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Ein Buch über einen Sohn - und seine Väter: "Ich hatte einmal sieben Väter in sieben Jahren. Dies hier ist die Geschichte über jene Zeit. Wenn etwas davon erfunden klingt, kannst du sicher sein, dass es wahr ist."
Weihnachten 1983, in einem Haus in den schwedischen Wäldern. Während draußen der Schnee fällt und ein kleiner Junge auf den Weihnachtsmann wartet, kommt es drinnen zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, die dazu führt, dass der Mutter ein Geheimnis entschlüpft. Der siebenjährige Junge namens Andrev erfährt an diesem Tag, dass sein Vater nicht sein richtiger Vater ist. Der lebt in einem Land in weiter Ferne und hat lange schwarze Haare. Wie ein Indianer, sagt die Mutter, und deutet auf den Ellbogen, damit der Junge es auch wirklich versteht. Das Herz des Jungen hüpft vor Freude. Das ist das Beste, was er je gehört hat. Es fühlt sich für ihn an, als sei er ein Junge in einem Buch über einen Jungen, der gerade erfahren hat, dass sein Vater der König eines geheimnisvollen Reiches ist. Es fühlt sich für ihn an, dass bald ein guter Geist kommen wird, um ihn dorthin mitzunehmen. Aber so ist es nicht. Kein guter Geist wird kommen, nur neue Väter, die nicht die seinen sind.
Andrev Waldens umjubeltes Romandebüt ist eine wilde Geschichte über das Aufwachsen in Zeiten der '68-Bewegung, über Mütter, die "diese Scheißkerle" küssen und unter der Dunstabzugshaube rauchen, über die Liebe, wie sie beginnt und wie sie endet, über einen skalpierten Hamster und den Hauch eines Wunders, vor allem aber eine Geschichte über Männer.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2025
Weihnachten 1983, in einem Haus in den schwedischen Wäldern. Während draußen der Schnee fällt und ein kleiner Junge auf den Weihnachtsmann wartet, kommt es drinnen zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Erwachsenen, die dazu führt, dass der Mutter ein Geheimnis entschlüpft. Der siebenjährige Junge namens Andrev erfährt an diesem Tag, dass sein Vater nicht sein richtiger Vater ist. Der lebt in einem Land in weiter Ferne und hat lange schwarze Haare. Wie ein Indianer, sagt die Mutter, und deutet auf den Ellbogen, damit der Junge es auch wirklich versteht. Das Herz des Jungen hüpft vor Freude. Das ist das Beste, was er je gehört hat. Es fühlt sich für ihn an, als sei er ein Junge in einem Buch über einen Jungen, der gerade erfahren hat, dass sein Vater der König eines geheimnisvollen Reiches ist. Es fühlt sich für ihn an, dass bald ein guter Geist kommen wird, um ihn dorthin mitzunehmen. Aber so ist es nicht. Kein guter Geist wird kommen, nur neue Väter, die nicht die seinen sind.
Andrev Waldens umjubeltes Romandebüt ist eine wilde Geschichte über das Aufwachsen in Zeiten der ’68-Bewegung, über Mütter, die »diese Scheißkerle« küssen und unter der Dunstabzugshaube rauchen, über die Liebe, wie sie beginnt und wie sie endet, über einen skalpierten Hamster und den Hauch eines Wunders, vor allem aber eine Geschichte über Männer.
ANDREV WALDEN, 1976 in Mariefred geboren, ist ein schwedischer Autor, Journalist und Illustrator. Er schreibt für Dagens Nyheter und wurde 2017 als erster Kolumnist für den Großen Preis des schwedischen Journalismus nominiert, »weil er das alltägliche Drama mit den großen Fragen verbindet und uns zum Lachen bringt und vor allem weil er uns dazu bringt, die Welt, die Familie und uns selbst in einem anderen und etwas klügeren Licht zu sehen«. Sein Romandebüt »Scheißkerle« wurde zu einem triumphalen Kritiker- und Verkaufserfolg, das sämtliche Rekorde brach. Es stand monatelang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste und wurde mit dem renommierten August-Preis ausgezeichnet.
Andrev Walden
Roman
Aus dem Schwedischen von Justus Carl
Luchterhand
Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »JÄVLA KARLAR« im Verlag Polaris, Stockholm.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Übersetzung wurde vom Schwedischen Kulturrat gefördert.
Der Verlag bedankt sich sehr herzlich dafür.
Editorische Notiz: Dem Verlag ist bewusst, dass es sich bei einigen der in diesem Roman verwendeten Ausdrücke um Stereotype handelt, deren Verwendung jedoch zur Charakterisierung der Figuren und der kindlichen Erzählperspektive der geschilderten Zeit gehört.
Copyright © der Originalausgabe 2023 Andrev Walden
© der deutschsprachigen Ausgabe 2025 Luchterhand Literatur Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Tatjana Michaelis
Umschlaggestaltung: buxdesign | München unter Verwendung einer Vorlage von Sara R. Acedo
Umschlagmotiv: Giuseppe Arcimboldo, Vertumnus
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-32275-5V003
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Für Mama
(Bitte beachten: nicht passiv-aggressiv gemeint)
Ich hatte einmal sieben Väter in sieben Jahren. Das hier ist die Geschichte über diese Zeit.
Wenn etwas davon erfunden klingt, kannst du sicher sein, dass es wahr ist. So wie die Sache mit der Ratte und dem Hamster. Oder der Frau, die Clownslippen vom Grillgewürz bekam. Ich habe nicht vor, etwas Besonderes zu erfinden, denn das Besondere bleibt sowieso in der Erinnerung haften und muss nicht erfunden werden. Wenn ich etwas erfinde, dann steckt es in den alltäglichsten Dingen, wie etwa der Farbe eines Liegestuhlpolsters in einem Seehäuschen, in dem etwas Besonderes passiert ist.
In dem: ein Weihnachtsmann geschlagen wird, ein Geheimnis ans Licht kommt, Männer und Steine ihre Namen ändern.
Er geht vor mir in die Knie und schaut mir in die Augen.
»Du hast zwei Nasen«, sagt er.
Ich fühle nach, als wäre das notwendig, um seine Behauptung zu widerlegen. Ich verstehe nicht, was er meint, aber ich weiß, dass er es erklären wird, denn ich sehe ein Lächeln um seinen Bart kriechen.
Er ist schön, wenn er lächelt. Die hellen, graublauen Augen scheinen nicht zum restlichen Kopf zu gehören, sie sind wie in einen Rahmen aus schwarzen Locken montiert. Aber die Farben beißen sich nicht. Im Gegenteil. Er ist das Licht in seiner eigenen Dunkelheit. Sein Blick funkelt wie ein Lachsrücken in dichtem Tang und verleiht ihm Zauberkräfte. Und jetzt bin ich wieder verzaubert.
»Mach es mir nach«, sagt er und hält eine Hand in die Lücke zwischen unseren Gesichtern. Pflanzensaft auf den Fingernägeln. Er will mir eine letzte Sache beibringen, bevor wir für immer getrennt werden.
Und ich mache es ihm nach, achte aber sorgfältig darauf, ihn zu hassen. Ich habe erst vor wenigen Monaten erfahren, dass ich nie sein Sohn war, und manchmal vergesse ich, dass ich dadurch von der Pflicht befreit worden bin, ihn zu lieben. Noch übe ich mich im Hass, werde aber allmählich gut darin. Ich habe den Grundton gefunden und lasse ihn in mir nachklingen, während ich meine Hand hebe und sie vor seine halte.
Der Pflanzenmagier wird mir eine letzte Sache beibringen, aber damit kann ich hier nicht anfangen. (Zwar habe ich das bereits, aber ich finde, wir können uns diesen Einstieg aufheben, denn er kann als Stützpfeiler für einen dramaturgischen Bogen dienen.)
