Schicksalstage am Fjord - Sofie Berg - E-Book
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Sofie Berg

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Beschreibung

Das Leben in Norwegen unter der deutschen Besatzung ist gefährlich, vor allem für diejenigen, die Widerstand leisten. Nach der Verhaftung von Vater und Schwager wendet sich die junge Norwegerin Ingrid Bakken hilfesuchend an ein Mitglied der norwegischen Nazipartei und wird damit für ihre Familie zur Verräterin. Ingrid bemüht sich, das Verhältnis zu ihrer Familie zu retten - und hat Erfolg. Doch dann begegnet ihr die große Liebe - in Gestalt eines deutschen Soldaten. Wird sie es wagen, ihren Gefühlen nachzugeben?

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Sofie Berg

Schicksalstage am Fjord

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © Fotograf unbekannt:

https://www.nb.no/items/URN:NBN:no-nb_digifoto_20140808_00020_bldsa_PK18126 und Norwegische Nationalbibliothek – Nasjonalbiblioteket.

Fotografien von Anders Beer Wilse:

https://www.nb.no/items/URN:NBN:no-nb_foto_NF_W_39750

und https://www.nb.no/items/URN:NBN:no-nb_foto_NF_WF_16947

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6072-2

Widmung

Zur Erinnerung

an

Mormor und Opa

Kapitel 1

Trondheim, Februar 1942

»Astrid, sei vernünftig. Das wird bestimmt gefährlich. Der Gottesdienst ist nicht genehmigt.«

Einar Halvorsen ließ den Mantel, den er im Begriff war überzuziehen, sinken und blickte seine Frau mit gerunzelter Stirn an.

»Dann solltest wohl eher du zu Hause bleiben«, entgegnete die Angesprochene kühl, während sie ihrem jüngsten Sohn Per den Stiefel entwand, in den dieser seine kleinen Zähne gegraben hatte, als wäre er ein Hund, der einen besonders saftigen Knochen vorgesetzt bekommen hatte.

»Ich meine es ernst, Astrid«, sagte Einar mit erhobener Stimme, um Pers wütendes Gebrüll zu übertönen. »Es ist besser, wenn du bei den Kindern bleibst.«

Astrid ließ den Stiefel fallen. Unvermittelt verstummte Pers Schluchzen, und mit einem seligen Lächeln biss er erneut in das abgetragene Leder. Astrid ließ ihn gewähren.

»Du willst mir verbieten mitzukommen?«, fragte sie ihren Mann in sanftem Ton, der vom wilden Funkeln ihrer Augen Lügen gestraft wurde.

»Es ist zu gefährlich für dich«, beschied ihr Einar knapp und streifte sich den Mantel über.

»Wenn es für jemanden gefährlich wird, dann wohl für einen registrierten Kommunisten, der schon einmal von der Gestapo verhaftet wurde. Oder war es so schön im Missionshotel, dass du das Erlebnis wiederholen möchtest?«

Einars Gesicht wurde so fahl wie das winterliche Licht, das durch das Flurfenster hereinfiel. Er schluckte, doch es kam kein Laut aus seinem Mund.

»Mama«, ertönte eine helle Stimme hinter ihnen. »Holen sie Papa wieder ab?«

Astrid fuhr herum. In der Tür, die den Flur von der Küche trennte, stand ihr ältester Sohn Kjell, sein kleines hölzernes Pferd mit der Rechten fest umklammernd, und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Astrid verfluchte sich innerlich dafür, dass sie die Gegenwart der Kinder für einen Moment vergessen und sich zu ihrer unbedachten Äußerung hatte hinreißen lassen.

Eilig ging sie zu Kjell hinüber und kniete sich vor ihn. »Niemand holt Papa ab. Mama hat nicht nachgedacht. Da sagt man manchmal komische Dinge.«

Sie strich ihrem Sohn über die Wange. »Papa und ich wollen nur zum Gottesdienst in den Dom. Wir sind bald zurück. Alle beide. Das verspreche ich dir.«

Mit zuckenden Lippen sah Kjell zu seinem Vater hinüber. Einar stand da, als hätte eine Lähmung seine Glieder befallen. Sein leerer Blick verlor sich in der Ferne.

Astrid verspürte ein saures Brennen im Rachen.

Sie hätte den letzten Satz nicht sagen dürfen. Egal, wie wütend sie war, sie hätte ihn nicht sagen dürfen.

»Kjell und Per auch mit.«

Per ließ den Stiefel achtlos zur Seite fallen, krallte seine Finger in den dicken Wollstoff von Astrids Rock und zog sich daran hoch.

»Warum dürfen Per und ich nicht auch mitkommen?«, erkundigte sich Kjell.

»Das ist nichts für Kinder«, erwiderte Astrid mechanisch, als gäbe sie diese Antwort auf jede Frage, die ihr gestellt wurde.

Eine Träne lief langsam Kjells Wange hinab. »Wenn es zu gefährlich ist, dürft ihr auch nicht gehen.«

»Es ist nicht gefährlich«, sagte Einar.

Kjell knetete mit der rechten Hand die Finger seiner linken. »Aber wenn es nicht gefährlich ist, warum willst du dann nicht, dass Mama mitkommt?«

Astrid beobachtete, wie sich auf Einars Gesicht ein Kaleidoskop verschiedenster Gefühle widerspiegelte, das ihn in einen Zustand ratloser Verlegenheit versetzte. Mitleid wallte in ihr auf.

»Es werden viele Menschen da sein«, erklärte sie. »Papa hat Angst, dass wir uns in dem Gedränge aus den Augen verlieren.«

Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und wischte damit über Kjells feuchte Wangen. »Aber ich passe auf und bleibe dicht bei ihm. Das verspreche ich dir. Für kleine Kinder ist so ein Gedränge jedoch gefährlich, daher bringen wir dich und Per zu Frau Iversen.«

Kjell strahlte, als hätte seine Mutter ihm verkündet, dass der Weihnachtswichtel vor der Tür stünde. »Glaubst du, sie macht uns wieder Waffeln?«

Astrid musste ob der Begeisterung ihres Ältesten lachen. »Wer weiß, wenn ihr sie lieb bittet.«

Per gluckste beglückt. »Waffeln!«

Astrid hob ihn hoch. »Wie ich Frau Iversen kenne«, sagte sie und wirbelte Per herum, »macht sie den beiden süßesten Jungs in der Straße bestimmt Waffeln.«

Pers fröhliches Kreischen legte sich wie Balsam auf Astrids Seele.

»Weider«, rief Per und zog an Astrids Haaren, als diese schließlich erschöpft stehen geblieben war.

»Nein, das reicht für heute«, keuchte Astrid.

»Na, wie wär’s, wollen wir eine kleine Runde drehen?« Mit ausgebreiteten Armen stand Einar neben ihnen.

Per strampelte mit den Beinen. »Will Papa!«

Astrid übergab Einar ihren Jüngsten, wobei sie ihrem Mann ein liebevolles Lächeln zuwarf, von dem sie hoffte, dass er darin die Entschuldigung las, die es ihr nicht gelang auszusprechen. Eine schwere Last fiel von ihr ab, als Einar ihr Lächeln erwiderte.

Pers begeistertes Jauchzen erklomm immer neue Höhen, je schneller sein Vater ihn umherkreisen ließ. Als Einar das sehnsuchtsvolle Glänzen in Kjells Augen bemerkte, hielt er inne.

»Na komm, mein Großer. Du sollst auch fliegen.« Er hob Kjell empor und schwang den glücklich lachenden Jungen ebenfalls herum.

Astrid stellte sich vor das Fenster und sah den dreien zu, bis ein lautes Dröhnen alle Familienmitglieder in eine Schockstarre versetzte. Als ein weiterer Schlag die Haustür erzittern ließ, bückte Einar sich und stellte seine Söhne auf dem Boden ab. Während Per unverzüglich zu Astrid hinüberrobbte, umklammerte Kjell seinen Vater wie ein Ertrinkender ein Stück Treibholz. Mit sanfter Gewalt befreite Einar sich. Sogleich wollte der Junge nach seiner Hand greifen, doch Einar entzog sie ihm und wies in Astrids Richtung. Mit Tränen in den Augen folgte Kjell der väterlichen Aufforderung. Wieder wurde gegen die Tür gehämmert. Einar atmete tief durch und strich mit fahrigen Fingern seine Haare glatt. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Kjell bei Astrid angekommen war, ging er zur Tür. Erst beim zweiten Versuch fand seine Hand die Klinke. Er drückte den Rücken durch und öffnete.

Ein junger Mann, beladen mit einer alten Holzkiste, betrat die Wohnung. Mit einem Ächzen setzte er die Kiste neben sich ab. Kaum hatte er sich aufgerichtet, war Kjell bei ihm.

»Onkel Arne!«

Der Angesprochene nahm den Jungen lachend hoch und setzte ihn sich auf die Hüfte.

»Onnel Ane«, krähte Per und bewegte sich unruhig wie eine Hummel, die ins Freie wollte, in Astrids Armen hin und her.

Astrid ließ ihn zu Boden gleiten. Unverzüglich machte er sich auf den Weg zu seinem Onkel. Bei ihm angekommen, erwies sich jedoch die Kiste als die größere Attraktion. Mit einem begeisterten Schnauben trommelte er gegen das Holz.

»Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, uns so einen Schrecken einzujagen?«, herrschte Astrid ihren Bruder an. Ihre Angst war in Wut umgeschlagen.

»Ich habe mehrmals geklopft, aber niemand hat aufgemacht«, verteidigte sich Arne Bakken.

