Schilf - Juli Zeh - E-Book

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Juli Zeh

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Beschreibung

Ein liebender Kommissar, ein tödliches Missverständnis und die verflixte Beschaffenheit der Welt.

Sebastian kann mit seinem Leben mehr als zufrieden sein. Vielleicht hat er ein bisschen zu viel von seinem physikalischen Talent zugunsten seiner Familie aufgegeben. Sein alter Freund Oskar, auch er ein Genie der theoretischen Physik, erinnert ihn zuweilen daran. Als Sebastian seinen Sohn in ein Ferienlager fahren will, findet er sich unversehens in einem Alptraum wieder. Der Sohn wird entführt, und er bekommt ihn erst wieder, wenn er einen Mord begeht …

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Seitenzahl: 437

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Inhalt

Titel

Prolog

Erstes Kapitel in sieben Teilen. Sebastian schneidet Kurven. Maike kocht. Oskar kommt zu Besuch. Die Physik gehört den Liebenden.

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Zweites Kapitel in sieben Teilen, in dem die erste Hälfte des Verbrechens geschieht. Der Mensch ist überall von Tieren umgeben.

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Drittes Kapitel in sieben Teilen. Höchste Zeit für den Mord. Erst läuft alles nach Plan und dann doch nicht. Es ist nicht ungefährlich, einen Menschen beim Warten zu zeigen.

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Viertes Kapitel in sieben Teilen. Rita Skura hat eine Katze. Der Mensch ist ein Loch im Nichts. Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel.

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Fünftes Kapitel, in dem der Kommissar den Fall löst, ohne dass die Geschichte deshalb zu Ende wäre.

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Sechstes Kapitel in sieben Teilen. Der Kommissar hockt im Farn. Ein Zeuge, auf den es nicht ankommt, hat seinen zweiten Auftritt. Manch einer fährt nach Genf.

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Siebtes Kapitel, in dem der Täter gestellt wird. Am Ende entscheidet der innere Richter. Ein Vogel steigt auf.

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Epilog

Impressum

Zum Buch

Zur Autorin

Juli Zeh

Schilf

Roman

btb

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagwww.twitter.com/btbverlag

Wenige Menschen beherrschen die Kunst, sich vor den richtigen Dingen zu fürchten.

Prolog

Wir haben nicht alles gehört, dafür das meiste gesehen, denn immer war einer von uns dabei.

Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat – und doch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, sein Leben ist eine schräge Musik.

So ist es, denken wir, in etwa gewesen.

Erstes Kapitel in sieben Teilen. Sebastian schneidet Kurven. Maike kocht. Oskar kommt zu Besuch. Die Physik gehört den Liebenden.

1

Im Anflug aus Südwesten, aus einer Höhe von fünfhundert Metern betrachtet, gleicht Freiburg einem ausgefransten, hellen Fleck in den Falten des Schwarzwalds. Es liegt da, als wäre es eines Tages vom Himmel gefallen und den angrenzenden Bergen bis vor die Füße gespritzt. Belchen, Schauinsland und Feldberg sitzen im Kreis und überschauen eine Stadt, die nach Zeitrechnung der Berge vor etwa sechs Minuten entstanden ist und trotzdem so tut, als hätte sie schon immer da unten am Fluss mit dem komischen Namen gelegen. »Dreisam«. Wie Einsamkeit zu dritt.

Ein gleichgültiges Achselzucken des Schauinslands würde Hunderte von Radsportlern, Seilbahnfahrern und Schmetterlingssuchern das Leben kosten; ein gelangweiltes Sich-Abwenden des Feldbergs wäre das Ende des ganzen Landkreises. Weil die Berge mit düsteren Mienen auf das Treiben in Freiburgs Straßen blicken, bemüht man sich dort um Unterhaltungswert. Täglich senden Wald und Berge eine große Menge Vögel in die Stadt, mit dem Auftrag, über die neuesten Ereignisse zu berichten.

