Scheinmündig - Dieter Schimang - E-Book

Scheinmündig E-Book

Dieter Schimang

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Beschreibung

Mit seinem Begriff der »Scheinmündigkeit« platzt der Kulturanthropologe Dieter Schimang mitten hinein in die große Party, die die Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert feiert: Mündigkeit heißt Selbstbestimmung, sie meint Mut und die Fähigkeit, dem eigenen Verstand zu folgen, Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft zu übernehmen. An zahlreichen Beispielen und in historischer Herleitung führt Schimang vor, wie man sich der Mündigkeit politisch entledigt hat, indem man sie durch eine leere, rein formale Bestimmung ersetzt hat: eine Scheinmündigkeit, die uns mit 18 Jahren zugesprochen wird und uns vor allem als Konsument_innen meint. Er zeigt: Eine inhaltlich gefüllte Mündigkeit aller ist unvereinbar mit einem Regime des privaten Gewinnstrebens, sie ist für ein solches nachgerade gefährlich. Es ist vor allem die ökologische Krise, die nun lautstark an die Türen dieses Selbstbildes klopft und neue Chancen eröffnet: diese Fehlentwicklung nachzuvollziehen und sie zu korrigieren.

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SCHEINMÜNDIG

DIETER SCHIMANG

SCHEINMÜNDIG

Unser verdrängter Anteil an der globalen Krise – Ein anthropologischer Beitrag

Für Tamay und Nora

ISBN (Print) 978-3-96317-360-8

ISBN (ePDF) 978-3-96317-922-8

ISBN (ePUB) 978-3-96317-923-5

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: Vorderseite – Niki Odolphi, Lizenz: 2.0 Generic (CC BY 2.0), rückseitige Klappe – privat

Layout: Büchner-Verlag | jg

Die verwendeten Druckmaterialien sind ein FSC-Mix.

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig.

Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Krisen · Eine Stunde der Wahrheit? · Unser Spatz in der Hand: Der Anspruch auf Mündigkeit · Ökologische Unmündigkeit als Menschheitsproblem · Gegen allen Mündigkeits-Anspruch: Bürgerliche Unmündigkeit · Mündigkeit ist eine soziale Kompetenz · Unsere anthropologische Basis: Die Conditio Humana · Zurück ins Konkrete – Zurück zur Gegenwart · Das Besondere einer kulturanthropologischen Herangehensweise

TEIL I: DIE KULTURANTHROPOLOGISCHE EBENE

1 Das Individuum – nachhaltig sozialisiert

Sozialisation: Warum Worte allein nicht genügen · Anthropologie: Des Menschen größter Mangel und wie er sozial bewältigt wird · Eine anthropologische Entfremdung: Tod, Transzendenz und »re-entry«

2 Raum und Grenzen der Individualisierung

Wie die Kultur der Individualität den Boden bereitet · Die kulturellen und sozialen Grenzen der Individualisierung · Das Individuum als Treiber der Individualisierung · Individualisierung oder Emanzipation? · Individuum, Tod und Transzendenz: Aller Sinn ist sozial · Die Symbiose aufkündigen? Nicht ohne Not! · Doch in der Krise gilt: »Not kennt kein Gebot!«

TEIL II: EUROPAS »SONDERWEG« DER INDIVIDUALISIERUNG

3 Eine anthropologische Fehlkonstruktion und ihre historischen Konsequenzen

Die »Königsfrage der Weltgeschichtsschreibung«: Europas Sonderweg · Der Bankrott aller Autorität: »Kaiser und Papst sind nichts« · Die Säkularisierung und »Demokratisierung« von Wissen und Bildung · Die Individualisierung der Transzendenz · »Du bist Mensch als wol als ich«: Gleichheit und Individualität 1475 · Warum Luther nicht verbrannt wurde

4 Was nun – ohne kulturelle Autorität?

Der »Uomo singolare« – Das Individuum aristokratisiert sich selbst · Das prometheische Individuum verachtet die »Masse« · Halt und Sinn ganz materiell: Der »Besitz-Individualismus« · Eine Vorschule des Kapitalismus · Auch Privateigentum stiftet Identität, Halt und Unvergänglichkeit · Ein Angebot für alle? Die Aufklärung: Vernunft und Mündigkeit · Die kulturanthropologische Perspektive auf die Anderen · Nebenprodukt der Aufklärung: Der Fall aus dem System

TEIL III: BILANZ EINES ERBES: DIE BÜRGERLICHEN WERTE

5 Des Bürgers Selbstbild

»Das Individuum, der Mensch an sich« · Bezugspunkt von Recht und Menschenrechten: Das Individuum · Der Weg zum Extrem – Der Uomo singolare gegen die »Masse« · Eine kulturspezifische, eine bürgerliche Entfremdung · Individualismus oder die Ideologie der radikalen Individualisierung · Das Männliche im Begriff von der individuellen Freiheit

6 Ein kulturprovinzieller »Universalismus«

Nun »wissenschaftlich« unterfüttert: Unsere Welt ist »die« Welt · Ein seltsamer »Universalismus«: Bürgerliche Menschenrechte

7 Bürgerliche Mündigkeit als Schein-Mündigkeit

Allgemeine Mündigkeit und Bürgerliche Mündigkeit · Mut allein ist nicht genug: Mündigkeit ist eine Kompetenz · Mündigkeit ist eine Kompetenz und ohne materielle Basis nicht zu haben · Volljährigkeit allein macht nicht »per se ausreichend mündig« · Ein bürgerliches Tabu: dass Mündigkeit eine Kompetenz ist · Exkurs I: Viel Effizienz-Wissen, wenig Vorstellungskraft · Exkurs II: Der Unterschied von individueller und sozialer Erkenntnis · Als Mündigkeit gefordert war: »Die Kraft zum Nicht-Mitmachen« · Schein-Mündigkeit – Provokation und Zeitbombe · Die Unmündigkeit der Privat-Macht: Alle Mündigkeit ist sozial · Die »Offene Gesellschaft«: Alle Entgrenzung braucht Mündigkeit

8 Kapitalismus: Schein-Mündigkeit rechnet sich

Wo Selbst-Unterwerfung als »individuelle Freiheit« gilt · »Erwerbstrieb« – Diese Individualisierung will Privateigentum · »Individuelle Freiheit« zum Gewinn: Die Freiheit von aller Mündigkeit · Wo alle tun, »als ob«: Ohne Schein-Mündigkeit kein Kapitalismus · »privat enterprise« – Die Gesamt-Rechnung geht an die Gesellschaft

9 Die Welt der Abgehängten

Wie »Die Gesellschaft der Individuen« ihr Gegenstück erzeugt · Wenn das Soziale pervertiert – zur anti-individualistischen Despotie · Warum die reaktionäre De-Individualisierung auf die Frauen zielt · Die »De-Individualisierung« an der Macht

AUSBLICK: »WO DIE MENSCHHEIT ALS GESAMTSUBJEKT SICH KONSTITUIERT« – DAS GATTUNGSBEWUSTSEIN

10 Nur mit einer »Mündigkeit als Kompetenz«

Ein Fazit – und »Das Ende des Individuums« · Ein kurzer Blick 50 Jahre zurück: Ausbildung zur Unmündigkeit · »Die Art, wie wir produzieren und konsumieren«, ist lebensfeindlich · Sozial, individuell frei und verantwortlich: Das Gattungsbewusstsein · Von der »Hüterin des Lebens«

Literatur

»Wir leben in der krisenhaftesten Zeit aller Zeiten.«

(Jared Diamond)

»Ich glaube, dass die Frage der Mündigkeitgenaugenommen ein Weltproblem ist.«

(Hellmut Becker 1969 im hr-Gespräch mit T. W. Adorno)

»[…] dass er ein partikularer Fortschritt ist, der aberkeineswegs bedeutet, dass die Menschheit dabei ihrerselbst mächtig geworden ist, dass die Menschheitmündig geworden ist. Und der Fortschritt würdeerst an der Stelle anfangen, wo diese Mündigkeit,wo die Menschheit, könnte man sagen,als ein Gesamtsubjekt sich konstituiert.«

(Theodor W. Adorno)

Einleitung

Krisen

Krisen wirken wie ein Vergrößerungsglas, sie scheiden das scheinbar Wesentliche vom substantiell Wesentlichen. Sie zerren die eigenen Schwächen, Mängel und Versäumnisse ins grellste Licht ebenso wie die eigenen Stärken und Vorzüge. Einfacher gesagt: Krisen sind »die Stunde der Wahrheit«. An Krisen fehlt es uns zurzeit nicht. Die erste Voraussetzung zu ihrer Überwindung ist das Bewusstsein von den Gründen und Dimensionen dieser Krisen. Versuchen wir also, sie zu erhellen.

