Schicksalsnacht in Barton Park - Amanda McCabe - E-Book

Schicksalsnacht in Barton Park E-Book

Amanda McCabe

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Beschreibung

Darf eine junge Witwe mit beschädigtem Ruf auf ein neues Glück hoffen? Unverzagt schmiegt sich Emma an Sir Davids breite Brust. Sie spürt, dass die Sehnsucht, die in seinen graublauen Augen glüht, ihr allein gilt - niemals würde David sie hintergehen, so wie ihr früherer Gatte. Doch ihre skandalöse Vergangenheit verfolgt Emma gnadenlos …

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Seitenzahl: 270

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IMPRESSUM

Schicksalsnacht in Barton Park erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2013 by Amanda McCabe Originaltitel: „Running From Scandal“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 30 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Corinna Wieja

Umschlagsmotive: GettyImages_Nikita Kulchitskiy, shutterstock_Sandratsky Dmitriy

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733746650

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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PROLOG

England, 1814

Emma Bancroft war sehr geschickt darin, die Fassade aufrechtzuerhalten. Diese Fähigkeit konnte sie bei den – wenn auch seltenen – gesellschaftlichen Anlässen, an denen sie teilnahm, stets noch ein wenig verbessern, und an diesem Abend bekam sie reichlich Gelegenheit dazu.

An ihrem Glas mit wässrigem Punsch nippend, lehnte sie an der Wand des Dorfsaales und ließ den Blick über die Menge schweifen. Trotz der kalten, feuchten Witterung waren überraschend viele Gäste gekommen. Emma hatte angenommen, dass die meisten Menschen es in einer solchen Nacht vorziehen würden, zu Hause zu bleiben, statt sich in Schale zu werfen und der Kälte zu trotzen, um Tanz und Konversation zu frönen. Der Raum war jedoch überfüllt mit lachenden Menschen in Festtagsgarderobe.

Emma hingegen hätte nichts lieber getan, als es sich vor dem Kamin gemütlich zu machen, obwohl sie Gesellschaften nicht gänzlich abgeneigt war. Die Menschen faszinierten sie, und sie vertrieb sich gern die Zeit damit, sie unauffällig zu beobachten und ihren Unterhaltungen zu lauschen. Sich eigene Geschichten zu diesen Gesprächen auszudenken, geheime Leben, die sich hinter dem allgegenwärtigen Lächeln und beiläufigen Geplauder verbargen, empfand sie als beinahe ebenso fesselnd wie ein gutes Buch.

An diesem Abend hatte sie jedoch die Lektüre eines ausgezeichneten Buchs über Botanik unterbrechen müssen. Die Pflanzenwelt war, nach der elisabethanischen Architektur und dem Anbau von Tee in Indien, ihre neueste Leidenschaft. Die verstaubten Werke in der Bibliothek ihres Vaters, die seit seinem Tod vor mehreren Jahren kaum jemand mehr betrat, boten eine Fülle von Themen, die Emma mit Begeisterung erforschte.

Dieser regnerische, kalte Abend schien wie gemacht zu sein für gemütliche Lesestunden bei einer Tasse Tee, mit ihrem Hund Murray zu ihren Füßen. Ihre Schwester Jane hatte jedoch darauf bestanden, dass sie den Dorfball besuchten. Sie hatte sogar einige ihrer vornehmen Londoner Roben zu diesem Anlass herausgeholt.

„Ich bin eine schreckliche Schwester, weil ich dich zu einem solchen Einsiedlerleben zwinge, Emma“, hatte Jane gesagt und ihr eine hellblaue Seidenrobe hingehalten. „Du bist erst sechzehn und so hübsch. Du solltest tanzen, dich amüsieren und das tun, was hübsche junge Damen eben gerne tun.“

„Ich bleibe gern hier und lese“, hatte Emma erwidert, obwohl ihr das Kleid gefiel. Es war sehr viel hübscher als die ausgeblichenen Röcke, Schürzen und festen Stiefel, die sie gewöhnlich trug, auch wenn es natürlich nicht zum Ausgraben von Pflanzen für ihre Studien geeignet war. Jane ließ sie an diesem Abend sogar den Perlenschmuck ihrer Mutter tragen. Und dennoch wäre sie lieber zu Hause geblieben und hätte gelesen.

Oder nach dem verschollenen legendären Schatz von Barton Park gesucht, so wie ihr Vater zu Lebzeiten. Aber davon musste Jane nichts wissen. Ihre Schwester hatte bereits genug Sorgen.