Wo die Gassen schmal werden und die Schatten dichter zusammenrücken, sind Ockergelb und Schmutzigrosa die Farben des fortlebenden Mittelalters. Unzählige Gauben sitzen auf den steilen Dächern und böten ideale Landeplätze, wenn die Hausbesitzer sie nicht mit aufwärts zeigenden Nägeln bestückt hätten. Eine vorbeiziehende Wolke fegt die Helligkeit von den Fassaden. Auf dem Leopoldring kauft ein Zopfmädchen Eis. Sein Scheitel ist gerade wie eine Durchgangsstraße.

Nur wenige Flügelschläge entfernt liegt die Sophie-de-la-Roche-Straße, die so grün ist, dass sie sich eine eigene Klimazone leisten kann. Immer geht ein leichter Wind, den die Kronen der Kastanien zum Rascheln brauchen. Die Bäume haben den Stadtarchitekten, der sie pflanzte, um ein Jahrhundert überlebt und sind größer geworden, als er es geplant hatte. Während sie oben langfingrig die Balkone betasten, wölben ihre Wurzeln unten das Pflaster und graben sich durch die Begrenzungsmauern des Gewerbebachs, der direkt an den Fundamenten fließt. Bonnie und Clyde, die eine mit braunem, der andere mit grünem Kopf, paddeln schnatternd gegen die Strömung, wenden an der immergleichen Stelle und lassen sich flussabwärts treiben. Auf ihrem Fließband überholen sie jeden Passanten, äugen zum Gehweg hinauf und betteln um Brot.

Die Sophie-de-la-Roche-Straße strahlt ein solches Wohlbehagen aus, dass ein unbeteiligter Beobachter auf die Idee kommen könnte, das Einverstandensein mit der Welt sei hier Bedingung für die Anmeldung eines Hauptwohnsitzes. Weil der Gewerbebach die Mauern feucht macht, stehen die Türen der Gebäude sperrangelweit offen, dass es aussieht, als ragten die Fußgängerstege wie Zungen aus aufgesperrten Mäulern. Ohne Zweifel ist Nummer sieben das schönste Haus in der Reihe, weiß gestrichen und mit bescheidenem Stuck. Kaskadengleich fließen die Blüten eines Blauregens an der Fassade herunter. Eine altmodische Laterne döst ihrem nächtlichen Einsatz entgegen; in ihrer Efeustola lärmen die Spatzen. In einer guten Stunde wird ein Taxi um die Ecke biegen und neben ihr halten. Der Fahrgast auf der Rückbank wird seine Sonnenbrille anheben, um Kleingeld in die Hand des Fahrers zu zählen. Er wird aussteigen, den Kopf in den Nacken legen und zu den Fenstern im zweiten Stock emporschauen. Schon jetzt trippeln dort oben zwei Tauben über einen Sims, verbeugen sich voreinander und spähen beim gelegentlichen Auffliegen in die Wohnung hinein. An jedem ersten Freitagabend im Monat können Sebastian, Maike und Liam sicher sein, von den fliegenden Beobachtern nicht aus den Augen gelassen zu werden.

Hinter einem der Fenster sitzt Sebastian am Boden seines Arbeitszimmers, mit geneigtem Kopf und angewinkelten Beinen. Er ist umgeben von Papierschnipseln und Scheren, als wäre er beim Basteln von Weihnachtssternen. Neben ihm kauert Liam, ebenso blond und hellhäutig wie sein Vater und auch der Haltung nach ein Miniatur-Sebastian. Er betrachtet einen Bogen roter Pappe, auf den der Laserdrucker eine gezackte Kurve gezeichnet hat, einem Alpenpanorama ähnlich. Als Sebastian die Schere ansetzt, hebt Liam einen warnenden Finger.

»Vorsicht! Du zitterst!«

»Weil ich mich bemühe, nicht zu zittern, du Schlaumeier«, sagt Sebastian und bereut seinen Tonfall, als Liam große Augen macht.