Er ging in die Knie, um Per hochzuziehen und ihn auf seiner anderen Hüfte zu platzieren.

Astrid stemmte die Hände in die Seiten. »Und das ist ein Grund, die ganze Nachbarschaft in Aufruhr zu versetzen?«

»Nun mach mal einen Punkt«, entgegnete ihr Bruder scharf. »Wie hätte ich mir denn sonst Gehör verschaffen sollen? Hier drin ging es zu wie auf dem Jahrmarkt.«

»Wir haben Flugzeug gespielt«, erzählte Kjell.

»Flugzeug?«

Arne stieß ein Brummen aus und drehte sich, unter jedem Arm einen Jungen, um die eigene Achse. Die Kinder quiekten vor Vergnügen, woraufhin Arne sein Tempo erhöhte.

Astrid betrachtete sie zunächst verärgert. Allmählich jedoch wurden ihre Gesichtszüge weicher, und um ihre Mundwinkel zuckte es. Ein Kinderfuß traf ihren Arm. Sie wich zur Seite und stieß dabei gegen die hölzerne Kiste. Eine Woge von Schmerz rollte durch ihre Zehen. Geräuschvoll atmete sie aus. Nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, beäugte sie die Kiste voller Misstrauen.

Warum schleppte Arne eine derartig schwere Kiste mit sich herum? Hatte er für die Kinder Spielzeug angefertigt? Aber Weihnachten war lange vorbei, und bis zu ihren Geburtstagen dauerte es noch eine Weile.

Ein Gedanke, der ihr Herz schneller schlagen ließ, machte sich in ihr breit.

Das würde er doch nicht wagen? Arne war zwar für sein ungestümes Handeln bekannt, aber er war kein rücksichtsloser Egoist, der seine Familie wissentlich in Gefahr brachte.

Sie blinzelte und bemühte sich, die beunruhigenden Vermutungen über den Inhalt der Kiste zu verdrängen. Wie Wasser aus einem löchrigen Eimer quollen sie jedoch umgehend hervor.

Sie musste herausfinden, was in der Kiste war. Einar hatte für seine Überzeugung schon genug bezahlt.

Astrid beugte sich vor. Kaum hatten ihre Hände den Deckel der Kiste berührt, wurde ihr Arm nach oben gerissen.

»Hat man dir nicht beigebracht, nicht an fremde Sachen zu gehen?«, knurrte Arne. Sein Gesicht hatte jegliche Freundlichkeit verloren.

»Lass mich sofort los«, fauchte Astrid. »Du tust mir weh.«

Ohne ein Wort der Entschuldigung ließ Arne ihren Arm fallen.

»Was ist bloß in dich gefahren?«, blaffte Astrid ihren Bruder an. »Schleppst ungefragt diese Kiste an und gebärdest dich dann wie ein Verrückter, wenn sich ihr jemand nähert.« Sie verzog spöttisch den Mund. »Sind da etwa Goldbarren drin?«

Kjell sprang freudestrahlend auf und ab. »Goldbarren, echt Onkel Arne?«

Per sah seinen Bruder zunächst erstaunt an, bevor er Anstalten unternahm, dessen Beispiel zu folgen. Kaum hatte er sich aufgerichtet, fiel er wieder hin. Dabei riss er Kjell mit sich. Laut schreiend begannen sich die beiden Jungen auf dem Fußboden umherzuwälzen.

»Ihr seid mir vielleicht zwei«, sagte Arne lachend und ging neben den beiden in die Hocke.

Es war, als hätten die Jungen nur darauf gewartet. Blitzschnell lösten sie sich voneinander und hängten sich wie zwei kleine Kletteräffchen an ihren Onkel. Arne, von diesem Angriff überrascht, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Der Erfolg stachelte die Jungen an. Sie setzten sich auf Arnes Bauch und begannen darauf auf und ab zu hüpfen wie auf einem Gummiball. Arne ließ sie mit einem stöhnenden Lachen gewähren.

Die Fröhlichkeit ihrer Söhne rührte eine Saite in Astrids Inneren, die seit dem vergangenen Oktober nur noch sehr selten erklang.

Doch wie lang hielte diese Fröhlichkeit an?

Neue Wut loderte in ihr auf.

Was fiel ihrem Bruder ein, wie der Hammer schwingende Thor bei ihnen einzufallen und sie, wenn sie mit ihrer Annahme richtig lag, einer Gefahr auszusetzen, die sie alle wie eine gewaltige Lawine überrollen würde?

Sie klatschte in die Hände. »Aufhören!«

Weder Arne noch die Jungen zeigten den Anflug einer Reaktion. Sie schlug die Hände stärker gegeneinander.

»Hört sofort mit dem Gehopse auf und kommt von eurem Onkel herunter.« Der Zorn ließ ihre Stimme erbeben. »Wir sind hier nicht im Irrenhaus.«

Kjell hielt erschrocken inne und kletterte von seinem Onkel herunter.

»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

Astrid zerrte heftig an dem nach wie vor auf und ab hüpfenden Per, dass dieser vor Schmerz aufschrie.

»Nun reg dich nicht auf«, bemühte Arne sich, seine Schwester zu beschwichtigen. »Das sind Jungs. Die toben nun einmal gerne.«

»Willst du mir vorschreiben, wie ich meine Kinder zu erziehen habe?«, fragte Astrid, der es gelungen war, Per von seinem Onkel zu trennen und auf den Arm zu nehmen.

»Natürlich nicht«, erwiderte Arne und stand auf. »Ich finde nur, du solltest deinen Ärger auf mich nicht an den Jungs auslassen. Das ist kindisch.«

Er warf seinem Schwager einen Blick zu, in dem die stumme Bitte um Unterstützung lag, doch dieser hatte sich zu Kjell hinuntergebeugt und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kjell sah zu seiner Mutter hinüber und lief dann hastig in die Küche.

Astrid vergaß die harschen Worte, die sie ihrem Bruder ins Gesicht hatte schleudern wollen. Die Angst in Kjells Augen, als er sie angesehen hatte, hatte sie wie ein kräftiger Regenschauer getroffen und das Feuer der Wut in ihr zum Erlöschen gebracht.

Was war sie für eine Mutter, die ihren Kindern nicht einmal ein bisschen Fröhlichkeit in diesen schweren Zeiten gönnte?

Unvermittelt drang Pers Schluchzen in ihr Bewusstsein. Sie wollte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange geben, doch Per entwand sich ihr.

»Will Papa«, brüllte er.

»Komm, gib mir Per«, sagte Einar in demselben begütigenden Tonfall, den er benutzte, wenn die Kinder einen ihrer Trotzanfälle hatten.

Stumm leistete Astrid seiner Aufforderung Folge.

Arne strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Na komm schon, Astrid. So schlimm war es nicht. Wir sollten froh sein, dass den Kindern in diesen Zeiten das Lachen noch nicht vergangen ist.«

Auch wenn Arne nur das aussprach, was Astrid eben noch selbst gedacht hatte, war sie nicht fähig, dies laut einzugestehen.

»Wir Jungs müssen manchmal über die Stränge schlagen«, erklärte Arne mit einem schelmischen Grinsen.

Astrid fühlte, wie ein Lächeln in ihr aufstieg. Rasch wandte sie sich ab, damit ihr Bruder es nicht zu sehen bekam.

»Wenn wir pünktlich beim Gottesdienst sein wollen, müssen wir jetzt los«, mahnte Einar und rieb seine Nase an Pers Bauch, dass dieser auflachte. »Wir müssen die Jungs schließlich noch zu Frau Iversen bringen, damit sie ihre Waffeln bekommen.«

Arne kratzte sich am Hinterkopf. »Seit wann geht ihr sonntags in die Kirche? Zumal der reguläre Gottesdienst schon längst vorbei ist. Und für eine Hochzeit oder Taufe seid ihr, mit Verlaub gesagt, doch etwas zu gewöhnlich angezogen.«

»Wir gehen zum Elf-Uhr-Gottesdienst«, verkündete Astrid.

Arne schaute ungläubig auf seine Armbanduhr.

Astrid sah ihren Mann an. Einar nickte und verließ mit Per den Flur.

»Wir müssen doch noch deinen Bären holen«, hörten sie ihn im Hinausgehen zu Per sagen.

»Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?«, fragte Astrid ihren Bruder, nachdem Einars Stimme verklungen war.

Arne fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Astrid, ich bin hundemüde. Mir steht wirklich nicht der Sinn nach Ratespielen.«

Er ließ die Hand sinken und seufzte, als seine Schwester nicht gewillt schien weiterzusprechen. »Heute ist der 1. Februar, na und?«

»Und das von jemandem, der anderen ihr fehlendes Interesse an der Politik vorwirft.«

»Verrätst du mir endlich, was es mit dem Gottesdienst auf sich hat oder muss ich Einar nachgehen?«

Astrid zwang sich, die rüde Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken.

»Der reguläre Gottesdienst im Nidarosdom ist ausgefallen«, flüsterte sie so leise, dass Arne sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Stattdessen gab es einen Festgottesdienst, um Quislings Amtsantritt zu feiern.« Sie schürzte die Lippen. »Selbstverständlich mit einem NS-Pastor.«

Arnes Gesicht ähnelte einer Gewitterwolke vor der Entladung.

»Bischof Fjellbu will sich aber nicht aus seiner Kirche vertreiben lassen«, fuhr Astrid fort. »Darum hat er seinen Gottesdienst einfach auf eine spätere Uhrzeit verschoben.«

Arne verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln, das an einen Wolf erinnerte, der seine Beute in Augenschein genommen hatte.