„Ich weiß, es wird dir gefallen“, hatte Jane gesagt, als sie nach Nadel und Faden suchte, um das Kleid zu kürzen. „Du wirst erwachsen. Wir können uns nicht bis in alle Ewigkeit in Barton Park verkriechen.“

„Warum nicht?“, hatte Emma gefragt. „Mir gefällt es hier, es ist unser Zuhause. Wir können tun und lassen, was wir wollen, und müssen uns keine Gedanken um …“

Um schreckliche Schulen machen, wo hochnäsige Mädchen über sie lachten und tratschten und der Musiklehrer ihr im Korridor zu nahe getreten war. Wo sie sich so einsam gefühlt hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie ins Internat geschickt worden, und Jane hatte Hayden geheiratet, den Earl of Ramsay. Emma hatte ihrer großherzigen Schwester jedoch nichts von den Vorfällen in der Schule erzählt. Niemand sollte je erfahren, dass ihr Musiklehrer, dieser Schuft, ihre närrische Schwärmerei ausgenutzt und sie im Dunkeln geküsst und noch Schlimmeres versucht hatte, bevor Emma es endlich gelungen war, ihm zu entkommen. Von Männern wollte sie seitdem nichts mehr wissen.

Emma bemerkte den Ausdruck von Besorgnis, der in Janes haselnussbraune Augen getreten war, ehe sie den Kopf über die Nadel beugte. Rasch ergriff Emma ihre Hand. „Du hast recht, Jane, ein Abend unter anderen Leuten würde uns sicher guttun“, sagte sie und zwang sich zu einem Lachen. „Dir ist sicherlich schon fürchterlich langweilig, so ganz allein mit mir und meinen Büchern, da du doch in London ein solch aufregendes Leben geführt hast. Wir sollten zum Ball gehen und uns amüsieren.“

Auch Jane lachte, aber Emma entging ihre Traurigkeit nicht. Diese Traurigkeit war Janes ständiger Begleiter, seit sie Emma vor beinahe drei Jahren nach Barton Park geholt hatte. Ihr Gatte hatte sie seitdem kein einziges Mal besucht. Emma wusste nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war, und es ging sie auch nichts an, aber sie wollte ihrer Schwester nicht noch mehr Kummer bereiten.

„Mein Leben in London war gar nicht so aufregend“, erklärte Jane. „Und ich bin dankbar, dass es hinter mir liegt. Aber du wirst bald in die Welt hinausziehen, Emma. Das Landleben bietet nicht viele Gelegenheiten, sich in gesellschaftlicher Etikette zu üben, das ist wahr, aber der Dorfball ist zumindest ein Anfang.“

Insgeheim fürchtete Emma sich davor, in die Welt hinausziehen zu müssen. Sie war zu temperamentvoll veranlagt – eine Schwäche, um die sie zwar wusste, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie sie in den Griff kriegen konnte, und daher große Angst, schreckliche Fehler zu begehen.

Nun also lehnte Emma an der Wand des Gemeindesaales, nippte an ihrem Punsch und versuchte, Janes hübsches Kleid nicht zu ruinieren. Beim Blick in den Spiegel hatte sie sich kaum selbst wiedererkannt. Jane hatte ihr die blonden lockigen Haare hochgesteckt und mit Bändern geschmückt. Zudem durfte sie das Perlencollier ihrer Mutter tragen. Selbst Emma musste zugeben, dass sie viel hübscher aussah als nur mit Zopf und Schürze.

Den jungen Männern aus dem Dorf schien das auch aufgefallen zu sein. Einige standen vor dem Fenster zusammen – raue, herzliche, rotgesichtige Burschen vom Land in ihrer Festtagskleidung, die Emma beobachteten und miteinander tuschelten. Die Aufmerksamkeit verursachte ihr jedoch Unbehagen. Sie wandte sich ab und gab vor, etwas höchst Erbauliches auf der anderen Seite des Saales anzuschauen.

Dort entdeckte sie Jane, die sich mit einem Gentleman in dunkelblauem Jackett neben dem Tisch mit den Erfrischungen unterhielt. Obwohl Emma sich nicht gerade prächtig amüsierte, machte das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester sie froh.

Jane erwähnte ihren entfremdeten Gatten und die Zeit in London nur selten, aber Emma hatte das gesellschaftliche Leben ihrer Schwester in den Zeitungen verfolgen können und wusste, dass es sehr glamourös gewesen sein musste. Barton Park dagegen war überhaupt nicht glamourös, und obwohl Jane beharrlich behauptete, sie sei glücklich, machte sich Emma Sorgen, dass sie es nicht war.

An diesem Abend jedoch lächelte Jane, lachte sogar. Ihr dunkles Haar schimmerte im Kerzenschein, und sie sah in ihrer lila Spitzenrobe bezaubernd aus. Sie schüttelte den Kopf über etwas, das der große Gentleman zu ihr sagte, und machte eine Geste in Emmas Richtung. Emma straffte unwillkürlich die Schultern, als die beiden zu ihr herüberblickten.

„Verflixt“, flüsterte sie und lächelte schnell, als eine ältere Dame ihr einen missbilligenden Blick zuwarf. Aber sie konnte sich das Fluchen nicht verkneifen, denn inzwischen hatte sie den Gentleman, der mit ihrer Schwester sprach, erkannt. Es war ausgerechnet Sir David Marton.