Sebastian ist nervös wie an jedem ersten Freitagabend im Monat, und genau wie immer schiebt er es darauf, einen schlechten Tag gehabt zu haben. An ersten Freitagen im Monat kann ihm jede Kleinigkeit die Laune verderben. Heute war es eine Begegnung am Ufer der Dreisam, wo er sich in der Mittagspause von seinen Vorlesungen erholt. Dort traf er auf eine Menschengruppe, die, etwas entfernt vom Weg und zunächst ohne erkennbaren Grund, einen flachen Sandhaufen umstand. Aus dem Sand ragte ein jämmerlicher Setzling, der nur von einer Stützvorrichtung aus Holzstangen und Gummibändern aufrecht gehalten wurde. Drei Gärtner lehnten sich auf ihre Schaufeln. Ein schlaksiger Mensch im dunklen Anzug, dem ein kleines Mädchen am Bein haftete, betrat den Sandhügel und sprach festliche Worte. Baum des Jahres. Schwarzer Apfel. Liebe zur Heimat, zur Natur, zur Schöpfung. Ältliche Damen schwiegen im Halbkreis. Dann der Spatenstich, ein affektiertes Schippchen Sand, dazu Wasser, vom kleinen Mädchen aus einer Blechkanne gegossen. Man applaudierte. Gegen seinen Willen musste Sebastian an Oskar denken und daran, was er zu einer solchen Szene bemerkt hätte: Sieh nur, eine Herde Sohlengänger bei der Anbetung ihrer eigenen Hilflosigkeit! – Und Sebastian hätte gelacht und verschwiegen, dass er sich dem Baum des Jahres tatsächlich erschreckend ähnlich fühlte. Ein Setzling in einer übergroßen Stützvorrichtung.

»Weißt du, was ein Baum des Jahres ist?«, fragt er seinen Sohn, der den Kopf schüttelt und die Schere anstarrt, die sich in der Hand des Vaters nicht weiterbewegen will. »Der Baum des Jahres ist ein Unsinn«, fügt er hinzu. »Der größte denkbare Mist.«

»Heute kommt Oskar, oder?«

»Klar.« Sebastian beginnt mit dem Schneiden. »Warum?«

»Wenn Oskar kommt, redest du immer komisches Zeug. Und«, Liam deutet auf die Bastelpappe, »du bringst Arbeit mit nach Hause.«

»Ich dachte, es gefällt dir, Kurven zu wiegen?«, fragt Sebastian empört.

Mit seinen zehn Jahren ist Liam bereits klug genug, um darauf nicht zu antworten. Natürlich liebt er es, seinem Vater bei einem physikalischen Experiment zu helfen. Er weiß, dass die gezackte Linie das Ergebnis einer radiometrischen Messung beschreibt, auch wenn er nicht erklären könnte, was »radiometrisch« bedeutet. Das Integral unter der Kurve lässt sich berechnen, indem man die Fläche ausschneidet und ihren Inhalt durch Wiegen der Pappe bestimmt. Aber Liam weiß auch, dass im Institut Computer stehen, die diesen Vorgang ohne Bastelarbeit bewältigen können. Die Sache hätte sicher Zeit bis Montag gehabt. Es dient also vor allem Liams Vergnügen und damit Sebastians Seelenruhe, sich an diesem späten Freitagnachmittag damit abzugeben. Obwohl das Schneidebrett und die scharfen Messer, die sie eigentlich für die winzigen Zacken und Scharten bräuchten, bei Maike in der Küche sind.

Wenn Maike für Oskar kocht, gehört das Arbeitsgerät ihr allein. Jedes Mal, wenn sie schon morgens erzählt, welches neue Gericht sie diesmal probieren wird, fragt sich Sebastian, warum ihr diese Treffen so wichtig sind. Liams kultische Verehrung für den Großphysiker aus Genf müsste aus ihrer Sicht eher gegen die Besuche sprechen. Außerdem begegnet Oskar ihr selten anders als mit scharfer Ironie. Trotz alledem war es Maike, die vor zehn Jahren die Tradition der gemeinsamen Essen erfunden hat, und sie ist es, die bis heute darauf besteht. Sebastian vermutet, dass sie, bewusst oder unbewusst, versucht, etwas in geordnete Bahnen zu lenken. Etwas, das sich vor ihren Augen abspielen soll, anstatt sich unkontrolliert in verborgenen Bezirken zu entwickeln. Darüber, was dieses Etwas sein könnte, haben sie nie gesprochen. Im Stillen bewundert Sebastian seine Frau für ihre ruhige Hartnäckigkeit. Er kommt doch am Freitag?, pflegt sie zu fragen, und Sebastian pflegt darauf zu nicken. Mehr nicht.

