SCHAUDER - Steffen Wittenbecher - E-Book

SCHAUDER E-Book

Steffen Wittenbecher

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Beschreibung

Er kennt deine tiefste Angst. Und er macht sie wahr. Schauder spielt mit den Urängsten seiner Opfer, bis ihn die eigene Vergangenheit brutal einholt: Siebzehn Jahre Koma. Ein lebender Toter. Doch er erwacht. Gezeichnet. Unberechenbar. Getrieben von einem eisigen Zorn. Die Jagd auf jene, die ihm alles nahmen, hat begonnen – ein blutiger Pfad der Rache, auf dem Schauder selbst zur tickenden Zeitbombe wird. Alte Freunde, sadistische Peiniger, korrupte Mächte – niemand ist sicher. Wie weit gehst du, wenn du nichts mehr zu fürchten hast – nicht einmal dich selbst? "SCHAUDER – Ein Mann der Tat": Ein Psychothriller, der das Blut in Ihren Adern gefrieren lässt und Sie an die Grenzen des menschlichen Abgrunds führt.

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Seitenzahl: 640

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Steffen Wittenbecher

SCHAUDER

Ein Mann der Tat

Psychothriller

2. Auflage 2025

Copyright 2014 Steffen Wittenbecher

Covergestaltung: Steffen Wittenbecher

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten und liegen bei dem Autor. Dies gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Handlung und die handelnden Personen, sowie alle Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden, verstorbenen und/oder realen Personen ist rein zufällig.

Sie erreichen den Autor unter [email protected]

„Zwei Ursachen nährten meine Angst. Die eine war nur halb so schlimm, wie ich dachte. Die andere war bei Weitem schlimmer.“ Schauder

Kapitel 1: Irgendwann heute und ganz in der Nähe

Kapitel 2: Unterdessen im Sarg

Kapitel 3: Nur ein Irrtum

Kapitel 4: Angst benötigt keinen Sarg

Kapitel 5: Vor langer Zeit (Schauders Kindheit)

Kapitel 6: Der Abend nach Klingers Beerdigung (heute)

Kapitel 7: Der Schulbus (Schauders Kindheit)

Kapitel 8: Zurück bei der zukünftigen Witwe Klinger, die noch nicht weiß, dass sie keine Witwe ist, bald jedoch erfahren wird, dass sie demnächst eine sein wird

Kapitel 9: (K)ein leerer Schulbus (Schauders Kindheit)

Kapitel 10: Damals (am Tümpel)

Kapitel 11: Als die Gedanken noch unsicher und voller Angst waren

Kapitel 12: Was zuvor geschehen war - gleich nach der Begrüßung und während Frau Klingers Ohnmacht

Kapitel 13: Eine Nacht in dem verrottenden Stadtteil (Schauders Kindheit)

Kapitel 14: Karl, was hast du getan?

Kapitel 15: Der Sinn des Lebens

Kapitel 16: An der Tür zur Gewissheit

Kapitel 17: Weitere Erkenntnisse (heute)

Kapitel 18: Das Wetterorakel (damals)

Kapitel 19: Anglerlatein

Kapitel 20: Das missbrauchte T-Shirt

Kapitel 21: Bernd kennt jeden

Kapitel 22: Verräterische Flora und Fauna

Kapitel 23: Das Auge des Unbekannten

Kapitel 24: Wolfsgeheul

Kapitel 25: Der Bengel des Lords (monstrum Homo sapiens)

Kapitel 26: Der Morgenmuffel

Kapitel 27: Eine Galerie voller kindlicher Albträume

Kapitel 28: Begegnungen

Kapitel 29: Erleuchtung oder was Karl im Tümpel erweckt hatte

Kapitel 30: Ferngespräche (Klingers Haus)

Kapitel 31: Ortsgespräche

Kapitel 32: Zwanzig Minuten vor diesen Ereignissen

Kapitel 33: Unsichtbare Bande

Kapitel 34: Eheglück

Kapitel 35: Sicht auf die Dinge, so, wie sie wirklich sind

Kapitel 36: Sieben der Reihe nach

Kapitel 37: Seltener Besuch

Kapitel 38: Einige Monate später

Kapitel 39: Die Gehe

Kapitel 40: Das Labyrinth des Minotaurus (Träume)

Kapitel 41: Aber Großmutter …

Kapitel 42: Ein Wiedersehen mit Hermann

Kapitel 43: Endlich wieder daheim?

Kapitel 44: Bernds letzte Nacht am See (Rückblick)

Kapitel 45: Abschied und Geständnisse

Kapitel 46: Bernds Beseelung (Rückblick)

Kapitel 47: Duschzeit

Kapitel 48: Die Hyäne tötet den Löwen nicht, um ihn zu fressen

Kapitel 49: Lebendig begraben

Kapitel 50: Berufungen

Kapitel 51: Hermann! Erzähl mir mehr von Hermann

Kapitel 52: Böses Erwachen

Kapitel 53: Eine Hand wäscht die andere

Kapitel 54: Neopren und Schnauzbart

Kapitel 55: Der Kapuzenmann

Kapitel 56: Eifersüchteleien

Kapitel 57: Wie eine Freundschaft endet

Kapitel 58: Der Chefkoch

Kapitel 59: Herzschmerz

Kapitel 60: Taxinot

Kapitel 61: Der Sextauschring

Kapitel 62: Made in China

Kapitel 63: Beamtenschlaf

Kapitel 64: Bankgespräche

Kapitel 65: Das Radiointerview (Sonntagnacht)

Kapitel 66: Der Plan

Kapitel 67: Das Radiointerview (Fortsetzung)

Kapitel 68: Lasst uns aufstehen

Kapitel 69: Die Morgenzeitung

Kapitel 70: Stiller Monolog

Kapitel 71: Hoffnung

Epilog

Kapitel 1: Irgendwann heute und ganz in der Nähe

›Irgendwo auf einem Friedhof im Nirgendwo. Es regnet nicht, und es krächzen keine Krähen. Allerdings steht dort tatsächlich ein Sarg herum und ist umringt von Arschlöchern, Kränzen, Trauerschleifen und einer Vielzahl Blumensträußen. „Wir vermissen Dich“, steht auf einer Trauerschleife. Ein Bild von einem Fettsack wurde aufgestellt, als ob sonst keiner mehr wüsste, wie er ausgesehen hat. Jedenfalls wartet der Sarg nur noch darauf, von den Jungs dort drüben hinabgelassen zu werden. Ich bin ziemlich aufgeregt. Es geht los …‹

»Liebe Trauergemeinde, wir haben uns heute Morgen hier versammelt, um Abschied von Gustav Klinger zu nehmen. Es ist ein sehr früher Abschied, … der uns darüber hinaus auch noch überraschend ereilte, … ja, uns übermannte. Es ist ein Abschied vom Vater, vom Ehemann, vom Sohn, vom Bruder, vom Kollegen …«.

›Langweilig … Brr, heute ist wahrhaftig ein kalter Novembermorgen und wer hätte das gedacht: Es findet eine Beerdigung statt. Heute wird der überraschend verstorbene Herr Klinger beerdigt. Keiner der Anwesenden hatte wohl mit seinem plötzlichen Tod gerechnet. Was soll‘ s, ein Abschied schafft Platz für Neues. Nicht wahr, Frau Klinger? Davon abgesehen haben Trauernde nie mit dem Tod von irgendjemandem gerechnet. Wie denn auch, er kündigt sich nur ungern vorher an. Er erscheint am liebsten unangemeldet. Und das ist das Seltsame am Tod. Selbst wenn der Verstorbene todkrank ist und über Nacht Erlösung findet, kommt sein Dahinscheiden auf einmal plötzlich über die Lebenden.

Ich würde jetzt gerne eine rauchen. Ob ich mir einfach eine anzünde? Was würden wohl die Herumstehenden dazu sagen? Immerhin sind wir draußen an der frischen Luft und ich dürfte doch niemanden belästigen? Ich warte besser noch, bis der Pfarrer fertig ist mit seiner Rede. Bis dahin, zurück zum Tod und seinem überraschenden Erscheinen. Nun, überraschend erscheint er immer, es sei denn, man hat jemanden selbst umgebracht und dem Tod bei seinem plötzlichen Werk zugesehen. Das ist jedoch eine andere Geschichte. Oh, dort hinten erscheint doch noch eine Krähe am Himmel. Schön. Nein, sie ist nur vorübergeflogen. Ist sicher auf der Suche nach etwas Schmackhaftem, und hier weiß sie, dass sie nicht fündig werden wird. Schade eigentlich.

Nun, bis auf das bisschen Übergewicht, welches unübersehbar gewesen war, soll er gesund gewesen sein. Wer? Na, Herr Klinger. Wer sonst. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich die Trauernden hier und heute würden zusammenfinden müssen.

Was allerdings keiner von den hier Anwesenden ahnt: Herr Klinger ist überhaupt nicht tot. Sicher, er liegt im Sarg. Bei Gott, die Träger haben sich wohl nichts sehnlicher gewünscht, als dass er nicht im Sarg gelegen hätte. Meiner liebevollen Hingabe sei Dank, war er seit Tagen nicht fähig gewesen, sich zu bewegen. Geschweige denn, irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Letztlich hat er also gespürt, wie er umgekleidet und herumgetragen worden ist; die metallene Bare und den ganzen anderen Spaß, der nur das vorbereitet hat, was jetzt gleich passiert.