Ich will mit dem Tag beginnen, an dem der Pflanzenmagier aufhörte, mein Papa zu sein, denn das war ein wirklich sonderbarer Tag, und an das Sonderbare habe ich immer eine feinkörnige Erinnerung.
Aber zuerst sollte ich vielleicht erklären, was ein Pflanzenmagier ist.
Ich befürchte, du siehst vor deinem inneren Auge bereits irgendeinen Druiden in Filztunika, dabei lief er gar nicht so gekleidet herum. Der Mann, den ich Papa nannte, trug blaue Latzhosen und Handschuhe aus Erde. Im Sommer trug er nichts anderes, im Winter noch Stiefel von Graninge und einen Pullover aus pflanzengefärbter Wolle. Die Wolle hatte meine Mutter gefärbt.
Während du dein inneres Bild neu malst, will ich nochmal betonen, dass er schön war. Du musst ihn schön malen. Ansonsten zerbricht die Logik. Er war die Sorte Mann, für die schöne Frauen Wollpullover stricken. Er war die Sorte Magier, die vögeln darf. Das weiß ich genau, denn ich habe ihn dabei gesehen.
»Die Liebe soll nicht vor den Kindern versteckt werden«, sagte er und ließ uns im Bett herumtollen, während er mit unserer Mama schlief.
Ich zog mich ans Fußende zurück und lauschte ihren Atemzügen. Mir gefiel das nicht. Er ließ Mama wie eine Hexe klingen. Ich bekam Angst, dass sie das Gesicht einer Hexe hätte, wenn ich nachschauen würde, also tat ich es nicht. Stattdessen ließ ich den Blick die Wände hinaufwandern.
Über dem Bett hing ein merkwürdiges Gemälde. Der Gott der Jahreszeiten. Er hatte Erbsenschoten als Lider, Maiskolben als Ohren, Schultern aus Lauchzwiebeln und einen riesigen graugrünen Kürbis als Brustkorb. Er war abscheulich anzusehen. Ein apfelwangiger Dämon. Aber der Pflanzenmagier beteuerte, er wäre lieb. Als die Hexenlaute verklungen waren, stand er auf und berührte den Rahmen des Gemäldes, als wollte er dem Dämon danken, ehe er in seine Latzhose stieg und nach draußen in den Garten verschwand.
Er hatte immer viel zu tun, und sein Auftrag auf der Welt war ein wichtiger. So wichtig, dass der Staat ihm einen Lohn zahlte, damit er sich ihm widmen konnte. Der Mann, den ich Papa nannte, war ein staatlich bezahlter Pflanzenmagier.
Man braucht keine bürgerlich-konservative Gesinnung zu haben, um bei diesem Satz in Schnappatmung zu verfallen. Bevor deine Lippen also blau werden, will ich schnell hinzufügen, dass der Staat nicht wirklich wusste, was mein Papa so trieb. Und dass er aus dem Dienst als steuerfinanzierter Pflanzenmagier wahrscheinlich entlassen worden wäre, wenn der Staat erfahren hätte, womit er seine Arbeitstage zubrachte. Oder wenn der Staat überhaupt erfahren hätte, dass er die Tage mit Arbeit zubrachte. Denn irgendwo in den Schubladen des Staats lag ein Papier, auf dem stand, dass mein Papa arbeitsunfähig war und dafür bezahlt werden musste, nicht zu arbeiten.
Er war körperbehindert, aber eben nur auf diesem Papier. In Wahrheit war er bemerkenswert beweglich. Eines Morgens wachte er mit dem plötzlichen Bedürfnis auf, nach Västervik zu rennen, und nach dem Frühstück lief er los. Wir wohnten damals in Gamleby, aber es war trotzdem weit bis nach Västervik, und er schaffte fast den ganzen Weg dorthin. Gegen Nachmittag rief ein Fremder aus Hermanstorp an und sagte, in seinem Garten liege ein Mann, und wir müssten ihn abholen. Mama und der Fremde schleppten ihn gemeinsam zum Auto. Er konnte nicht gehen, aber er strahlte wie ein Gewinner.
Der Pflanzenmagier strahlte oft wie ein Gewinner, weil er ein Gewinner war. Er hatte das System überlistet und besiegt, und die Genugtuung über diesen Sieg übertrumpfte die Angst, als voll beweglich ertappt zu werden. Er war ein stolzer und unvorsichtiger Widersacher. Sobald er ein Ohr fand, das die Geschichte von seinem Sieg über das System noch nicht gehört hatte, holte er tief Luft und erzählte.
Jetzt willst du diese Geschichte sicher hören und mehr über die eigentliche Magie erfahren – mit gutem Recht, schließlich hast du oder haben deine Eltern sie finanziert –, aber all das werde ich unterwegs einschieben müssen, denn jetzt soll die Geschichte mit Dynamik und Handlung angereichert werden.
Lass mich also von dem Tag erzählen, an dem ich aufhörte, sein Sohn zu sein.
An diesem Tag fällt der Schnee wie in einem Märchen. Flocken so groß wie Hornissen wirbeln leise über die Bäume des Vrinneviskogen und den See, aber sie verschwinden, sobald sie den nackten Boden in den Gärten erreichen. Es sieht eigenartig aus, als wäre der Wintermärchenhimmel in das Motiv hineingeschnitten. Nur noch eine Woche, dann ist Heiligabend 1983, und der Tag, der mein letzter als Sohn des Pflanzenmagiers werden wird, ist beinahe zu Ende. Es dämmert bereits, als ich das Badezimmerfenster öffne und mit einem Bein hinaus in die Kälte steige. Der Pflanzenmagier hämmert gegen die Badezimmertür und ruft, dass das Essen jetzt kalt wird. Er sagt erst zum zweiten Mal Bescheid, aber die Stimme flackert schon. Ich halte mir den Mund zu, damit er das Lachen nicht hört. Er hört es trotzdem.
»Was gibt es da zu lachen?«, ruft er durch die Tür, und jetzt ist die Stimme ein offenes Feuer, aber ich kann nicht mehr umdrehen. Beide Füße sind schon auf der Erde, und ich bin zu klein, um zurück hinaufzuklettern. Wenn ich mich nur beeile, wird das Feuer wieder ausgehen. Er wird lachen, wenn er es versteht.
Ich habe eine Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf. Keiner hat mitbekommen, dass ich sie mit ins Bad genommen habe. Ich hatte sie unter dem Pullover versteckt, bevor ich sie aufgesetzt habe und rausgeklettert bin. Ich halte auch einen kleinen Stoffbeutel in der Hand. Er ist voller Klötze, die wie Weihnachtsgeschenke aussehen sollen.
Jetzt will ich ums Haus herumrennen und an der Tür klingeln. »Sind hier denn brave Kinder zu Hause?«, werde ich fragen, wenn er die Tür aufmacht, und dann wird er lachen. Und wenn er lacht, wird Mama auch lachen. Meine kleine Schwester wird sein Lachen nicht mal abwarten, bis sie in ihr eigenes ausbricht, denn sie kennt die Regeln nicht und lacht über alles, was ich tue. Mein kleiner Bruder lacht nur, wenn man ihn kitzelt, aber das wird der Weihnachtsmann dann noch regeln.
Ich umrunde die erste Hausecke. Bewege mich vorsichtig an der kurzen Seite entlang, um nicht den Hang zum Schuppen runterzuschlittern. Der Schuppen ist die Werkstatt des Pflanzenmagiers. Dort schließt er sich manchmal ein, um Pilze zu essen und Bilsenkrautsamen zu rauchen. Er macht das, um Türen zu anderen Welten zu öffnen, und er schreibt alles, was er sieht, in großen schwarzen Notizbüchern auf.