Bis zum 23. Februar 2022 bannten die ökologischen Krisen des Klimawandels, des Artenschwunds, der Umweltzerstörung, der Vergiftung, Vermüllung und des Verzehrs unserer Lebensgrundlagen einen Großteil unserer Aufmerksamkeit und Kräfte. Zusammengenommen handelte es sich um »die« Krise unserer Zeit, um »die« Krise des 21. Jahrhunderts, die längst erwartbare und erwartete Krise, kulminieren in ihr doch all die negativen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrhunderte und kommen nun zum Ausbruch. Es geht in der Tat um eine nie gekannte Krise des menschlichen Überlebens, eine Krise, die die Einspannung sämtlicher Kräfte und Möglichkeiten der Menschheit zu ihrer Überwindung erfordert. Im Mittelpunkt dieser Krise steht wesentlich der Kapitalismus und die Irrationalitäten seines Wirtschaftens und Gewinnens.

Seit und mit dem 24. Februar 2022 hat sich diese Rangordnung unserer dringendsten Aufgaben und Probleme scheinbar verschoben. Im Zentrum steht nun ein imperialer Angriffskrieg nach Art und Geist des 19. Jahrhunderts, »legitimiert« durch die völkisch-nationalistische Ideologie des 19. Jahrhunderts, entfesselt und geführt mit den Methoden und im Zynismus und menschenverachtenden Geist des KGB-Geheimdienstes des 20. Jahrhunderts, der die Erniedrigung und Brechung von Menschen und Widerstand zu seiner speziellen Fähigkeit entwickelt hatte. Das Ziel dieser Vereinigung vergangener Phänomene liegt in der Wiederherstellung eines imperialen russischen Großreiches und seiner hegemonialen Rolle über Europa, verbunden mit einer Politik der Aufteilung der Welt in Interessenssphären.

Der Ukraine wird alles Recht zur Selbstbestimmung ebenso wie ihr Anspruch abgesprochen, eine eigene Nation mit eigener Kultur und Sprache zu sein. Ungefragt werden all ihre Menschen über ihre Köpfe hinweg zu ethnischen Russen erklärt und daraus das Recht abgeleitet, sie – auch mit Gewalt und Terror – »heimzuholen« in den mystifizierten Verband aller russischen Menschen. Wir haben es nicht nur mit einem flagranten Bruch des Völkerrechts zu tun, sondern mit einer längst überwunden geglaubten Erscheinung: Dass eine Macht sich das Recht anmaßt, die Identität anderer Menschen über deren Köpfe hinweg zu definieren – und zwar Millionen anderer Menschen –, dass sie sich zu ihrem Vormund erklärt und diese Menschen mit aller Gewalt ihrer Vormundschaft und ihrem Willen zu unterwerfen sucht.

Die erklärten Absichten des Kreml reichen jedoch weiter. Putin und sein Regime sind in diesem Punkt offen. Es geht ihm in diesem aktuellen Krieg vielmehr um nackte Macht und um ihren »sozialen« Ausdruck, um Bevormundung, Erniedrigung und Unterwerfung unter seinen Willen und sein Regime. Heute äußern sich diese reaktionären Kräfte um Putin gegenüber dem ukrainischen Volk auch deshalb so aggressiv, weil dessen Selbstbestimmung und reale Demokratisierung angesichts der geographischen, der historischen und der kulturellen Nähe beider Völker auch für Putins Regime systemsprengende Konsequenzen haben dürfte. Der Angriff des Kreml stand unter dem Motto »Wehret den Anfängen – bevor sie uns überrollen«. Wir könnten auch sagen: Bevor es ernst wird mit allem demokratischen Anspruch, mit Selbstbestimmung und Menschenrechten, bevor die Menschen also mündig werden: Wir haben hier nichts Geringeres vor uns als die Gegenaufklärung als imperiale Praxis.

Hierin liegt die eigentliche Dimension des Angriffs: Dieses Putin’sche Denken und Projekt ist eine Herausforderung an alles, was wir mit der Aufklärung und der bürgerlichen Identität verbinden, eine Herausforderung an alle, die sich damit verbunden fühlen. Diese Herausforderung ist höchst materiell und – angesichts der Tatsache, dass es sich hier um die zweitstärkste Atommacht der Welt handelt – zugleich eine äußerst gefährliche Bedrohung, unter dem Putin’schen Kommando sogar lebensgefährlich. Denn noch während er den Krieg gegen die Ukraine führt, meldet der Aggressor neue Ansprüche auf die Unterwerfung von Territorien und Menschen unter sein Regime an, neue Ansprüche mit der gleichen »Legitimation«. Deutlicher hätte er kaum machen können, dass es ihm um weit mehr geht und dass seine Aggression uns alle betrifft.

So wird der Angriffskrieg gegen die Ukraine zur existenziellen Herausforderung – und das heißt auch zur Bewährungsprobe für all jene, die sich auf das Erbe der Aufklärung und auf die Vernunft berufen, auf ihre Verheißungen von individueller Emanzipation, Freiheit und Mündigkeit. Historisch war dieses Erbe wahrscheinlich nie in größerer Gefahr. Denn angesichts der globalen Tendenzen ist selbst die Möglichkeit nicht mehr von der Hand zu weisen, dass dieses Erbe und die Erben mit ihm unterliegen. Eine autokratische Allianz von Russland und der VR China wird bereits Wirklichkeit – und damit deren globaler Einfluss. Der wiederum trifft auf eine historisch tief gründende Distanz zu Europa aufgrund seines Kolonialismus – und eine gegenwärtige Distanzierung überall da, wo Autokraten und Despoten Liberalität und Demokratie am meisten fürchten müssen: Da zeichnen sich die Konturen einer ganz anderen, dieses Mal antiwestlichen und antibürgerlichen »entente cordiale« ab, des »freundlichen Einvernehmens« und Einverständnisses eines Clubs.

Damit können Krise und Gefahr kaum größer sein: Denn jene existentielle globale Krise, die unsere Wahrnehmung vor dem 24. Februar 2022 dominierte, ist keinesfalls vorüber, im Gegenteil: Im Rücken unserer Fixierung auf all das, was mit dem Kriegsgeschehen verbunden ist, schreitet sie voran und vertieft sich schneller als zuvor. Dies geschieht nicht nur deshalb, weil die ökologische Krise sich ohnehin beschleunigt und vertieft, sondern auch, weil die Dimension und Konsequenzen dieses Krieges ein wirksames, konzentriertes und vereintes Eingreifen verhindern und so die anti-ökologischen Treiber der Krise vermehren.