Im Mittelteil wird die Kurve einfacher, am Ende wieder kompliziert. Liam stützt die Pappe mit beiden Händen und jubelt, als die Schere die letzte Klippe überwunden hat und der gezackte Rest zu Boden fällt. Behutsam fasst er das Meisterwerk an den Rändern und läuft voraus, um nachzusehen, ob die Küchenwaage frei ist.

In einem weißen Kleid, das aussieht, als wollte Maike heute Abend ein zweites Mal geheiratet werden, steht sie vor der Anrichte und schneidet widerspenstigen Salat. Ihre Füße sind nackt. Gedankenlos kratzt sie mit dem rechten Zeh einen Mückenstich an der linken Wade. Das Fenster steht offen. Von draußen weht Sommerluft herein, erfüllt vom Geruch nach heißem Asphalt, nach fließendem Wasser und einem Wind, der hoch am Himmel mit Schwalben jongliert. Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau, die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Sonnenuntergang zu reiten. Sie ist apart auf eine Weise, die einen zweiten Blick verträgt. Ihre Haut ist noch heller als Sebastians und ihr Mund ganz leicht schief, so dass sie beim Lachen ein wenig nachdenklich aussieht. Der Erfolg der kleinen Galerie für Moderne Kunst, die sie in der Innenstadt betreibt, verdankt sich nicht zuletzt ihrer Erscheinung; den Künstlern ist sie Managerin und manchmal Modell. Maikes Sinn für Ästhetik neigt zum Religiösen. Sie leidet in lieblos eingerichteten Räumen und kann kein Glas auf den Tisch stellen, ohne es zuvor prüfend im Lichteinfall zu wenden.

Als Sebastian von hinten an sie herantritt, streckt sie die feuchten Hände von sich. Ihre Achselhöhlen sind rasiert. Sanft steigen seine Finger die Treppe aus Wirbeln hinauf, vom Steiß bis zum Nacken.

»Ist dir kalt?«, fragt sie. »Du zitterst ja.«

»Gibt es noch etwas außer meinem vegetativen Nervensystem«, ruft Sebastian absichtlich laut, »für das ihr euch interessiert?«

»Ja«, sagt Maike. »Rotwein.«

Sebastian küsst sie auf den Hinterkopf. Beide wissen, dass Oskar den Artikel im SPIEGEL gelesen haben muss. Maike besitzt nicht genug Ehrgeiz, um den wissenschaftlichen Dauerstreit der beiden Männer inhaltlich verstehen zu wollen. Aber sie kennt die Abläufe. Oskars Stimme ist bedrohlich leise, wenn er angreift. Sebastian zwinkert häufiger als sonst und lässt die Arme hängen, während er sich verteidigt.

»Ich habe einen Brunello gekauft«, sagt sie. »Den wird er mögen.«

Als Sebastian nach der Karaffe greift, huscht ein roter Lichtpunkt über Maikes Brust, als zielte ein betrunkener Scharfschütze durchs offene Fenster. Frucht, Eiche, Erde. Sebastian widersteht der Versuchung, sich ein Glas einzuschenken, und dreht sich nach Liam um, der wartend vor der Küchenwaage steht. Wange an Wange lesen sie die Digitalanzeige ab.

»Ausgezeichnet, kleiner Professor.« Sebastian drückt seinen Sohn an sich. »Was gibt es zu bemerken?«

»Die Natur entspricht unseren Berechnungen«, sagt Liam, nach seiner Mutter schielend. Ihr Messer hackt auf dem Holzbrett einen trockenen Takt. Sie mag es nicht, wenn er mit auswendig gelernten Sätzen angibt.