»Ich verstehe. Unter den Umständen komme ich natürlich mit. Die Nasjonal Samling soll merken, dass die Mehrheit der Norweger von ihr und ihrer Terboven-Marionette Quisling nichts wissen will.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als Kjell in den Flur gerannt kam, in der einen Hand sein Holzpferd, in der anderen ein hölzernes Spielzeugauto. »Darf ich das mit zu Frau Iversen nehmen, Mama?«

»Natürlich. Aber jetzt musst du dich anziehen.« Astrid nahm Kjells Jacke vom Haken. »Sonst kommen Papa, Onkel Arne und ich zu spät zur Kirche.«

»Onkel Arne geht auch mit?«, fragte Kjell enttäuscht, während Astrid ihm die Jacke zuknöpfte. Er schaute seinen Onkel flehend an. »Warum kommst du nicht mit zu Frau Iversen? Da ist es nicht so langweilig wie in der Kirche.«

Bevor Astrid ihren Sohn zurechtweisen konnte, war Arne vor Kjell in die Hocke gegangen und kniff ihn leicht in die Nase.

»Man darf nicht auf diese Weise über die Kirche reden. Manchmal kann es sehr wichtig sein hinzugehen.«

Er schob seinen Mund an Kjells Ohr. »Auch wenn ich schon ein paar Mal eingeschlafen bin, weil es so langweilig war«, raunte er.

Kjell lachte auf, schlug sich jedoch angesichts des strafenden Blicks seiner Mutter eilig die Hand vor den Mund.

Arne erhob sich. »Aber du solltest mit zu Frau Iversen gehen, Astrid.«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Ich gehe mit zum Dom, ob euch das passt oder nicht.«

Arne sah zu Einar, der eben mit Per in den Flur trat. Sein Schwager zuckte nur mit den Schultern.

»Astrid, wer weiß, wie das alles …«, setzte Arne erneut an, verstummte jedoch, als er merkte, dass ihn vier Kinderaugen aufmerksam beobachteten. Er atmete tief durch. »Es könnte länger dauern. Und wer kümmert sich dann um die Kinder?«

»Die sind bei Frau Iversen in den besten Händen.«

»Astrid, sei vernünftig.«

»Ich bin immer vernünftig.« Astrid richtete ihre Augen auf die hölzerne Kiste. »Was man von anderen nicht sagen kann.«

Was bildete Arne sich ein, sie vom Kirchenbesuch abhalten zu wollen, wo er die Gefahr vermutlich selbst in ihre Wohnung gebracht hatte?

»Ich denke, wir sollten jetzt gehen«, mischte sich Einar ein.

»Moment mal! Und was wird aus der Kiste?«

Keiner der Männer schenkte Astrids Frage Beachtung. Arne stopfte sich Kjells Spielzeug in die Jackentaschen, packte seinen Neffen und schwang ihn sich auf den Rücken.

»Was meinst du, wollen wir den anderen zeigen, wer der Schnellste in der Familie ist?«

Er bekam einen begeisterten Jubelschrei als Antwort.

»Ich auch. Ich auch«, begehrte Per.

»Wenn du so groß wie Kjell bist«, versprach Einar und umfasste seinen Sohn eine Spur fester. »Stell dir vor, du fällst hinunter. Dann isst Kjell die ganzen Waffeln alleine auf.«

»Schnell, will Waffeln«, schrie Per und zeigte in die Richtung, in die Onkel und Bruder aufgebrochen waren.

Einar lachte. »Zu Befehl, mein Herr.«

Ihren Mantel erst zur Hälfte zugeknöpft, folgte Astrid Mann und Sohn in den Hausflur.

»Warte, Einar. Was ist mit der Kiste? Soll die da einfach so stehen bleiben?«

»Lass doch endlich diese verdammte Kiste, Astrid.«

Astrid drängte sich an ihrem Mann vorbei und stellte sich, den Rücken zur Treppe gewandt, vor ihn. »Hat Arne das mit dir abgesprochen?«

Einars schiefergraue Augen verdunkelten sich, dass sie fast schwarz wirkten. »Arne ist dein Bruder, da ist es selbstverständlich, dass er seine Sachen eine Zeit lang bei uns unterstellen kann.«

»Waffeln«, rief Per.

»Jetzt nicht«, schrie Astrid ihn an.

Per fuhr zusammen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»In der Kiste befindet sich Arnes Skiausrüstung«, sagte Einar und schaute seine Frau an, als hätte sie ihrem Sohn die letzte Milch weggetrunken.

Astrids Unterkiefer sackte nach unten. »Seine Skiausrüstung?«

»Ja, seine Skiausrüstung. Arne will sie einem Kameraden leihen, dessen Skier gebrochen sind.«

Astrid zog ihre Augenbrauen so weit nach oben, dass ihre Stirn einem umgepflügten Feld nach der Frühjahrsbestellung glich. »Und warum bringt Arne die Skier nicht direkt zu ihm?«

»Weil sein Kamerad heute nicht in der Stadt ist, die Skier aber nächstes Wochenende braucht, um zu einer Geburtstagsfeier nach Ranheim zu fahren. Die Arbeitsstelle des Mannes ist hier in der Nähe. So muss er unter der Woche nicht bis nach Øya raus, um die Skier zu holen.«

Unter ihnen wurde eine Tür geöffnet und Stimmen drangen herauf.

»Brauchst du weitere Erklärungen?«

Astrid zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. Einar ging um sie herum und stieg die Treppe hinab. Astrid hörte, wie er unten die Nachbarn begrüßte und mit ihnen einige Bemerkungen über die eisige Kälte sowie die schlechte Versorgungslage austauschte. Wenig später fiel die Haustür ins Schloss und Stille senkte sich über das Haus.

Nur in Astrids Innerem kehrte keine Ruhe ein.

Was sollte sie tun?Wenn sie nach oben ginge, bewiese sie, dass sie ihrem Ehemann nicht vertraute.

War Einars Erklärung nicht einleuchtend gewesen?

Skier waren im Winter ein wichtiges Fortbewegungsmittel. Wer keine besaß, um den stand es schlecht in Zeiten des Mangels, wo sich selbst die einfachsten Dinge des täglichen Bedarfs nur schwer oder gar nicht beschaffen ließen.

Doch wenn wirklich nur Skier in der Kiste waren, warum war ihr Bruder dermaßen erpicht darauf, die Kiste verschlossen zu halten?

Bilder tauchten vor Astrids innerem Auge auf, Bilder, die sie am liebsten vergessen hätte, von denen sie aber wusste, dass sie sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.

Sie waren an einem Oktoberabend gekommen. Die Kinder hatten schon geschlafen. Auch das Hämmern an der Tür hatte sie nicht geweckt. Erst als die norwegischen Polizisten, die die beiden Deutschen in den dunklen Ledermänteln begleitet hatten, die Wohnung durchsuchten, war Kjell wach geworden. Mit schreckgeweiteten Augen hatte er in seinem Bett gesessen und die Männer angesehen. Sie hatte ihn rasch auf den Arm genommen und hin und her gewiegt.

Ohnmächtig hatten sie mitansehen müssen, wie die Männer Einar abführten. Im Vergleich zu den Eindringlingen hatte er seltsam schmächtig gewirkt, obwohl er doch eigentlich ein kräftig gebauter Mann war. Lag es daran, dass er nur seinen Schlafanzug angehabt hatte? Trotz der schon frostigen Temperaturen hatten die Deutschen ihm nicht gestattet, einen Mantel überzuziehen. Oder ließ die Macht, einfach in eine Wohnung eindringen und jemanden mitnehmen zu können, alle anderen zwangsläufig kleiner und schwächer aussehen?

Nach einigen Wochen hatten die Deutschen Einar wieder freigelassen. Die Angst war jedoch geblieben. Die Angst, dass die Männer wiederkamen. Es gab kein Gesetz, das sie daran hindern konnte. Und selbst wenn es das gäbe, es wäre das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben war.

Seit dem 9. April 1940 galt das Recht des Stärkeren, das Recht der Besatzer. Und daran würde sich so rasch nichts ändern. Die selbst ernannten Herrenmenschen eilten von einem Erfolg zum anderen. Fast ganz Europa hatten sie schon unterjocht. In Trondheim gab es kaum einen Ort, wo sie einem nicht über den Weg liefen. Überall traf man auf ihre Schilder mit Anweisungen und Verboten. Verbote, darin waren sie gut die Deutschen. Ob es um Radio hören oder öffentliches Tanzen ging, alles war verboten.

Dennoch waren nicht die Fremden, die dachten, die Welt gehörte ihnen, das Schlimmste. Das Schlimmste waren ihre norwegischen Helfer, die in ihrem Bemühen Teile vom Kuchen der Macht abzubekommen, keine Mühe scheuten, das wahre und aufrechte Norwegen zu zerstören.

Quisling. Wenn es je ein Wort für einen Verräter gegeben hatte, dann war es der Name des Anführers der Nasjonal Samling und neuen norwegischen Ministerpräsidenten, dessen Amtseinführung an diesem Morgen in der Domkirche von seinen Anhängern gefeiert worden war.

Astrid grub ihre Fingernägel tief in das weiche Fleisch der Handinnenflächen.

Quisling und seinen Anhängern musste ein Zeichen gegeben werden. Sie durften sich nicht auch noch die Kirche einverleiben.

Sie stieg die Treppe hinunter. Vor der Haustür blieb sie jedoch unvermittelt stehen und blickte nach oben. Dann hastete sie zurück in die Wohnung, wo sie auf die Kiste zusteuerte und den Deckel aufklappte, nur um ihn sogleich wieder fallen zu lassen. Ihr Herz raste wie ein Schlitten auf Talfahrt.