Herr Klinger ist, wie man so schön sagt, scheintot. In diesem Moment kann er den Pfarrer reden hören, und es ist wahrhaftig eine schöne Trauerrede. Ja, das muss man dem Herrn Pfarrer lassen. Da hat er sich alle Mühe gegeben. Egal. Der beinahe Verstorbene kann die Ansprache kaum genießen. Er hatte eine unglaubliche Angst davor, lebendig begraben zu werden. Diese Angst begleitete ihn sein bisheriges armseliges Leben lang. Am Abend hinderte sie ihn angeblich daran, einzuschlafen. Ich denke allerdings, dass er sich von dieser Angst an den wenigen Abenden im Jahr lösen konnte, an denen seine Frau auf ihm lag. Ha, lebendig begraben kann unter Umständen doch angenehm sein.‹

Kapitel 2: Unterdessen im Sarg

›Mir ist kalt … mir ist schrecklich kalt … ich spüre schmerzhaft, dass mein Körper zittern will, doch er kann nicht zittern. Ich kann mich noch immer nicht bewegen. Warum ist es so dunkel um mich herum? … Wie bin ich hier nur hineingeraten. Dabei habe ich doch nur kurz die Augen geschlossen.

Dachte, es wäre ein Traum. Nein, es war kein Traum. Ich habe ihn doch gesehen. Er stand vor mir. Er hat es tatsächlich getan. Ich kann nicht sprechen. Da höre ich doch jemanden reden! Ich höre ganz sicher jemanden reden! Jetzt holst du mich gleich hier raus ... Na, hol mich schon raus! Gott sei Dank! G o t t s e i D a n k! Ha, ha, ha! Nein, was redet der da? Was redet DER denn da!? Nach all den Tagen höre ich endlich wieder jemanden reden und er nimmt Abschied!? Abschied von mir?! Jeden Moment dürfte es hell werden. Jeden Moment. Ich kann mich noch immer nicht bewegen. Ich kann nur mit den Augen blinzeln und diesmal werdet ihr es sehen können. Meine Augen blinzeln! Ich lebe! Seht nur genau hin. Das geht ganz sicher, wenn ihr nur genau hinseht. Ich verspreche es euch. Ihr werdet es sehen können! Bereits seit einigen Stunden kann ich wieder mit den Augen blinzeln. Ich bin nicht tot! NEIN, ich bin nicht tot! Vorher ging das nicht. Nicht. Sie taten mir unendlich weh nach der langen Zeit. Meine Augen brennen wie Feuer. Nun macht endlich, mir ist kalt! Beeilt euch bitte. Bitte macht schon. Beeilt euch! Ich kann es kaum erwarten, alle wiederzusehen. Ich muss umgehend eine Suchmeldung herausgeben. Einen Haftbefehl! Die Kollegen werden wie Bluthunde hinter ihm her sein. Sie werden ihn um die ganze Welt jagen, wenn es sein muss.‹

Kapitel 3: Nur ein Irrtum

›Nun, jetzt, nachdem der Pfarrer seine Ansprache beendet hat, geht es auch schon abwärts. Abwärts in das feuchte und lichtlose Loch. Ja … Nun gut, noch ist es nicht vollständig dunkel dort unten. Doch das wird es gleich sein. Herr Klinger fährt jeden Moment in eine Episode seines Lebens hinein, vor der er sich am meisten gefürchtet hat. Der Ärmste, und ich bin dafür verantwortlich. Das Ganze ist doch eine recht schaurige Vorstellung.

Ach, bevor ich es vergesse. Mein Name ist Schauder. Alle nennen mich nur Schauder. Oder ab und an auch „Nein, bitte nicht, Herr Schauder“. Ha, das ist aber nur eine vorübergehende Angelegenheit. Am Ende bin ich doch nur wieder Schauder. Meinen Vornamen habe ich vor langer Zeit vergessen, und der trägt auch nichts zur Sache bei. Doch was das Wichtigste ist: Ich habe vor nichts Angst! Sicher, mein Leben lang war ich genauso ein armseliger Angsthase wie du. Ein Schisser. Ein Blödmann. Habe mir bei jeder geringsten Kleinigkeit die Hosen vollgemacht. Doch das ist lange vorbei.

Huch, ein ziemlich holpriges Abwärts war das. Das bekam unser Herr Klinger wohl mit. Nun bettelt er sicher inständig darum, dass es irgendwer endlich bemerken würde. Dass noch einmal jemand den Sarg öffnet und laut ruft, dass es nur ein Irrtum war. Doch es wird niemand rufen. Und ich wäre der Letzte, der an dem, was gleich geschehen wird, irgendetwas ändert: „Holt sofort den armen fetten Mann aus seinem Sarg heraus!“ Ha, nein. Ich genieße diesen Moment viel zu sehr. Ist das überhaupt sein Sarg oder gehört er seiner Frau?

Es ist ein recht einfacher Sarg, nichts Besonderes. Wozu sollte ein beinahe Toter auch einen hübsch anzusehenden Sarg bekommen? Er kann ihn doch ohnehin nicht bewundern. Ja, da hat Frau Klinger wohl am richtigen Ende gespart. Alles richtig gemacht, Frau Klinger. Oder, Herr Klinger? Hat deine Frau alles richtig gemacht? In diesem Augenblick hätte ich ihn gern dazu befragt. Das würde etwas Abwechslung in diese Veranstaltung bringen. So, nun noch etwas Erde auf den Sarg geworfen.

Ja, für diejenigen unter euch, die es nicht wissen, stets wird ein bisschen was davon auf dem Sarg verteilt, bevor es dann richtig losgeht. Eine tolle Sitte. Jeder von den Trauernden darf einmal seine Hände in die Erde tätscheln. Seine Frau ist die Nächste, die ist gleich nach dem Pfarrer an der Reihe. Oh, das jedenfalls hat Herr Klinger mit Sicherheit mitbekommen. Sie hat sich auch besonders viel von der Erde gegriffen und geradezu auf den Sarg geschmissen. Was auch immer das zu bedeuten hat. Oh, sie hat mich bemerkt und blickt mich an. Sie verzieht ihren Mund zu einem gequälten Lächeln. Lächle einfach zurück, Schauder … Lächle einfach zurück. So, nun bin ich dran. Ich bin dran! Hach, ist das aufregend! Lasst mich durch, ich möchte auch Erde hinunterwerfen … Und runter damit! So fertig. Jetzt habe ich schmutzige Hände. Pfui, der unartige Schauder hat im Dreck gespielt. Jedenfalls … eine Schaufel hätte kaum mehr hinunterbefördern können. Schnell wieder einreihen und in einem unbeobachteten Moment die Hände an der Hose abwischen. Was siehst du mich so an, Bengel? Besser du fragst mich jetzt nicht, woher ich deinen Vater kannte. Das würde mich nur wütend machen, und ich würde dich auf der Stelle zu ihm schubsen. Nein, frage mich jetzt besser nicht.

Der Bengel ist es nun, der den Sarg … mit Salz bestreut? Ja, es hatte beinahe den Anschein. Das ist Erde und kein Salz! Das dort unten kann man nicht essen. Hört du, Bengel? Welch unersättliche Göre. Ach, noch etwas zur Erde, bevor es hier weiter vorangeht.

Von der Erde bleibt jedes Mal ein bisschen was übrig, nachdem die netten Grabesleute hier ein Grab zugeschüttet haben. Ich vermute, dass die verbliebene Erde irgendwo aufbewahrt wird. Darf sich jeder davon nehmen, falls er etwas benötigt? Das wäre doch mal interessant in Erfahrung zu bringen. Ich meine, ich benötige bestimmt noch ab und an welche. Und die Leute, die sich um das Grab kümmern werden, ebenfalls. Falls die Erde einsinkt oder dergleichen. Und das tut sie nach einiger Zeit mit Gewissheit. Das tut sie immer. Spätestens, wenn der Sarg zerquetscht wird unter der tonnenschweren Last der Erde, die auf ihm ruht.‹

Kapitel 4: Angst benötigt keinen Sarg

›Was war das für ein lautes Geräusch?! Dieses Kratzen! Es macht mir Angst. Es klang wie … Die Stimme klingt plötzlich so weit entfernt. Sie hat sich eindeutig von mir entfernt. Sollte sie nicht lauter werden und ich das Licht sehen können? Meine Lieben sehen können? Mir ist so kalt. Ich muss mich irgendwie bemerkbar machen. Ich kann mich nicht bewegen. Ich werde ersticken! Dieses Kratzen klang wie Holz, das an Erde entlang schabt. Holz, das an Erde kratzt? Dunkelheit. Kälte ... ich liege in einem Sarg! Nein, bitte nicht! Ich bin nicht tot! Man wird mich … doch nicht begraben. Ich werde begraben! HOLT MICH BITTE RAUS! Holt mich BITTE hier raus … bei Gott, Schauder? Schauder! Es tut mir leid. Ich werde mich darum kümmern! Ich verspreche es dir! Ich kümmere mich um deinen Fall ... ich kümmere mich um deinen Fall ...‹

›So, nun wird es gleich noch mehr Erde werden, Klinger. Die anderen sind unterdessen gegangen. Ich dachte schon, die gehen nie. Dabei habe ich mich darauf gefreut, mit dir allein zu sein. Derweil stehe ich hier noch etwas herum und tue weiterhin so, als ob ich um dich trauere. Oh, Jungs, eine Unmenge Erde wird das werden. Macht bitte langsam. Lasst dem armen Mann doch noch etwas Zeit. Macht langsam … verdammt, zu spät … Soeben wurde es ganz still um dich herum. Die Stille, Klinger. Der Moment ist gekommen, dich deinen Ängsten zu stellen. Nimm dir diesen Augenblick des Nachdenkens, halte ihn fest. Hasse ihn ruhig. Es ist das Einzige, was du die nächste Zeit haben wirst. Aber nein, das wirst du nicht tun. Du bist viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Mache dir keine Hoffnung. Unter anderen Umständen wäre wohl längst die Luft im Sarg knapp geworden. Das wäre sie tatsächlich, aber gut, dass ich dem Vortrag des Doktors aufmerksam gefolgt bin. Wenn dieses vermaledeite Beruhigungsmittel nicht gewesen wäre, das die Ansprüche deines fetten Körpers auf ein Minimum beschränkt, dann wäre sie tatsächlich in diesen Momenten knapp geworden. Die kleine Sauerstoffflasche tut darüber hinaus ihr Übriges. So wirst du ganz sicher keinen schnellen Tod haben. Erst in einem oder zwei Tagen. Und wenn du bis dahin nicht erfroren bist, wirst du erstickt sein. Nun denn, es wird Zeit für mich, zu gehen.