Bevor Sebastian seine Kurve zurück ins Arbeitszimmer trägt, bleibt er einen Moment auf der Türschwelle stehen. Maike wird sagen wollen, dass sie ihm nachher den Rücken freihält. Sie mag diesen Ausdruck. Er klingt nach einem Kampf namens Alltag, aus dem sie Abend für Abend als Siegerin hervorgeht. Dabei ist Maike eigentlich kein kämpferischer Typ. Bevor sie Sebastian kennenlernte, war sie eine ausgemachte Schwärmerin. Wenn sie bei Nacht durch die Straßen spazierte, träumte sie sich in jede erleuchtete Wohnung hinein. In Gedanken begann sie, fremde Topfpflanzen zu gießen, fremde Abendbrottische zu decken und fremden Kindern über den Kopf zu streicheln. Jeder Mann war ein möglicher Liebhaber, an dessen Seite sie in der Phantasie ein wildes oder bürgerliches, künstlerisches oder politisches Leben führen konnte – je nach Augenfarbe und Statur des Gegenübers. Maikes vagabundierende Einbildungskraft bewohnte Menschen und Orte im Vorübergehen. Bis sie Sebastian traf. In dem Augenblick, da sie ihm auf der Freiburger Kaiser-Joseph-Straße in die Arme lief (auf dem Münsterplatz!, würde Sebastian sagen, denn es gibt von ihrem ersten Treffen zwei Versionen, eine für ihn und eine für sie), wechselte die Wirklichkeit ihren Aggregatzustand von gasförmig zu fest. Es war Liebe auf den ersten Blick und damit ein Verbot von Alternativen, eine Reduktion der unendlichen Menge an Möglichkeiten auf ein Jetzt und Hier. Sebastians Erscheinen in Maikes Leben bedeutete, wie er es ausdrücken würde, einen Kollaps der quantenmechanischen Wellenfunktion. Seitdem gibt es für Maike einen Rücken, den sie freihalten kann. Sie tut es bei jeder Gelegenheit und gern.

»Ihr könnt nachher in aller Ruhe sprechen«, sagt sie und wischt sich mit dem Unterarm eine Strähne aus der Stirn. »Ich werde dir …«

»Ich weiß«, sagt Sebastian. »Danke.«

Beim Lachen lässt sie einen Kaugummi zwischen den Backenzähnen sehen und ist trotzdem unwiderstehlich mit ihren Kinderaugen und dem hellen Haar.

»Wann kommt Oskar denn?«, nörgelt Liam.

Während die Eltern sich anblicken, verteilt er seine Ungeduld in Ornamenten aus Zwiebelstücken und Knoblauchzehen über den Küchentisch. Ungezogenheiten, die Kreativität verraten, lässt Maike ihm durchgehen.

2

Es ist doch eigenartig, denkt Oskar, dass alle Menschen aus den identischen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Dass jene Nebenniere, die ihm einen leichten Adrenalinrausch durch die Adern schickt, auch im vegetativen Nervensystem der zierlichen Asiatin zu finden ist, die, mit dem Gesicht von Yoko Ono maskiert, Kaffee und belegte Brötchen an die Fahrgäste verteilt. Dass ihre Nägel, Haare, Zähne aus demselben Material sind wie die Nägel, Haare, Zähne sämtlicher Mitreisender. Dass ihre Finger beim Ausschenken des Kaffees von den gleichen Sehnen bewegt werden wie seine, die im Portemonnaie nach Kleingeld suchen. Dass selbst die Handfläche, in die er, jede Berührung vermeidend, ein paar Münzen fallen lässt, ein ähnliches Muster aufweist wie seine eigene.