Er hatte es gewagt und das Verderben in ihre Wohnung gebracht. Am liebsten hätte sie die Kiste genommen und aus dem Fenster geworfen. Das wäre selbstverständlich ein abwegiges Unterfangen. Zum einen machte sie damit auf sich aufmerksam, zum anderen war die Kiste zu schwer, als dass sie sie auch nur einen Meter weit tragen konnte. Im Flur stehen lassen konnte sie sie aber auch nicht. Damit forderte sie das Schicksal heraus, sie erneut heimzusuchen.

Mit einiger Mühe gelang es Astrid, die Kiste in die Stube zu schieben. Aus dem wuchtigen Wandschrank holte sie eine bestickte Decke heraus und breitete sie auf der Kiste aus. Nachdem sie noch einen Kerzenhalter und eine Vase auf dem Deckel drapiert hatte, wirkte die Kiste wie ein Möbelstück, das schon immer an diesem Platz gestanden hatte.

Nachdem Astrid sich mit einem allerletzten Blick vergewissert hatte, dass zumindest der erste Anschein nichts Verdächtiges erahnen ließ, verließ sie endgültig die Wohnung.

Kapitel 2

Trondheim, Februar 1942

Ingrids Füße fühlten sich an wie zwei Stücke Eis, die sich beim Durchschreiten einer eisigen Steppe an sie geheftet hatten und sich nun nicht mehr abstreifen ließen. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon wartete. Wenn ihr jemand erzählen würde, dass sie es bereits seit gestern täte, hätte sie nicht widersprochen. Dennoch war erst eine gute halbe Stunde vergangen, seit sie aus der Straßenbahn gestiegen war und sich in die Kette von Frauen eingereiht hatte, die in beißender Kälte vor dem Kolonialwarenladen in der Klostergata ausharrte.

Ingrid verschränkte die Arme vor der Brust und rieb mit den in wollenen Fäustlingen steckenden Händen über ihre Oberarme. Es half nicht viel. Jeder einzelne ihrer Knochen schien mit einer dicken Frostschicht umhüllt zu sein. Sie bereute es, dass sie nicht noch den dicken Strickpullover untergezogen und ein zusätzliches Paar Handschuhe mitgenommen hatte.

Nur an den kalten Füßen hätte sie nichts ändern können. Ihre Winterstiefel hatten derartig viele Löcher, dass sie mit ihnen noch schlechter dran gewesen wäre als mit den dünnen Lederschuhen, die sie stattdessen trug.

Zum wiederholten Male fragte sie sich, welcher irrwitzige Troll sie dazu gebracht hatte, sich bereit zu erklären, auf dem Rückweg von der Arbeit einkaufen zu gehen. Sämtliche Bedenken ihrer Mutter, dass es ohne Winterstiefel dafür zu kalt wäre, hatte sie kleingeredet.

Sie war sich wie eine Abenteuerin vorgekommen, kühn und unerschrocken, die aufbrach, um ihrer Familie den ersehnten Schatz zu bringen. Zwar war dieser Schatz nur ein Stück Ersatzmargarine, doch in diesen Tagen, wo das einzig Verlässliche im Alltag der Mangel war und auch eine ausreichende Anzahl von Marken nicht garantierte, dass man das darauf Aufgedruckte auch erhielt, reichte so etwas schon aus, um eine Familie glücklich zu machen.

Die Schlange rückte wieder ein paar Zentimeter vor. Erleichtert erkannte Ingrid, dass es nicht mehr weit bis zur Ladentür war.

Bald konnte sie sich wenigstens ein wenig aufwärmen. Das Allerwichtigste war allerdings, endlich die Margarine in Händen zu halten.

Sie malte sich aus, wie sie nach Hause kam und ihrer Familie ihren mühsam errungenen Schatz präsentierte.

Vater und Bruder wären endlich einmal stolz auf sie und würfen ihr nicht länger vor, nur die Versorgung des Feindes im Sinn zu haben.

Eine heiße Welle des Zorns durchflutete sie und ließ sie die Eiseskälte für einen Moment vergessen.

Warum wurde sie aufgrund ihrer Arbeit in einer Konservenfabrik, die gezwungen war, den Großteil ihrer Produktion nach Deutschland zu schicken, der Unterstützung des Feindes angeklagt, während ihre Vettern, die für die Besatzer Baracken, Flugplätze und Straßen bauten, auf, wenn auch oft nur zähneknirschendes, Verständnis stießen?

Wenn das Politik war, dann war sie froh, dass sie sich nie dafür interessiert hatte.

»Weitergehen«, herrschte eine tiefe Frauenstimme Ingrid an.

Ehe Ingrid der Aufforderung entsprechen konnte, wurde sie von hinten angestoßen. Ihre glatten Sohlen rutschten auf dem gefrorenen Untergrund wie zwei Schlittschuhe hin und her. Verzweifelt kämpfte sie darum, das Gleichgewicht zu bewahren, schaffte dies aber erst, als jemand sie von hinten umfasste und festhielt. Der keuchende Atem an ihrem Ohr verriet die Anstrengung, die das ihren Retter kostete. Auch Ingrid atmete schwer, und es verging eine knappe Minute, bis sie sich in der Lage sah, sich ihrem unbekannten Helfer zuzuwenden.

»Solveig«, rief sie überrascht aus.

Ihre alte Schulfreundin grinste sie an. »Mit dieser Nummer nähmen sie dich glatt im Zirkus auf, Ingrid.«

Verlegen zupfte Ingrid an ihren Handschuhen.

»Wird’s jetzt mal was mit dem Weitergehen«, murrte die Frau hinter ihnen, eine verhärmt aussehende Mittfünfzigerin mit dicken Tränensäcken unter den Augen. »Wenn ich nicht mehr drankomme, sind Sie dafür verantwortlich, mein Fräulein.«

Gehorsam machte Ingrid Anstalten sich umdrehen.

»Nicht so schnell, Ingrid.« Solveig hielt sie am Arm fest. »Wenn hier einer verantwortlich ist, dann sind es wohl Sie«, herrschte sie die verhärmt aussehende Frau an. »Hätten Sie meine Freundin nicht angestoßen, wäre sie gar nicht erst ins Rutschen gekommen.«

»Das ist doch die Höhe«, empörte sich die Angesprochene und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. »Ihre Freundin steht hier rum wie eine Träumerin, die nichts Gescheites mit sich anzufangen weiß. Da denken die im Laden doch, hier draußen sind keine Kunden mehr. Ich habe fünf hungrige Mäuler daheim zu stopfen. Aber von so etwas habt ihr jungen Dinger ja keine Ahnung.«

Von weiter hinten war immer deutlicher ärgerliches Gemurmel zu vernehmen. »Ist doch egal«, schrie eine. »Hauptsache, es geht weiter und wir frieren uns nicht den Hintern ab.« Gelächter antwortete ihr.

»Wir gehen weiter«, sagte Solveig, »wenn Sie sich entschuldigen. Meine Freundin hätte stürzen und sich ein Bein brechen können.«

Wie eine Kerze, die in Brand gesteckt wurde, glomm der Zorn aufs Neue in den Augen der Getadelten auf. Ehe sie ihrer Wut jedoch Ausdruck verleihen konnte, flüsterte die Frau hinter ihr ihr etwas ins Ohr.

Trotz der Kälte begann sich unter Ingrids Achseln Feuchtigkeit zu sammeln. »Lass gut sein, Solveig«, stieß sie heiser hervor. »Das Wichtigste ist, dass wir heute noch alle drankommen und unsere Margarine erhalten.«

Ihre Worte trafen auf keinen Widerhall. Die Arme über der Brust verschränkt starrte Solveig die ältere Frau unverwandt an.

»Es ist sehr nett, dass du mir geholfen hast, Solveig. Sonst hätte ich hier tatsächlich eine Zirkusvorstellung geboten.« Ein mühsames Lachen, das an das Schaben einer Grammofonnadel über den Lack einer Schallplatte erinnerte, entrang sich Ingrids Kehle.

Erneut erntete sie keine Reaktion. Solveigs gesamte Aufmerksamkeit blieb auf die verhärmt aussehende Frau gerichtet.

»Entschuldigung«, stieß diese gepresst hervor. Sie wirkte, als hätte sie in einen faulen Apfel gebissen.

Ingrid ertrug den Anblick nicht und wandte den Kopf ab.

Wäre es sehr unhöflich, wenn sie einfach ginge?Aber dann käme sie ohne Margarine heim.

Am Rande ihres Blickfelds nahm sie unvermittelt eine vertraute Gestalt war. Sie blinzelte, in der Hoffnung, dass ihr ihre Sinne nur einen Streich gespielt hatten.

Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen. Mit derart raumgreifenden Schritten, als gäbe es nichts auf der Welt, vor dem er sich fürchten musste, ging nur ein Mann auf Øya.

Das Netz widerstreitender Gefühle, das Ingrid eben noch gefesselt hatte, zerriss. Sie rief Solveig über die Schulter einen hastigen Dank zu und marschierte die Klostergata entlang. Auf Höhe von Klosterengen zwang sie ein harter Griff um den Arm zum Stehenbleiben. Obwohl sie nicht davon ausgegangen war, es vor ihrem Bruder nach Hause zu schaffen, fuhr ihr dennoch ein gehöriger Schreck in die Glieder, und ein weiteres Mal rutschten ihre Schuhe an diesem Nachmittag über den hart getretenen Schnee, als glitten sie über Schmierseife.