Ich bin Schauder und würde ich noch etwas Angst verspüren, dann schauderte es mich allein bei dem Gedanken, in einem Sarg lebendig begraben worden zu sein.

Kapitel 5: Vor langer Zeit (Schauders Kindheit)

»Spring doch ... nun spring schon, Schauder. Wozu sind wir eigentlich hierher gefahren? Ach, ich wusste es bereits, bevor wir hier angekommen sind. Du traust dich nicht. Er wird sich sowieso nicht trauen, das dachte ich die ganze Zeit, und nun stehen wir hier und was ist? Du springst nicht.«

Es war ein heißer Sommertag im August. Die beiden Jungen Schauder und Hauser standen an der Felskante eines verlassenen Steinbruches, der sich unweit ihres Wohnortes befand.

»Wie sieht es aus, Schauder? Alle, die meinten, du wärst ein Schwächling, hatten also tatsächlich recht? Bist du ein Angsthase? Machst deinem Namen wohl alle Ehre? Schaudert es dich, Schauder? ... Schauder spring, Schauder spring …«.

Es dürften wenigstens zehn Meter bis zur Oberfläche des grünglänzenden Tümpels gewesen sein, der sich am Grunde des Steinbruches gebildet hatte.

»Na, spring schon!« Ein sandiger Wind fuhr über Schauders dürren Oberkörper. Er hatte seinem Freund nie erzählt von seiner Angst. Nein, er hatte keine Höhenangst. Die Höhe machte Schauder kaum zu schaffen, als er nach unten blickte. Auch hatte er keine Angst vor dem sekundenlangen Fall nach unten. Nein, ihn quälte die Angst davor, nicht zu wissen, was ihn dort unten im Tümpel erwartete.

»Na dann spring eben ich! Du Pfeife!«, rief Karl und sprang, ohne zu zögern. Rasch wurde er kleiner und Schauder sah ihm mit großen Augen hinterher. Kreischend schlug Karl auf der Wasseroberfläche auf.

Nach weiteren Augenblicken machte Schauder kehrt und ging zurück zu seinem Fahrrad, welches achtlos hingeworfen im Sand lag. Missmutig zog er das Päckchen Hemd vom Gepäckträger, entfaltete es und klopfte eifrig darauf herum. Vergeblich versuchte er, es vom allgegenwärtigen Staub des Steinbruches zu befreien. Irgendwann zog er sich dennoch den löchrigen Fetzen über und knöpfte ihn gewissenhaft zu. »Ganz wie der Vater«, hörte er währenddessen seine Mutter flüstern.

An diesem Nachmittag wollte Schauder allein zurück in den nahen Heimatort fahren. Weiteren Demütigungen seines Freundes wollte er sich nicht weiter aussetzen und bereits verschwunden sein, wenn dieser wieder oben angelangt sein würde.

Der holprige Betonplattenweg führte bergab und rüttelte das Fahrrad und den kleinen Schauder durch. Seine Hände umklammerten fest das Lenkrad und er dachte darüber nach, ob Karl überhaupt sein Freund war, so gemein, wie er gerade wieder gewesen war. Schauder wusste es nicht genau zu sagen. Wenn es mal wieder Keile für ihn gab, war Karl irgendwie Mitschuld, und stets hatte er das Gefühl gehabt, dass Karl den Ärger sogar selbst mit angezettelt hatte. Andererseits war Karl jedoch sein einziger Freund.

Mit ganzer Kraft zog Schauder die Vorderradbremse. Als die nicht zu genügen schien, trat er zusätzlich die Rücktrittbremse seines Fahrrades. Nach einigen weiteren Metern hatte er genug Geschwindigkeit verloren, um zu wenden. Doch noch war von Karl nichts zu sehen.

Als Schauder am Steinbruch ankam, lehnte Karls Fahrrad unangetastet an einem Stein. Es war ganz still im Steinbruch und Schauder ging an die Felskante, um nachzusehen, wo sein Freund geblieben war. Er sah hinunter.

Einzelne Steinchen fielen von der Felskante in das Wasser des Tümpels. Von Karl war weit und breit nichts zu sehen. Schauder hielt den Atem an und starrte angestrengt in das Loch im Algenteppich. Er wollte nach Karl rufen, doch er brachte kein Wort heraus. Für einen Moment war es ihm, als hätte er in dem tiefschwarzen Wasser die Umrisse des Körpers seines Freundes sehen können. Er hörte ein Knacken im spärlichen Bewuchs des Hanges.

Plötzlich sprang Karl hinter einem Stein hervor und Schauder zuckte fürchterlich zusammen.

Unzählige Insekten umschwärmten Karl und er wischte sich die restliche Nässe aus seinen Augen. Beinahe hätte Schauder vor Schreck das Gleichgewicht an der Felskante verloren, doch Karl ignorierte dies geflissentlich.

»Na, willst du schon nach Hause zu deiner Mutti, Memme?« Ein modriger Geruch schlug Schauder entgegen. An Karls Schultern klebte ein grünschwarzes Algengemisch.

»Oh man, Schauder! Eins kann ich dir sagen: Es ist ziemlich eklig dort drinnen. Das musst du unbedingt auch mal machen! Bäh, ich glaube, ich habe auch etwas von der Brühe verschluckt.« Karl war kurz davor, sich übergeben zu müssen, und Schauder wurde unterdessen reichlich blass. Er zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, nicht die schwarzen madenartigen Tiere zu beachten, die an Karls Hüfte entlang krochen. Dennoch war er erleichtert, dass Karl wieder oben war, und dass es ihm gut ging.

»Hu, das Beste war der Fall, Schauder. Ich dachte, der endet nie!«

Schauder trat einen Schritt vom Abgrund zurück. Unter keinen Umständen wollte er doch noch in das Gewässer fallen. In dieses Loch voller Algen, Würmer und stinkendem Wasser.

»Du bist verrückt, Karl.« Schauder bemühte sich und verzog seinen Mund zu einem falschen Grinsen. Karl schüttelte seine Arme und anschließend den restlichen Körper. Er hüpfte auf einem Bein herum und steckte sich einen Finger in das Ohr. Die Algen fielen endlich herab und sammelten sich unter ihm zu einer schleimigen Masse.

Schauder bekam eine Gänsehaut. »Ja, ich möchte zurück. Mutter sagte mehrmals zu mir, ich solle rechtzeitig zu Hause sein. Sie wollte mit mir einkaufen gehen. Das hier werde ich schon noch tun. Vielleicht im nächsten Jahr, wenn es lange genug vorher geregnet hat und das Wasser wieder höher steht.«

Seit einigen Jahren hatten die beiden regelmäßig an dieser Stelle am Abgrund gestanden und sich in allen erdenklichen Farben ausgemalt, wie es sein würde, hinunterzuspringen. Auch dieses Jahr vertröstete Schauder nun Karl auf das nächste Jahr.

Karl hatte diesen Schritt heute hinter sich gebracht und wurde zornig. »Was erzählst du für einen Quatsch? Ich dachte, du wärst mein Freund, und nun fahren wir wieder los, und du bist nicht gesprungen? Weißt du, Schauder, manchmal denke ich, du bist überhaupt kein Freund. Du bist eine Heulsuse, die lieber mit seiner Mutter einkaufen geht, statt sich wie ein Mann zu benehmen. Wenn dein Vater dich so erleben könnte. Er würde vor Scham im Boden versinken.« Karl grinste hämisch über beide Ohren.

Schauder wurde wütend, »lass meinen Vater da raus! Er hat mit meinem Versprechen heute Morgen genauso wenig zu tun, wie dein sogenannter Vater mit deiner Zeugung. Denkst du etwa, mein Vater würde springen? Du bist ein Arschloch, Karl.«

Wütend starrte Karl seinen Freund an. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen! Wie er da vor ihm stand mit zornigen Augen und staubigem Hemd – und vor allen Dingen trocken. Die modrige Nässe klebte an Karls Körper, und er wurde sich seiner eigenen Dummheit bewusst. Noch mehr aber ließ ihn aufbrausen, dass sein Freund so klug gewesen war, nicht in die stinkende abscheuliche Brühe zu springen.

Ein Gedankenblitz! Hass! Außer sich vor Wut machte er einen Schritt auf Schauder zu und hob blitzschnell seine Arme. Schauder sah ihn erschrocken an. Im selben Moment schubste Karl kräftig gegen Schauders Oberkörper.