Eben das macht diesen Krieg zu einem Menschheitsverbrechen: Ihn in dieser ohnehin für das menschliche Überleben so kritischen Zeit vom Zaune zu brechen, verrät ein Höchstmaß an Zynismus und Rückwärtsgewandtheit, an Missachtung von Menschheitsinteressen wie an Zukunftsblindheit. Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit dem tödlichen Versuch, die Zeit zurückzudrehen und die vergangenen zwei Jahrhunderte unser gegenwärtiges Jahrhundert dominieren zu lassen – ungeachtet aller parallel wachsenden ökologischen Bedrohungen unserer Existenz. Dieses durch und durch reaktionäre Bemühen stellt eine Sabotage aller Anstrengungen dar, den ökologischen Krisen wirksam entgegen zu treten – und wirksam heißt, gemeinsam und auf diese ökologische Krise konzentriert. Die ganze Menschen- und Zukunftsverachtung des Angreifers enthüllt sich auch daran, dass er die Ausbreitung des Hungers in der Welt nicht nur in Kauf nimmt, sondern wahrscheinlich sogar – als weitere Waffe – einschließt. Dass »der« Westen dadurch erpresst werden soll, ist Teil der Strategie.

Eine Stunde der Wahrheit?

Ein Empfinden für diese Dimension der neuen Gefahr keimt auf. Am deutlichsten erkennbar wird dies bei jenen gestern noch glühenden Pazifisten, die heute schwere Waffen für die Ukraine fordern. Niemand rechtfertigt diese Rufe mehr als Putin selbst, als das Morden und der Terror seiner Truppen. Dass diese aufgehalten werden müssen, liegt auf der Hand – das historische Beispiel Nazideutschlands wird zum Menetekel: Damals fehlte der rechtzeitige und entschiedene Widerstand. Die Niederlage der spanischen Republik drängt sich auf zum Vergleich: Ihr Sieg und die Niederlage von Despotie und Faschismus dort hätten den Verlauf von Europas Geschichte wahrscheinlich doch ändern können. Ähnliches gilt für den sogenannten »Sitzkrieg« an der Westfront ab September 1939: Statt Polen nach dem deutschen Überfall durch wirksame Angriffe im Westen zu entlasten, hoffte man, möglichst ungeschoren davonzukommen.

Es ist jedoch auch einsichtig, dass mit Waffen allein bestenfalls der akuten Aggression begegnet werden kann. Hinter der Kriegsszene eröffnet sich ein ganz anderer Raum – der Raum für die Frage, wie es überhaupt soweit hat kommen können, dass die Zombies der Vergangenheit meinen, ihre Hegemonie über das 21. Jahrhundert errichten zu können. Zu fragen ist, welche Lehren aus dieser Aggression zu ziehen sind. Es geht mir dabei nicht um Rohstoffabhängigkeiten, um Illusionen, Wunschdenken und Opportunismus Putin gegenüber, um sträfliche Unterlassungen und Blauäugigkeit selbst da, wo Putins imperialer Revisionismus längst erkannt worden war.

Es geht mir hier um eine andere Ebene, um eine Frage, die sich heute ebenso dramatisch stellt, verdeckt noch von der Tagesaktualität und -dramatik, ohne die jedoch zu beantworten, ohne die jede Entscheidung immer nur eine vorläufige wäre. Diese Frage lautet: Warum ist der Siegeszug eines so großartigen Angebots, wie es die Aufklärung darstellt, nicht selbstverständlich, nicht längst Wirklichkeit? Warum ist es 250 Jahre nach der Aufklärung immer noch möglich, sie derart zu bedrohen? Warum sind die großartigen Ideen der individuellen Freiheit, Emanzipation und Mündigkeit immer noch gefährdet, ja in akuter Gefahr? Oder andersherum gefragt: Warum finden die Mächte der Gegen-Aufklärung immer noch und immer wieder eine Massenbasis? Warum wenden sich die Menschen gegen die Ideen der Aufklärung, warum stürzen sie sich in die Selbstunterwerfung und lassen sie sich gegen diese Ideen instrumentalisieren und mobilisieren? Warum folgen die Menschen dem Diktator und Kriegsverbrecher Putin? Diese Fragen müssen wir um unserer Selbstbestimmung willen beantworten.

Solche Fragen stellen sich uns umso dringender, als es längst nicht mehr nur um Putin und seine chauvinistische Basis geht. Wir stoßen auch in unserer Gesellschaft auf diese Frage. Sie stellte sich schon mit jenen unsäglichen »Pegida«-Demonstrationen mit ihren Rufen »Putin hilf«, sie wuchs unübersehbar während der Corona-Pandemie angesichts von »Querdenkern« und Impfverweigerern, von denen viele sich inzwischen – höchst aufschlussreich – zu Putin-Fans gewandelt haben.

Diese Tendenzen sind nicht national beschränkt, sie haben sich mittlerweile in allen größeren bürgerlich geprägten Staaten entwickelt und bilden die größte Bedrohung der bürgerlichen Demokratie von innen. Die ihnen gemeinsamen Merkmale liegen in der Ablehnung der bürgerlichen Werte, in der Verweigerung von Vernunft und Mündigkeit, in der Verweigerung eines rationalen Diskurses, in ihrer autoritären Haltung, Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Ob die USA, ob das Vereinigte Königreich, ob Frankreich, Deutschland oder Italien: Das Regiment von Vernunft und Mündigkeit, das Erbe der Aufklärung wird offensiv und mit Gewalt infrage gestellt, bedroht und bekämpft. Hier liegt die Wurzel der Krise, die sich am 24. Februar offenbarte.

Zugleich sehen wir uns einer Welt- und Menschheitskrise gegenüber, wie die globalen Zusammenhänge zeigen. Finden doch all diese ohnehin zutiefst bedrohlichen Entwicklungen vor dem Hintergrund der globalen ökologischen Krise statt, die in der dramatischen Erderwärmung, dem Artensterben und der Vermüllung, Vergiftung und der Aufzehrung unserer Lebensgrundlagen besteht. Doch selbst daraus müsste noch keine Weltkrise erwachsen, wenn all dem gemeinsam und entschlossen begegnet würde.

Zur Weltkrise wird diese jüngste Entwicklung erst angesichts der weitgehenden Vergeblichkeit aller Bemühungen, dieser selbst herbeigeführten Existenzkrise unserer Lebensgrundlagen wirksam – und das heißt unbedingt: gemeinschaftlich – entgegenzutreten. Deshalb stellt dieser Krieg – neben seiner rechtlichen und moralischen Dimension – ein ungeheuerliches ökologisches Verbrechen dar. Es ist ein solches Verbrechen, weil es nicht nur alle Fortschritte zu einer globalen Gemeinsamkeit – wie zaghaft sie auch immer gewesen sein mögen – zurückwirft, sondern auch die unverzichtbare globale Priorität der ökologischen Menschheitsaufgaben praktisch widerruft und der Menschheit mit einem globalen Gegeneinander droht, d. h. mit dem Untergang aller menschenwürdigen und lebenswerten Verhältnisse. Darum stellt dieser Krieg ein Verbrechen gegen die Menschheit dar.

Optimisten mögen einwenden, dass Putin doch nicht so dumm sein könne. Nein, es geht ihm nicht um solch eine selbstmörderische »Lösung«. Er bedient sich dieser existentiellen Bedrohung so taktisch wie zynisch: Wahrscheinlich meint er, mit den ihm unerschöpflich erscheinenden Ressourcen seines Riesenlandes dem sich abzeichnenden Katastrophenszenario am ehesten – und am längsten – »ins Auge zu blicken« zu können. Die Weltkrise ist ihm ein taktisches Instrument, um die halbe Welt »in die Knie zu zwingen«. Wir erkennen dies auch daran, dass jenes Gas, das er dem Westen verweigert, unmittelbar neben der Pipeline Nordstream 1 abgefackelt wird: Es wird also sinnlos und klimaschädlich verbrannt wird, um es nicht liefern zu müssen. Angesichts der eigenen Ressourcen meint man im Kreml, »den längeren Atem zu haben« im »Spiel« um die Welt-Macht.