Seit Kurzem machte er ihnen seine Aufwartung häufiger, als es Emma recht war. Er brachte schicklicherweise stets seine Schwester Miss Louisa mit, und da ihre Anwesen aneinandergrenzten und sie Nachbarn waren, sprach eigentlich auch nichts gegen seine Besuche. Aber dennoch. Jane war immerhin verheiratet, auch wenn sich Lord Ramsay in Barton Park nicht blicken ließ. Und Sir David war viel zu attraktiv. Und zu ernst. Emma bezweifelte, dass er jemals lachte.

Sie musterte ihn und versuchte dabei, nicht die Stirn zu runzeln. Er nickte, nachdem Jane eine Bemerkung gemacht hatte, und sah hinter seiner Brille mit unbewegter Miene zu Emma herüber. Sie war froh, dass sie weit genug entfernt von ihm stand, sodass sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Die hatten eine seltsame durchdringend graue Farbe, und immer wenn er Emma ansah, schien er ihr bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.

Unbewusst strich sich Emma über den Rock. Plötzlich fühlte sie sich sehr zappelig und dumm. Wie ein Kleinkind. So wollte sie allerdings ganz gewiss nicht auf Sir David wirken. Er nickte Jane erneut zu und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Jane gegenüber verhielt er sich stets freundlich und respektvoll. Einen kurzen Augenblick lang blitzte sogar ein seltener Funke von Humor in seinen außergewöhnlichen Augen auf. Ein solch freundliches, amüsiertes Funkeln stand nie in seinen Augen, wenn er Emma ansah. Sie bedachte er stets mit einem strengen, ja sogar argwöhnischen Blick.

Noch nie war Emma auf ihre Schwester eifersüchtig gewesen. Jane war ihr eine gute Schwester, obwohl sie selbst so unglücklich zu sein schien. Jedes Mal aber, wenn Sir David Jane seine Aufmerksamkeit zollte, stieg in Emma eine gewisse Verbitterung auf, die sie fast als Eifersucht bezeichnet hätte. Aber nur fast.

Der Grund dafür blieb ihr ein Rätsel. Sir David war nun ganz gewiss nicht die Art von Mann, die sie bewundern könnte. Er war viel zu still, viel zu ernst. Viel zu … altmodisch, steif und konventionell. Emma wurde einfach nicht schlau aus ihm.

Und jetzt – oh, verflixt! Jetzt kamen sie auch noch zu ihr herüber.

Emma wusste nie, worüber sie sich mit Sir David unterhalten sollte. Sie fürchtete, er hielte sie für jung und dumm und lachte sie insgeheim aus.

„Emma, Liebes, ich habe Sir David gerade von deinem Interesse an der Botanik erzählt“, sagte Jane, als sie sich zu ihr gesellten.

Emma sah zu Sir David, der sie mit undurchdringlichem, steinernem Blick betrachtete. Das Lächeln, das zuvor noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, einen Knoten in der Zunge zu haben, jegliche Worte schienen aus ihrem Gehirn wie weggeblasen zu sein. Seit dem Verlassen der Schule war sie nicht mehr so aufgeregt und unsicher gewesen – und das gefiel ihr gar nicht.

„Ach ja?“, brachte sie schließlich mit gesenktem Blick hervor.

„Meine Schwester hat erwähnt, sie sei Ihnen vor ein paar Tagen begegnet“, sagte Sir David. „Sie bot wohl an, Sie in der Kutsche mitzunehmen, allerdings hätten Sie abgelehnt, um Ihre Arbeit zu beenden. Da es ein verregneter Tag war und die Straße sehr schlammig, fand Louisa das ein wenig, nun ja … ungewöhnlich.“

Emma spürte, wie ein leiser Ärger in ihr hochkroch; zugleich fühlte sie sich gekränkt. Und es wurmte sie, dass sie sich darum scherte, was andere über sie dachten. Miss Louisa Marton war eine alberne Gans mit einer ausgeprägten Vorliebe für Klatschgeschichten. Es ließ sich nicht mit Gewissheit sagen, was sie ihrem Bruder über sie erzählt hatte und schon gar nicht, wie er nun über sie urteilte. Fand er ihr Interesse für Botanik lächerlich? Verachtete er sie gar, weil sie so undamenhaft im Matsch buddelte?

„Ich habe gerade erst mit meinen Studien angefangen“, erklärte Emma. „Mir geht es hauptsächlich darum, interessante Pflanzen zu finden und diese genauer zu untersuchen. Wenn die Erde feucht ist, kann man die Pflanzen nun mal viel leichter ausgraben. Es war jedoch sehr freundlich von Ihrer Schwester, dass sie meinetwegen gehalten hat.“

„Ich fürchte, seit ich sie aus der Schule geholt habe, kann Emma ihren Wissensdurst nur in sehr begrenztem Maße stillen“, meinte Jane. „Leider bin ich keine Lehrerin.“

„Oh, nein, Jane!“ Der bedauernde Tonfall ihrer Schwester hatte Emmas Schüchternheit vertrieben. „Ich lebe gern in Barton Park, und Mr Lorne aus dem Buchladen sorgt dafür, dass mir der Lesestoff nicht ausgeht. Ich habe hier viel mehr gelernt als in der Schule. Obwohl Sir David meine Bemühungen womöglich als töricht erachtet.“

„Ganz und gar nicht, Miss Bancroft“, erwiderte er, und zu ihrer Überraschung hörte sie ein Schmunzeln in seiner Stimme. Sie sah auf und stellte fest, dass tatsächlich der Anflug eines Lächelns um seine Mundwinkel herum zu erkennen war, das attraktive Grübchen in seinen Wangen erscheinen ließ.

Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie ihn besser nicht angeschaut hätte. Aus nächster Nähe sah er wirklich umwerfend aus, mit schmalem Gesicht und Zügen, die wie gemeißelt wirkten, einer klassischen Statue nicht unähnlich. Sein glänzendes kastanienbraunes Haar, das er normalerweise streng glatt gekämmt trug, wellte sich ein wenig in der feuchten Luft und lud förmlich zum Berühren ein. Unvermittelt fragte sie sich, ob er die Brille nur trug, um zu verhindern, dass die Damen ihm scharenweise zu Füßen lagen. Ein vergebliches Unterfangen, falls dem tatsächlich so war.

„Sie halten meine Studien nicht für töricht, Sir David?“, fragte Emma und kam sich wie eine Närrin vor, weil ihr keine schlagfertigere Bemerkung eingefallen war.

„Überhaupt nicht. Alle Menschen, ganz egal, ob Mann oder Frau, sollten ihre Interessen pflegen, damit ihr Geist wach und ihr Verstand scharfsinnig bleibt“, entgegnete er. „Ich hatte das Glück, in der Nähe eines Onkels aufzuwachsen, dessen Bibliothek mit über fünftausend Büchern reich gefüllt ist. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört? Mr Charles Sansom von Sansom House.“

„Fünftausend Bücher!“, rief Emma lauter als beabsichtigt. „Das muss ein wahrhaft atemberaubender Anblick sein. Hat er besondere Interessen?“

„Griechische und römische Antiquitäten sind sein Steckenpferd, aber es gibt fast zu jedem Thema mindestens ein Buch in seiner Bibliothek. Ganz gewiss auch zur Botanik“, antwortete er, und sein Lächeln wurde breiter. Noch nie hatte er einen so jungen und offenen Eindruck gemacht, und Emma trat unbewusst einen Schritt näher an ihn heran. „Er hat uns bei unseren Besuchen immer alles lesen lassen, wonach uns der Sinn stand. Meine Schwester hat von diesem Angebot leider kaum Gebrauch gemacht.“

Emmas Blick schweifte durch den Saal zu Miss Marton; in ihrem reich mit Federn geschmückten Turban war sie leicht auszumachen. Sie unterhielt sich mit ihrer Busenfreundin Miss Maude Cole, die wegen ihrer himmelblauen Augen, rotblonden Locken und edlen Roben als Dorfschönheit galt. Die Augen unverwandt auf Emma gerichtet, tuschelten die beiden Frauen hinter ihren Fächern miteinander.

Wie all die albernen Mädchen in der Schule.

„Das kann ich mir denken“, murmelte Emma. Sie hatte weder Miss Marton noch Miss Cole je von etwas anderem sprechen hören als von Hüten, Mode oder dem Wetter. „Lebt Ihr Onkel immer noch in der Nähe, Sir David? Ich wünschte, ich könnte ihn einmal kennenlernen.“

„Ja, er lebt noch in der Nähe, Miss Bancroft. Bedauerlicherweise hat er sich jedoch wegen seines fortgeschrittenen Alters weitgehend aus der Gesellschaft zurückgezogen. Gelegentlich sucht er noch Mr Lornes Buchhandlung auf; vielleicht treffen Sie ihn ja eines Tages dort.“

Ehe Emma darauf antworten konnte, setzte das Orchester, eine Gruppe Musiker aus dem Dorf, die eher durch ihre Begeisterung denn ihr Talent auffielen, zu einer Mazurka an.

„Oh, ich mag diesen fröhlichen Tanz“, sagte Jane. Emma bemerkte, wie ihre Schwester mit wehmütigem Blick zu den Paaren auf der Tanzfläche schaute, die Aufstellung nahmen. „Die Mazurka war mein erster Tanz mit …“

Jane brach ab und gab ein seltsames Lachen von sich. Emma fragte sich, ob sie diesen Tanz in London oft mit ihrem Gatten getanzt hatte. Obwohl Jane nie über ihn sprach, dachte sie sicherlich oft an ihn.

„Jane …“, fing Emma an.

Sir David wandte sich mit freundlichem Lächeln an Jane. „Zwar sind meine Tanzkünste ein wenig eingerostet, aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre erweisen würden, Lady Ramsay.“

Einen Augenblick lang zögerte Jane, und Emma spürte erneut diesen Stich der Eifersucht. Sie hasste sich selbst dafür und verdrängte den Gedanken schnell mit einem aufgesetzten Lächeln.

„Oh nein, ich tanze nicht mehr“, erwiderte Jane.