Schauder taumelte zurück und versuchte verzweifelt, mit den Armen rudernd das Gleichgewicht zu halten, aber Karls Wut stieß ihn erbarmungslos in die Tiefe. Der quiekende Schauder wurde rasch kleiner und es vergingen nur Sekundenbruchteile, bis Schauder auf der Wasseroberfläche aufschlug. Der plötzliche Stoß hatte ihm keine Möglichkeit mehr gelassen, seinen Körper in der Luft aufzurichten und senkrecht in den Tümpel einzutauchen.

Sein erschütterter Schrei wurde als Echo von den Steinbruchhängen zurückgeworfen, und dann war es plötzlich still.

Sehr still. Die Wucht des Aufpralls hatte Schauder sofort ohnmächtig werden lassen, und sein Körper sank bewegungslos in den Tümpel hinab.

Karl starrte von oben auf die Wasseroberfläche und lauschte angestrengt, ob er ein Plätschern vernehmen würde, das Schauders Auftauchen ankündigen würde. Nichts. Die Wellen, die der Aufprall seines Freundes verursacht hatte, wurden immer kleiner, und bald war die Wasseroberfläche des Tümpels wieder glatt.

Wichtige Sekunden vergingen, in denen Karl dachte, dass Schauder nur einen Schabernack mit ihm trieb und absichtlich nicht mehr auftauchte, um ihm Angst zu machen. Die zwanzig Sekunden, von denen Karl wusste, dass Schauder die Luft anhalten konnte, waren rasch vergangen.

Karl zählte leise mit und bekam es stetig mehr mit der Angst zu tun. Bald wurde ihm bewusst, dass seinem Freund etwas Schreckliches geschehen sein musste. Er überlegte fieberhaft. Er wollte keinen Fehler begehen, gar ebenfalls ohnmächtig werden und neben seinem Freund im Tümpel versinken. Verzweifelt entschloss er sich, zu klettern. So begab er sich auf den Weg nach unten, so rasch es ihm mit zitternden Knien und dem verweinten Blick möglich war.

Es waren bereits zehn Minuten vergangen, bis er endlich bis an die Stelle geschwommen war und seinen Freund an das Ufer gezogen hatte.

Mit seinem Handrücken wischte er sich das Wasser aus den Augen und bemühte sich, seine Gedanken beisammenzuhalten. Er wollte sich genau an das erinnern, was er erst vor Kurzem in einer Fernsehdokumentation gesehen hatte. Was andere Leute ohne Zögern getan hatten, als jemand leblos aus einem Auto gezogen worden war.

Hastig riss er Schauders Hemd auf und drückte mit seinen Handflächen und unter Einsatz seines Gewichtes auf dem Oberkörper herum. Auf diese Weise brach eine der Rippen Schauders. Karl hörte das helle Knirschen und schöpfte umgehend Hoffnung. Er ahnte nicht, dass dieses Geräusch von einem Rippenbruch stammte. Erleichtert hielt er ein Ohr an Schauders Mund und versuchte, weitere Atemgeräusche zu hören. Doch stattdessen floss aus dem Mund seines Freundes eine rosafarbene Flüssigkeit.

Karl legte seine Hände an Schauders Wangen und schob diese zusammen. Anschließend drückte er seinen Mund auf Schauders Mund und presste mit aller Kraft seine Ausatemluft hinein.

Es hatte offenbar geklappt. Nachdem Karl seinen Kopf hochhob, machte Schauder ein röchelndes und gurgelndes Geräusch. Karl lächelte befreit auf, doch hatte er nur Luft in Schauders Magen statt in die Lungen gedrückt, die unter einem rülpsenden Geräusch wieder entfuhr.

Doch Karl wollte die Hoffnung nicht aufgeben und versuchte, mit Herzmassagen seinen Freund zum Leben zu erwecken. Nach jedem weiteren Rippenbruch legte er wieder sein Ohr auf Schauders Brust, doch Schauders Herz wollte einfach nicht beginnen zu schlagen.

Schauders Gesichtshaut war unterdessen farbloser und blasser denn je geworden, und seine Lippen hatten sich schwarzblau gefärbt. Nach bangen Minuten, die Karl wie eine Ewigkeit vorkamen, akzeptierte er, dass er seinen Freund umgebracht hatte.

Weinend hockte er sich neben den leblosen Körper seines Freundes und dachte verzweifelt über die weiteren Schritte nach, die es nun zu tun galt. Das Fahrrad zu nehmen und Hilfe zu holen, kam ihm zwischendurch ebenfalls in den Sinn.

Die Bewohner des Örtchens würden ihn anschließend verstoßen und ihn wie einen Aussätzigen behandeln. Das schreckliche Kinderheim, von dem seine Mutter ihm so oft erzählt hatte, wartete nun obendrein auf ihn. Vorbei war nun das Leben, das er bisher geführt hatte. Zutiefst fürchtete er den Ärger, der ihm nun von allen Seiten drohte.

Seine Knie an seine Brust angezogen schaukelte Karl vor und zurück und blieb lange Zeit so sitzen. ›Dabei wollte ich ihm doch nur einen Schrecken einjagen.‹ Es war ein schrecklicher Unfall, aber das würde ihm bestimmt niemand glauben. Letztlich glaubte er sich selbst nicht einmal. Also entschloss er sich dazu, die ganze Angelegenheit zu verheimlichen. Doch dazu musste Schauders Körper erst einmal vergraben werden.

Ein sinnloses Unterfangen für einen Jungen wie Karl, der keine Schaufel dabei hatte und dem die Ausdauer eines ausgehungerten Spatzen innewohnte. Mit bloßen Händen begann er, zu graben. Nachdem die Grube, die für Schauder gedacht war, etwa dreißig Zentimeter tief war, gab Karl erschöpft auf und ließ sich etwas abseits in den Sand fallen. Das würde er nicht schaffen, dazu reichten seine Kräfte nicht aus.

Sein Blick fiel auf seinen toten Freund. Plötzlich fiel ihm siedend heiß noch etwas ein; hastig untersuchte er Schauders Brustkorb. Dort entdeckte er rote und blaue Abdrücke. Umgehend war er sich sicher, dass nur die örtliche Polizei und nicht einmal das FBI sich das nur von Weitem ansehen müssten, um anhand der Größe der Abdrücke feststellen zu können, dass er verzweifelt versucht hatte, Schauder wiederzubeleben.

Karl holte Algen aus dem Tümpel und Blutegel und sämtliches Gewürm, dessen er habhaft werden konnte, und legte es auf Schauders Brustkorb ab. Die Krebse und Larven würden dort ganze Arbeit verrichten. Sie würden Schauder die Haut abfressen. ›Soweit so gut.‹

Karl dachte angestrengt weiter nach. Das Ganze sollte am besten wie ein Badeunfall aussehen. ›Was es auch ganz bestimmt gewesen war‹, versicherte er sich immer wieder. ›Allerdings wird es klüger sein, den Stoß von der Felskante nicht zu erwähnen.‹ Wollte er keinen Verdacht auf sich lenken, musste er bald etwas unternehmen.

Keinesfalls durfte er mitten in der Nacht zu Hause ankommen, denn in diesem Fall würde er Fragen beantworten müssen. Unter anderem die Fragen, die ihm seine Mutter stellen würde. „Wo warst du? Und wo bist du so lange gewesen? Wo war Schauder in der Zeit, wenn er nicht bei dir gewesen war? Ihr beide seid doch ständig zusammen?“ Darüber hinaus schüttelte es Karl bei dem Gedanken, gegenüber Schauders Mutter ähnliche Fragen beantworten zu müssen.

Als er wieder aufstand, dämmerte es bereits, und er nahm die wenige Kraft zusammen, die er noch hatte. Mit beiden Händen packte er Schauder an den Füßen und hob seine Beine an. Kurz darauf ließ er sie wieder fallen und begann, ihm die Schuhe auszuziehen. Soeben hatte er sich dazu entschlossen, Schauders Schuhe oben an der Felskante abzulegen. Sie sollten den Eindruck erwecken, als ob sie dort sorgsam abgestellt worden waren, weil Schauder hatte baden gehen wollen und dazu von der Felskante gesprungen war.

Schauders Hemd vergaß Karl darüber hinaus ebenfalls nicht. Ordentlich zusammengefaltet wollte er es auf den Schuhen ablegen. Zudem war er sich sicher, dass es zum Zeitpunkt des Auffindens längst getrocknet sein würde. Er rollte Schauder auf die eine Seite und zog das Hemd von seinem Oberkörper. Nachdem er ihn auf die andere Seite gedreht hatte, konnte er das Hemd auch dort von Schauders Armen lösen. Es sollte heil bleiben, was in der Eile überhaupt nicht so einfach war, wie Karl es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Schlussendlich musste er den Körper Schauders noch einmal auf den Bauch drehen und konnte erst dann und schlussendlich das Hemd an sich nehmen.

Kapitel 6: Der Abend nach Klingers Beerdigung (heute)

Im Schutz der Dunkelheit stand ein Mann an der Mauer eines Hauses. Er hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Angespannt blickte er hinüber in die Richtung des Hauses. Das Licht im Inneren brannte noch. Dieser Umstand überraschte ihn weniger, und letztlich hatte er auch damit gerechnet. War es doch erst kurz nach 20:00 Uhr.

Überdies war dieser Mann nicht zufällig hier vorbeigekommen und stand auch nicht zufällig dort an dieser Mauer herum. Die Frau und zukünftige Witwe des Herrn Klinger wohnte in dem Haus, das er beobachtete. Am heutigen Abend wollte er sie besuchen und sein Beileid bekunden.