Beim Überreichen des Bechers sieht ihn die Asiatin zu lange an. Der Zug fährt über eine Weiche; fast wäre ihm der Kaffee auf die Hose geschwappt. Oskar nimmt den Becher entgegen und schaut zu Boden, um dem strahlenden Lächeln auszuweichen, das ihm die Asiatin zum Abschied schenken wird. Wenn es nur die Ähnlichkeit der Handflächen wäre, die ihn mit ihr verbindet. Wenn sie wenigstens nur Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff miteinander teilen würden. Aber die Gemeinsamkeiten gehen tiefer, bis hinab zu den Protonen, Neutronen und Elektronen, aus denen er und die Asiatin aufgebaut sind und aus denen auch der Tisch besteht, auf den er seine Ellenbogen stützt, sowie der Kaffeebecher, der ihm die Finger wärmt. Dieser Umstand macht Oskar zu einem beliebigen Ausschnitt der Materie, aus der die Welt geformt ist, alles enthaltend, was existiert, weil man aus ihr nicht entkommen kann. Er weiß, dass die Grenzen seiner Person im großen Teilchenwirbel verschwimmen. Er kann spüren, wie er sich buchstäblich unter andere Menschen mischt. In fast allen Fällen ist ihm dieses Gefühl unangenehm. Es gibt eine Ausnahme. Zu der ist er gerade unterwegs.

Wenn Sebastian versuchen wollte, seinen Freund Oskar zu beschreiben, würde er sagen, dass Oskar aussieht wie jemand, der alle Fragen beantworten kann. Ob der Stringtheorie eines Tages die Vereinigung der physikalischen Grundkräfte gelingen wird. Ob man ein Frackhemd zum Smoking tragen kann. Wie spät es ist, und zwar in Dubai. Egal, ob er zuhört oder selbst spricht, seine Granitaugen ruhen bewegungslos auf dem Gegenüber. Oskar ist einer, in dessen Adern Quecksilber fließt. Einer, unter dessen Füßen sich stets ein Feldherrenhügel befindet. Einer, für den es keine albernen Kosenamen gibt. In seiner Gegenwart setzen sich Frauen auf ihre Hände, um nicht versehentlich nach ihm zu greifen. Als er zwanzig war, wurde er auf dreißig geschätzt. Seit er die dreißig überschritten hat, nennt man ihn alterslos. Er ist hochgewachsen und schlank, mit glatter Stirn und schmalen Augenbrauen, die sich ständig zu fragenden Bögen heben wollen. Auf den leicht eingesunkenen Wangen liegt trotz sorgfältiger Rasur ein dunkler Bartschatten. Auch wenn er, wie heute, zur schwarzen Hose einen schlichten Pullover trägt, wirkt seine Kleidung ausgesucht. An seinem Körper wagt der Stoff nur an den richtigen Stellen Falten zu werfen. Meist drückt seine Haltung eine Mischung von äußerer Gelassenheit und innerer Anspannung aus, die andere Menschen dazu veranlasst, ihm frech ins Gesicht zu sehen. Hinter seinem Rücken suchen sie tuschelnd nach seinem Namen, weil sie ihn für einen Schauspieler halten. Tatsächlich ist Oskar in bestimmten Kreisen berühmt, allerdings nicht für Schauspielerei, sondern für seine Theorien zum Wesen der Zeit.

Draußen gleitet der Sommer als grünblaues Band vorbei. Eine Bundesstraße folgt den Gleisen. Wie festgeklebt bleiben die Autos hinter dem Zug zurück; Licht liegt in flachen Seen auf dem Asphalt. Gerade hat Oskar eine Sonnenbrille hervorgeholt, als ein junger Mann fragt, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Oskar wendet sich ab und verbirgt die Augen hinter den dunklen Gläsern. Der junge Mann geht weiter. Auf dem Klapptisch steht der Kaffee in einer braunen Pfütze.