„Vielleicht erweist mir Miss Bancroft dann die Ehre?“, fragte Sir David höflich und bot Emma seinen Arm.

Plötzlich sehnte sie sich danach, herauszufinden, wie es wohl wäre, wenn er ihre Hand hielte. Ihm nahe zu sein, wenn er sie durch die Schritte des Tanzes führte.

Ganz gewiss war er stark und zuverlässig und würde sie nicht fallen lassen. In seiner Nähe könnte sie sich sicher fühlen. Vielleicht würde er sie sogar anlächeln und mit seinen schönen grauen Augen bewundernd anblicken.

Derlei romantische Gefühle hatte sie seit ihrer ersten Begegnung mit Mr Milne nicht mehr verspürt. Und damals hatte es in einer Katastrophe geendet. Nein, sie konnte ihren Gefühlen nicht trauen, nie wieder.

Emma trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Sir David ließ den Arm sinken. Sein Lächeln verblasste, und dieser steinerne, unergründliche Ausdruck trat wieder in sein Gesicht.

„I…ich möchte heute Abend lieber nicht tanzen“, stammelte Emma, verwirrt von alten Erinnerungen und neuen rätselhaften Empfindungen. Sie hatte einen Fehler begangen, weil sie Mr Milne und ihren Gefühlen vertraut hatte. Sie musste lernen, vorsichtiger und vernünftig zu sein, so wie Jane. So wie Sir David.

„Natürlich, Miss Bancroft“, entgegnete Sir David mit gelassener Stimme. „Ich verstehe.“

„David, mein Lieber“, hörte sie Miss Marton sagen.

Emma drehte sich um und stellte fest, dass sie und Miss Cole hinter ihnen standen. Sie war so abgelenkt gewesen, dass sie das Kommen der beiden gar nicht bemerkt hatte. Miss Cole musterte sie mit spöttischem Lächeln, und Emma kam sich noch dümmer vor.

„David, mein Lieber“, sagte Louisa erneut. „Weißt du nicht mehr, dass Miss Cole dir die Mazurka versprochen hat? Du hast sehr beharrlich darauf bestanden, dass sie dir den Tanz reserviert, und ich weiß, wie sehr ihr beide euch darauf gefreut habt.“

Sir David schenkte Emma noch einen letzten fragenden Blick, bevor er sich Miss Cole zuwandte und ihr seinen Arm bot. „Natürlich. Sehr erfreut, Miss Cole.“

Emma sah ihm nach. Miss Cole lachte und tändelte mit ihm so leicht und unbeschwert, wie Emma es nie gekonnt hätte. Obwohl es in dem überfüllten Raum grässlich stickig war, fröstelte es Emma plötzlich, und sie rieb sich wärmend über die nackten Arme.

„Ich weiß, du hältst Sir David für langweilig, Emma“, sagte Jane leise. „Aber er ist wirklich sehr nett. Du hättest mit ihm tanzen sollen.“

„Ich kann nicht gut tanzen.“ Emma versuchte, unbeschwert zu klingen. „Ich wäre ihm nur auf die Füße getreten, und dann hätte er sich verpflichtet gefühlt, mir eine Predigt über Anstand und Etikette zu halten.“

Jane schüttelte den Kopf, aber Emma brachte es nicht über sich, ihre wahren Gefühle zu äußern, ihre Angst, was vielleicht geschehen mochte, wenn sie dem attraktiven Sir David näherkam. Sie kannte ihre wahren Gefühle ja nicht einmal selbst richtig. Sie wusste lediglich, dass David Marton sie durcheinanderbrachte und ganz gewiss nicht der richtige Mann für sie war.

Emma Bancroft war eine höchst ungewöhnliche junge Dame.

David versuchte, über die anderen Tänzer hinweg einen Blick auf sie zu erhaschen, doch ihr goldblonder Schopf war nirgendwo zu entdecken. Fast hätte er aufgelacht, als er darüber Enttäuschung verspürte. Er war zu alt und viel zu pflichtbewusst für ein solch ungestümes, hübsches Geschöpf wie Miss Bancroft, und es war offensichtlich, dass sie ihn nicht leiden konnte.

Seinen Missmut darüber konnte er nicht verleugnen. Sie faszinierte ihn. Was ging ihr wohl durch den Kopf, wenn sie die Welt um sich herum so aufmerksam beobachtete? Lady Ramsay hatte erwähnt, dass sich ihre Schwester unter anderem für Botanik interessiere, und David hätte zu gerne erfahren, welche Interessen sie außerdem hegte, obwohl er bestimmt besser daran tat, keinen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden.