»Und … hepp! … hervorragend«, er hatte die hüfthohe Mauer erklommen und stand nun aufrecht auf ihr. »Ich habe sie mühelos erklommen und …«, der Mann breitete die Arme aus und hüpfte von der Mauer herab, » … hinter mich gebracht und stehe nun im Garten der Witwe Klinger. Der zukünftigen Witwe wohlbemerkt. Sie weiß nur noch nicht, dass sie derzeit keine Witwe ist. Jetzt wird es schwierig. Sie weiß nicht, dass sie keine Witwe ist und überhaupt wird sie es auch gleich erst erfahren. Wie aufregend. Darüber hinaus hätte ich nicht gedacht, dass mir das Springen über Mauern noch immer so leicht fallen würde.«

Nachdenklich hielt der Mann inne und wog den Kopf hin und her. »Wie seltsam sich das anhört … zukünftige unwissende Witwe.« Ruckartig verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. »War sie doch heute Morgen noch auf der Beerdigung ihres Mannes. Oh, das, was sie gleich erfahren wird, wird ihr überhaupt nicht gefallen. Das habe ich doch prima eingefädelt.«

Bereits die ganze Zeit über hatte dieser Mann mit sich selbst gesprochen. Während er seine Worte leise in sich hinein murmelte, stiegen ständig Dampfwölkchen auf. Fast erweckten sie für ihn den Eindruck, als ob er an einer Zigarette ziehen und den Rauch ausatmen würde. Er rollte seine Augen und zog ein unzufriedenes Gesicht. »Nur eine kleine Zigarette. Jetzt! Nein, ich wollte doch aufhören und werde es nicht tun. Ich habe es mir versprochen.«

Unterdessen war er bereits in der Nähe des Hauses angelangt und blickte den Kopf in den Nacken gelegt in den Sternenhimmel. »Ich habe beschlossen, es nicht zu tun und gut, dass ich mich daran gehalten habe. Ich sage stattdessen lieber einer verwitweten Lady Bescheid, dass sie derzeit noch überhaupt keine Witwe ist. Nein, ich sage einer beinahe verwitweten Lady Bescheid, dass sie bald eine Witwe sein wird?«

Als Nächstes lief der Mann an einer Kinderschaukel vorbei. Mit einem seiner Finger hakte er eine Seilseite ein. Die Schaukel ließ er erst wieder los, als sie ihm am ausgestreckten Arm am Weitergehen hinderte.

»Ich bin ein Schatten und viel Spaß bei deinem Flug, fetter Bengel!« Derart losgelassen pendelte die Schaukel bis weit in die andere Richtung und weit wieder zurück. Bei einer Zigarette beobachtete der Mann die Schaukel, solange, bis sie wieder stillstand. Danach warf er die Zigarette missmutig auf den Boden, und als ob er ein Lagerfeuer austreten würde, trampelte er auf einem Bein stehend auf ihr herum.

»Verdammt ich habe mir doch geschworen, es nicht zu tun!« Verärgert machte er sich auf den Weg zur Eingangstür des Hauses der Familie Klinger.

Vorher bog er doch noch einmal ab und machte einen Abstecher an den Wintergarten des Hauses. Aufmerksam ließ er dort seine weit aufgerissenen Augen wandern und versuchte zu ergründen, mit wie vielen Anwesenden er gleich zu rechnen hätte. Bald lief er zufrieden weiter, und als er um die Hausecke bog, sprang er in die Luft und schlug seine Hacken aneinander.

»Selbstverständlich hätte ich auch den direkten Weg durch das Gartentor nehmen können. Hätte nachsehen können, ob ein Auto vor der Tür steht. Hätte mich einfach von der Anzahl der Bewohner des Hauses überraschen lassen können. Mich einmal wie ein Einbrecher zu fühlen … das konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Und außerdem musste ich doch noch unbedingt an der Kinderschaukel vorbei. Der Stimmung wegen ...«. Nachdem er pfeifend an der Haustür angelangt war, schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch und läutete einmal ausdauernd die Türglocke. Anschließend fing er an, herumzutänzeln und in die Luft zu boxen.

»Ich finde es überaus wichtig, mich warmzuhalten, und ich möchte die Zeit bis zur Ankunft Frau Klingers sinnvoll überbrücken.« Es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine schwarzgekleidete Frau die Tür öffnete. »Sie?« Frau Klinger blickte überrascht aus ihren verweinten Augen. Offenbar hatte sie tatsächlich mit Besuch gerechnet. Doch nicht mit diesem!

»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend, Frau Klinger. Dürfte ich mich nach Ihrem werten Befinden erkundigen?« Frau Klinger rang sich ein Lächeln ab und überlegte, wie sie den unerwarteten Besucher am besten abwimmeln könnte. So suchte sie händeringend nach einer Antwort. Gerade, als sie antworten wollte, schlug der Mann ihr seine Faust in das Gesicht. Frau Klinger verlor die Kontrolle über ihren Körper, fiel rücklings und schlug mit ihrem Kopf auf die Steintreppe, die in das obere Stockwerk führte, auf. Anschließend schlug sie der Länge nach auf den Fußboden der Diele des Hauses.

Als sie wieder erwachte, saß sie auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Ihre Nase und ihre Oberlippe waren rotschwarz gefärbt von getrocknetem Blut. Der ungebetene Besuch saß, ihr den Rücken zugewandt, ebenfalls auf einem Stuhl direkt vor ihr. Seine Unterarme ruhten jeweils auf seinen Oberschenkeln. Auf diese Weise hatte er das Erwachen der Frau Klinger aus ihrer Ohnmacht erwartet. Eben noch hatte er seinen Kopf seitlich gehoben, als ob er auf ein Geräusch von ihr gelauert hätte.

Sie blickte auf den Hinterkopf des Mannes und auf die Stuhllehne, die sich vor ihr befand. Kraftlos schwankte ihr Kopf hin und her, und verzweifelt versuchte sie, sich zu orientieren. Ihr Sturz auf den Boden dürfte ziemlich unglücklich gewesen sein.

»Sie haben es sicherlich schon mitbekommen. Ich bin es, und wir beide fahren Bus. Denken Sie ebenfalls, Frau Klinger, dass wir beide Bus fahren? Ich muss mich vorweg bei Ihnen entschuldigen. Ich habe in Ihrem Haus geraucht und werde es höchstwahrscheinlich wieder tun. Ich weiß, dass Sie mich heute Morgen bemerkt haben. Ihr fetter Bengel hat es ebenfalls, und nun frage ich Sie, weshalb bin ich hier? Was denken Sie?« Frau Klingers Kopf schwankte abermals hin und her. Ihr Blick ging an die Decke des Zimmers und fiel im nächsten Moment auf den Boden neben ihr. Nur schwer konnte sie den Blick geradeaus halten. Einer Ohnmacht nahe war er starr und glanzlos.

Die intensiven Genickschmerzen ließen sie jedoch wieder zu sich kommen. Der Mann gab ihr derweil etwas Zeit und entzündete sich, leise ein Lied summend, eine weitere Zigarette. Sie wollte irgendetwas antworten, doch sie stöhnte nur Unverständliches.

»Oh, es ist wohl besser, ich frage Sie nachher noch einmal. Dann möchte ich jedoch eine klare Antwort von Ihnen haben. Darüber hinaus muss ich mich für den Schlag in Ihr Gesicht entschuldigen. Die schwarzen Sachen. Das aufgedunsene Gesicht. Die Alkoholfahne. Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher. Oder eher eine Einbrecherin. Bis mir aufgefallen ist, dass ich derjenige war, der vor Ihrer Tür stand, war es bereits zu spät. Ich hoffe, auch das werden Sie mir verzeihen?«

Frau Klinger versuchte, sich zu erinnern und erkannte nach und nach die Situation, in der sie sich befand. Ihren Kopf durchzogen hämmernde Schmerzen. Sie bewegte ihre Nasenflügel und bekam trotzdem kaum Luft. Möglicherweise war ihr Nasenbein mehrfach gebrochen worden. Angestrengt stöhnend öffnete sie ihren Mund etwas. Sie konnte ihre Oberlippe nicht spüren, und ihre trockene Zunge tastete sich an mehreren gelockerten Zähnen entlang.

»Weshalb bin ich hier, Frau Klinger? Es ist unhöflich, dass Sie meine Frage nicht beantworten. Während ich darüber nachdenke, was ich zur Strafe mit Ihnen mache, fragen Sie sich sicherlich, was Ihr fetter Bengel so Aufregendes treibt?«

Frau Klinger versuchte, zu antworten. Die Angst um ihren Sohn gab ihr die Kraft, ihre Schmerzen zu ertragen. »Mein Sohn? Wo? Er?« Ihre Stimme klang entfernt, hohl und farblos. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis, unfähig, sich auf einen Einzelnen zu konzentrieren. Sie sah sich im Wohnzimmer sitzen und sich fragen, was sie auf dem Stuhl machte. Dann saß sie wiederum tatsächlich auf einem Stuhl und dachte, sie hätte das Ganze nur geträumt. In Wellen durchfluteten Schmerzen ihren Körper. ›Ich sitze in meinem Wohnzimmer? Ich muss wohl eingeschlafen sein. Das grelle Licht? Gustav? Oh nein, Gustav, mein Mann … er ist doch tot! Wie schrecklich. Oh Gott! Oh Gott! Was macht er in meinem Haus?! Was ist nur mit mir geschehen? Was will er? Mein Mund. Ich bin von ihm geschlagen worden. Es fällt mir wieder ein, in mein Gesicht. Er schlug mir seine Faust in mein Gesicht. Es ging alles so schnell und ich bin zu Boden gefallen. Er saß doch vorhin noch vor mir und meinte … wir fahren Bus? Ich kenne ihn. Wo ist nur Knut? Ich muss nach meinem Knut sehen. Mein Gesicht? Es fühlt sich ganz taub an. Ich muss die Polizei benachrichtigen. Ich kann mich nicht bewegen.‹

Der Besucher vor ihr schüttelte seinen Kopf. »Mein Sohn? Wo? Er? Nein, ich muss Sie enttäuschen. Er ist nicht in der Küche und stopft dort Essen in sich hinein.« Plötzlich wandte er seinen Blick nach hinten. Frau Klinger erschrak sich fürchterlich. Ihr Kopf ruckte haltlos hin und her. Sie wollte laut schreien, doch es drang nur ein dumpfes und blubberndes Geräusch aus ihrem Mund.

