. Sie waren sechs und vier Jahre alt. Die Ältere kümmerte sich um die Jüngere und mahnte sie, leise zu sein, damit sie Tante Barbara, die daheimgeblieben war und auch drei eigene Kinder zu versorgen hatte, nicht störte. Sie alle wohnten in einem Haus: Johann und Edmund mit Familie, aber jetzt waren plötzlich zwei Menschen weniger da und einer von ihnen fehlte besonders, weil er seine Familie nicht mehr versorgen konnte.

Still saßen Edmunds Töchter am Küchentisch. Kartoffeln und Karotten mussten geschält werden. Das war heute so wie an jedem anderen Tag, auch wenn dieser traurig war. Die kleine Rosa schlief, und die Jungs hatten draußen zu tun. Ein Stückchen Normalität.

Seit der Totgeburt des Jungen im April war Barbara noch nicht wieder zu Kräften gekommen. Weder physisch noch mental. Es war ihr ganz recht, dass sie den Leichenzug nicht begleiten musste. Zwei Töchter hatte sie selbst schon zu Grabe getragen. Dieser letzte Weg war immer ein schwerer Gang. Aber wenn es den Ernährer der Familie betraf, waren Armut und Leid oft die Folge. Ein Trost vielleicht, dass Aloisia und ihre beiden Mädchen nicht ganz allein auf sich gestellt waren. Sie lebten gemeinsam mit Johann senior, Barbara und Familie in Nummer 331 in der Karlsbader Straße, nahe des Pöhlbachs.

Es war eigentlich ein Wunder, dass sie bisher nur zwei Todesfälle zu beklagen hatten. Die Blattern rafften derzeit viele dahin, vor allem Kinder. Doch es sah so aus, als ob der Kelch an den anderen fünf im Haus vorüberging. Bis jetzt wenigstens, aber die Angst blieb.

Als sich das Fieber neulich bei Wilhelmine zeigte und sofort rasant anstieg, war das Mädchen zu schwach, um ihr Bettchen zu verlassen, das neben dem der Eltern an der Wand stand. Sie war noch keine zwei Jahre alt und nie von kräftiger Statur gewesen. Einen Doktor zu holen, machte wenig Sinn und war erst infrage gekommen, als Edmund Tage später ebenfalls zu fiebern begann, erinnerte sich Aloisia mit einem Blick auf die Särge vor ihr. Er hatte sie angewiesen, bei den Mädchen in der Kammer nebenan zu schlafen. Ein kleiner Raum mit zwei Stockbetten und einer winzigen Dachluke. Maria und Josepha teilten sich jetzt das eine der unteren. Sie selbst schlief in dem anderen. Oben drin lagen die Jungs ihrer Schwester, Franz und Josef. Nebenan gab es noch einen weiteren Raum ohne Licht, der zum Aufbewahren genutzt wurde. Die kleine Rosa, der ganze Stolz ihrer Schwester Barbara, lag mit im Elternschlafzimmer.

Als Wilhelmine so stark zu fiebern begann, hatten sie bereits Verdacht geschöpft. Die Blattern gingen um, und als sich erste Blasen zeigten, musste Edmund wohl Angst um sie und das Kind gehabt haben, das sie seit Kurzem in sich trug und das er nun niemals kennenlernen würde. Vielleicht war es endlich der sehnlichst erhoffte Sohn. Wilhelmines Schicksal war jedoch besiegelt. Die meisten Kinder überlebten nicht. Das war womöglich besser so, denn einige wenige, die es geschafft hatten, waren grausam von den Narben der Krankheit entstellt und zu einem traurigen Dasein verdammt.