Dazu kommt das »Spielen« mit der atomaren Vernichtung – nach der alten Methode des KGB, die Menschen durch Angst zu brechen. Putin droht der Welt zynisch mit dem Weltuntergang, wenn sie sich denn dem Kreml-Diktat nicht unterwerfen sollte. Nicht nur, wer die Welt ökologisch retten möchte, soll gezwungen werden, Putins Hegemonie und Despotie zu akzeptieren, sondern auch die, die einfach nur überleben wollen: Angst macht die Menschen klein und schwach. Man kann das aus der Kreml-Perspektive umso eher meinen, als sich von dort aus – und nicht nur von dort – die globalen Kräfteverhältnisse keinesfalls so eindeutig darstellen, wie das der Westen zu eigenen Gunsten anzunehmen pflegt.

Unser Spatz in der Hand: Der Anspruch auf Mündigkeit

Der Ausgang dieses Angriffs auf die westlich-bürgerliche Welt ist also keinesfalls sicher, zudem ja auch in ihrem Innern relevante Unterstützung für autoritäre Politik im Allgemeinen und Putins Regime und Despotie im Besonderen wirksam ist. Wie mächtig und existentiell gefährlich diese autoritären und anti-ökologischen Tendenzen werden können, hat das Menetekel Trump gezeigt. Schon jetzt blicken viele mit Bangen auf den Ausgang der nächsten US-Wahlen. Die Möglichkeit einer Niederlage der bürgerlichen Welt auch von innen her besteht also nicht nur theoretisch. Das Zusammentreffen innerer und äußerer, politischer und ökologischer Faktoren kann durchaus zu einer solchen »Undenkbarkeit« führen.

Angesichts der historischen Rolle dieser Gesellschaft, ihres Imperialismus und Kolonialismus, ihres Rassismus und ihrer Doppelzüngigkeit mag eine solche Perspektive für viele Menschen nichts Erschreckendes haben, sie könnte im Gegenteil Freude und Jubel auslösen, ganz zu schweigen davon, dass der Wunschtraum vieler revolutionärer Bewegungen endlich in Erfüllung ginge. Und wer wollte bestreiten, dass diese Reaktionen nicht wohlbegründet, dass sie nicht nachvollziehbar wären? Die Erinnerungen und Erfahrungen mit bürgerlichem Kolonialismus und Imperialismus, mit Sklaverei und Unterwerfung, mit bürgerlicher Doppelzüngigkeit, Arroganz und Ignoranz sind noch lebendig und werden bis heute erlebt.

Dieser Jubel sollte jedoch allen vernünftigen und weiterblickenden Menschen »im Halse stecken bleiben« angesichts der Alternativen, die sich längst und schon mächtig abzeichnen, verkörpert besonders durch Putin und Chinas Xi. An erster Stelle ist hier die nicht neue Erkenntnis zu nennen, dass der Kapitalismus keinesfalls nur im Verein mit der bürgerlichen Gesellschaft auftritt – und demzufolge mit ihrem Ende auch verschwände. Das Gegenteil ist der Fall – wie sich mittlerweile eindrücklich an dessen mächtigster nicht-bürgerlicher Variante erweist, nämlich der der VR China. Hier tritt der Kapitalismus – ausbeuterisch wie stets, menschenfeindlich wie immer – sogar im Verbund mit seiner vorgeblichen Todfeindin, der »Kommunistischen« Partei, auf. Aber auch das Beispiel Russlands und seines Angriffskriegs zeigt, dass der Kapitalismus die bürgerliche Gesellschaft nicht nötig hat. Er ist diesbezüglich nicht wählerisch – hier genügt ihm die Partei, dort die Oligarchie, da schließlich die Mafia, da der Faschismus – er ist äußerst anpassungsfähig.

Der Kapitalismus ist längst kein Alleinstellungsmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft mehr. Auch seine imperialistischen, kolonialistischen, rassistischen, sexistischen und kriminellen Strukturen gedeihen unter Autorkratien und Despotien bestens und nicht selten besser als in der zwar schwachen, aber immerhin beanspruchten bürgerlichen Einhegung des Privateigentums: Nein, in diesem Konflikt geht es nicht um den Kapitalismus, der wird die bürgerliche Gesellschaft überleben, räuberischer und schamloser denn je. Es geht vielmehr um die bürgerliche Gesellschaft und ihre Werte: Denn die sind es, die Putin fürchtet und gegen die er deshalb Krieg führt: Eine ukrainischen Demokratie betrachtet er sehr wohl als seinen Feind, während er mit dem korrupten ukrainischen Kapitalismus lange gemeinsame Sache machte.

Angesichts dieser Entwicklungen erweist sich ein Unterschied als wesentlich: Die bürgerliche Gesellschaft – die Gesellschaft der Freiheit des Individuums – ist zwar in enger Symbiose mit dem Kapitalismus und seinem Aufstieg verbunden, aber sie ist nicht identisch mit ihm, bürgerlich ist nicht gleich kapitalistisch. Diese Gesellschaft wurzelt nicht nur im Privateigentum, sondern auch in Werten, die als Gesellschaft nur ihr eigen sind, die nur sie beansprucht. Und hier liegt genau der Unterschied, der heute im Zentrum der Auseinandersetzung steht. Es sind bezeichnenderweise die bürgerlichen Werte, die sich nicht mit dem Export des Kapitalismus zugleich exportieren ließen und lassen – allen wohlmeinenden Handelsprojekten zum Trotz und zur Enttäuschung der AktivistInnen eines »Wandels durch Handel«. Deren Wunschdenken ist nun ganz und gar widerlegt worden.

Hier geht es um jene Werte und Ansprüche, die viel von dem ausmachen, was nicht nur Max Weber als »Sonderweg Europas« bezeichnet hat und die durch die Stichworte der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung gekennzeichnet sind. Jenseits ihres Götzen des Privateigentums bleiben also der hohe Rang des Individuums und seiner individuellen Freiheit und Emanzipation, seiner Vernunft und Mündigkeit die Alleinstellungsmerkmale der bürgerlichen Gesellschaft. Und zur Debatte stehen heute all diese bürgerlichen Werte – außer dem des Privateigentums: Von allen bürgerlichen Errungenschaften ist allein dieses nicht bedroht, das hat auch mit Putin und Xi seinen Frieden gemacht, von seiner lukrativen Verbindung mit der Oligarchie ganz zu schweigen.

Wie sehr wir die Bedrohung der bürgerlichen Welt also auch fürchten mögen – noch mehr ist das zu fürchten, was sich da an ihre Stelle zu treten bereit macht. Wohin wir auch blicken – die realen Alternativen zur bürgerlichen Welt bestehen heute außen in Autokratien und Despotien und innen in populistischen, ja tendenziell faschistischen Bewegungen. Deren Sieg, das sollte inzwischen klar geworden sein, würde auf jeden Fall in die ökologische Katastrophe führen, ganz zu schweigen von der Unmenschlichkeit ihrer Regimes.

Immerhin sollten wir noch die Frage stellen, ob die Welt mit einem solch autoritären, ja despotischen Regime vielleicht besser gewappnet wäre, der ökologischen Existenzkrise zu begegnen? Solche Regime gelten ja als effektiver als die langwierigen Entscheidungsprozesse unter einigermaßen demokratischer Verfassung. Da kann »durchregiert« werden, da kann vor allem kurzfristig entschieden, reagiert und so kostbare Zeit gewonnen werden. Wäre z. B. die »volks«-chinesische Alternative mit ihrem immer perfekteren System der sozialen Kontrolle nicht vielleicht ökologisch doch effektiver, also nicht doch zukunftsweisender?

Diese Erwartung erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als Illusion, denn zu entscheidenden Erfordernissen sind diese Regimes nicht in der Lage – nicht zum Differenzieren, nicht zur Multidimensionalität, nicht zu flexiblem Wahrnehmen und Handeln und schon gar nicht zur unverzichtbaren Delegation von Verantwortung an die individuellen Akteure »vor Ort« – also da, wo ökologische Zerstörung konkret stattfindet.