»Beruhigen Sie sich bitte. Das bin nicht ich. Also irgendwie bin ich es schon. Doch ganz so schlimm sehe ich in Wahrheit nun wirklich nicht aus. Das, was ich aufhabe, ist eine Maske. Eine Schweinchen-Dick-Maske. Durchaus passend, doch ich bin nicht bei Ihnen, um über die Verkleidungen Ihres Sohnes zu urteilen. Eigentlich sollten Sie einfach nur bemerken, dass diese Maske aus dem Zimmer Ihres Sohnes ist, still vor sich hin leiden und sich graulen bei der Vorstellung, was ich mit ihm getan habe. So haben Sie mir die Pointe vorweggenommen. Ich finde das ehrlich gesagt etwas unfair von Ihnen.«

Schweinchen Dick wandte seinen Kopf wieder geradeaus. Nach einiger Zeit blickte es seitlich nach rechts. Es hatte den Anschein, als ob es aus einem Busfenster sehen würde.

Kapitel 7: Der Schulbus (Schauders Kindheit)

Die Luft war nur schwer zu ertragen. Sie war stickig und geschwängert von den Ausdünstungen unzähliger Jugendlicher. Ein Großteil von denen dürfte wohl soeben den Sportunterricht beendet haben. Es war Sommer und ein Jahr, bevor Karl in den Steinbruchtümpel springen sollte. Schauder waren die Hitze im Bus und die Luft egal. Dort, wo er saß, konnte ihn niemand sehen, und er wurde in Frieden gelassen.

›Bis nach hinten kommt keiner im Sommer, denn hier sind keine winzigen Fenster, die sich öffnen lassen.‹ Schauder fühlte sich sicher. Seine Schulmappe hatte er auf seinem Schoß abgestellt und blickte verträumt aus dem Fenster. Er freute sich, bald zu Hause zu sein. Seine Mutter hatte ihm am Morgen ein großes Eis versprochen. Zudem war der Tag tatsächlich sehr lang und heiß gewesen. Leider nicht so heiß, dass es hitzefrei gegeben hätte.

Schauder summte ein Lied, welches im Brummen des Busmotors und dem Geräuschpegel der Jugendlichen unterging. Plötzlich fühlte Schauder, wie er an der Schulter geboxt wurde. Er brauchte erst gar nicht nachzusehen, wer es gewesen war. Der Bus war voller Unbekannter, bis auf Karl, der neben ihm saß. Er fühlte noch einen Schlag, der bei Weitem heftiger als der vorhergehende war.

Derart unsanft aus seinen Träumen herausgerissen, wandte er genervt seinen Kopf. »Blödmann … warum boxt du dich nicht selbst!?« Schauder staunte jedoch nicht schlecht. Der Platz neben ihm war leer. Dafür stand Dirk vor ihm. Mit offenem Mund starrte Schauder zu ihm hoch. Dirk Brenninger war ein mächtiger Kerl, ein Schläger, ein Berg, der Memmen wie ihn noch vor dem Frühstück in einer Pfeife rauchte. Karl musste unlängst aufgesprungen sein und war nirgends mehr zu entdecken.

»Wer ist ein Blödmann?« Schauder schluckte. Er wusste nun genau, dass, wollte er keinen Ärger haben, er umgehend nach rechts an das Fenster und in die Sonne hinein rutschen musste. Das tat er schleunigst. »Ich, selbstverständlich, und ein Arschloch bin ich obendrein.« Dirk nickte und ließ sich in den Platz neben Schauder fallen. Dirk saß nun in der Mitte des Busses. Von dort konnte er den gesamten Bus überblicken und ruhte von nun an wie ein König auf seinem schattigen Thron. Weiter nahm Dirk keine Notiz von Schauder. Wahrscheinlich war es die Hitze gewesen, die den Riesen besänftigt hatte.

Schauder atmete auf, er war unversehrt. Dirk legte lässig ein Bein über das andere und für Schauder war es nun nicht mehr möglich, seinen Platz zu verlassen. Neben Dirks Fuß hinderte ihn die vordere Sitzbank daran. Schauder hätte sich jedoch nie gewagt, Dirk zu fragen, ob er seinen Fuß wegnehmen und ihn bitte „durchlassen“ könnte. Denn eines wusste Schauder ganz genau: „durchlassen“ war unter den Schlägertypen nur ein anderes Wort für verprügeln. Und Dirk zu fragen, ob er ihn „bitte mal verprügeln“ könne, das kam für Schauder selbstverständlich nicht infrage. So entschuldigte er sich nochmals leise bei ihm.

Bald hielt der Bus an der Bushaltestelle, an der Schauder hätte aussteigen müssen. Sein Freund Karl tat dies freudig und unter Schauders Argusaugen, die Karl in seinem Versteck längst ausgemacht hatten. Karl stand noch einige Zeit lang draußen vor dem Bus. Mit großen Augen sah er in das Fenster hinein, aus dem Schauder herausblickte. Karl tat dies solange, bis der Bus abgefahren war und Schauder ihn vermeintlich nicht mehr sehen konnte. Schauder sah allerdings noch genau, wie Karl seine Schultern zuckte, seine Mappe ergriff und sich hüpfspringend auf den Heimweg machte. Schauder blickte aufgewühlt wieder geradeaus. Er schwitzte mittlerweile aus allen Poren, und eines wusste er ganz genau: Der Bus fuhr stetig weiter in Gegenden hinein, in die er sich bisher nicht gewagt hatte, auch nur einen Fuß zu setzen. Die Sonne brannte unterdessen heiß auf sein Gesicht. Die Bruchteile von Sekunden, in denen der Bus an einem Baum vorbeifuhr, genügten nicht, um ihn abzukühlen. Wie sehr wünschte er sich daher, dass der Bus langsamer fahren würde. Ihm wurde etwas schwindlig. Durstig war er obendrein. Zum Trinken hatte er nichts dabei.

Schauder dachte an seine Worte, die er am heutigen Morgen stolz verkündet hatte: »Mutter, lass mich in Frieden damit. Ich spare mir das Gewicht. Dieser geschickte Schachzug macht mich schneller, falls ich mal wieder vor den Schlägertypen wegrennen muss.«

Schauders Mutter hatte nur verständnislos geblickt und die Flasche zurück in den Kühlschrank gestellt. Wie sehr wünschte sich Schauder nun, diese Flasche bei sich zu haben. Einzig der Gedanke, dass Dirk ihm diese Flasche ohnehin nur weggenommen hätte, beruhigte ihn wieder etwas. Und dass er ohnehin längst pinkeln musste, auch.

Endlich hielt der Bus. ›Wo bin ich hier nur gelandet?‹ Seitlich von ihm erhoben sie sich in den Himmel. Nein, sie standen nicht aufrecht, sie waren gebeugt vom Alter. Mehr Bruchbuden als richtige Häuser und sämtliche Wände waren mit bunten Graffiti beschmiert. „NO HOPE, NO FUTURE“ stand auf der einen. „Petting statt Pershing“ stand auf der anderen Wand. Wie sehr hatte der Künstler doch recht mit diesen spitzfindigen Anmerkungen gehabt. Schauder blickte wieder nach vorn. Dort hinten zogen dunkle Wolken auf. Ein Omen? Wenigstens würde ihn am Ende dieser Straße die Sonne nicht weiter verbrennen.

Die meisten Jugendlichen waren längst ausgestiegen. Bis auf Dirk und die zwei Jungen aus der Sechsten, die drei Reihen schräg vor ihm im Schatten saßen. Schauders Blick hellte sich auf. Die kannte er doch entfernt von einem Geburtstag seines Freundes Karl? Sollte er sie lauthals ansprechen? Zu ihnen hinüber schreien, dass er möglicherweise Hilfe benötigte? Zu spät, die beiden Sechstklässler waren in ein Gespräch vertieft gewesen und standen nun ebenfalls auf. Sie wären ihm ohnehin keine großartige Hilfe gewesen. Zu klein und selbst zu dritt hätten sie keine Chance gegen Dirk gehabt. Schauder musste sich wohl oder übel mit seinem Schicksal abfinden.

Der Bus fuhr wieder an und Schauder war von nun an allein mit Dirk.