Was Oskar das Leben oft unerträglich macht, ist sein Empfinden für Stil. Viele Menschen können ihre Artgenossen nicht leiden, aber wenige sind in der Lage, das so genau zu begründen wie er. Dass sie alle bloß aus Protonen, Neutronen und Elektronen gemacht sind, könnte er noch verzeihen. Nicht verzeihen kann er ihre Unfähigkeit, diese traurige Tatsache mit Fassung zu tragen. Wenn er an seine Kindheit denkt, sieht er sich, vierzehnjährig, von einer Gruppe lachender Mädchen und Jungen umringt, die mit ausgestreckten Fingern auf seine Füße zeigen. Er hatte damals, ohne Zustimmung der Eltern, sein Fahrrad verkauft, um dafür sein erstes Paar rahmengenähter Schuhe zu erwerben; vorsichtshalber gleich drei Nummern zu groß. Seine Verachtung für taktloses Gelächter ist ihm bis heute geblieben. Er verabscheut Wichtigtuerei, das Auftrumpfen und die Schadenfreude der Dummen. Aus seiner Sicht ist keine Gewalttat so grausam wie ein Verbrechen gegen den guten Stil. Sollte er jemals (was durchaus nicht geplant ist) einen Mord verüben, dann vermutlich wegen einer aufdringlichen Bemerkung seines Opfers.

Der Spott seiner Schulkameraden endete abrupt, als er mit sechzehn eine Körpergröße von 1,90 Meter erreicht hatte. Stattdessen begann man, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Auf dem Schulhof wurde lauter gesprochen, wenn er in der Nähe stand. Hatte sich ein Mädchen im Unterricht gemeldet, dann schaute es beim Sprechen zu ihm hinüber, als wollte es sich vergewissern, ob er auch zuhöre. Selbst der Mathematiklehrer, ein ungepflegter Mensch, dessen Nackenhaar auf den Hemdkragen stieß, gewöhnte sich an, in Oskars Richtung »Das stimmt doch?« zu fragen, wenn er den kreidebrechenden Punkt hinter eine Zahlenreihe setzte. Dennoch war Oskar nach dem Abitur der Einzige seiner Klasse, der noch keine Erfahrungen mit angewandter Nächstenliebe gesammelt hatte. Er betrachtete das als Sieg. Er war überzeugt, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, dessen Anwesenheit er länger als zehn Minuten ertragen könnte.

Die Größe dieses Irrtums machte ihn schwindeln, als er an der Universität auf Sebastian traf. Dass sie einander schon am Eröffnungstag des neuen Semesters bemerkten, war ihrer Körperhöhe geschuldet. Über die Köpfe der anderen Studenten hinweg begegneten sich ihre Blicke, und es ergab sich fast automatisch, dass sie im Hörsaal nebeneinander Platz nahmen. Die peinliche Ansprache des Dekans erduldeten sie schweigend. Danach begannen sie auf dem Gang eine lockere Unterhaltung, und als zehn Minuten vergangen waren, hatte Sebastian noch nichts Einfältiges gesagt und kein einziges Mal töricht gelacht. Oskar ertrug nicht nur seine Gegenwart, sondern verspürte sogar Lust, das Gespräch fortzusetzen. Sie gingen in die Cafeteria und redeten bis zum Abend. Von diesem Moment an suchte Oskar die Nähe seines neuen Bekannten, und Sebastian ließ es geschehen. Ihre Freundschaft brauchte keine Anlaufzeit; nichts musste sich entwickeln. Sie ging einfach an wie eine Lampe, wenn man den richtigen Schalter drückt.

Jeder Versuch, die folgenden Monate zu schildern, läuft Gefahr, sich im Großartigen zu verlieren. Seit sich Oskar für ein Studium an der Universität Freiburg entschieden hatte, zeigte er sich der Öffentlichkeit nur noch in einem Cutaway mit langschößiger Jacke, gestreiften Hosen und silberner Halsbinde. Es dauerte nicht lang, bis Sebastian in ähnlichem Dandykostüm zu den Vorlesungen erschien. Jeden Morgen gingen sie in der Grünanlage vor dem Physikalischen Institut wie an Schnüren gezogen aufeinander zu, vorbei an Studenten sämtlicher Semester, die nur auf der Welt waren, um ihnen im Weg zu stehen, und begrüßten sich mit Handschlag. Sie kauften von jedem Lehrbuch nur ein Exemplar, weil sie es mochten, die Köpfe über einer aufgeschlagenen Seite zusammenzustecken. In den Hörsälen blieben die Plätze neben ihnen leer. Man fand ihren Aufzug seltsam und lachte doch nicht darüber, nicht einmal, wenn sie an den Nachmittagen untergehakt am Ufer der Dreisam spazieren gingen und alle paar Schritte stehen blieben, weil Wichtiges nur im Stehen gesagt werden kann. In ihrer altmodischen Garderobe glichen sie einer vergilbten Postkarte, als wären sie sorgfältig, aber nicht nahtlos in die Gegenwart geschnitten. Das Brausen der Dreisam fraß an ihrer Unterhaltung; aufgeregt winkten die Bäume im Wind. Nie war die Spätsommersonne schöner als in dem Augenblick, da einer von ihnen auf sie zeigte und etwas über solare Neutrinoprobleme sagte.