Es sind diese Gründe, die in der aktuellen politischen Auseinandersetzung auf unserem Globus von Bedeutung sind: Selbst wenn wir es wollten und wünschten – die autoritären Regimes sind nicht in der Lage, die notwendige ökologische Wende zu vollziehen – aus dem simplen Grund, weil sie einerseits alle Verantwortung auf die Spitze konzentrieren, die ihrerseits jedoch niemals zu jenem umfassenden, multidimensionalen Herangehen in der Lage ist, das die Komplexität und Multikausalität der ökologische Krise erfordert. Sie sind dazu nicht in der Lage, weil sie die entscheidenden Akteure, die Menschen, entmündigen. Unmündige Menschen aber scheren sich in ihrer häufigen Ignoranz kaum um die Ökologie.

Sollten Einzelne doch ökologische Verantwortung übernehmen wollen, mag ihnen sogar, wie nicht nur das chinesische Beispiel zeigt, Verfolgung und Bestrafung drohen. Ökologische Aktivitäten werden auch in den anderen Autokratien und Despotien verfolgt und nicht selten bestraft, sind sie doch Ausdruck der größten Bedrohung, die es gibt, nämlich der individuellen Übernahme von Eigenverantwortung »von unten«. Das aber kann ein solches Regime nicht dulden, weil es sich dadurch delegitimiert sieht. Deshalb gelten selbstverantwortliche ökologische Aktivitäten als Widerstand, als subversiv und werden entsprechend verfolgt.

Ökologische Unmündigkeit als Menschheitsproblem

Worin aber liegt der Wert der Mündigkeit angesichts der ökologischen Weltkrisen? Das hat wesentlich mit dem Wesen jener Unmündigkeit zu tun, die im Charakter und in den Ursachen dieser Krise zum Vorschein kommt. Zwar wird gemeinhin und gern der Kapitalismus dafür verantwortlich gemacht oder – neutraler – die »Industriegesellschaft«, was angesichts von deren quantitativem Anteil an den Ursachen richtig ist, aber nicht den Kern des Problems trifft. Der besteht vielmehr grundsätzlich im Verhältnis des Menschen zur Natur und damit seinen Lebensgrundlagen. Anders als uns dies eine gewisse Verklärung »naturvölkischer« Lebensweisen deutet, waren menschliche Gesellschaften auch schon in vorkapitalistischer Zeit und weit außerhalb des kapitalistischen Verwertungsmechanismus ökologisch äußerst kurzsichtig, um nicht zu sagen »dumm«. Das bekannteste Beispiel mag die Osterinsel sein oder die Ausrottung fast aller Großwildarten dort, wo Menschen sich ansiedelten. Mohendjo Daro scheint dem eigenen ökologischen Raubbau bzw. eigener Kurzsichtigkeit ebenso zum Opfer gefallen zu sein wie die Maya-Reiche. Diese Aufzählung ließe sich mit wenig Mühe zu einem langen Katalog erweitern. Lediglich dort, wo der Natur eine Beseeltheit unterstellt wurde, ist ihr ein – meist selektiver – Schutz und Respekt gezollt worden zu sein.

Unter heutigen Bedingungen scheinen Menschen nicht selten zwangsläufig und z. T. »sehenden Auges« den eigenen Untergang zu bereiten, indem sie z. B. den letzten, den Boden vor Erosion schützenden Baumbestand als Brennholz verwenden. Der ökologische Vandalismus in Gebieten besonderer ökologischer Bedeutung wie dem Amazonasbecken oder in den Abbaugebieten von Gold, Erdöl oder Ölschiefer findet zwar unter kapitalistischen Vorzeichen statt, weist aber auch auf eine enorme ökologische Ignoranz der beteiligten Individuen hin. Es ist eben diese Ignoranz, die einen gewaltigen Treiber der ökologischen Krisen darstellt. Dazu kamen drei Haupttreiber, die diese Krisen in den letzten 250 Jahren auf die Spitze getrieben haben: die ungeheure demographische Explosion und die substantielle Ausdehnung menschlichen Vermögens durch Werkzeuge bis zur Großtechnik und schließlich als Haupttriebkraft die hinter alldem stehende, auf dem Streben nach Privateigentum basierende gewinnfixierte und -getriebene Individualisierung. Sie hat zu einer Ermächtigung des Menschen über den ganzen Planeten geführt – bis hin zum Vermögen, eben die hier vorgefundenen Grundlagen des Lebens zu zerstören: Im Rahmen ihres Anthropozäns hat sich die Menschheit mittlerweile in ihren wesentlichen Teilen zu einer geradezu »anti-ökologischen Spezies« entwickelt, deren durchaus gegebenen ökologischen Bemühungen immer wieder von der Übermacht der anderen Seite zunichte gemacht werden.

Die hohe Komplexität und tiefe Verwobenheit des Anti-Ökologischen mit unserer derzeitigen Existenzweise macht deutlich, dass alles eindimensionale Herangehen an diese Probleme ebenso unzureichend ist wie alle monokausale Ursachenbestimmung. Benennen wir z. B. den Kapitalismus, so müssen wir feststellen, dass wir selbst ganz individuell Anteil haben an dessen anti-ökologischen Zielen – nolens volens oft genug. Auf der anderen Seite kann die antiökologische Praxis im Großen wie im Kleinen keinesfalls durch Anordnungen, Kommandos oder überhaupt Druck oder gar Zwang aufgelöst und beendet werden. Ihre tiefe Einbettung in unsere alltägliche Lebensweise erfordert vielmehr, dass ihr auf allen Ebenen ihrer Präsenz bewusst begegnet wird – also vom Kapitalismus und seiner blinden Verwertung angefangen bis hin in die alltäglichen Lebensgewohnheiten der vielen Einzelnen.

In der ökologischen Krise drückt sich eine grundsätzliche Ignoranz und damit Unmündigkeit der Menschen in Beziehung auf das aus, was sie tun. In anthropozentrischer und verkürzter Weise »legt man los« – im Allgemeinen –, ohne sich ernsthaft Gedanken zu machen und sich hinreichend zu informieren, was denn die Implikationen und Konsequenzen des eigenen Tuns sein könnten, ohne sich Rechenschaft zu geben über mögliche Zusammenhänge und Kausalitäten. Hin und wieder mag es dann angesichts lokal angerichteter ökologischer Katastrophen ein erstauntes »Oh« und kurzes Innehalten geben, doch dann setzen sich schnell selbsterzeugte materielle Zwänge, Gewohnheiten und Routinen wieder durch, denn das eigene Handeln erscheint – unter seinen unreflektierten, zum Teil auch unbewussten – Voraussetzungen als »alternativlos«. Die Verbindung mit den genannten Treibern – Demographie, Werkzeuggebrauch bis zur Großtechnik und schließlich der durch das Streben nach Privateigentum bedingten gewinnfixierten und -getriebenen Individualisierung – begründet so eine strukturelle »ökologische Blindheit« auch angesichts einer mittlerweile ins Unübersehbare gewachsenen ökologischen Bedrohung. Diese ökologische Blindheit kann auch deshalb als ökologische Unmündigkeit bezeichnet werden, weil sie relativ lern- und erfahrungsresistent ist.

Gegen allen Mündigkeits-Anspruch: Bürgerliche Unmündigkeit

Ökologische Unmündigkeit ist eine allgemeine Unmündigkeit der Menschen im Umgang mit der Natur, an der auch unsere westlich-bürgerliche Gesellschaft ihren Anteil hat – aufgrund ihres kapitalistischen und technischen Potentials allerdings einen überwältigenden.