Kapitel 8: Zurück bei der zukünftigen Witwe Klinger, die noch nicht weiß, dass sie keine Witwe ist, bald jedoch erfahren wird, dass sie demnächst eine sein wird

»So und da wären wir. Ich steige nun aus.« Schweinchen Dick machte einen kleinen Ruck nach vorne und ließ sich wieder an die Stuhllehne fallen. Mit einem leisen Seufzer stand es auf. »Ich muss dem Busfahrer zugutehalten, dass er seinen Bus sanft zum Halten gebracht hat. Ein Meister seines Faches.« Es blickte seitlich und rief ins Nichts: »Danke, Herr Busfahrer und bis zum nächsten Mal. Es ist mir jedes Mal eine Freude, mit Ihnen mitfahren zu dürfen.« Schweinchen Dick sah auf Frau Klinger hinunter und boxte einmal gegen ihre Schulter. Sie war zwischenzeitig in Ohnmacht gefallen, aus der sie nun langsam wieder erwachte.

»Ich wollte Sie nicht derart unsanft wecken, Frau Klinger. Nun, es ist dennoch geschehen. Sie werden mir dankbar dafür sein. Hier ist nämlich die Endstation. Hier müssen Sie aussteigen.«

Kraftlos sank Frau Klingers Kopf auf die Stuhllehne und ihr starrer Blick fiel in Richtung Zimmerdecke. »Heute Morgen dachten Sie sicher noch, es wäre der schlimmste Tag in Ihrem Leben. Da fällt mir doch dieser Spruch ein, dass man nicht den Tag vor dem Abend loben sollte. Ha, Sie könnten ruhig einmal lächeln. Lächeln Sie, falls Sie mich eben verstanden haben. Es gelingt Ihnen nicht? Es tut mir leid, dann habe ich leider keine weitere Verwendung mehr für Sie.« Schweinchen Dick hob gemächlich seinen Arm, ein Zucken ging hindurch und es ballte seine Hand zu einer Faust. Ein gezielter Schlag würde Frau Klingers Genick brechen. Noch haderte es jedoch einen Moment. Ruckartig ließ es seinen Arm wieder sinken. »Oh, Frau Klinger? Ich stelle Ihnen nun eine leichtere Frage. Möglicherweise fällt Ihnen dann ein, weshalb ich hier bin. Wovor haben Sie am meisten Angst? Antworten Sie mir nicht, gehe ich aus Ihrem Haus, und Sie werden mich nie wiedersehen.«

Schweinchen Dick hockte sich neben sie. »Welche Gefühle stiegen eben in Ihnen auf, als ich das gesagt habe? Ein angenehmes Gefühl? Oder dachten Sie daran, dass Sie mich vermissen würden?« Frau Klinger wandte ihren Kopf und blickte ihn wortlos an. Sie schien beinahe zu lächeln, als sie ihren Blick zurück an die Zimmerdecke richtete. Schweinchen Dick schüttelte seinen Kopf. »Nein, niemand vermisst mich. Und selbstverständlich gehe ich nicht aus Ihrem Haus. Nein, wir beide haben hier noch zu tun. Reden Sie!« Es stand wieder auf und packte Frau Klingers Kopf an den Haaren und zwang sie dazu, es anzublicken. Ihre Augen rollten nach hinten. Es war ihr nicht möglich, ihren Blick auf ihm gerichtet zu lassen. Interessiert beobachtete Schweinchen Dick ihren Mund, der sich zitternd zu bewegen begann. Sie schien ihm irgendetwas sagen zu wollen. »Das wurde aber auch Zeit. Reden Sie, Frau Klinger. Reden Sie!« Frau Klinger bemühte sich sehr darum, verständliche Worte zu formulieren. Nach einigen unverständlichen »Ah‘ s« und »Oh‘ s« dachte Schweinchen Dick, es hätte endlich eine Antwort auf seine Frage herausgehört. »Ohne meinen Mann … die Zeit, die jetzt folgt.« Schweinchen Dick runzelte seine Stirn. Es hatte mit „verbrennen“ als Antwort gerechnet, „im trüben Wasser ertrinken“, gar „von einem Wolkenkratzer zu fallen“ oder, dass „Schweinchen Dick ihr die Haare vom Kopf frisst“. Doch dass Frau Klinger am meisten Angst vor der Zeit ohne ihren Mann hätte? Nein, damit hatte es nicht gerechnet. »Frau Klinger? Frau Klinger! Ja, ich weiß, Sie würden jetzt am liebsten schlafen. Ich lasse es jedoch nicht zu. Nicht, bevor ich Ihnen diese wichtige Mitteilung gemacht habe. Und zwar möchte ich, dass Sie diese Mitteilung auch ganz genau verstehen.«

Schweinchen Dick gab ihr laut klatschend eine Ohrfeige. Nach einiger Zeit folgte noch eine bei Weitem heftigere. Frau Klinger öffnete ihre Augen. Ihre Lider flatterten. Sie suchte nach den Augen desjenigen, der zu ihr gesprochen hatte. Blickte in die Richtung der Löcher, die das Sehen unter der Schweinchen-Dick-Maske ermöglichten. Und sie entdeckte die weit dahinter verborgenen Augen. Erwartungsvoll blickte sie hinein.

»Ihr Mann lebt, Frau Klinger. Ja, Ihr Mann lebt. Ist das nicht eine gute Nachricht?« Schweinchen Dick nickte mehrmals mit seinem Kopf, während es diese Worte sprach. Worte, die so entfernt klangen und doch ein Fünkchen Wahrheit in sich bereithielten. Ganz so wie in diesen Trickfilmen, die sie ihrem Knut an den Sonntagvormittagen gestattete. Weshalb sollte Schweinchen Dick sie auch anlügen? Ein Freudenfeuer ging durch ihren gesamten Körper. Es belebte sie. Doch augenblicklich erschrak sie sich. Erst jetzt war es ihr wieder aufgefallen, dass es keineswegs das Schweinchen Dick aus einem Trickfilm gewesen war, das zu ihr gesprochen hatte. Das Gesicht blutig geschlagen, saß sie noch immer auf dem Stuhl in ihrem Wohnzimmer und dieser Mann, den sie entfernt kannte, und der eine Maske trug, hielt sich ebenfalls dort auf.

»Ihr Mann, Frau Klinger. Er lebt …« Adrenalin durchspülte in einem reißenden Strom ihren Körper. Sie fühlte die längst aufgegebene Hoffnung wieder erstarken. ›Mein Mann lebt?‹ Jetzt wurde sie hellwach. Sie versuchte, ihren Kopf zu bewegen. Es gelang. ›Was ist, wenn das wahr ist? Ich die Beerdigung nur geträumt habe? Ich war doch auf einer Beerdigung? Der offene Sarg in der Kapelle. Das war nicht mein Gustav? Ich habe das alles nur geträumt?‹

Endlich gelang es ihr, sich aufzurichten. Bald war sie sich sicher, dass sie von der Beerdigung nur geträumt hatte, und dass der Mann, der vor ihr stand, irgendetwas damit zu tun gehabt hatte. ›Wenn Gustav noch lebt, dann geht es meinem Knut ebenfalls gut. Die beiden sind unterwegs. Alles wird gut.‹

Die Schweinchen-Dick-Maske ihrerseits blickte unterdessen mehrmals an die Zimmerdecke, während mit einem verkrüppelten Daumen die Maske am Kinn hochgehoben worden war und dahinter eine Zigarette verschwand. Rauchschwaden stiegen aus den Nasenlöchern auf. Und das Schweinchen Dick lächelte sogar. Es konnte auch gar nicht anders, als zu lächeln. Frau Klinger war es nur zum ersten Mal so richtig aufgefallen. Ein Lächeln für die Ewigkeit. Aufgemalt auf einer Maske. Sie starrte in Schauders Augen, welche sie nach all den Jahren längst nicht mehr ängstlich anblickten.

Kapitel 9: (K)ein leerer Schulbus (Schauders Kindheit)

Nun, er war nicht vollkommen leer. Immerhin fuhr ihn jemand und ganz hinten saß ein kleiner verschwitzter, durstiger und obendrein verschüchterter Junge am Busfenster, der ganz dringend mal austreten musste. Schauder hatte seine Schulmappe noch immer auf seinem Schoß abgestellt. Neben ihm saß Dirk. Der Schlägertypdirk, der Berg von einem Bengel. Schauders Blase drückte mittlerweile sehr. Jeder Stoß des Busses, jeder noch so kleine Huppel, ließ weitere Schweißperlen auf Schauders Stirn entstehen. Doch noch immer tat Schauder so, als ob er das gleiche Ziel wie Dirk hätte.

Schauder ahnte nicht, dass Dirks Vater, ebenfalls ein Berg von einem Mann, Busfahrer war, und dass dieser Vater an diesem Tage eben diesen Schulbus, in dem Schauder und Dirk saßen, fuhr. Dirk pflegte regelmäßig, mit seinem Vater die Schulrunde zu beenden und mit ihm gemeinsam Feierabend zu machen. Schauder wusste darüber hinaus ebenfalls nicht, dass diese Runde normalerweise sehr rasch beendet war. Wohnte in diesem Gebiet doch kaum ein Schulpflichtiger, der mit dem Schulbus mitfuhr.

Der Vater fuhr sie jedenfalls heute trotzdem ab, auch wenn die letzten beiden Sechstklässler längst ausgestiegen waren. Weshalb fuhr er nun diese Runde, die sich nach und nach zu einer sehr gewaltigen Runde ausdehnte, die stetig tiefer in die verrottenden Gebiete der Stadt führte? Dorthin, wo selbst der Bergvater des Bergbengels nur sehr ungern seinen Fuß, geschweige denn seinen Bus hineinsetzte.