Wenn er in den Schuppen geht, verschwindet er manchmal stundenlang, und diese Stunden mag ich, denn dann kann man im Haus lachen und tun, was man will. Dann kann man zwischen den Mahlzeiten Brote essen und mit offenem Mund kauen, und bestimmt hätten wir auch Fernsehen gucken dürfen, wenn wir einen Apparat gehabt hätten.
Aber die sorglosen Stunden haben einen Preis, denn es kommt vor, dass er dort unten die falschen Türen öffnet. Es kommt vor, dass er aus seiner Werkstatt zurückkommt und von Wesen gejagt wird, die nur er sehen kann, um später nackt auf allen vieren in der Küche herumzurollen und vor Furcht zu heulen.
»Helft mir!«, jault er dann, glänzend vor Tränen und Schweiß. Und Mama muss ihn im Arm halten, bis er sich beruhigt. Selbst ein staatlich bezahlter Pflanzenmagier darf nicht einfach irgendwelche Türen öffnen.
Es ist so dunkel, dass ich mich an der Hauswand entlangtasten muss, um auf Kurs zu bleiben. Ich verstehe nicht, wie es so schnell so dunkel werden konnte, aber ich muss bloß noch ums Haus herum und an der Tür klingeln, dann lachen wir alle zusammen. Eigentlich sollte es schnell gehen, aber hier draußen ist alles abschüssig. Das ganze Dorf ist auf einem Hang gebaut, der zum Ensjön in der Talsenke abfällt, und unser Garten ist nicht terrassiert. Eigentlich ist hier bis auf das Haus alles abschüssig, und das Gras ist gerade glitschig, weil der Winter ins Stocken geraten zu sein scheint.
Ich rutsche am Hang aus und schlittere in die Dunkelheit. Weg vom Haus, wo die Nesselsuppe auf dem Küchentisch kalt wird.
Dort unten zieht sich in meinem Bauch alles zusammen, denn ich mag die Dunkelheit wirklich nicht. Mir macht alles Angst, weil ich an alles Mögliche glaube, und alles, woran ich glaube, versteckt sich im Dunkeln.
Ich glaube an Geisterwesen, Gespenster, Elfen, Trolle, Werwölfe und Hexen. Besonders an Hexen. Und ich glaube an Gott und an andere Götter und an den Teufel. An die Waldfee. Den Näck. Das Bäckapferd und die Mylinge. Ich bin ein kleines Lexikon seltsamer Wesen. Ein Monsterexperte. Manche habe ich mit eigenen Augen gesehen, allerdings nur, wenn ich Fieber habe. Ich bekomme immer hohes Fieber, wenn ich krank bin. So hohes, dass ich unglaubliche Dinge sehe und Mama Angst mache.
»Er verbrennt«, sagt sie meistens, während der Pflanzenmagier Zwiebelumschläge macht und Huflattichblätter mit siedendem Wasser übergießt. Ich brenne und sehe Hexen. Und Männer mit Augenlidern aus Erbsenschoten.
»Es gibt keine Monster«, sagt sie meistens, aber ich weiß, dass es sie gibt. Ich habe meinen Papa vor Schreck heulen sehen, wenn sie ihn jagen.
Ich krabbele den Hang wieder nach oben und greife an der nächsten Hausecke nach dem Fallrohr. Ich bin durchnässt und bestimmt schmutzig, aber die Weihnachtsmannmütze sitzt noch auf dem Kopf, und gleich lachen wir alle. Ich blinzele in die Dunkelheit. Hinter der Feuchtwiese leuchten die Fenster des Hauses, in dem mein einziger Freund wohnt. Er heißt Blomma, und wir spielen oft im Wald.
Ich umklammere das Fallrohr und hole Luft. Von meiner Zeit als Sohn des Pflanzenmagiers sind nur noch wenige Minuten übrig.
Ich laufe weiter, und jetzt sprudelt das Lachen wieder in mir. Sie werden ihren Augen nicht trauen, wenn der Junge, der aufs Klo ging, plötzlich als Weihnachtsmann verkleidet vor der Tür steht. Ich quietsche vor Lachen, als ich auf die Vortreppe steige.
Ganz ahnungslos bin ich nicht, ich weiß, dass zu viel Zeit vergangen sein mag, dass er jetzt sauer sein könnte, aber zumindest hat er nicht getrunken. Einmal hat er an Weihnachten den ganzen Schnaps im Haus ausgetrunken, und das ging gar nicht gut aus. Mama hatte ihre Geschwister eingeladen und ein paar Flaschen für die Weihnachtsfeier gekauft. Der Pflanzenmagier wollte nur probieren, aber als sie kamen, hatte er einfach alles probiert. Er rannte auf die Straße und jagte Mamas Geschwister weg, noch bevor sie überhaupt aus dem Auto gestiegen waren. Mama weinte. Das Haus roch nach Seife und Zimt.
Ich drücke auf die Klingel und plustere mich auf, als die Tür aufgeht.
»Sind hier denn …«
Ich will es mit Weihnachtsmannstimme sagen, aber es klappt nicht. Ich muss zu arg lachen. Die Wörter pfeifen geradezu aus mir heraus, und ich muss wieder Luft holen. Ich bin erst sieben Jahre alt und barfuß in dieser Winternacht. Jetzt auch noch reden zu können ist ein bisschen viel verlangt.
»… brave Kinder zu Hause?«
Er sieht verdattert aus. Das ist gut. Welches Gesicht sollte er sonst zwischen dem Feuer und dem Lachen aufsetzen. Und jetzt stelle ich die Frage sicherheitshalber noch einmal. Beziehungsweise schreie sie. Es ist gar keine Frage mehr.
»SIND HIER DENN BRAVE KINDER ZU HAUSE!«
Ich hätte nicht schreien sollen. Das Feuer frisst Schreie. Er denkt nicht mal daran, die Hand richtig zu öffnen, bevor er zuschlägt. Das ist neu. Anders, auf jeden Fall. Meistens brennen seine Schläge auf der Haut. Tausend Nadeln auf der Wange. Jetzt zerbreche ich, und das ist beinahe angenehmer als die Nadeln. Wie wenn Blasen aufplatzen.
Aber es sieht natürlich schlimmer aus. Blut strömt mir aus dem Gesicht.
Mama schreit. Auch das ist neu. Nicht das Schreien, sondern der Tonfall. Irgendetwas ist mit ihr passiert. Sie geht nicht rückwärts, wie sie es normalerweise tut. Sie geht auf ihn zu. Das Kinn gereckt. In die Flammen. Die Sonne ging unter, bevor dieser Tag aufhörte, ein normaler Tag zu sein, und jetzt kriegt er gar nicht genug davon, neu zu sein.
»Er ist nicht dein richtiger Papa«, schreit sie. »Ein richtiger Papa würde seinem Kind so etwas niemals antun.«
Im selben Moment, in dem sie die Beschwörung ausspricht, lässt er mich los. Als wären seine Befugnisse damit erloschen.
Und es dauert nur wenige Augenblicke, ehe ich begreife, dass es wahr ist. Der Gedanke ist mir nie gekommen, aber sobald er in mich eindringt, weiß ich es. Ich sehe nicht aus wie er, und auch nicht wie meine kleineren Geschwister. Ich habe nicht ihre graublauen Augen. Nicht ihre rotblonden Locken. Nicht ihre Sommersprossen. Und sie kriegen nur selten meine blauen Flecken. Es stimmt, eindeutig: Der Pflanzenmagier ist nie mein Papa gewesen.
Auf sonderbar leichten Füßen schwebe ich die Treppe nach oben. Lege mich aufs Bett und sauge an dem Handtuch, das Mama mir gegeben hat. Unten klirrt es, und sie zanken, aber ich höre nicht, was sie sagen. Ich bin erfüllt von etwas anderem. Zuerst verstehe ich nicht, was es ist, aber im Handtuch grinst mein Mund und macht Faxen. In mir braust es. Es ist als … würde ich es lieben, nicht sein Sohn zu sein.