Für jemanden wie Emma Bancroft war kein Platz in seinem Leben. Das aufregende, abenteuerliche Leben, das sie offenbar suchte, konnte er ihr nicht bieten. Sein Vater hatte zu Temperamentsausbrüchen geneigt, und nachdem Davids Unbedachtheit einmal beinahe zu einem Fiasko für seine Familie geführt hätte, hatte er sich geschworen, stets in allen Belangen die Beherrschung zu wahren. Damals hatte er in London mit seinen lasterhaften Freunden zu viel getrunken, zu oft am Kartentisch gesessen und sich mit der falschen Sorte Frauen eingelassen, in dem Glauben, er könne seinen Pflichten auf diese Weise eine Weile entkommen. Erst als ihm bewusst geworden war, dass er mit seinem Verhalten andere Menschen verletzte, war er zu Verstand gekommen und hatte sich geändert.

David lauschte den Klängen der Musik und wartete darauf, seine Partnerin die Reihe der Paare entlangzuführen. Er sah, wie seine Schwester ihn vom Rand aus mit einem zufriedenen Funkeln in den Augen beobachtete. Seit dem Tod ihrer Eltern, seit er die Verantwortung über ihren Familiensitz Rose Hill und für Louisa übernommen hatte, suchte sie wild entschlossen nach einer geeigneten Gemahlin für ihn. „Eine gute Partie“, verkündete sie oft, womit sie eine ihrer Freundinnen meinte. Eine junge Dame aus einer Familie, die sie gut kannten, mit der Louisa gern Zeit verbrachte, und die nur wenige Änderungen im Haushalt vornehmen würde.

Für Miss Bancroft hatte Louisa nur missbilligende Worte übrig. „Ich weiß nicht, was sich dieses Mädchen denkt“, hatte sie sich einmal mokiert. „Sie wandert ständig mit diesem schrecklichen Hund durch die Landschaft, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich die Röcke beschmutzt. Sie besitzt keinerlei Anstand. Und ihre Schwester erst! Wo ist Lady Ramsays Gatte überhaupt? Das möchte ich zu gern wissen. Wie kann der Earl es zulassen, dass die beiden allein in Barton Park leben? Das Haus ist ja kaum bewohnbar zu nennen. Vermutlich müssen wir trotzdem freundlich zu ihnen sein, da sie unsere nächsten Nachbarn sind.“

David entdeckte Lady Ramsay, die suchend an der Tanzfläche entlangging. Hielt sie Ausschau nach ihrer Schwester? Er konnte Miss Bancroft nirgendwo sehen. Zugegeben, die Lebenssituation der beiden Schwestern war höchst ungewöhnlich, und seine Eltern hätten sie ebenfalls missbilligt. Zwei Damen, die allein in einem maroden Haus lebten, kaum ausgingen, und ein Gatte, der stets abwesend war. Lady Ramsay wirkte oft traurig und gedankenverloren, aber Miss Bancroft schien sich sehr um sie zu sorgen und zu kümmern, was er höchst eindrucksvoll fand.

David hielt die beiden Schwestern für bemerkenswert tapfer, und ganz offensichtlich waren sie einander sehr zugetan. Eine weitere Sache, die Miss Bancroft höchst außergewöhnlich und faszinierend machte.

Seine Hand wurde auffordernd gedrückt, und als er daraufhin zu seiner Tanzpartnerin sah, stellte er fest, dass er seinen Einsatz verpasst hatte.

Miss Cole schenkte ihm ein verführerisches Lächeln, und er geleitete sie mit den schnellen, hopsenden Schritten, die der Tanz verlangte, an den anderen Paaren vorbei.

Im Gegensatz zu Miss Bancroft war Miss Cole exakt die Art von Gemahlin, an deren Seite seine Schwester ihn gerne sehen würde. Sie war die Tochter eines respektablen Landadeligen und seit Ewigkeiten mit Louisa befreundet. Sie war hübsch, hatte gute Manieren und glänzte in der Gesellschaft. Außerdem verfügte sie über eine stattliche Mitgift. Gewiss würde sie ihren Haushalt ausgezeichnet führen und sich gefällig in sein sorgfältig aufgebautes Leben einfügen. Und sie schien ihn zu mögen.

Miss Bancroft dagegen war ganz gewiss nicht die Richtige für ihn. Sie war viel zu jung, zu abenteuerlustig. Sein ganzes Leben war von ihm und seiner Familie sorgfältig vorausgeplant worden. Schon einmal hätte er beinahe alles aufs Spiel gesetzt. Das durfte nicht noch einmal geschehen.

Miss Cole wäre ihm sicherlich eine gute Gemahlin. Warum also konnte er nicht aufhören, sich ständig nach Emma Bancroft umzusehen?

Aus dem Tagebuch von Arabella Bancroft, 1663

Ich bin zu guter Letzt in Barton Park angekommen. Die Reise war nicht lang, aber ich komme mir vor wie in einer anderen Welt. Tante Marys Haus in London, die endlosen Stunden mit Näharbeiten, während derer sie all das beklagte, was sie in den Kriegen verloren hatte, der Schmutz der Straßen – all das kommt mir so fern vor. Hier bin ich umgeben von grüner Natur und frischer Luft.