Ja, heute hatte der Vater im Rückspiegel einen Jungen sitzen sehen und er hatte einfach angenommen, dass dieser Junge an ein bestimmtes, weit von der Schule entferntes, Ziel wollte. Das passte Dirk nun genauso wenig wie seinem Vater, der sich auf ein kühles Bier gefreut hatte. Dirk hatte zudem mit seinen Schlägertypfreunden ausgemacht, dass sie sich gemeinsam am See treffen wollten. Dort gab es Bier und halb nackte Mädchen, auf die er sich bereits gefreut hatte. Der Zeitpunkt dieses Treffens war allerdings bereits um dreißig Minuten überzogen worden. Dirk musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass auf seiner Decke ein Mädchen liegen würde, welches die anderen nicht gemocht hatten. Stattdessen musste er nun die ganze große Runde durch die Stadt mitfahren, um den kleinen „Blödmann, das Arschloch“ irgendwo „in den Slums“ abzusetzen. Das trübte Dirks Stimmung ganz gewaltig, und nach und nach wurde er dadurch zu einem sehr unangenehmen Weggefährten. Ein unberechenbarer obendrein.

An einer belebten Kreuzung, die die gesamte Aufmerksamkeit des Busfahrers erfordert hatte, hatte er Schauder plötzlich getreten. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Seine jugendliche und aufgestaute Wut hatte sich in einem einzigen Augenblick an Schauders schmächtigem Knie entladen. Was Schauder nun derart schmerzte, dass er sich Sekunden später eingenässt hatte und nun zusammengekauert auf der Seite lag.

Die Schulmappe, die vorher auf seinem Schoß gestanden hatte, lag aufgeklappt vor ihm und versprach ein durchaus annehmbares Versteck zu sein. Wenn Schauder die Größe eines mittleren Schulbuches gehabt hätte. Stattdessen wand er sich unter den pulsierenden Schmerzen eines zweiten Trittes und bemerkte nicht einmal, dass der Bus hielt. Überdies registrierte er auch nicht, dass Dirks Vater sehr wohl gesehen hatte, was sein Sohn getan hatte.

»Alles in Ordnung, Junge? Nun hab dich doch nicht so. Das war doch nur ein Tritt.« Die drei schallenden Ohrfeigen realisierte Schauder ebenfalls kaum, die der Vater anschließend seinem Sohn verpasste. „Wie der Vater so der Sohn“, ging es Schauder durch den Kopf. Und nichts wäre Schauder in diesem Moment lieber gewesen, als dass der Vater das Ganze nicht mitbekommen hätte, denn derzeit konnte sich Schauder zwar in Sicherheit wiegen, aber die nächsten Tage würden zu einem Spießrutenlauf sondergleichen ausarten.

Schauder ergriff die Gelegenheit, in der Dirk mit seinem Vater beschäftigt war. »Ich möchte hier aussteigen!« Er überwand seine Angst vor der unbekannten Gegend und nahm mit dieser vorlieb, statt auch nur noch einen einzigen Augenblick in diesem Bus zu verbringen.

»Hier wohnst du?« Schauder dachte nicht lange nach. »Nein, selbstverständlich wohnt nur meine Oma hier.« Er biss sich auf die Unterlippe, was den Schmerz seines Knies etwas zu lindern schien. Sie blutete. »Ich besuche sie heute.«

Kurze Zeit später war Schauder mit letzter Kraft an den Straßenrand gehumpelt und saß in einer nassen Hose und mit der Schulmappe in der Hand in einer Gegend, die seinen schlimmsten Albträumen entsprungen sein könnte.

Er schleppte sich in einen nahen Park und versteckte sich in einem Gebüsch, bis die heftigsten Schmerzen vorüber waren und die Hitze seine Hose einigermaßen getrocknet hatte.

Bald wurde es Zeit, loszulaufen. ›Ich muss vor der Nacht hier weg sein!‹ Schauder nahm allen Mut zusammen, den er noch besaß. „Immer die Hauptstraße entlang“, genauso, wie es ihm seine Mutter stets eingebläut hatte. „Einen Polizisten ansprechen.“ Doch hier gab es weit und breit keinen Polizisten. Schauder war mit sich und seiner Angst alleine. Bis auf die fremdländischen Leute, die fremdländisch sprechend herumstanden oder wie angestochen umherliefen.

Frauen entdeckte er trotz seiner Bemühungen keine. Einige Männer trugen Turbane und einige hatten sich seltsamerweise vermummt. Wiederum andere mussten sich erst gar nicht vermummen, denn ihre Gesichtsfarbe war so schwarz, dass Schauder nichts erkennen konnte, was einem Gesicht ähnlich schien. Er hatte seinen Blick gesenkt und humpelte in einer Geschwindigkeit, mit der er in seinem gesamten vorherigen Leben noch nicht gehumpelt war. In den Himmel erhoben sich graue Betonklötze, vor denen stinkende und von Fliegen umgarnte übervolle Mülltonnen standen. An jeder Straßenecke lungerten zwielichtige Typen in zerschlissenen Lederjacken herum. Typen, die solche Schlägertypen wie Dirk zum Frühstück in der Pfeife geraucht hätten. Schauder erwartete jeden Moment den Schuss aus einem Maschinengewehr, der ihn tödlich treffen würde. Erwartete jeden Augenblick, in dem er weiter humpelte, das Lieferauto, welches ihn von der Straße weg entführen und an einen Sklavenhändler verkaufen würde.

Er zog seine Schulmappe eng an seinen Körper und blickte sich, während er stetig einen Fuß vor den anderen setzte, ängstlich um. ›Hier werde ich also sterben. Und das heute noch.‹ Schauder rechnete mit sich und der Welt ab. Er machte im Stillen gleich mehrere Testamente, die er jeweils wieder verwarf und von vorne begann. Gerade als er Karl zum zukünftigen Besitzer seines im Baumhaus versteckten Sexheftes bestimmt hatte, stand er plötzlich vor ihm. Er war aus dem Schatten eines Baumes herausgetreten und trug eine Augenklappe.

Trotz der Hitze trug dieser Mann einen schwarzen knielangen Mantel, und als er Schauder anlächelte, machte seine Oberlippe eine Reihe von schwarzen Zahnstümpfen frei. Darüber hinaus schien der Mann jedoch zwei Eckzähne zu besitzen, die scheinbar in Ordnung waren. Der Mann hatte sich Schauder in den Weg gestellt, und hätte Schauder rennen können, er wäre umgehend um sein Leben gerannt. So versuchte er, einen Bogen um den Mann herum zu machen. Für den schwarzen Mann war es jedoch ein Leichtes, Schauders Fluchtpläne zu durchkreuzen. Schauder spürte plötzlich eine feste Hand auf seiner Schulter. Vor Schreck standen ihm Tränen in den Augen, etwas sagen konnte er nicht. Er hielt die Luft an und erwartete ein rostiges Messer in seinem Rücken.

»Mein Name ist Hermann. Was macht ein kleiner Junge ganz allein in den Straßen dieses verrottenden Stadtteils?« Schauder öffnete seine Augen. Er hatte den schwarzen Mann tatsächlich verstehen können. Die Stimme klang überhaupt nicht schwarz, sondern ruhig, wenn auch etwas knarzig.

»Mein Name … mein Name ist Schauder und ich bin auf dem Weg zu meiner Großmutter.« Der Mann ging um Schauder herum und beugte sich zu ihm herunter. »Und wo ist deine rote Kappe, falls ich dich das fragen darf?« Der Mund des aufgequollenen Gesichtes des Mannes verzog sich zu einem Grinsen.

Der Mann machte wieder ein ernstes Gesicht. »Oh, wie ich sehe, bist du verletzt?« Schauder konnte süßlichen Alkohol riechen und dem schwarzen Mann entströmte ein rauchiger Geruch.

»Ja, ich bin verletzt, und meine Großmutter wird sich gleich darum kümmern. Haben Sie auch den Polizisten dort hinten gesehen? Er schickte mich hier entlang. Er meinte, hier entlang sei es am sichersten.«

Der Mann richtete sich auf. »Hier gibt es keine Polizisten. Du bist der erste Junge, dem seit Jahren einer begegnet ist.« Die Stimme des Mannes wurde nun schwarz. »Kann es sein, dass du mich anlügst? Junge? Du belügst mich doch nicht etwa? Das würde mich sehr wütend machen.« Schauder schüttelte seinen Kopf und blickte zu Boden.

»Ich bin Hermann und dieser kleine Junge hier hat mich soeben außerordentlich wütend gemacht!« Schauder bekam große Augen und versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Entschuldigung, Herr Hermann. Dann war es kein richtiger Polizist, sondern nur ein verkleideter Irrer?«

Hermann konnte daraufhin wieder lächeln. »Komm, Junge, ich zeige dir, wo ich wohne. Dort gibt es Süßigkeiten, flauschige Kaninchen und zwei Katzenbabys, die darfst du streicheln, und ich sehe mir derweil deine Wunde an.« Schauder nickte artig und ging mit Hermann zusammen in einen fernabgelegenen Hinterhof.

Sie kamen nur langsam voran, was jedoch nicht nur an Schauders Knie lag. Hermann konnte nur vorsichtige und kleine Schritte machen, und zwischendurch hielt er oftmals an. Es schien, als ob er sich ständig ausruhen müsste. Unterdessen war es spät geworden.

Am Ziel angelangt lag überall Schrott und anderer unbestimmbarer Müll herum. Schauder sah sich ungläubig um. »Hier wohnst du?« Hermann schüttelte energisch seinen Kopf, »selbstverständlich nicht«, und wies mit dem Finger an eine Stelle an der Wand eines Abbruchhauses.