»Meine Güte, Ingrid, mit was für Schuhen rennst du denn rum?« Arne Bakken umschlang seine Schwester, als wäre sie ein Schrank, den er an einen anderen Platz zu stellen beabsichtigte. »Ist dir entgangen, dass wir immer noch Winter haben?«

Ingrids Schrecken verwandelte sich in Ärger. »Natürlich weiß ich das. Denkst du, ich bin blöde? Es hat aber nicht jeder heile Winterstiefel.«

Zufrieden darüber, in einer Auseinandersetzung mit ihrem Bruder einmal die Oberhand gewonnen zu haben, befreite sie sich aus Arnes Umklammerung und ging weiter. Kurz vor der Abzweigung zur Margrethes gate holte er sie ein. Er passte die Länge seiner Schritte den ihren an und ging stumm neben ihr her. Erst als ihr Haus schon zu sehen war, begann er zu sprechen.

»Habe ich vorhin richtig gesehen? War das Solveig Aasen, mit der du da vor dem Laden gestanden hast?«

Sollte sie leugnen, dass es sich um Solveig gehandelt hatte? Wenn allerdings jemand aus der Nachbarschaft unbemerkt an ihr vorbeigegangen war, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Familie von dem Vorfall vor dem Kolonialwarenladen erführe.

Arne fasste das Schweigen seiner Schwester als Bestätigung auf. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass Solveig Aasen kein Umgang für dich ist, Ingrid?«

»Sie ist zufällig vorbeigekommen, als ich dort stand.«

»Zufällig«, echote Arne spöttisch. »Und zufällig hast du dich dann bemüßigt gefühlt, dich mit ihr zu unterhalten?«

Ingrid blieb stehen. »Ich bin ausgerutscht«, zischte sie. »Du hast selbst gesagt, dass meine Schuhe für den Schnee nicht geeignet sind. Solveig hat verhindert, dass ich stürze und mir ein Bein breche. Dafür habe ich mich bedankt, wie es sich für eine gute Norwegerin gehört.«

Arne beugte sich zu ihr hinunter, sodass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. »Für eine gute Norwegerin gehört es sich, keinen Umgang mit Mitgliedern der Nasjonal Samling zu pflegen, sie nicht einmal zu grüßen oder anzulächeln.«

»Du weißt, dass ich mit der Nasjonal Samling nichts am Hut habe. Sonst wäre ich wohl kaum mit zum Fjellbu-Gottesdienst gekommen.«

Schnaubend richtete Arne sich auf. Die Nebelwolke seines Atems schwebte durch die frostige Luft. »Eine einmalige Teilnahme an einem nicht genehmigten Gottesdienst ist noch lange kein Beweis dafür, dass man ein Jøssing ist. Außerdem bist du nur mitgekommen, weil du dich nicht getraut hast, den Eltern zu widersprechen.«

»Das ist nicht wahr. Ich wäre in jedem Fall gegangen.«

Völlig überzeugt war sie davon allerdings nicht. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt für ein derartiges Eingeständnis.

»Wenn ich wirklich für die NS wäre, wäre ich beim Elf-Uhr-Gottesdienst gewesen«, redete sie hastig weiter, »anstatt eine Verhaftung oder eine Verletzung zu riskieren, indem ich zu Bischof Fjellbus Gottesdienst gehe.«

»Und warum bist du noch mit dieser Aasen befreundet?«

»Wir sind gar nicht mehr befreundet.«

Arne zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe, als hätte Ingrid ihm eröffnet, dass sie eine Polarexpedition plante.

»Naja, fast nicht«, räumte Ingrid ein. »Wir treffen uns sehr selten.«

»Einmal ist schon zu viel. Du scheinst nicht verstanden zu haben, worum es hier geht. Wenn wir den Quislingen nicht die kalte Schulter zeigen, denken sie, wir sind damit einverstanden, dass sie unser Land an die Deutschen verraten.«

»Aber Solveig tut so etwas nicht. Sie ist nur in die NS eingetreten, damit die Familie ihr Radio behalten konnte. Sie hat nie jemandem geschadet.«

Arne schüttelte ob des Gesagten fassungslos den Kopf.

Begriff seine Schwester nicht, dass man mit der Mitgliedschaft in der Nasjonal Samling ganz klar zeigte, auf wessen Seite man stand, nämlich auf der Seite derjenigen, die mit den Besatzern gemeinsame Sache machten, um Norwegen zu unterjochen und auszuplündern?

Solveig war schließlich volljährig und konnte von niemandem gezwungen werden, Parteimitglied zu sein.

Er überlegte, ob er seiner Schwester das vor Augen halten sollte, bezweifelte allerdings, dass dieser Versuch von Erfolg gekrönt wäre.

Weder in Bezug auf ihre Arbeitsstelle in der vermaledeiten Konservenfabrik, die dafür sorgte, dass diese Herrenmenschen gut versorgt ihre Verbrechen fortsetzen konnten noch auf ihren Umgang mit Solveig Aasen ließ sie sich von den Eltern oder ihm etwas sagen. Sie hatte eine Sturheit entwickelt, die ihn schon oft zur Raserei getrieben hatte, sodass er manches Mal kurz davor gewesen war, die Hand gegen seine eigene Schwester zu erheben.

Tun würde er es selbstverständlich nie. Und das lag nicht nur daran, dass er prinzipiell keine Frauen schlug. Er liebte seine Schwester, allen Umständen zum Trotz.

Er erinnerte sich, wie Ingrid ihm, dem zwei Jahre Älteren, in der Kindheit wie ein kleines Hündchen gefolgt war.

In allem hatte sie ihm nacheifern wollen, ob es sich um das Klettern auf Bäume oder das Pflücken von Johannisbeeren in fremden Gärten gehandelt hatte. Ingrid war auch nicht davor zurückgeschreckt, es ihm und seinen Freunden gleichzutun und heimlich hinten auf einem der Wagen mitzufahren, die von Nidarø kommend die hügelige Klostergata hinauftuckerten. Einmal hatte sie dabei den richtigen Zeitpunkt zum Absprung verpasst und war erst hinter der Steigung, als der Wagen schon Fahrt aufgenommen hatte, hinuntergesprungen. Das Ergebnis waren aufgeschlagene Knie und ein verschmutztes Kleid voller Risse gewesen. Er hatte sich gezwungen gesehen, seine weinende Schwester nach Hause zu bringen, wo er von den Eltern, nachdem Ingrid das Erlebnis, das zu ihren Blessuren geführt hatte, nicht hatte verschweigen können, ausgeschimpft und mit Hausarrest bestraft worden war. Am meisten hatte ihm allerdings der Spott seiner Freunde zugesetzt, die ihn schon zuvor unentwegt wegen seines Schoßhündchens, wie sie seine Schwester nannten, gehänselt hatten.

Wenn er ehrlich war, hatte ein Teil von ihm es aber auch genossen, von seiner kleinen Schwester bewundert zu werden, als könnte er ihr den Himmel auf die Erde hinabholen. Es war auf jeden Fall besser als ihr gegenwärtiger Eigensinn, der ihr oft die Züge einer Fremden verlieh.

Arne scharrte mit den Stiefeln über den hart gefrorenen Schnee, auf dem die Eiskörner in der hereinbrechenden Dämmerung wie kleine Kieselsteine glitzerten.

Auch wenn Ingrid keine Anhängerin der Nasjonal Samling sein mochte, war die Sache damit nicht abgetan. Wollten sie ihr Land wiederhaben, mussten sie alle geschlossen gegen die Besatzer und ihre norwegischen Helfer zusammenstehen. Wenn einer aus der Reihe hinaustrat, und sei es nur, indem er mit einem Quisling sprach oder ihn anlächelte, fügte er allen anständigen Norwegern, allen Jøssingen, Schaden zu. Daran änderte selbst die Teilnahme an einem Protestgottesdienst nichts, der lange nicht so gefährlich gewesen war, wie ihn seine Schwester geschildert hatte. Die Polizisten hatten nur zu Anfang ihre Knüppel geschwungen, danach hatten sie sich zurückgezogen und die Menschen ihre Lieder singen lassen. Sicher, es hätte auch anders ausgehen können, wenn sie nicht so viele gewesen wären. Doch auch das änderte nichts an der Tatsache, dass Ingrid, solange sie mit Solveig Aasen Umgang pflegte, sich und die gesamte Familie der Gefahr aussetzte, im besten Falle als Gestreifte, Menschen, die sich um des eigenen Vorteils willen mit dem Feind einließen, im schlimmsten Falle als Verräter gebrandmarkt zu werden.

»Wie kannst du überhaupt mit so einer sprechen? Ihr Vater ist bei der Staatspolizei und ihre deutsche Stiefmutter lädt sogar SS-Leute zu ihren Festen ein.«

Bei Solveig Aasen war das Böse so wenig zu übersehen wie die Schwärze des Himmels bei Nacht. Warum nur begriff seine Schwester das nicht?

»Aber das ist doch nicht Solveigs Schuld.« Ingrid kam sich vor wie eine Schallplatte, die ihren Text zum hundertsten Mal abspielte. »Was soll sie denn machen? Sich von ihren Eltern lossagen? Du weißt selbst, wie schwer es ist, in der Stadt eine Wohnung zu finden.«

»Ich glaube kaum, dass das für Fräulein Aasen ein Problem sein dürfte. Ihr Chef ist ihr bestimmt gerne behilflich. Schließlich haben die Deutschen nicht umsonst so viele Häuser und Wohnungen beschlagnahmt.«

Ingrid wusste nicht, was sie dem entgegnen sollte.