In Bezug auf unsere bürgerliche Gesellschaft sollte nun die obige Feststellung hoffen lassen, dass in ihr – jenseits ihres Götzen des Privateigentums – das Individuum und seine individuelle Freiheit und Emanzipation, seine Vernunft und Mündigkeit einen so hohen Rang einnehmen. Wenn wir nun von »bürgerlicher Unmündigkeit« sprechen, so artikulieren wir hier eigentlich einen »Widerspruch in sich«. Schließlich sind doch Bürgerin und Bürger qua Selbstverständnis und Identität mündig an sich, ja, folgen wir der Aufklärung, verkörpern sie die Machtergreifung der Mündigkeit.

Das Problem besteht in den relevanten Widersprüchen dazu, die sich in zahlreichen »Unmündigkeiten« der bürgerlichen Wirklichkeit offenbaren: Deren Katalog aufzuzählen, würde wohl ein eigenes Buch füllen. Diese Gründe sind gerade erst wieder durch die Erscheinungen um die Corona-Pandemie ins Licht gerückt und bestätigt worden, dies allen voran durch jene »Quer«-Denker, die sich explizit und manchmal lautstark auf ihre individuelle Urteilsfähigkeit und Mündigkeit berufen. So fragwürdig diese Selbsteinschätzung auch sein mag, sie führt uns ins Zentrum unseres bürgerlichen Problems: Diese Menschen fühlen sich nicht zu Unrecht offiziell legitimiert zu ihrer praktischen Unmündigkeit – und zwar durch nichts Geringeres als durch Verfassung und Recht, die ihnen jeweils mit dem Erreichen des 18. Lebensjahrs Mündigkeit ganz automatisch zuerkennen und garantieren. Auf dieser automatischen Anerkennung und Garantie ihrer Mündigkeit basiert die bürgerliche Gesellschaft, nicht nur unsere deutsche.

Es fällt nicht schwer, im bürgerlichen Alltags- und Politikleben solche scharfen Widersprüche zu finden, Widersprüche, in denen die für alle proklamierte und automatisch zuerkannte, also rein formale Mündigkeit immer wieder mit den Erfordernissen einer realen, einer inhaltlichen Mündigkeit kollidiert: Ob es sich um die Frage der »Freien Fahrt für freie Bürger« auf der Autobahn handelt – oder in den USA um das Waffentragen –, ob um die ganz individuelle Vermüllung unserer Umwelt, ob um Feuer in unseren ausgedörrten Wäldern, ob um die gedankenlose Versiegelung des privaten und öffentlichen Bodens oder dessen Vergiftung, ob um gesundheitsschädliche Moden in Kleidung und Ernährung, ob … – wir erkennen immer das gleiche Muster: Vorgeblich und formal mündige Menschen praktizieren Unmündigkeit selbst da, wo dadurch Risiken und Gefahren gesteigert werden. Vorgeblich mündige, gar vielfach gebildete Menschen erklären sich die Welt lieber durch »fake-news«, durch Mystifikationen und Verschwörungsmythen als durch den nüchternen Blick auf Fakten und ihre – u. U. kausalen und erklärenden – Zusammenhänge. Der Blick über die Grenzen erbringt den gleichen Befund, wie vor allem die Erscheinungen um den Brexit und die Trump-Wahl zeigen: Es ist nicht weit her mit der Mündigkeit dieser vorgeblich Mündigen.

Gerade die Beispiele zu Brexit und Trump zeigen jedoch bereits auch eine andere Beziehung der Unmündigkeit zur Mündigkeit als die, die sich durch die Berufung auf die formale Mündigkeit legitimiert. Es ist jene soziale Erscheinung, die das Angebot der Mündigkeit praktisch ignoriert oder ablehnt. Das zeigen jene Milieus, die das Angebot der Mündigkeit dadurch negieren, dass sie sich schlicht andere Führungen, Autoritäten mit deren Gewissheiten suchen, dass sie nunmehr deren Wort und Gewissheiten folgen. In der deutschen Geschichte hat diese Selbstunterwerfung ihren deutlichsten Ausdruck in der Parole gefunden: »Führer befiehl, wir folgen.« In Bezug auf die Erwartung auf solche Fremdbestimmung liegt die in den Pegida- und auch »Querdenker«-Demonstrationen gelegentlich zu findende Losung »Putin hilf!« auf ähnlicher Ebene: Ein großer Führer soll handeln für sie. Durchaus logisch und bezeichnend dafür ist, dass ein Teil dieser »Querdenker«-Anhängerschaft mit Putins Überfall auf die Ukraine bruchlos umschwenkte in die Reihen der Putin-Unterstützer: Es zählt nicht die Moral, es zählt, dass jemand führt. Um sich die Dimension dieser Wahl vorzustellen, müssen wir dem die Nachrichten vom Morden und Terror in der Ukraine entgegenhalten: Die Putin-Unterstützung ist offenbar lern- und moralresistent. Wir finden hier ein relativ festes Weltbild, ein Weltbild übrigens, in dem »Individualismus« ein Schimpfwort ist.

Die neue Gemeinsamkeit von Teilen der »Querdenker«-Kräfte mit der erklärten Putin-Gemeinde liefert noch einen anderen Befund: Die Grenze zwischen jenen »nur« Unmündigkeit praktizierenden »Mündigen« und jenen, die die Mündigkeit ignorieren oder ablehnen, verschwimmt. Sie tendieren zu einer Gemeinsamkeit gegen »die« Politik, gegen »die da oben«. Hier bereitet sich der intellektuelle Boden vor für neue Demagogie und neue Demagogen.

Was die Quellen der praktischen »Mündigkeitsverweigerung« betrifft, so hat Kant in seiner berühmten Schrift schon wesentliche Gründe genannt:

»Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. […] Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.« (»Was ist Aufklärung«, 2. Abs.)

»Es ist so bequem, unmündig zu sein« – in der Tat. Wie wir noch sehen werden, bestimmt Kant die Gründe des Verharrens in Unmündigkeit mit der »Faulheit und Feigheit« zwar zu kurz und zu einseitig, doch kommt auch diesen Gründen der Unmündigkeit in bestimmten Milieus heute noch eine relevante Bedeutung zu. Zur ganzen Bestimmung der Gründe müssen wir allerdings noch wesentlich andere in den Blick nehmen – nach denen sich die wesentliche Ursächlichkeit auch anders darstellen kann.

Blicken wir auf jene Erscheinung bürgerlicher Unmündigkeit, die sich zwar auf ihre bürgerliche Mündigkeit beruft, praktisch jedoch unmündig äußert und agiert, die also in Unmündigkeit mündet. Hier findet ein grundsätzlicher Widerspruch innerhalb von bürgerlichem Verständnis und bürgerlicher Praxis von Mündigkeit seinen praktisch-politischen Ausdruck: Während die bürgerliche Mündigkeit lediglich proklamiert und mit einem bestimmten Alter automatisch erworben wird, also eine reine Form und Formalität ist ohne zwingenden individuellen Beitrag, ist alle wirkliche Mündigkeit inhaltlich und sozial bedingt. Beim Konzept der bürgerlichen Mündigkeit haben wir es in erster Linie mit einer rein formalen, mit einer Schein-Mündigkeit zu tun. Inhaltliche Mündigkeit gilt zwar als wünschenswert, ist aber nicht erforderlich – siehe »Quer«-Denker und Ähnliche. Individuelle inhaltliche Mündigkeit bleibt eine freiwillige Leistung – legitimiert durch das bürgerliche Konzept der individuellen Freiheit: Ich habe auch die Freiheit, dumm und inhaltlich unmündig zu bleiben.

Bezogen auf unsere aktuelle Situation bedeutet dies, dass unsere zwei existentiellen Bedrohungen – durch die Natur bzw. Ökologie und die durch Putin repräsentierte – in zweierlei »Unmündigkeiten« wurzeln, nämlich einerseits in der allgemein-ökologischen und andererseits in unserer bürgerlich-kulturspezifisch bedingten politischen Unmündigkeit. Damit erweist sich die Unmündigkeit schlechthin als eines unserer ganz wesentlichen Probleme und Aufgaben und legt entsprechende Lösungswege nahe: Die liegen, nach dieser Argumentation wenig überraschend, wesentlich in der Mündigkeit. Höchste Zeit also, das Konzept der Mündigkeit selbst zu betrachten.