Für Aloisia war die Schwangerschaft jetzt ein Umstand, der ihre Sorgen vergrößerte, weil sie noch ein Kind mehr zu versorgen haben würde. Ein Esser mehr. Aber wer konnte schon wissen, ob es wirklich gesund und lebendig zur Welt kam. Das stand in Gottes Hand, und sie wollte seinem Plan nicht ins Handwerk pfuschen. Viele der armen kleinen Würmchen waren zu schwach. Eine Folge der Mangelernährung und der häufigen Geburten. Wenn sie nur hart genug arbeitete und schwer trug, konnte das Schicksal auch gnädig zu ihr sein. Es wäre nicht ihr erster Abgang. Vier Schwangerschaften in sechs Jahren zehrten, und so sah sie nicht aus, wie eine junge Frau im einundzwanzigsten Jahrhundert mit neunundzwanzig wirken würde, die mitten im Berufsleben stand und sich noch nicht zur Fortpflanzung entschieden hatte.

Aloisia war mager, blass-bleich und wirkte wesentlich älter. Das schwarze, lange Kleid verstärkte diesen Eindruck. Hätte sie die Kleine doch nur selbst gepflegt, dachte sie, dann läge sie jetzt mit ihr und dem Ungeborenen auf dem Karren, aber die Familie wäre versorgt. Edmund hätte sich eine neue Frau nehmen können. Doch ihre Zukunft war besiegelt. Sie würde allein bleiben mit all den Sorgen und Nöten. Wer wollte schon eine mittellose Witwe mit drei Kindern ehelichen? Sie würde mit ihrer Hände Arbeit versuchen müssen, alle durchzubringen. Gottlob wohnten sie in Johanns Haus. Sie rechnete damit, dass er seine Nichten, die auch seine Enkel waren, nicht ins Unglück stürzen würde, und dass auch sie bleiben konnte. Aber das Dach über dem Kopf hatte mit Sicherheit seinen Preis. Sie sah sich nähen, bis ihre Finger wund waren.

Edmund war ein guter Mann gewesen. Sie kannte ihn schon als Kind. Als ihre Schwester Barbara 1861 den zwanzig Jahre älteren Schäftermeister Johann Diener geheiratet hatte, war dessen ältester Sohn Edmund nicht viel jünger als die neue Ehefrau. Johanns erste Gemahlin Theresia hatte mit fast vierzig Jahren noch einmal entbunden. Eine schwere Niederkunft war es gewesen. Aber der Junge lebte nur einen Tag, und die Resi war kurze Zeit nach der Geburt am Kindbettfieber gestorben. Für Johann war das ein schlimmes Jahr als Witwer gewesen. Der Anstand gebot es, das Trauerjahr einzuhalten. Die Jungen brauchten schnell eine neue Mutter, die den Haushalt versorgte. Was lag da näher, als das älteste Mädchen des ihm gut bekannten und im Berufsstand des Rohrschmiedemeisters tätigen Gahlert Johann zu ehelichen und vorher schon als Haushälterin zu beschäftigen? Mit allem, was dazugehörte, versteht sich. Als hübsch konnte man die Barbara zwar nicht bezeichnen, weswegen sie mit fünfundzwanzig noch ledig war. Aber dem Mittvierziger waren solche Dinge nicht mehr wichtig. Schönheit, das wusste er, verging wie im Flug. Brav, ehrlich, fleißig und fügsam musste sie sein. Das Becken schien gebärfreudig. So oder so, der Barbara war keine Wahl geblieben, wenn sie sich noch verheiraten wollte. Mochte sie auch inbrünstig auf einen stattlichen, jungen Mann gewartet haben, die Uhr tickte, und die Eltern wollten sie unter der Haube wissen. Besser ein alter Mann, der die Tochter versorgte, als lebenslange, ärmliche Jungfernschaft.

Aloisias Weg war danach fast vorbestimmt. Sie ging in Johanns Haus ein und aus, um ihrer Schwester zur Hand zu gehen. Was lag näher, als Aloisia in dasselbe bewährte Haus einheiraten zu lassen? Ein Gewinn für alle Seiten. Man wusste, mit wem man es zu tun hatte, und es festigte die Familienbande. Zwei Frauen garantierten außerdem eine gewisse Sicherheit, was die häuslichen Tätigkeiten anging, falls der Tod eine von ihnen zu früh holte. Johann wollte kein Risiko mehr eingehen. Ob er sich später noch einmal vermählen konnte, war ungewiss. Die Zeit arbeitete gegen ihn.