Auch ihr stieß Solveigs Tätigkeit für die Deutschen bitter auf. Ein einziges Mal hatte sie versucht, mit der Freundin darüber zu sprechen. In der Folge hatten sie eine der wenigen ernsthaften Auseinandersetzungen ihrer jahrelangen Freundschaft gehabt.

Solveig hatte die Vielzahl von Männern, die für die Besatzer arbeiteten, angeführt. Warum sollte nicht auch sie, eine Frau, die Gelegenheit nutzen, endlich einmal gutes Geld zu verdienen? Und regte nicht auch Ingrid sich darüber auf, dass ihre Arbeit in der Konservenfabrik im Gegensatz zu der ihrer Vettern auf deutschen Baustellen auf das Unverständnis ihrer Familie stieß?

»Arne, Ingrid, seid ihr das?«

Aus dem Grau der Dämmerung tauchte eine Frauengestalt auf, deren weitere Worte in einem schweren Hustenanfall untergingen.

Mit einem Satz war Arne bei seiner Mutter und klopfte ihr auf den Rücken.

»Die Frage ist vielmehr, was du in deinem Zustand hier draußen machst«, fragte er, nachdem der Husten verebbt war.

»Ich habe …« Weiter kam Kristine Bakken nicht. Die kalte Luft kitzelte ihren Rachen und ließ sie erneut husten.

»Du gehst sofort rein.« Arne legte seiner Mutter den Arm um die Schultern und führte sie mit sachter Bestimmtheit zu dem gelb gestrichenen, quaderförmigen Vierfamilienhaus, das ganz am Ende der Margrethes gate stand.

Vor über 20 Jahren hatten einige Fahrer der Trondheimer Straßenbahn, unter ihnen auch Kristines Ehemann Nils, sich Häuser auf dem Stück Land, das von Margrethes, Guttorms und Jørunds gate begrenzt wurde, gebaut und damit das sogenannte Straßenbahnerviertel auf Øya geschaffen.

Kristine entsann sich, als wäre es gestern gewesen, ihres Einzugs und der stolzen Freude, die sie dabei empfunden hatte.

Ein eigenes Haus, das war für einen einfachen Angestellten Mitte der 20er-Jahre keine Selbstverständlichkeit gewesen. Noch dazu auf der Halbinsel Øya, einem Stadtteil, der zwar nicht so fein wie das höher gelegene Singsaker war, aber immerhin die Villen einiger reicher Schiffsmakler und Kaufleute beherbergte.

Ermöglicht hatte den Hausbau die Trondheimer Straßenbahn, die bei der Bank für ihre Angestellten gebürgt und die monatlichen Raten direkt von deren Gehalt abgezogen und an die Bank weitergeleitet hatte.

Auch wenn sie von Anbeginn an das Obergeschoss hatten vermieten müssen, um über die Runden zu kommen, war ihnen die neue Wohnung geradezu luxuriös erschienen. Es gab keine dicht stehenden Häuser, die einem das Licht nahmen, dazu besaßen sie einen eigenen Garten, der sich nun, wo Nahrungsmittel immer knapper wurden, als ein wahrer Segen entpuppte. Einzig der bei ungünstigem Wind herüberwehende Gestank der nahen Hefefabrik störte die Idylle. Das war jedoch ein geringer Preis für ein eigenes Haus auf Øya.

Ingrid war Mutter und Bruder in die Wohnung gefolgt. Als sie ihren Mantel an die Garderobe hängte, fiel ihr ein, dass sie es aufgrund der Umstände versäumt hatte, die Margarine zu besorgen. Ärger stieg in ihr auf, dass sie bei Arnes Anblick wie ein aufgescheuchtes Moorhuhn davongerannt war.

In Gegenwart der anderen Frauen hätte er es sicher nicht gewagt, seinen Regen an Vorwürfen auf sie hinabprasseln zu lassen.

»Ingrid, wo bleibst du denn?«, drang Arnes ärgerliche Stimme aus der Küche. »Mutter braucht einen Tee.«

»Ich komme schon«, sagte Ingrid und schnitt eine Grimasse.

Als sie die Küche betrat, fuhr augenblicklich das schlechte Gewissen seine Klauen aus. Wie ein Fisch auf dem Trockenen saß ihre Mutter am Küchentisch und rang nach Luft. Ingrid wollte zu ihr eilen, doch ihr Bruder versperrte ihr den Weg.

»Ich werde versuchen, sie dazu zu bringen, dass sie sich hinlegt, nachdem sie ihren Tee getrunken hat«, sagte er leise. »Du kümmerst dich ums Abendbrot.«

Ingrid wagte nicht zu widersprechen, obwohl ihre Arme und Beine sich wie schwere Mehlsäcke anfühlten. Die Schicht in der Fabrik war kräftezehrend gewesen. Die Arbeiterinnen hatten eine große Lieferung Konserven für den Transport nach Deutschland vorbereiten müssen. Dazu kam das Stehen vor dem Kolonialwarenladen. Doch Ingrid wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu beschweren.

Ihrer Mutter, die noch schwer an den Folgen der Bronchitis trug, die sie sich in der eisigen Kälte vor dem Nidarosdom geholt hatte, ging es bedeutend schlechter als ihr. Und wer sonst sollte sich um das Abendessen kümmern? Ihre Schwester Astrid lebte zu weit weg und war ohnehin mit ihrem eigenen Haushalt und den beiden kleinen Kindern mehr als genug ausgelastet.

»Was habt ihr nur so lange auf der Straße gemacht?«, unterbrach die krächzende Stimme der Mutter Ingrids Gedanken. »Bei der Kälte dürft ihr nicht so lange draußen herumstehen. Ihr seht ja, was dabei herauskommt.«Sie hustete erneut.

»Wir haben da nicht lange gestanden«, beruhigte Arne sie, während er ihr auf den Rücken klopfte und gleichzeitig Ingrid ein Zeichen gab, das Teewasser aufzusetzen.

Allmählich ließ Kristines Husten nach. Erschöpft lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und wischte sich mit ihrem Taschentuch über den Mund.

»Wir sollten noch einmal den Arzt holen.« In der entstandenen Stille dröhnte Arnes Stimme wie ein Flugzeugpropeller.

»Ach Unsinn«, protestierte Kristine. »Der Arzt war erst vor zwei Tagen hier. Die Bronchitis ist am Abklingen, hat er gesagt. Bis der Husten ganz weggeht, dauert es allerdings.«

Sie lächelte Arne an. »Nun mach nicht so ein Gesicht. Der Husten klingt schlimmer, als er ist.« Sie steckte das Taschentuch zurück in die Tasche ihrer Kittelschürze. »Aber du hast mir noch immer nicht gesagt, warum ihr mitten im Winter auf der Straße herumsteht und streitet.«

Arne seufzte.

Seine Mutter besaß die unangenehme Eigenschaft, nie den eigentlichen Anlass einer Unterhaltung zu vergessen und stets zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wie viele Wendungen das Gespräch zuvor auch genommen haben mochte.

Sollte er ihr davon berichten, dass er Ingrid zusammen mit dieser Aasen gesehen hatte?

Ein erneuter Blick auf seine Mutter genügte ihm, um von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen.

In ihrem Zustand brauchte seine Mutter nur eines – und das war Ruhe.

»Wir haben angehalten, weil Ingrid auf dem Schnee ausgerutscht ist.«

Das war zumindest keine Lüge.

»Ich habe mit ihr geschimpft, weil sie bei diesem Wetter keine Winterstiefel trägt. Das wollte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.« Seine Lippen kräuselten sich. »Wie konnte ich auch wissen, dass ihre Winterstiefel kaputt sind?«

Auch wenn Arnes Erklärung ihr einleuchtete, glaubte Kristine nicht, dass ihr Sohn ihr die ganze Geschichte erzählt hatte.

Nur wegen kaputter Winterstiefel sollten sich die beiden derart heftig gestritten haben?

Beunruhigt über Ingrids langes Ausbleiben war Kristine an das Küchenfenster getreten und hatte hinausgestarrt, bis zwei schemenhafte Gestalten aus dem Vorhang der einsetzenden Dämmerung geglitten waren und sich in ihre beiden jüngsten Kinder verwandelt hatten. Sie hatte angenommen, dass diese bei den hohen Minusgraden, die herrschten, rasch den Weg zum Haus einschlügen, doch zu ihrer Verwunderung waren sie mitten auf der Straße stehen geblieben. Ohne die Unterhaltung der beiden zu verstehen, hatte Kristine erkennen können, dass sie einen erbitterten Streit ausgefochten hatten.

Wann würden diese Streitereien bloß enden? Zwar hatten die beiden auch als Kinder die eine oder andere heftige Auseinandersetzung gehabt, aber sie hatte stets dafür gesorgt, dass vor dem Schlafengehen wieder Frieden herrschte. Das wollte ihr nun nicht mehr gelingen, so sehr sie auch bei jeder Seite um Verständnis für die jeweils andere warb. Verstehen konnte sie beide, was ihr Dilemma verschärfte.

Eine Tasse Tee wurde vor ihr abgestellt.

»Es tut mir leid, dass du wegen uns nach draußen in die Kälte musstest«, sagte Ingrid leise.

»Mach dir keine Gedanken, mir ist ja nichts passiert«, beruhigte Kristine ihre Tochter. »Es war voreilig von mir, einfach herauszurennen. Ihr seid schließlich erwachsen.«

Die Haustür wurde geöffnet. Als handelte es sich um das Signal, auf das sie die ganze Zeit über gewartet hatte, sprang Ingrid auf und eilte zum Herd.