Ich bin zutiefst dankbar, dass ich im wunderschönen Haus meines Cousins leben darf, ein Geschenk, das ihm der neue König gemacht hat. Als arme, siebzehnjährige Waise bin ich von der Großzügigkeit anderer abhängig, und es erscheint mir wie ein Traum, dass ich hier sein darf. Die Gemahlin meines Cousins hat genügend Dienstmädchen. Ich habe nichts zu tun, außer mich in meinem neuen Zimmer einzurichten – ich habe ein eigenes Zimmer, ganz für mich allein – ein Paradies! – und die wundervollen Gärten zu erkunden.

Das Zimmermädchen hat mir eine höchst faszinierende Geschichte erzählt. Wie es scheint, hat einer von König Charles’ Mannen ganz in der Nähe einen großen Schatz vergraben, doch keiner weiß genau, wo.

Ich liebe derlei Geheimnisse.

1. KAPITEL

Sechs Jahre später

Barton Park. Emma konnte kaum fassen, dass sie nach so langer Zeit endlich wieder hier war. Alles war ihr so fremd, dass sie das Gefühl hatte, sie sei von einem Wirbelsturm in eine völlig andere Welt geweht worden.

Sie stand auf einem Hügel und blickte auf das graue Band der Straße, das sich zu den Toren von Barton Park zog. Sie standen leicht offen, wie um sie willkommen zu heißen, aber Barton Park war nicht länger ihr Zuhause. Sie fühlte sich nirgendwo mehr zu Hause, sondern eher wie ein Stück Treibholz, das von den Fluten hierhergespült worden war.

Der starke Wind zerrte an ihren Röcken, und sie raffte sie rasch mit einer Hand und hielt sie fest. Unten, auf der Straße, wartete der Kutscher ihres Schwagers auf dem Bock der feinen Karosse geduldig auf sie. Zweifellos war er durch den Klatsch im Dienstbotentrakt bestens über die launenhafte Schwester von Lady Ramsay informiert.

Emma wusste, sie sollte sich schleunigst auf den Weg ins Haus machen, doch sie konnte sich noch nicht recht dazu überwinden, obwohl der Wind immer stürmischer wurde und die grauen Wolken am Himmel Regen verhießen. Ihr Hund Murray winselte und stupste mit der Schnauze gegen ihre behandschuhte Hand, aber er wich ihr nicht von der Seite. Wenigstens Murray hatte sich nicht verändert.

Fünf Jahre zuvor hatte sie Barton Park verlassen, voller Hoffnung, doch zugleich auch mit einer gewissen Furcht vor ihrer ersten Ballsaison. Nun kam sie als Mrs Carrington zurück, eine junge, mittellose Witwe, deren Ruf durch Skandale und Tratsch ruiniert worden war. Die Angst war ihr geblieben, aber die Hoffnung war inzwischen gestorben.

Sie beschattete die Augen und betrachtete die roten Backsteinschornsteine von Barton Park, die sich über die Baumkronen erhoben. Der Frühling lag in der Luft, und die Äste trugen bereits die ersten grünen Knospen. Früher hatte sie Barton Park im Frühling geliebt. Es war eine Zeit des Neuanfangs, der neuen Träume gewesen.

Verzweifelt wünschte sich Emma dieses Gefühl zurück. Einst war sie so neugierig auf das Leben gewesen, aber diese Neugier hatte sie nur von einer Katastrophe zur nächsten geführt, die größte davon war ihre Ehe mit Henry Carrington gewesen.

Emma schloss die Augen, um den Kummer zu unterdrücken, der sie unvermittelt überflutete. Henry. So attraktiv, so charmant, so atemberaubend. Er war wie ein Orkan gewesen, der sie von den Füßen fegte, voller Lebensfreude und aufregend romantischer Abenteuerlust.

Bis diese Lebensfreude sich in Wahnsinn verwandelt und sie immer tiefer in die Misere hineingerissen hatte. Auf ihrer endlosen Reise durch europäische Badeorte ging er keinem Kartenspiel aus dem Weg. Jedes Mal war er sich sicher, dass sich ihr Schicksal wendete und ihnen das Glück mit der nächsten Flasche Wein, dem nächsten Kartenspiel endlich hold sein würde. Am Ende hatte sie seine Besessenheit jedoch in immer schäbigere Unterkünfte geführt, in immer verrufenere Stadtviertel.

Dann war Henry bei einem Duell gestorben – durch den Schuss des Gatten einer Frau, in die er sich angeblich in Vichy verliebt hatte. Der Skandal hatte Emma keinen anderen Ausweg gelassen, als nach Barton Park zurückzukehren.

„Lass mich dir helfen“, hatte Henrys Cousin Philip gesagt und ihre Hand ergriffen, als er ihr die schreckliche Nachricht über den Ausgang des Duells überbrachte. „Ich kümmere mich um dich. Henry hätte es so gewollt. Und du weißt, wie sehr ich dich immer bewundert habe, liebste Emma.“

Philip hatte sich in der Tat immer als guter Freund erwiesen, ein Freund, der zwar mit Henry feierte, ihm aber auch Geld lieh und dafür sorgte, dass er den Weg nach Hause fand. Oft hatte er Emma besucht und sie abgelenkt, wenn sie allein und verängstigt in einer fremden Unterkunft saß, ohne Kenntnis, wann Henry zurückkehren würde. Sie schätzte Philips Freundschaft, auch wenn seine Aufmerksamkeiten manchmal die Grenze der Schicklichkeit zu überschreiten drohten.