Ja, ich spüre es im ganzen Körper. Eine große Anspannung. Als hätte ein Abenteuer begonnen. Als wäre ich der Junge in einem Buch über einen Jungen, der erfährt, dass sein Papa König in einem fernen, magischen Land ist.
Werde ich jetzt von einem Geist abgeholt?
Für einen kurzen Moment tun mir meine Geschwister leid, die immer noch zum Pflanzenmagier gehören. Und er tut mir leid. Als sie es sagte, wurde er ganz ängstlich und kraftlos. Ich sah ihn schrumpfen, als hätte sie mit ihren Worten ein Loch in ihn gestochen.
Im Haus wird es still.
Sie sitzt auf der Bettkante und verspricht mir, dass es jetzt vorbei ist. »Wir bleiben hier nicht wohnen«, flüstert sie, während ich mit dem Finger am Gitter der Nachttischlampe spiele. Sie verspricht, mich von hier wegzubringen.
Ich frage nicht nach meinem richtigen Papa, aber sie erzählt mir trotzdem von ihm. Nur ein bisschen. Sie erzählt, dass er in einem Land weit weg wohnt und lange schwarze Haare hat. Wie ein Indianer. Sie hält die Hand an die Armbeuge, damit ich es mir vorstellen kann. Mehr erzählt sie nicht über meinen richtigen Papa, aber das reicht mir.
Ein Indianer in einem weit entfernten Land.
Das ist das Beste, was ich je gehört habe, und jetzt will ich nur noch schnell einschlafen, damit ich über die Feuchtwiese rennen und es Blomma erzählen kann.
Mama macht die Lampe aus, als sie geht. Ich schalte sie wieder an, sobald sie draußen ist. Das mache ich immer. Sie sagt zwar, dass es keine Monster gibt, aber das hilft nichts. Wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem in unserem Haus. In den Schatten bewegt sich etwas.
Ich wickele mich in die Decke und ziehe sie mir über den Kopf. Verschließe alle möglichen Zugänge und lasse nur einen schmalen Schlitz zum Atmen frei. Die Luft hier drinnen wird warm und schwer, aber nur so kann ich einschlafen. In einem Kokon, in dem ich den einzigen Weg, der hineinführt, gut im Blick habe.
Am nächsten Morgen entschuldigt er sich. Er hat zu fest zugeschlagen. Es war falsch. Er war ungerecht, und das passt nicht zu ihm.
»Normalerweise bin ich gerecht«, sagt er. Es ist wohl eine Frage, also nicke ich, denn das ist wohl die Antwort.
Er umarmt mich und verspricht, dass niemand irgendwohin ziehen wird. Da tut er mir wieder leid. Weiß er etwa nicht, dass Mama mir schon versprochen hat, dass wir wegziehen werden? Dass sie ihm zuvorgekommen ist?
»Jetzt feiern wir Weihnachten.«
Er sagt es, als würde es ihm gefallen, Weihnachten zu feiern, dabei tut es das nicht. Er feiert überhaupt nichts gern, außer seinen eigenen Geburtstag. Ich werde nie einem anderen Menschen begegnen, der seinen eigenen Geburtstag ebenso ernst nimmt wie der Pflanzenmagier.
Als Mama meine kleine Schwester im Bauch hatte und dreizehn Tage über dem Termin war, machte ihn das ganz verzweifelt, weil er seinen Freunden ein großes Fest zu seinem Geburtstag versprochen hatte. Der Geburtstag kam, meine kleine Schwester kam nicht. Er brachte Mama und mich im Obergeschoss zu Bett, während sich das Erdgeschoss mit Gästen und Musik füllte.
»Bleib einfach still liegen und ruh dich aus«, sagte er, und dann tobte die Feier die ganze Nacht. Sie bildeten ein Orchester, mit dem Pflanzenmagier als Sänger. Er sang Heart of Gold und trötete auf der Mundharmonika, während Mama still dalag und mir mit einer Hand das Ohr zuhielt. Sie atmete in langen Zügen durch die Nase, aber je näher die Dämmerung rückte, desto kürzer wurden ihre Atemzüge. Meine kleine Schwester wäre beinahe im Auto auf die Welt gekommen, weil er so betrunken war, dass er im Schneckentempo zum Krankenhaus fahren musste. Er war dabei, als sie geboren wurde, und als er sie sah, machte ihn das so räuberkönigfroh, dass er nach Hause fahren und die Geburtstagsfete wieder neu entfachen musste. Am Morgen darauf kam er mit dem gesamten Orchester zurück ins Krankenhaus. Sie spielten Heart of Gold für meine kleine Schwester, und er trötete auf der Mundharmonika, bis sie rausgeworfen wurden.
Der Pflanzenmagier liebt es zu feiern, solange alle um ihn herumtanzen. Tänze, die sich um etwas anderes drehen, beherrscht er nicht. In seinem Haus ist er der Weihnachtsbaum.
Doch jetzt sitzt er auf meiner Bettkante und sagt, dass wir eine Tanne aus dem Wald haben und darunter die Geschenke liegen werden. Er macht sich wichtig. Und auf dem Weg aus meinem Zimmer dreht er sich ein letztes Mal um. Im Tang blitzen wieder die Lachsrücken auf.
»Ich bin immer noch dein Papa«, sagt er und dann noch etwas in dem Sinne, dass es nicht wichtig ist, aus wessen Sack man kommt.
Er versucht, mir mein inneres Brausen wegzunehmen. Er ist verrückt.
Mein Papa ist Indianer, und jetzt werde ich es Blomma erzählen.
Manchmal sieht man einen glühenden Punkt am Waldrand oder Rauchschwaden zwischen den Baumstämmen, und dann weiß man, dass er da ist. Aber ich suche nicht nach ihm. Noch nicht. Ich suche nach seinem kleinen Bruder, nach meinem Freund, und ich finde ihn unten am See.
»Hat er ein Pferd?«, will Blomma wissen. Er steht im flachen Wasser und hackt mit einem Messer nach dem Schilfrohr.
»Weiß ich nicht.«
»Wenn er ein richtiger Indianer ist, hat er ein Pferd«, sagt Blomma, und ich bin gezwungen, ihm von den langen Haaren zu erzählen. Ich halte die Hand an die Armbeuge, damit er es sich vorstellen kann. Blomma starrt meine Armbeuge an, und es sieht aus, als könnte er es sich vorstellen, aber dann wandert sein Blick wieder zu meinem Gesicht.
»Du siehst nicht aus wie ein Indianer«, sagt er.
»Ich glaube, er hat ein Pferd«, sage ich.
»Wir erzählen es meinem Bruder«, sagt Blomma. »Der ist auch ein Indianer.«
Also machen wir uns auf die Suche nach Blommas älterem Bruder. Er ist groß und raucht im Wald, weshalb es nicht schwer ist, ihn zu finden. Denn das ist quasi das Einzige, was er tut: im Wald stehen, groß sein und rauchen.
Der Pflanzenmagier sagt, dass Blomma und sein Bruder keine echten Brüder sind, sondern aus demselben Land adoptiert wurden, und dieses Land heißt Chile. Der Pflanzenmagier mag Blomma. Wenn wir auf der Feuchtwiese spielen, guckt er manchmal aus dem Garten zu uns hinauf und winkt, aber er winkt irgendwie komisch. Er reckt eine geschlossene Faust in die Luft und ruft »Allende!«, wenn er meinen Freund sieht. Vielleicht denkt er, so begrüßt man sich in Chile, aber das macht man wohl nicht, denn Blomma wirkt immer nur verwirrt, wenn er es tut.