Mit vor Kälte geröteten Wangen betrat Nils Bakken die Küche. »Guten Abend«, rief er mit seiner tiefen Bassstimme, um sich dann besorgt umzublicken. »Ist etwas passiert? Einar?«

Kristine zuckte erschrocken zusammen und warf Arne einen fragenden Blick zu.

»Er war heute ganz normal bei der Arbeit«, erklärte dieser gelassen. »Nur die Jungs sind wieder mal erkältet.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Nils.

Kristine beobachtete, wie Arne seine rechte Hand zu einer Faust ballte, um sie gleich darauf zu öffnen. Es war eine derartig schnelle Bewegungsabfolge, dass Kristine nicht sicher war, ob sie nicht ihrer Einbildung entsprungen war.

»Ingrids Winterstiefel sind kaputt«, sagte sie und zwang sich, die Augen von ihrem Sohn abzuwenden.

Nils atmete erleichtert aus.

»Das ist durchaus ein Problem, Nils«, rügte Kristine ihren Mann mit leichtem Tadel in der Stimme. »Mit was soll der Schuster sie flicken, wenn es kein Leder mehr gibt?«

Nils rieb sich den Nacken und sah zu seiner Tochter hinüber, die ihm den Rücken zukehrte und in einem Topf rührte. »Warst du schon beim Schuster, Ingrid?«

»Er hat die Schuhe angenommen, weiß aber nicht, wann er sie reparieren kann. Das hängt davon ab, ob er Material bekommt.«

Nils wandte sich an seinen Sohn. »Habt ihr nicht in der Werkstatt noch etwas Leder?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Arne zögernd.

»Ich rede morgen mal mit deinem Vorgesetzten«, verkündete Nils und trat an die Spüle, um sich die Hände zu waschen. »Was gibt es zum Abendbrot?«

»Haferbrei mit Margarine«, sagte Kristine. »Du hast doch welche bekommen, Ingrid?«

Ingrids Finger krampften sich um den Löffelstiel zusammen. »Es gab keine mehr«, erwiderte sie. »Ich war zu spät dran.«

Kapitel 3

Trondheim, Anfang März 1942

Ein weiteres Mal sank Ingrids Hand nach unten, ohne an die Tür geklopft zu haben.

Warum nur war sie so ein Feigling? Wenn sie schon das Risiko auf sich nahm, Solveig persönlich aufzusuchen, sollte sie nicht zögern und endlich den entscheidenden Schritt wagen. Je länger sie vor der Haustür der Aasens ausharrte, desto größer war die Gefahr, entdeckt zu werden. Selbst wenn keine neugierigen Nachbarn aus den Fenstern spähten, reichte es aus, dass ihre Mutter früher als erwartet heimkehrte. Der Eingang zu ihrer Wohnung befand sich auf der Rückseite des Hauses. Von dort war das Anwesen der Aasens in der Jørunds gate gut zu erkennen.

Sie straffte die Schultern und klopfte an die Tür. Stille antwortete ihr. Sie klopfte noch einmal und lauschte angestrengt. Hinter der Tür war nicht das kleinste Geräusch zu vernehmen. Ein Teil von ihr empfand Enttäuschung, dass sie sich nun ganz umsonst der Gefahr ausgesetzt hatte, der andere Teil jedoch hätte vor Freude jubeln können.

Es waren nicht Solveig oder deren Bruder Knut, den sie zwar für einen Langweiler, aber ansonsten für nicht weiter gefährlich hielt, die ihr Herzklopfen bereiteten, sondern die Eltern der beiden, mit denen sie eine Begegnung tunlichst vermeiden wollte. Aus diesem Grunde hatte sie auch den frühen Nachmittag für ihren Besuch gewählt.

Herr Aasen war um diese Zeit mit höchster Wahrscheinlichkeit noch bei der Arbeit und seine Frau bei einer der zahlreichen Zusammenkünfte der Frauenorganisation der NS, von denen Solveig ihr einmal berichtet hatte, dass sie neben den abendlichen Festen im eigenen Haus die liebste Freizeitbeschäftigung der Stiefmutter waren.

Ingrid stellte sich vor, wie Frau Aasen zu dieser Stunde mit den anderen Frauen der Nasjonal Samling bei echtem Bohnenkaffee beisammensaß und die Erfolge ihrer einstigen Landsleute in den höchsten Tönen lobte.

Wann hatte sie selbst eigentlich zuletzt Bohnenkaffee getrunken? Es war so lange her, dass sie sich nicht einmal mehr dessen Geruchs entsann.

Sie warf einen Blick auf das Paket unter ihrem linken Arm.

Sollte sie es vor die Tür legen? Dann bräuchte sie nicht noch einmal vorbeizukommen.

So verlockend der Gedanke war, spürte sie in sich ein Sträuben, das sie wohl, wenn jemand sie danach fragen würde, am ehesten mit dem Wort Anstand beschriebe.

Der Anstand gebot es, Solveig von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, wenn sie sich bei ihr für die neuen Winterstiefel bedankte und ihr im Gegenzug ihr eigenes Geschenk überreichte. Sie hatte dies schon viel zu lange aufgeschoben.

Unvermutet hatte Ingrid eine Eingebung, wie sie dieses Unterfangen, ohne unliebsame Blicke und üble Verdächtigungen fürchten zu müssen, bewerkstelligen konnte.

Sie hatte die gesamte Woche über Frühschicht. Das bedeutete, sie hatte nach Schichtende genug Zeit, quer durch die Stadt nach Sverresborg zu fahren, wo Solveig als Übersetzerin beim Generalkommando einer deutschen Heereseinheit, die ihren Sitz in der alten Löwenapotheke hatte, arbeitete. Die Deutschen hatten zwar das gesamte Gelände des Freilichtmuseums requiriert, doch wenn sie sich in einiger Entfernung an der Straße hinunter nach Ila aufstellte, war sie davor gefeit, die Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen. Dann musste sie nur noch darauf warten, bis Solveig Dienstschluss hatte.

Warum nur war ihr diese Lösung nicht früher eingefallen? Sie hätte sich viele Sorgen sparen können. Doch wie hatte ihre Großmutter immer gesagt? Über verschüttete Milch sollte man sich nicht ärgern, sondern sie lieber aufwischen.

An diesem Tage war es schon zu spät, um sich noch auf den Weg nach Sverresborg zu machen. Aber morgen könnte sie nichts daran hindern, ihren Plan umzusetzen. Ihrer Mutter würde sie erzählen, dass sie nach Ende ihrer Schicht noch mit einer Arbeitskollegin ausginge.

»Na, sieh an, wer uns die Ehre gibt. Wenn das nicht die kleine Bakken von gegenüber ist.«

Ingrid starrte Solveigs Vater und Stiefmutter an wie ein Reh, das unversehens von einem Lichtstrahl geblendet wurde.

»Wie es scheint, hast du verlernt, wie man sich älteren Leuten gegenüber verhält«, bemerkte Frau Aasen abschätzig.

Auch wenn Ingrid sich selbst dafür verabscheute, schaffte sie es nicht, Solveigs Stiefmutter länger in die Augen zu sehen.

»Bei einem Kommunisten in der Familie ist ein solches Benehmen natürlich kein Wunder.« Frau Aasen trat dicht an Ingrid heran. Ein schwerer, süßlicher Duft stieg Ingrid in die Nase und ließ sie schaudern.

»Warum haben sie dich und deine Familie eigentlich nicht gleich mitverhaftet, als sie dieses Kommunistenschwein abgeholt haben?«

»Die Bakkens sind doch keine Kommunisten, Emma«, mischte Herr Aasen sich in die Unterhaltung ein.

Als hätte sie jemand von hinten mit einer großen Nadel gepikst, fuhr seine Frau herum. »Was redest du denn da, Karl? Selbstverständlich sind sie das. Ingrids Vater ist schließlich in der Gewerkschaft.« Sie betonte das letzte Wort, als handelte es sich um eine ansteckende Krankheit.

Herr Aasen hob beschwichtigend die Hände. »Du hast ja recht, Emma. Du hast ja recht.« Er sah Ingrid an. »Was machst du eigentlich hier? Du lässt dich doch sonst nicht mehr blicken.«

»Das wüsste ich auch gerne. Haben sie deinen Schwager wieder verhaftet? Falls ja, brauchst du gar nicht erst zu fragen, ob wir dir helfen.« Frau Aasen rümpfte die Nase, als hätte sie an einer Tüte mit Fischabfällen gerochen. »Es wird nämlich Zeit, dass wir Norwegen endlich von diesen bolschewistischen Blutsaugern befreien.«

»Was ist denn das für eine Versammlung hier?« Solveig kam den Gartenpfad entlang. »Ingrid«, rief sie verblüfft, als sie die Freundin erkannte. »Was machst du denn hier?«

»Das haben wir auch schon versucht herauszufinden«, sagte Frau Aasen spitz. »Aber sie steht da wie eine Steinsäule und lässt sich noch nicht einmal dazu herab, uns zu begrüßen.«

Solveigs Ankunft wirkte wie ein Fanal. Ingrids Benommenheit verschwand und machte unbändiger Wut Platz. »Wie können Sie es wagen, meine Familie zu beleidigen?«, schrie sie Frau Aasen an. »Mein Vater und mein Schwager sind gute Männer, die ein hohes Ansehen bei der Straßenbahn genießen. Sonst dürfte mein Vater wohl kaum die Linie 1 fahren und mein Schwager wäre nicht stellvertretender Werkstattleiter. Und in der Gewerkschaft sind die beiden, weil ihnen das Wohl ihrer Kollegen und aller übrigen Arbeiter am Herzen liegt.«

Frau Aasen klatschte, als würde sie einer künstlerischen Darbietung Beifall zollen. »Meine Güte, Ingrid. Ich habe gar nicht gewusst, wie viel Temperament in dir steckt. Schade nur, dass es derartig fehlgeleitet ist.«

Ein unheimlicher Glanz ließ ihre Augen wie zwei Eiskristalle funkeln. »Wenn man dich so reden hört, bekommt man glatt den Eindruck, dass im vergangenen Jahr das falsche Mitglied eurer Familie verhaftet wurde.«

Eine Schockwelle raste durch Ingrids Körper.