In Nummer 331 gab es im Erdgeschoss eine große Wohnküche mit Vorratsraum, eine schmale Seitenkammer mit dem Ehebett des Familienoberhauptes sowie eine Stube. Oben unter dem Dach lagen winzig kleine Kammern, in denen die anderen Hausbewohner schliefen. Edmund hatte sich mit Wilhelmine in eine davon zurückgezogen, damit sich keiner im Haus ansteckte. Er selbst war von guter Gesundheit und vertraute darauf, dass es ihn nicht treffen würde. Niemand glaubte mehr an Wilhelmines Genesung. Sie aber beide am Morgen des 26. Juli tot aufzufinden, weil sich trotz Klopfen und Rufen niemand in der Kammer rührte, war ein Schock. Damit hatte weiß Gott niemand gerechnet.

Aufgrund der Hitze und der Blattern hatte man die Toten nicht im Haus aufgebahrt, sondern im Schuppen. Das Betreten des Nebengelasses war allen untersagt worden. Nur der Tischler und die Totenfrau durften hinein. Eile war geboten, und nur das Nötigste wurde getan. Im Haus hörten sie, wie die Nägel ins Holz getrieben wurden. Etwas war für immer vorbei. Doch die Zeit lief weiter.

Aloisia erwachte aus ihren Erinnerungen. Nun waren sie am Friedhof angekommen. Die Trauerfeier war kurz, die Grablegung ebenfalls, und dennoch verdunkelte sich währenddessen der Himmel. Fünf Angehörige nahmen leise Abschied. Sogar die Vögel schienen verstummt zu sein, aber das lag wohl an dem aufziehenden Gewitter. Höchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Sie überredeten Johann, auf dem Tischlerkarren Platz zu nehmen, damit sie schneller vorankamen. Doch noch bevor sie zu Hause ankamen, brach die Hölle los. Jeder hier hatte Angst vor den Gewittern im Gebirge. Völlig durchnässt erreichten sie die 331, gottlob körperlich unversehrt.

GEDANKEN

Kommissar Wolf Hetzer war weiter in Richtung Bückeburg gefahren, denn Nadja hatte sich nicht in die Karten gucken lassen. Sie war auf einmal sehr darauf erpicht gewesen, mit der Sektion des alten Mannes zu beginnen, der ungefähr zeitgleich eingetroffen war. Nun ja, das war nicht zu ändern, dachte Wolf. Sie würde sich schon noch dazu äußern. Er hatte ebenfalls ein kleines Geheimnis, schmunzelte er in sich hinein, obwohl er immer noch nicht daran glaubte, dass dieses Metallplättchen etwas mit dem Mord zu tun hatte. Wen oder was meinte denn Nadja wohl in diesem Mann zu erkennen? Ein bisschen wurmte es ihn doch, dass er im Ungewissen gelassen worden war.

Er seufzte und parkte seinen Wagen an der Dienststelle in der Ulmenallee.

Als er das Großraumbüro betrat, sprachen alle wie auf Kommando nur gedämpft weiter. Man nickte ihm kurz zu und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. Bloß nicht auffallen, damit einen der Unmut des Chefs nicht traf, dachten die einen. Keinen Bock auf Stress am Morgen, dachten die anderen. Einzig sein Sohn Niklas fragte ihn, ob er einen Kaffee wollte. Wolf nickte dankbar, nahm die Tasse und zog sich in sein Büro zurück. So weit war es also schon gekommen. Er war zu einem ungeliebten Zeitgenossen geworden, vor dem die anderen sich entweder in Acht nahmen oder ihm aus dem Weg gingen.