Es gefällt mir nicht, dass der Pflanzenmagier versucht, eine geheime Sprache mit meinem Freund zu sprechen, und es fühlt sich jedes Mal gut an, wenn es nicht funktioniert. Blomma gehört mir.
Eigentlich heißt er anders, aber er sagt, sein Name sei Blomma, und ich habe nicht vor, darüber zu streiten. Nicht mit meinem einzigen Freund. Er wollte bestimmt bloß irgendeinen schwedischen Namen haben, ohne richtig zu wissen, wie man in Schweden heißen kann. Und so suchte er sich das schönste Wort aus, das ihm einfiel. Blume.
Ich heiße Andrev, und so kann man in Schweden auch nicht heißen, aber Blomma fängt deswegen keinen Streit an. Nicht so wie die anderen Kinder.
Außer mir und meinen Geschwistern gibt es nur vier Kinder im Dorf, das eigentlich gar kein Dorf ist, sondern eher eine bebaute Kurve im Wald, an der Straße zwischen Norrköping und dem Badeplatz am Ensjön. Diese vier Kinder sind Blomma und sein großer Bruder und noch zwei Mädchen. Das eine wohnt weiter oben in der Kurve und ist ein Teenager, daher nicht kontaktierbar, das andere wohnt direkt gegenüber und ist in meinem Alter, aber ich habe ihr einmal aus Versehen den Arm gebrochen, und deshalb kann sie mich nicht leiden.
Ich habe nur Blomma, ich hüte ihn wie in einem kleinen Kästchen, denn jetzt hat keiner von uns einen richtigen Papa in diesem Land. Wir warten beide darauf, dass der Geist uns abholt, und ich spüre, wie uns das zusammenschweißt. Wir sind die Jungen in einem Buch, denke ich, während wir die Feuchtwiese überqueren und nach dem glühenden Punkt am Waldrand Ausschau halten.
»Du siehst nicht aus wie ein Indianer«, sagt Blommas großer Bruder und bläst mir Rauch ins Gesicht.
Es ist das erste Mal, dass ich ihn reden höre. Er trägt eine braune Thermojacke mit röhrlinggelben Bündchen und einen Helm dicken schwarzen Haares. Ich will auch eine Thermojacke mit Bündchen, aber Thermojacken bestehen aus Synthetik, und wir mögen kein Synthetik, wir mögen pflanzengefärbte Wolle.
»Ich bin nur Halbindianer«, sage ich.
»Willst du meinen Schwanz sehen?«, fragt er. Er interessiert sich offenbar nicht besonders für Indianer.
Ich schüttele den Kopf, aber Blomma sagt, ich muss ihn sehen, und er zeigt mit dem ausgestreckten Arm darauf, als der Hosenschlitz geöffnet wird.
»Da ist er«, posaunt er, als wäre er zu übersehen. Was er absolut nicht ist, aber ich schätze, er will ihn einfach präsentieren. Wie ein Zirkusdirektor.
»Ist der echt?«, frage ich.
»Ist er«, antwortet der Besitzer, als wäre die Frage nicht im Geringsten eigenartig.
Dann pinkelt er, damit ich es kapiere, aber das dauert bei mir. Ich dachte, ich hätte schon alle Geschlechtsteile gesehen, die es gibt, aber jetzt kommt es mir vor, als würde ich ein neues und bisher unbekanntes Körperteil anschauen. Ein drittes Geschlecht. Es ist riesig. Viel größer als das des Pflanzenmagiers. Ich bekomme Nasenbluten und gehe nach Hause.
Der Pflanzenmagier legt mich aufs Sofa. »Drück hier zu«, sagt er und führt meine Finger an die Nasenwurzel, als würde ich den Trick nicht kennen.
Er bleibt sitzen und streicht mir über die Stirn. Das tut er sonst nicht. Normalerweise ärgert es ihn, wenn ich Nasenbluten bekomme, und das bekomme ich fast jeden Tag. Ich muss nicht einmal irgendwo dagegenlaufen, damit meine Nase zu bluten anfängt. Nicht mehr. Es reicht, dass ich wütend werde oder Angst habe. Ich bekomme Nasenbluten, wenn ich zu viel fühle – eine nutzlose Superkraft, die ich im Sommer 1983 entwickelt habe.
Wobei, ganz nutzlos ist sie nicht, denn ich habe gemerkt, dass das Blut aus der Nase gruselig aussieht, und es ist dann schwerer für den Pflanzenmagier, mir wegen nichts einen Klaps zu verpassen. Er verteilt die Klapse gern am Esstisch – schnelle Schläge mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf –, und fängt man zu weinen an, erklärt er umgehend, ein Klaps, das sei nichts. Aber das Blut, das ist etwas. Besonders wenn man damit wartet, die Nasenflügel zusammenzudrücken, und es einfach auf den Teller laufen lässt. Dann gerät er aus dem Konzept. Das Blut ist wie rote Tränen, für die ich nichts kann, und niemand kann sie mir wegnehmen.
(So ganz stimmt das nicht, denn eines Tages wird meine Mama mich zu einem Doktor mit einem Lötkolben bringen, aber das weiß ich noch nicht. Das passiert erst später, wenn wir in der Stadt wohnen. Jetzt wohnen wir noch an einem See im Wald, und ich habe so gut wie jeden Tag Nasenbluten, und mein Papa ist ein Indianer.)
Vom Küchensofa sieht alles aus wie immer. Der abgebeizte alte Dienerschrank, in dem man sich verstecken kann, und die Rosengeranien im Fenster. Mama hat sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt, und ich weiß, was dieser Geruch bedeutet: Sie hat Hennafarbe in einer Edelstahlschüssel angerührt und sich in die Haare geschmiert. Bestimmt will sie zu Weihnachten feuerrot aussehen. Alles ist wie immer, und dadurch fühlt sich der Alltag an wie ein Traum. Es ist, als würden wir gar nicht von hier wegziehen.
Ich weiß, Mama hat eine Schwäche für die Ruhe des schlechten Gewissens. Die habe ich auch. Es ist so schön, wenn der Pflanzenmagier voller Reue ist und seine Hände sanft werden. An solchen Tagen kann ich ihn liebhaben, und ich ertappe mich dabei, dass ich es auch jetzt wieder tue. Obwohl er gar nicht mehr mein Papa ist. Ich habe ihn eine Weile lieb und erinnere mich daran, dass er es gut mit mir meint.
Er will, dass ich lerne, in dieser Welt zu leben. Oder direkt daneben. Irgendwie scheint er uns für eine vage angekündigte Eiszeit oder vielleicht einen Krieg zu rüsten. Als wüsste er etwas, das wir anderen noch nicht wissen.
Er hat mir alles über die Pilze beigebracht, die im Wald und in den Gärten wachsen, welche man essen und von welchen man sterben kann (wenn man kein Pflanzenmagier ist). Er hat mir beigebracht, den Unterschied zwischen einem Gemeinen Riesenschirmling und einem Pantherpilz zu erkennen, und er hat mir beigebracht, dass Täublinge keine Täublinge sind, wenn sie Strümpfe tragen. Manchmal hat er mich geschlagen, damit ich es behalte, und dann habe ich ihn gehasst, aber der Hass verbrennt so schnell, und manchmal braucht er bloß nach meiner Hand zu fassen, damit er erlischt.
Er zeigte mir die Morcheln, wir knieten im Moos und lachten. Sie sahen aus wie kleine, obdachlose Gehirne.
Er brachte mir bei, wie man mit Zunder Feuer macht, wie man im Frühjahr Birkensaft zapft und an welchen Wurzeln man nagen kann. Es gibt eine, die nach Lakritz schmeckt, und die mag ich.