Sie wusste nicht genau, welche Funktion Herr Aasen bei der Staatspolizei innehatte. Doch alleine die Tatsache, dass er Mitglied dieser im vergangenen Jahr nach deutschem Vorbild reformierten Polizeieinheit war, machte Frau Aasens Aussage gefährlich.

Ingrid verfluchte ihre Kühnheit, mit der sie sich und ihre Familie womöglich in große Gefahr gebracht hatte.

»Mutter, Ingrid ist keine Kommunistin«, sagte Solveig mit ruhiger Stimme.

»Und woher willst du das wissen?«, fragte Frau Aasen. »Du hast mir erzählt, dass du dich nicht mehr mit ihr triffst. Oder hast du mich etwa angelogen?«

»Nein, ich habe dich nicht angelogen«, antwortete Solveig mit derselben Gelassenheit wie zuvor. »Auch wenn ich mich nicht mehr mit ihr treffe, bleibt Ingrid aber meine Freundin.« Sie schenkte Ingrid ein herzliches Lächeln. »Wenn du magst, können wir sehr gerne mal wieder zusammen ausgehen.«

Frau Aasen hätte nicht fassungsloser aussehen können, wenn ihr jemand eröffnet hätte, ihr geliebter Führer wäre gestorben. »Wie kannst du es wagen«, schrie sie und hob die Hand.

Herr Aasen trat hastig vor und legte seiner Frau den Arm um die Schultern. »Emma, die Nachbarn«, zischte er und deutete auf zwei Gestalten, die vor dem Gartenzaun standen.

Als er den beiden zuwinkte, drehten sie sich rasch um und gingen davon.

Ein Stöhnen entrang sich Ingrids Kehle.

Ausgerechnet die Hagens! Schlimmer hätte es nicht kommen können. Herr Hagen war ein Kollege ihres Vaters. Entweder er selbst oder seine Frau würden die nächstbeste Gelegenheit nutzen und ihren Eltern davon berichten, dass sie sie zusammen mit den Aasens in deren Garten gesehen hatten.

Eine Träne löste sich aus Ingrids Augenwinkel. Schnell wischte sie sie weg.

Das fehlte noch, dass sie in Gegenwart von Solveigs Eltern anfing zu weinen.

»Wir gehen jetzt besser rein«, schlug Herr Aasen vor. »Sonst kommt noch jemand auf die Idee, es gäbe ein Zerwürfnis in unserer Familie.«

Frau Aasen drückte den Rücken durch, als wäre sie ein Soldat, der sich zum Appell aufstellte. »Du hast recht, Karl. Wir sind schließlich die Vertreter des neuen Norwegen. Auf uns sehen die Leute. Wer, wenn nicht wir, soll ihnen zeigen, wie wichtig die Familie für den Fortbestand der germanischen Rasse ist. Und jetzt müssen wir uns umziehen, sonst kommen wir zu spät zur Feier beim Fylkesmann.«

»Es tut mir leid.« Solveig lächelte Ingrid entschuldigend an, nachdem sich die Haustür hinter Herrn und Frau Aasen geschlossen hatte. »Du kennst meine Stiefmutter. In ihrem Eifer für die Sache vergreift sie sich schon mal im Ton.«

Solveigs Worte trafen Ingrid mit der Wucht von Eisenkugeln.

Solveig hatte sich nur für die Art und Weise, wie ihre Stiefmutter ihre Ansichten vermittelt hatte, entschuldigt, nicht für die Ansichten selbst.

Ingrid wollte sich abwenden, besann sich jedoch des Pakets unter ihrem Arm.

Da daheim auf sie in jedem Falle die Anklagebank wartete, konnte sie auch erledigen, weswegen sie gekommen war. Damit wäre die Schuld abgegolten und das Kapitel Solveig Aasen für immer abgeschlossen.

Sie streckte Solveig das Paket entgegen. »Hier, das ist für dich.«

»Für mich?«, fragte Solveig.

»Ja, ein Dankeschön für die Stiefel.«

»Welche Stiefel?«

Ingrids Gewissheit geriet ins Wanken.

Konnte sie sich dermaßen geirrt haben? Sie hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, dass die Stiefel, die sie eines Morgens vor der Haustür vorgefunden hatte, von Solveig waren. Zwar hatte keine Nachricht dabei gelegen, aber wer sonst würde in diesen Zeiten nagelneue Winterstiefel, die genau ihre Größe hatten, vor ihrer Tür abstellen?

Ingrid deutete auf ihre Füße. »Die Stiefel, die ich anhabe.«

Sie wusste, sie hätte sie nicht annehmen dürfen, sondern darauf warten müssen, bis es Leder für die Reparatur der alten gab oder sie selbst welches im Tauschhandel erworben hatte. Doch sie hatte nicht widerstehen können. Noch niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie so feine gefütterte Stiefel besessen.

Und was hätte sie auch mit den Stiefeln machen sollen? Sie vor der Tür stehen lassen? Dann hätte es erst recht unangenehme Fragen gegeben. So hatte sie vorgeben können, dass sie sie für einen selbst gestrickten Wollpullover eingetauscht hatte. Zur Sicherheit hatte sie die Stiefel mit Schleifpapier bearbeitet. Ihr Herz hatte dabei geblutet, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Niemand tauschte funkelnagelneue Stiefel gegen einen bereits getragenen Wollpullover ein. Zu ihrer immensen Erleichterung hatte niemand Fragen gestellt.

Nur sie selbst hatte unablässig die Frage gequält, ob sie ein Geschenk von jemandem annehmen durfte, den sie zwar als Freundin ansah, die meisten anderen jedoch als Verräterin betrachteten. Am Ende hatte sie entschieden, dass sie Solveig zumindest auch etwas überreichen musste, um die Schuld, in der sie stand, wenn auch nicht gänzlich zu tilgen, so doch wenigstens zu verringern. Wie es aussah, misslang ihr dieses Vorhaben.

Sie ging zum Gartentor.

»Ingrid, warte.« Schon war Solveig bei ihr und hielt sie am Arm fest. »Bitte sei nicht böse. Ich wollte dich nicht verärgern. Die Stiefel waren ein Geschenk, für das ich keine Gegenleistung erwartet habe. Darum habe ich so getan, als wüsste ich davon nichts.«

»Die Stiefel waren zu wertvoll für ein Geschenk, jedenfalls in diesen Zeiten. Ich kann sie nur annehmen, wenn ich dir auch etwas geben darf.«

»Na gut, das verstehe ich.« Solveig nahm das Paket und riss das dicke, braune Papier, in das es eingewickelt war, auf.

Ingrid atmete zischend ein.

Solveig sah auf. »Ist es zerbrechlich?«

»Nein, das nicht. Nur das Papier …« Ingrid verstummte und presste die Hände aneinander.

»Ich verstehe, du möchtest das Papier wiederhaben.«

»Wenn es dir nichts ausmacht.«

Solveig kannte anscheinend aufgrund ihrer privilegierten Stellung den Mangel nicht, der sich wie ein ungebetener Gast, der nicht wieder gehen wollte, in den gewöhnlichen norwegischen Haushalten eingenistet hatte.

»Was für ein schöner Pullover«, rief Solveig. »Ist der selbst gemacht?«

»Ja, nach einem alten Selbuer Muster. Ursprünglich wurden nur Fäustlinge danach gestrickt.«

Behutsam wickelte Solveig den Pullover wieder in das Papier ein. »Er ist wunderschön, Ingrid, aber ich kann ihn nicht annehmen. Er ist zu wertvoll.«

»Geschenkt ist geschenkt«, erklärte Ingrid. »Sonst muss ich dir die Stiefel auch zurückgeben. Im Übrigen sind die viel wertvoller als der Pullover.«

Solveig stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ingrid, den Pullover hast du selbst gestrickt. Das hat viel Zeit und Arbeit gekostet. Für die Stiefel musste ich praktisch nichts machen.« Sie sprach in einem Ton, als bemühte sie sich, ein Kind von der Notwendigkeit zu überzeugen, seinen Lebertran zu schlucken. »Jemand hat mir einen Gefallen geschuldet. Das war alles.«

Ingrid fragte nicht weiter nach, denn sie ahnte, dass jede weitere Erklärung es ihr unmöglich machen würde, die Stiefel zu behalten.

Und wie sollte sie deren Verschwinden zu Hause rechtfertigen?

»Bitte, du musst ihn nehmen.«

Es war ihr einerlei, wie verzweifelt sie wirkte. Ihr war nur noch daran gelegen, das absurde Theaterstück, in dem sie halb freiwillig, halb gezwungen mitspielte, zu beenden.

»Ich habe meiner Familie erzählt, dass ich die Schuhe gegen den Pullover eingetauscht habe. Daher kann ich ihn sowieso nicht mehr tragen.«

Solveigs Gesichtszüge gefroren zu einer steifen Maske. »Aha, ich verstehe. Du konntest ihnen natürlich nicht sagen, dass du sie von Solveig Aasen, der Verräterin, bekommen hast.«