Nachdem sie von Henrys Tod erfahren hatte, war sie so erschüttert gewesen, dass sie Philip beinahe tatsächlich erlaubt hätte, „sich um sie zu kümmern“. Fast hätte sie der Einsamkeit und Furcht nachgegeben. Dann jedoch war, wenn auch nur kurz, dieser gewisse Schimmer in seinen Augen aufgeblitzt, und das hatte ihr noch mehr Angst eingejagt. Dieser Schimmer leidenschaftlicher Besitzgier hatte auch im Blick ihres Musiklehrers Mr Milne gelegen und in dem des Schurken, der sie während eines Sturms in Barton Park entführt hatte, kurz bevor beide ihr Schmerz zugefügt hatten.

Aus diesem Grund hatte sie Philip fortgeschickt, ihren Stolz hinuntergeschluckt und ihrer Schwester geschrieben. Jane hatte sie vor Henry gewarnt und sie gebeten, ein Jahr zu warten, bevor sie einer Verlobung zustimmen wollte, worauf Emma mit Henry durchgebrannt war – der erste einer langen Reihe von Skandalen. Wie Henry wenig später hatte feststellen müssen, hatten Jane und ihr Gatte dafür gesorgt, dass er keinen Zugriff auf Emmas Mitgift und das geringe Einkommen aus dem Vermögen ihrer Mutter erhielt, worauf seine Leidenschaft für Emma abrupt erloschen war.

Jane hatte Emma gelegentlich geschrieben und sie manchmal sogar getroffen, wenn Emma mit ihrem Gatten Italien bereiste. Sie waren sich nicht völlig entfremdet, aber auf Bitten um Geld gab Jane niemals nach. „Es gehört dir, wenn du diejenige bist, die es benötigt, Emma“, hatte sie immer gesagt, worauf Henry ihr den Kontakt zu ihrer Schwester und ihrem Schwager untersagte.

Nach Henrys Tod hatte Jane ihr sofort Geld und eine Kutsche geschickt, die sie nach Hause bringen sollte. Da Jane guter Hoffnung war, konnte sie selbst nicht zu ihr reisen. Ihre Schwester würde sie nie im Stich lassen, das wusste Emma. Nur ihre Scham hatte sie bisher von Barton Park ferngehalten und sie daran gehindert, Henry früher zu verlassen. Sie fragte sich, was sie wohl hinter den Toren vorfinden würde. Murray winselte lauter und lehnte sich gegen sie. Emma tätschelte ihm lachend den Kopf.

„Tut mir leid, mein Freund“, sagte sie. „Ich weiß, es ist kalt. Wir gehen ja auch.“ Er trottete neben ihr den Hügel hinunter und sprang hinter ihr in die Kutsche. Seit ein paar Monaten machte Murray sein Alter zu schaffen; sein Fell wurde grau und die Knochen steif, dennoch wedelte er eifrig mit dem buschigen Schwanz. Er schien zu wissen, dass sie bald zu Hause sein würden.

Die Fahrt nach Barton Park führte über eine sich malerisch windende Straße, vorbei an kleinen Baumgruppen und alten Statuen. In der Ferne konnte Emma das alte Labyrinth erkennen; das weiße Kuppeldach des wiederaufgebauten Pavillons in der Mitte ragte über den Hecken auf. In der anderen Richtung erstreckten sich die Felder und Weiden von Rose Hill, dem Anwesen der Martons, und die Ruine einer alten Burg, die Emma schon immer gerne einmal erkunden wollte.

Dann kam die Kutsche zu einer Abzweigung. In der einen Richtung führte sie zu einem alten Obstgarten und einer Reihe von Cottages, in der einst die pensionierten Arbeiter von Barton Park gelebt hatten. Der andere Weg führte zum Haupthaus.

Emma beugte sich neben Murray aus dem Fenster, als Barton Park vor ihren Augen in Sicht kam. Das Haus war kurz nach der Rückkehr von König Charles II für einen seiner Höflinge erbaut worden, einem Vorfahren von Emmas Familie. Die roten, mit weißen Ziersteinen versetzten und von Efeuranken überzogenen Mauern boten einen einladenden Anblick.

Als Emma mit Jane dort gelebt hatte, vor deren Versöhnung mit Hayden, waren die Mauern bröckelig gewesen und die Gärten von Unkraut überwuchert. Nun sah alles hübsch und adrett aus. In den Rabatten sprossen die ersten Blumen, die niedrigen Hecken waren akkurat geschnitten und die neuen Statuen aus Italien strahlten in blendendem Weiß. Mehrere Gärtner gingen eifrig ihrer Arbeit nach.

So vieles hatte sich verändert, und doch war so vieles noch gleich.