Er brachte mir bei, wie ein Indianer zu kacken. Er stieg auf die Toilette und machte es vor. Setzte sich in die Hocke, mit den Füßen auf der Klobrille, und zeichnete mit der Hand eine Linie über den Bauch. »Wenn du kackst wie ein Indianer, wird in deinem Bauch alles gerade, und das hilft dem Darm bei der Arbeit«, erklärte er, und seitdem kacke ich immer wie ein Indianer. Ich habe schon wie ein Indianer gekackt, bevor ich erfuhr, dass ich selber ein Indianer bin.
Er brachte mir bei, dass große Felsblöcke im Wald Findlinge genannt werden und dass das Inlandeis sie vor über zehntausend Jahren hierhertransportiert hat.
Er brachte mir das Schachspielen bei, aber er lässt mich nie gewinnen. Einmal brachte ich ihn mit einer Eröffnung aus dem Konzept, die offenbar englische Eröffnung heißt. Zum Schluss gewann er aber trotzdem, und außerdem sei die englische Eröffnung ein Idiotenzug, ich sollte immer mit dem Königsbauer beginnen, so wie Bobby Fischer.
Er brachte mir bei, Tee aus Schafgarbe zu kochen und alles Mögliche aus Kamille zu machen (die den Margeriten und der falschen Strandkamille ähnelt, aber man braucht bloß daran zu riechen, wenn man unsicher ist).
Er brachte mir bei, die Spinnrute auszuwerfen, und ich fing einen Hecht. »Bring den Hecht nach Hause, ich bleibe noch ein bisschen hier«, sagte er. Als er vom See zurückkam, war die Sonne untergegangen, und er hatte einen noch größeren Hecht gefangen, der sich im letzten Moment leider losriss, aber er zeigte mir mit den Armen, wie groß er gewesen war. Größer. Das sah man deutlich. Wir aßen meinen Hecht und redeten über seinen.
Der Pflanzenmagier gewinnt immer.
Und mit seinen Fingern im Haar begreife ich, dass er schon wieder gewonnen hat. Er hat vor, mich zu behalten. Niemand wird irgendwohin ziehen. Kein Geist wird kommen, und jetzt feiern wir Weihnachten.
Es wird 1984, und Blomma hat Miniskier bekommen. Ich bin krank und sehe ihm von meinem Fenster aus zu, wie er unten auf der Feuchtwiese auf einer Schneebahn hin und her fährt. Bestimmt wartet er darauf, dass ich gesund werde. Ich will auch Miniskier haben, aber Miniskier bestehen aus Plastik, und wir mögen kein Plastik, wir mögen lange Holzskier, mit denen man aber keine Schwünge fahren kann.
Mama hat eine Strickmaschine bekommen, und unten aus der Küche ist das Ratschen ihres Schlittens auf den Nadeln zu hören. Bald werde ich herausfinden, dass die Strickmaschine ein herber Rückschlag für meine Sehnsucht nach moderner Kleidung ist. Die Strickmaschine ist die Industrialisierung meines Außenseitertums.
In der Nacht brenne ich. Mama ist mit einem nassen Handtuch bei mir.
»Mach den Lärm aus«, sage ich, und Mama pustet die Kerzen unter dem Engelsgeläut aus.
Ich mag das Lichtspiel und die Schatten, die über die Wand tanzen, aber nicht, wenn ich brenne. Die Schellen tun mir in den Ohren weh. Die Schatten verzerren sich. Aus den Cherubim werden Hexen, und aus den Trompeten Besen.
Tagsüber geht das Fieber zurück, dann sitze ich an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Blomma langweilt sich da unten, und das gefällt mir.
Der Pflanzenmagier scheint sich auch zu langweilen. Er schraubt am Auto herum, bringt es aber nicht zum Laufen. Er versteht nicht viel von Autos. Er hat nicht einmal einen Führerschein. Fahren tut er trotzdem. Das ist das Einzige, was er über Autos weiß: wie man sie fährt. Jetzt will es nicht anspringen, und er steht hilflos vor dem schweigenden Schlund unter der Motorhaube.
Wir haben ein großes Auto, das aussieht, als sei es nicht echt. Als hätte ein Kind ein Auto gemalt. Es ist hoch und schief und die Farbe ist nur fast nicht über den Rand gemalt. Niemand sonst in unserer Straße hat so ein Auto, aber einmal kamen Männer und kletterten auf die Telefonmasten, sie hatten ein ähnliches Auto, nur dass es orange war. Und besser gemalt.
Unser Auto ist rot wie ein Kuhstall und mit einem Pinsel bemalt. Wenn man nah genug herangeht, erkennt man die Pinselstriche. Es sieht verrückt aus, aber das war mir nicht klar, bis ich mir andere Autos aus der Nähe angesehen habe. Die Autos unserer Nachbarn haben keine Pinselstriche. Es ist, als wäre die Farbe draufgehaucht worden.
Die Autos der Nachbarn sind gerade und glänzen. Unseres ist schief und matt. Und seit einigen Tagen kaputt. Warum genau, ist unklar, was den Pflanzenmagier zucken lässt, als er da mit in die Seiten gestemmten Händen in den Motor stiert.
Die Ruhe des schlechten Gewissens hat bis nach Weihnachten gehalten, aber jetzt rührt sich etwas in ihm. Ich merke, dass eine Unruhe aufzieht, und ich glaube, Mama spürt es auch.
Der Pflanzenmagier sagt immer, dass er nicht sterben kann, dass er durch die Kraft der Pflanzen und monatliche Einläufe mit Lavendelwasser ewig leben wird. Doch für einen Mann, der alle Zeit der Welt hat, ist er erstaunlich rastlos.
Er herrscht über ein kleines Reich, doch er trägt die Schlüssel zu einem größeren bei sich. Er ist auserwählt, weiß aber nicht genau, zu was, und es kommt vor, dass er probehalber seinen Namen ändert, um sicherer zu sein. In ein paar Tagen wird es wieder passieren, aber das wissen wir noch nicht. Vielleicht weiß er es selbst noch nicht.
Die nahende Verwandlung ist bisher nur eine Bewegung unter der Haut.
Blommas großer Bruder hat jetzt eine Freundin. Ich kapiere nicht, wie er das geschafft hat. Er steht doch nur im Wald herum und raucht, aber vielleicht hat er sie dort gefunden, im Wald.
»Das ist meine Freundin«, sagt er und deutet auf sie.
Die Freundin hat nichts einzuwenden.
Ich erkenne sie wieder. Sie ist das Mädchen, das weiter oben in der Straßenkurve wohnt, in einem der Häuser mit den geraden Autos in der Auffahrt. Sie raucht auch. Die Zigarette wandert zwischen Blommas Bruder und seiner Freundin hin und her.
»Wollt ihr zugucken, wie wir ficken?«, fragt er.
Das wollen wir.
Er führt uns ein Stück weiter in den Wald, dann bleibt er vor einem Felsen stehen, der ihm bis zur Hüfte geht. Wir sollen uns umdrehen, während sie sich ausziehen. Ich drehe mich um. Langsam. Will kein Nasenbluten bekommen. Nur das Rascheln der Thermojacken ist zu hören, danach nichts mehr. Bis auf das Rauschen der Baumkronen und einen Ast, der abknickt, als die Wesen des Waldes sich heranschleichen, um ebenfalls zuzusehen.
Und dann: ein leises Glucksen.
»Jetzt dürft ihr gucken«, sagt er, und wir gucken. Sie liegt auf dem Stein, die Hose zu einem Kopfkissen zusammengerollt, er steht zwischen ihren Knien und stößt die Hüften vor und zurück.
Die Szene ist ein wenig enttäuschend, denn er hält ihre weiße Winterjacke wie ein Operationstuch vor das Einzige, das wir wirklich sehen wollen. Mit der anderen Hand raucht er. Er liebt es, zu rauchen. Sie anscheinend auch, denn jetzt hält sie ihm zwei ausgestreckte Finger hin, und er steckt die Zigarette dazwischen. Sie sind wie füreinander geschaffen. Aber sie lässt die Zigarette fallen, und seine Hüften bleiben stehen. Alles bleibt stehen.