Mündigkeit ist eine soziale Kompetenz

Angesichts der herrschenden ökologischen Ignoranz und Unmündigkeit stellt sich die Frage, was denn eine solche Mündigkeit ist, worin Mündigkeit grundsätzlich überhaupt besteht – und wie sie zu erreichen ist? Ein Teil der Antwort liegt in dem, was eben als ökologische Unmündigkeit beschrieben wurde. In allgemeinster Weise lässt sich ökologische Mündigkeit bestimmen als das tiefe Bewusstsein davon, was wir da eigentlich tun. Das schließt das Wissen davon ein, dass wir nicht allein auf der Welt sind, sondern mittlerweile die alles beherrschende Spezies, dass unsere Eingriffe in die Natur Eingriffe in ein hochkomplexes Netz sind und ganze Kausalketten von Wirkungen auslösen können, dass wir uns vor unseren Eingriffen einigermaßen Klarheit über solche Wirkungen verschaffen sollten und – wenn dies nicht möglich ist – äußerst behutsam und in kleinen Maßstäben vorgehen sollten, um eventuelle Wirkungen abschätzen zu können. Was wir nicht verstehen, sollten wir auf sich beruhen lassen, Distanz dazu halten und vielleicht nur beobachten, weil dies – Beispiel Corona – unter Umständen dramatische Konsequenzen haben kann. Wir sollten uns der Tatsache bewusst sein, dass wir nicht allein die Ressourcen der Natur nutzen und schließlich dass wir unsererseits als Spezies bedingt sind durch die Natur und die spezifisch menschliche »Natur«, nämlich die Kultur – »Die menschliche Natur ist die Kultur«, wie Marshall Sahlins feststellt (2017, 187) – und uns auch der entsprechenden Konsequenzen und Implikationen solcher »Natur-Kultur« auf unser Bewusstsein und unser Handeln bewusst sind. (s. detaillierter dazu Kapitel 1)

Solche inhaltliche Mündigkeit erfordert viel, sie zu erwerben, mag mühselig, aber auch interessant sein, sie erfordert Geduld, Disziplin und Mühe, denn sie ist eine inhaltliche Kompetenz, eine Kompetenz zudem, die man nicht in die Wiege gelegt bekommt und in der die Jugend in den weitaus meisten Kulturen auch nicht sozialisiert wird. Mündigkeit also bedarf der individuellen Anstrengung. Ziel dieser Anstrengung ist ein möglichst großes Wissen über die ganzen Dimensionen dessen, was ich tu – und zwar über die ganze natürliche Dimension meines Umgangs mit der Natur und die ganze politische Dimension meines Umgangs mit dem Sozialen und mit meiner Kultur.

Wirkliche Mündigkeit impliziert damit nicht nur eine Absage an jeglichen vordergründigen, formalen oder individualistischen Freiheitsbegriff. Mündigkeit weiß vielmehr, dass die individuelle Freiheit nur in jenem Raum auszuleben ist, der durch die natürliche, die anthropologische und die soziale Bedingtheit der Gattung gegeben ist. Das heißt nicht, dass dieser Raum statisch und starr vorgegeben wäre. Es heißt, dass die Grenzen dieses Raums grundsätzlich nur im Einklang mit diesen Bedingtheiten und in Kenntnis ihren Implikationen und Konsequenzen zu verändern sind – und ich für dieses Handeln auch Verantwortung übernehme. Verantwortung ist aber eine soziale Kategorie und bindet die individuelle Freiheit zurück ins Soziale: Was ich nicht verantworten kann, darf ich nicht tun.

Fassen wir zusammen: Individuelle Mündigkeit ist das Bewusstsein meiner individuellen Verantwortung für mein Handeln und dessen entsprechende Ausrichtung. Mündigkeit ist demensprechend das Bewusstsein von den eigenen Fähigkeit und deren Grenzen, sie impliziert die Fähigkeit, die eigenen Grenzen und die des eigenen Handelns zu erkennen und sich entsprechende Grenzen zu setzen: »Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.« (Goethe, Zahme Xenien VIII).

Damit ist nach den Gründen dafür zu fragen, warum diese inhaltliche Mündigkeit in unserer bürgerlichen Kultur, die doch die Mündigkeit aller als Anspruch erhebt, die seit ihrer Entstehung all das als raison d’ètre, als »Seinsgrund«, ins Zentrum ihres Selbstverständnisses stellt, nicht längst der Fall ist. Wie kann – ganz aktuell – »eine Gesellschaft proklamierter Mündigkeit aller« in eine solche »Existenzkrise durch Unmündigkeit« geraten? Die Kant’sche Antwort, das »Faulheit und Feigheit« für die Fortdauer der Unmündigkeit verantwortlich seien, erscheint nach über 200 Jahren und angesichts der Dimensionen der Krise nicht mehr erschöpfend.

Das gilt auch für die zweite Frage, die Frage, warum denn – nun kulturspezifisch-bürgerlich gefragt – die Schein-Mündigkeit sich weitgehend als vollgültiger Ersatz der Mündigkeit etablieren konnte, warum diese Schein-Mündigkeit nicht längst als wesentliches bürgerliches Problem, als sozialer Konstruktionsfehler erkannt und überwunden wurde – obwohl die Schein-Mündigkeit sich nicht selten als platte Tarnung der Unmündigkeit manifestiert?

Und die dritte Frage ist die danach, warum bestimmte Milieus ganz offenbar keine Selbstbestimmung und Selbstverantwortung wollen, keine Autonomie und offenbar auch nicht das, was all diese Angebote in ihrer Summe vereint, nämlich die Emanzipation des Individuums? Was ist es, dass sie so festhalten lässt an einer Vereindeutigung, Vergewisserung und Entscheidung durch andere »Autoritäten«?1)

Angesichts von soviel Verharren in der Unmündigkeit, ja Klammern an die Unmündigkeit ist zu fragen, was denn »falsch gelaufen« ist mit der Er-Mündigung dieser Menschen, was »falsch gelaufen« ist mit ihrer Individualisierung. Was ist es, dass sie zurückweichen lässt vor der Emanzipation? Was hat dieses Vorherige für sie geleistet, dass sie nicht »loslassen können«? Was haben wir verloren mit dieser bürgerlichen Individualisierung?

Diese Frage kann uns nur die Vergegenwärtigung dessen beantworten, was denn das vorbürgerliche Angebot ausmachte, ob und was also das bürgerliche Individuum im Interesse seiner »Loslösung«, seiner Freiheit und Selbstbestimmung aufzugeben hatte? Richten wir deshalb also den Blick auf seine vorbürgerliche, auf seine traditionelle Verfasstheit.

Der »Blick zurück« allein genügt jedoch noch nicht, um das historisch-stabile Nebeneinander von Mündigkeit und Unmündigkeit, von realer Mündigkeit und rein formaler, von Schein-Mündigkeit also, zu begreifen, ganz zu schweigen vom proklamierten bürgerlichen Universalismus und manifesten Ethnozentrismus und ähnlichen Widersprüchen. Sie alle enthüllen sich – wie zu zeigen sein wird – bei näherer Betrachtung anthropologisch als Aspekte eines bürgerlichen Widerspruchs schlechthin, als Ausdruck und Konsequenz einer »Gesellschaft im Widerspruch mit sich selbst«. Es ist ein Widerspruch, den die Krise unbarmherzig aufzeigt.