Ich schaue auf die Zigarette und frage mich, ob ich sie ihm aufheben soll, aber er hat sich bereits eine neue angezündet, und plötzlich begreife ich, warum der Vrinneviskogen im Sommer 1982 gebrannt hat.
In diesem Sommer brannte das ganze Land, und ich fragte Mama, ob man das Feuer aus dem Weltall sehen kann, und sie meinte, das könne man. Im Radio sprachen sie über Wasserbomben, und ich hoffte, dass es in unserem Wald brennen würde, denn ich wollte unbedingt eine Wasserbombe sehen. Und dann brannte es in unserem Wald, und ich hielt nach dem Löschflugzeug Ausschau, als ein Mann in unseren Garten kam. Der Mann unterhielt sich mit dem Pflanzenmagier und sagte, jemand hätte zwei Jungen im Wald spielen sehen, und jetzt frage er sich, ob ich einer von ihnen war. Das heißt, eigentlich fragte er sich das wohl nicht, denn in unserem Dorf gab es ja nur zwei Jungen in diesem Alter. Er beschuldigte mich.
»Wahrscheinlich haben sie mit Streichhölzern gezündelt«, mutmaßte der Mann, und da wurde der Pflanzenmagier irrsinnig wütend und brüllte, sein Sohn sei gar nicht im Wald gewesen.
Das stimmte nicht ganz, denn wir waren im Wald gewesen, aber genau in diesem Moment war ich gern sein Sohn. Er zweifelte keine Sekunde, bevor er meinetwegen log.
Der Mann bat um Entschuldigung und ging, aber der Verdacht blieb in der Luft hängen, und da hängt er seitdem. Anderthalb Jahre haben die Männer mit den geraden Autos in der Auffahrt Blomma und mir böse Blicke zugeworfen.
»Du warst das«, will ich zu Blommas Bruder sagen, aber ich lasse es bleiben. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Vielleicht ein anderes Mal, wenn er nicht gerade gleichzeitig fickt und raucht.
»Jetzt haut ab«, sagt er.
Auf dem Heimweg erzähle ich Blomma, dass der Stein, auf dem sie es getan haben, seit zehntausend Jahren dort im Wald liegt und dass er von einer mehrere tausend Meter dicken Eisdecke dorthin geschoben wurde.
»Das war ein Findling«, sage ich.
»Jetzt ist es ein Fickling«, sagt Blomma.
Der Pflanzenmagier hat seinen Namen geändert. Er heißt jetzt Nikodemos. Er will, dass wir ihn so nennen. Den Namen hat er aus der Bibel geborgt, von dem Jünger, mit dem Jesus sich nachts unterhalten hat, erzählt er uns.
Er mag seinen neuen Namen. Summt ihn vor sich hin. Irgendetwas löst er bei ihm aus, und die Abende im Schuppen werden länger. Er steht ganz kurz davor, alles zu durchschauen. Das hört man, wenn er in der Küche seine Grundsatzreden hält. Es gibt Wein in kleinen Gläsern, die immer größer werden, Kerzen brennen ab und neue werden angezündet, während die Worte aus ihm herausströmen. Mein kleiner Bruder schläft in Mamas Armen ein, aber Mama muss zuhören, und die Stunden vergehen, und irgendwann weint sie und sagt, dass sie nicht mehr kann. Sie versteht nicht, was er sagt. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie dumm ist, aber er wird trotzdem wütend.
Ich höre, wie er sie unten in der Küche schlägt.
Wobei, eigentlich stimmt das gar nicht, denn das Geräusch von Schlägen dringt nicht durch Wände und Decken. Was man hört, sind herumrutschende Möbelfüße und kurze, gedämpfte Schreie, die auf dem Weg aus der Kehle erstickt werden. Aber dieses Mal weiß ich es sicher, denn ich höre einen Laut, den ich wiedererkenne. Ich weiß, wie er entsteht.
Der Pflanzenmagier hat einen besonderen Schlag, der einem die Wörter raubt. Er zielt auf das weiche Fleisch genau unter dem Brustkorb und schlägt die Luft aus einem heraus. Man klingt wie ein Idiot, wenn man dann noch versucht zu reden. Immer nur ein Wort auf einmal, und man röhrt beim Atmen.
So klingt sie jetzt. Wie eine Idiotin. Und ich weiß, was sie denkt: Was, wenn die Luft nicht wiederkommt? Was, wenn ich ersticke und sterbe?
Als es vorbei ist, sitzt sie an meinem Bett.
»Wir bleiben hier nicht wohnen«, flüstert sie, und ich frage mich, ob sie sich morgen noch daran erinnert, wenn er Reue zeigt und seine Hände sanft sind.
Die Ruhe des schlechten Gewissens will sich diesmal nicht einstellen. Der Pflanzenmagier ist rastlos und leicht entflammbar. Er sieht müde aus, und ich glaube, er ist auch hungrig, denn er hat seit seinem Namenswechsel nichts gegessen. Er fastet.
»Keinen Ton mehr«, sagt er, als Mama vorschlägt, er solle sich eine Weile hinlegen.
Er sagt das oft, und es bedeutet, dass man still sein soll. »Schnickschnack« sagt er auch oft, aber dann muss man nicht völlig still sein, denn das ist nur die erste Warnung. »Keinen Ton mehr« ist die letzte. Wenn er das gesagt hat, heißt es, nur noch mit geschlossenem Mund kauen und an die Haltung denken. Nicht schlürfen oder glotzen oder irgendwas tun. In all diesen Dingen bin ich schlecht. Besonders im Nichtstun. Manchmal müssen die letzten Wörter heraus, weil es nicht gerecht ist, dass er das letzte Wort hat, nur weil er groß ist.
Aber wenn er das mit dem Ton gesagt hat, steht er unter Spannung wie eine Springfalle. Die Hand scheint auf dem Tisch zu liegen, aber sieht man genau hin, erkennt man, dass sie die Platte nicht berührt. Sie schwebt in der Luft und vibriert. Erdige Halbmonde unter den schartigen Fingernägeln. Erde zwischen den Knöcheln. Eine schlampig abgewaschene und lebendig gewordene Wurzelknolle.
Mama ist besser im Nichtstun als ich. Sie kann so still und leise dasitzen wie nur was. Wenn nötig, kann sie zu einem Möbelstück werden. Aber an diesem Morgen will sie nicht. Sie gibt einen Ton von sich, und die lebendige Wurzelknolle steigt von der Tischplatte hoch.
Noch mal, denke ich. Schlag sie noch mal, damit sie es nicht vergisst. Und reparier das Auto, damit wir den Dienerschrank einladen und wegfahren können.
Ich weiß, dass der Dienerschrank ihr gehört, weil der Pflanzenmagier gesagt hat, alles andere gehöre ihm. Ich weiß, dass sie ihn von ihrer Oma geerbt hat, und ich erinnere mich an den Geruch, als er abgebeizt wurde, und an die Ermahnung, nicht zu nah heranzugehen. Es ist eine meiner ersten Erinnerungen, vielleicht die allererste, und das bedeutet wohl, dass ich keine Erinnerung an den Indianer haben kann, denn den Dienerschrank hat der Pflanzenmagier abgebeizt.
Im Grenzland zwischen dem See und der Feuchtwiese liegt eine Fläche aus sprödem Eis. Wobei es keine Fläche ist, sondern ein Dach, das sieht man, wenn man ein Loch macht, sich hinkniet und hineinschaut. Darunter gibt es kein Wasser und auch sonst nichts. Das Eis ist irgendwie über den Grashalmen aufgehängt, und darunter können kleine Wesen aufrecht entlangspazieren, ohne dass die Menschen davon wissen. Ich frage mich, ob die Welt während der Eiszeit so ausgesehen hat, ob es einen Luftspalt zwischen dem Eis und dem Boden gab, in dem manche in der Dunkelheit lebten, oder ob alle im Licht oben auf der Eisfläche herumliefen.
»Wirst du dann jetzt bei deinem richtigen Papa wohnen?«, fragt Blomma, während ich in die Unterwelt hinabstarre.
»Vielleicht«, sage ich, und es ist keine Lüge, denn ich habe niemanden sagen gehört, dass es nicht so sei.
Mama hat kein Wort über den Indianer verloren, seit sie mir erzählt hat, dass es ihn gibt, und ich habe jede Frage heruntergeschluckt. Auch über den Umzug hat sie kein Wort gesagt. Ich weiß nicht einmal, wo wir wohnen sollen. Oder ob meine kleine Schwester und mein kleiner Bruder mitkommen werden, aber das werden sie wohl. Ich kann mir keinen Haushalt vorstellen, in dem sich der Pflanzenmagier um zwei Kinder kümmert, ohne dass sich jemand um ihn kümmert. Er weiß fast alles, aber bestimmt weiß er nicht, wie man eine Mama ist.
Manchmal frage ich mich, wie er sich all das andere beigebracht hat. Ich habe ihn nie über irgendeine Schule reden gehört, nur über die Küstenjäger und Paris achtundsechzig.
Bei den Küstenjägern hat er gelernt, wie man lange die Luft anhält und mit einem Fahrrad auf dem Rücken einen Baum hochklettert. Was er in Paris achtundsechzig gelernt hat, weiß ich nicht so recht, aber es muss etwas Merkwürdiges gewesen sein. »Ich war ja in Paris achtundsechzig«, sagt er oft, wenn er sich mit anderen Erwachsenen unterhält, und dann steigen die anderen meistens ins Gespräch mit ihm ein. Es ist wie ein Trick, mit dem er das Wort in einem Raum an sich reißt, in dem zu viele Worte anderer herumschwirren. »Ich war ja in Paris achtundsechzig«, sagt er, und dann wird es still. Ich weiß nicht, was Paris achtundsechzig ist oder wo es liegt, aber ich vermute, dass man dort viel lernt.
»Bleibt dein Stiefvater hier wohnen?«, fragt Blomma.
»Das weiß ich nicht.«
»Wann ziehst du weg?«
»Bald.«
»Wann ist bald?«
Blomma steckt voller Fragen, und ich zische ihn an, damit er still ist. Irgendetwas bewegt sich im Dunkeln unter dem Eis.
»Ich glaube, hier wohnt jemand«, sage ich und deute in die Unterwelt hinab.
Blomma stürzt sich auf die Knie und sieht nach. Wir einigen uns darauf, dass dort irgendwelche kleinen Wesen leben, und dann bestimmt Blomma, dass die Unterwelt zerstört werden muss. Ich sehe das zwar anders, aber ich helfe ihm trotzdem. Und dann zertrampeln wir das ganze Dach.
»Entschuldigung«, flüstere ich bei jedem Aufstampfen mit dem Fuß, und ich bereue, Blomma das Geheimnis der Unterweltlinge verraten zu haben. Ihn scheint ihr Schicksal überhaupt nicht zu berühren. Es ist fast, als würde er sie hassen. Er stampft und stampft, die Lippen zusammengekniffen vor Entschlossenheit.
»Du solltest meine Telefonnummer haben«, keucht Blomma, als die Unterwelt zerstört ist. »Hast du einen Stift?«
Habe ich nicht. Blomma nimmt einen Stock und schreibt die Nummer in den Schnee. Er kennt alle Zahlen auswendig. Gemeinsam brechen wir den Schnee vom Boden los, und dabei fällt die Nummer auseinander. Blomma knetet ein Blech aus Schnee und schreibt die Nummer noch einmal auf. Ich nehme das Blech mit nach Hause, aber auf dem Weg durch den Garten, wo alles so abschüssig ist, rutsche ich aus, und die Nummer zerbricht.
An diesem Abend weine ich unter der Bettdecke, aber nicht wegen der Zahlen, die auf dem Abhang verstreut liegen. Und auch nicht wegen des Streits, der unten in der Küche tobt. Ich weine wegen der Unterweltlinge. Was, wenn sie liebe Wesen sind? Was, wenn sie im Schutz der Dunkelheit von der Feuchtwiese heraufschwärmen, um Gottes Strafe zu vollstrecken?
Anscheinend waren die Unterweltlinge doch böse, denn mit der Dämmerung kommt die Belohnung: Der Pflanzenmagier hat die Auflösung der Familie bewilligt. Einfach so.
Und jetzt geht es los. Ein Spanngurt wird um den Dienerschrank geschnallt, und in der Küche stapeln sich Bananenkartons. Der Pflanzenmagier hilft beim Packen. Er ernennt sich selbst zum Vorarbeiter und bewegt sich mit einer Eile, die mich verblüfft. Erst sehr viel später werde ich lernen, dass es die Eile eines Menschen ist, der die Kontrolle über seine Niederlage behalten will.
Blomma treibt sich auf der Feuchtwiese herum. Ich winke von der Vortreppe, und er winkt zurück. Der Pflanzenmagier kommt mit einer Bananenkiste in den Armen heraus und bleibt neben mir stehen. Blomma hebt die Hand noch einmal, aber diesmal winkt er nicht. Der Arm ist gestreckt, die Faust geballt.
Der Pflanzenmagier setzt den Karton auf dem Geländer der Vortreppe ab, damit er eine Hand frei hat. Er ballt sie zur Faust und reckt sie zum Himmel, aber er ruft nicht wie sonst, sondern flüstert nur:
»Allende.«
Offenbar rührt es ihn, dass der kleine Chilene sich plötzlich erinnert, wie man sich in Chile grüßt.
Eines Tages werde ich in einem Buch davon erzählen, und dann wird es mich wundern, welche Bilder das Gehirn aufzuheben beschließt und welche es löscht. Ich werde der Erinnerung an Blommas geschlossene Faust auf der Feuchtwiese nachgehen und den Kopf nach links drehen, zur Straße hin, um nach der Antwort auf die Frage zu suchen, wie wir von dort wegkamen. Ich werde sie nicht finden. Ich werde mich nicht daran erinnern, ob der Dienerschrank auf der Dachreling des Pflanzenmagiers festgezurrt liegt oder auf einem Anhänger hinter dem Auto von jemand anderem. Aber ich werde mich an das Letzte erinnern, das er mir beibringt, wie er auf dem Kies vor mir in die Hocke geht und mir in die Augen sieht.
»Du hast zwei Nasen«, sagt er.
Ich verstehe nicht, was er meint, denn ich habe nur eine. Er hält eine Hand in die Lücke zwischen unseren Gesichtern und sagt, ich soll es ihm nachmachen. Er legt Zeige- und Mittelfinger über Kreuz und hält das Fingerkreuz an seine eigene Nasenwurzel. Dann fährt er mit dem Fingerkreuz den Nasenrücken entlang, und als ich es ihm nachmache, muss ich lächeln.
»Du hast zwei Nasen«, sagt er, und ich lache, denn es stimmt.
Er kann so viel, aber ich werde ihn fast nie vermissen.
Blomma dagegen. Ihn werde ich vermissen. Wir werden uns nie wieder begegnen, aber eines Tages, beinahe vierzig Jahre nachdem er die Faust dort unten auf der Feuchtwiese ballte, wird mir jemand, der ihn später kannte, erzählen, dass er wahrscheinlich aus Thailand adoptiert war.
In dem: die Mütter braun werden, die Kinder Nazis werden, ein Schatz gefunden wird.