Unsere anthropologische Basis: Die Conditio Humana

Es ist aus guten Gründen verpönt, beim Nachdenken über den Menschen, den Homo sapiens, »bei Adam und Eva anzufangen«. Das gilt nicht für die Kulturanthropologie, die den Homo sapiens ins Zentrum ihrer zentralen Frage stellt: Was ist der Mensch? Das gilt auch deshalb nicht, weil mit diesem »Verpönen« auch Grundsätzliches ausgeblendet bleibt. Unsere Wissenschaft konzentriert sich wesentlich auf die Perspektive »binnen-bürgerlicher« Fragestellungen und Antworten. Auffallend ist der Mangel an Fragen nach der Beziehung unserer historischen und kulturspezifischen Bürgergesellschaft zu ihrer eigenen (kultur)-anthropologischen Basis, zu deren fortdauernder Präsenz und Wirksamkeit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Hierin liegt immer das Risiko, dass relevante Faktoren und Fragestellungen ausgeblendet bleiben – und damit deren Beitrag zum Problem.

Betrachten wir im Sinne Marshall Sahlins unsere »nächste Natur«, oft »naturwüchsige« Natur, also die uns unverzichtbare Kultur: Was ist sie, welche Bedeutung hat sie, welche Rolle spielt sie in unserem Kontext? Fragen wir nach unserer Kultur, geht es um ein höchst komplexes Gebilde. Es ist zudem ein Gebilde, das weit über unsere besondere, historisch gewordene bürgerliche Kultur hinausreicht. Denn diese – wie alle anderen beeindruckenden kulturspezifischen Entwicklungen z. B. Chinas, Japans, des Islams, des voreuropäischen Amerikas, Afrikas und Australiens auch – »sitzen« einer uns allen gemeinsamen kulturanthropologischen Basis auf. Diese Basis bedingt uns auch noch heute wesentlich und sorgt dafür, dass wir alle, die ganze Menschheit, trotz aller historischen, kulturspezifischen Verschiedenheit miteinander kommunizieren und gemeinsam handeln können.

Auch in der bürgerlichen Gesellschaft wirken vorbürgerliche Anteile und Treiber fort. Auch in ihr ist das wirksam, was ganz allgemein als Conditio Humana etwas unscharf benannt wird, besser: was wir als das Anthropologische Gemeinsame der Gattung bezeichnen können, was uns alle zu Menschen macht. Solche Konstanten schwingen zwar immer mit, wenn von der Geschichte die Rede ist, von Psychologie, von Soziologie, vom menschlichen Wirken überhaupt. Aber sie werden kaum benannt – und damit auch nicht »er-messen« in ihrem Anteil und ihrer Wirksamkeit.

Um einen Eindruck davon zu gewinnen, bedarf es auch keines eigenen Seminars. Aus didaktischer Perspektive genießt die Kulturanthropologie den großen Vorzug, dass es sich hier nicht um irgendein Spezialgebiet handelt, sondern um unser aller Lebenswelt und Erfahrung. Es geht hier um jene Conditio Humana, um die »Bedingtheiten des Menschen«, denen wir als Menschen alle unterliegen. Und es sind Selbstverständlichkeiten, ja Banalitäten, die gerade ob ihrer Banalität, ob ihrer »Natürlichkeit« häufig gar nicht mehr wahrgenommen werden, gar nicht mehr als Bedingungen unserer Existenz und unseres Wesens in die Wahrnehmung und die Beobachtung einbezogen werden. In diesem Sinne geht es hier weniger darum, neue Ergebnisse zu präsentieren, sondern das scheinbar Natürliche unserer »Kultur-Natur« bewusst zu machen. Zudem konzentriere ich mich in der vorliegenden Arbeit auf ganz wenige davon, um zu verdeutlichen, dass sie Einfluss auf unsere Existenz haben.

Die erste und banalste Tatsache liegt darin, dass wir, also der Homo sapiens, nicht instinktgelenkt sind. Anders als Tiere haben wir keine uns eingeborene Steuerungsmatrix, die uns sagt, was wir wann und wie zu tun haben. Kein in unserem Bauplan vorgegebenes Programm sagt uns, was wir essen dürfen und was nicht, wann wir reisen sollen und wann nicht, was wir wie und wann bauen sollen und wann nicht … Was gegenüber den Tieren als Mangel erscheinen mag, begründet nichts Geringeres als das Potential unserer Freiheit, unserer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auch noch an höchst unterschiedliche und auch extreme Lebensumstände. In diesem Mangel an instinktiver Fixierung liegt das Erfolgsrezept der Gattung Homo, in ihrer Fähigkeit zur freien oder doch zumindest erheblich flexibleren Entscheidung.

In diesem Mangel an Instinkt liegt allerdings auch – gelegentlich verdrängt – eine Notwendigkeit, ja ein Zwang begründet, nämlich der Zwang, die Umwelt und die Wirklichkeit selbst zu erkennen und zu deuten und selbst jene unverzichtbare Eindeutigkeit und Gewissheit herzustellen und zu verantworten, ohne die weder Entscheidungen noch Handeln möglich sind, die aller Entscheidung und allem Handeln vorgeschaltet sind.

Die Konsequenz dieser Instinktlosigkeit besteht in einer Ambivalenz: Sie besagt, dass der Mensch alles selbst machen kann, dass er es aber auch selbst machen muss. Er muss selbst herausfinden, was ihm aus seiner Umwelt nützt, was ihm schaden, was ihm gefährlich werden kann. Und er muss selbst herausfinden, wie er am besten mit den jeweiligen Gegebenheiten umgehen sollte, was ihm als Mittel dienen kann, was er auf jeden Fall meiden oder vermeiden muss. Er muss seine Umwelt deuten, muss erkennen, welche Bedeutung sie und ihre Bestandteile für ihn haben. Das ist nicht leicht, denn eine Missdeutung kann lebensgefährlich sein, kann lebensgefährliche Konsequenzen haben. Wer die giftige Pflanze nicht als solche erkennt, wer die kleine Schlange für harmlos hält, mag teuer bezahlen müssen. All diese Deutung ist nicht abstrakt, sie ist eine Deutung auf den Menschen zu, sie entspringt seinem menschlichen Interesse. So erzwingt schon das menschliche Handeln wesentliche kulturanthropologische Reaktionen bzw. Antworten auf die Bedingung der Instinktlosigkeit.

Schon im Zuge der Entwicklung solcher Reaktionen bzw. Antworten kommt eine weitere anthropologische Gegebenheit zur Geltung: »Der« Mensch ist nicht nur ein Individuum. Ganz individuell, ganz auf sich allein gestellt, könnten die Individuen mit ihrer dürftigen Ausrüstung gar nicht überleben. »Der« Mensch ist zu seinem Glück ein ambivalentes Wesen: Er vereint Individualität mit Sozialität, er ist sowohl individuell als auch sozial »gebaut«. Es ist die Synthese beider Aspekte, die den Menschen bzw. die Menschen zur bisher erfolgreichsten Spezies dieses Planeten gemacht hat. Diese anthropologische Ambivalenz trug in der Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens erheblich zu seiner Flexibilität und damit zur Realisierung des Potentials seiner Freiheit bei. Je nach Situation kam das individuelle oder das soziale Potential »zum Einsatz« – meist als synergetische Kombination beider.

Kommen wir zur dritten anthropologischen Bedingtheit, die schon an der Nahtstelle zur kulturanthropologischen Antwort darauf gelegen ist: Sie besteht im Bewusstsein von sich selbst und damit auch im Bewusstsein des Individuums von seiner eigenen Sterblichkeit und Vergänglichkeit. Letzteres mündete in allen Kulturen der Welt in der sozialen Entdeckung bzw. Erfindung der Transzendenz, eines Raumes also, der einem Tier so unzugänglich ist, wie er dem Menschen existentiell wesentlich ist: Mit der Transzendenz hat der Mensch seine Welt nicht nur weit über die ihm sinnlich wahrnehmbare