Abends trafen sie sich in der Bibliothek. Oskar flanierte an den Regalen entlang und kehrte von Zeit zu Zeit mit einem Buch an den gemeinsamen Tisch zurück. Seit Oskar sich angewöhnt hatte, einen Arm um den Freund zu legen, während er ihn auf eine interessante Stelle aufmerksam machte, sammelten sich auf den Bänken hinter den Glasscheiben des Lesesaals Germanistikstudentinnen. Wenn Oskar und Sebastian auf Partys jeder für sich durch die Menge glitten, mochte es vorkommen, dass Sebastian eins der Mädchen mit schwerer Zunge küsste. Hob er den Kopf, konnte er sicher sein, quer durch den Raum Oskars lächelndem Blick zu begegnen. Am Ende des Abends wurde das Mädchen zum Ausgang geführt und wie ein Kleidungsstück bei einem beliebigen Kommilitonen abgegeben. Im Anschluss daran geleiteten Oskar und Sebastian einander bis zur Gabelung ihrer Heimwege durch die Nacht. Dort blieben sie stehen; das Licht einer Laterne umgab sie wie ein Zelt, das keiner von ihnen verlassen mochte. Es ließ sich schwer entscheiden, welcher Moment für den Abschied geeignet sein sollte – dieser, oder doch erst der nächste? Während vorbeifahrende Autos ihren gemeinsamen Schatten um die eigene Achse drehten, schworen sie stumm, dass sich zwischen ihnen niemals etwas ändern dürfe. Die Zukunft gab es nur als einen ebenmäßigen, sich langsam entrollenden Teppich des Zusammenseins. Beim ersten Piepsen der Vögel drehten sie sich um, und jeder verschwand in seiner Hälfte des anbrechenden Morgens.

Am ersten Freitag im Monat erlaubt sich Oskar für ein paar Sekunden die Vorstellung, der ICE bringe ihn zu einem jener Abschiede unter den Freiburger Laternen zurück. Zu einem hitzigen Disput an der Dreisam, oder wenigstens zu einem gemeinsam aufgeschlagenen Lehrbuch. Dann schmeckt er das eigene Lächeln auf den Lippen, nur um gleich darauf in gereizte Stimmung zu verfallen. Selbstverständlich gibt es das Freiburg der nächtlichen Laternen nicht mehr. Es gibt einen kreisförmigen Tunnel unter der Schweiz, in dem Oskar Elementarteilchen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen lässt. Und es gibt eine Stadt, in die er auf Einladung von Sebastians Frau zu einem Familienessen fährt. An einem Freitag hat Oskar den puppengroßen Liam zum ersten Mal gesehen. An einem Freitag erfuhr er von Sebastians Ruf an die Universität. An Freitagen sehen sie einander in die Augen und versuchen dabei, nicht an die Vergangenheit zu denken. An Freitagen streiten sie. Für Oskar ist Sebastian nicht nur der einzige Mensch, dessen Gegenwart er mit Freude erträgt. Sebastian ist auch ein Wesen, das ihn mit der geringfügigsten Bewegung zur Weißglut treiben kann.

Während der Zug auf freier Strecke steht, bückt sich Oskar nach seiner Tasche und entnimmt ihr ein zusammengerolltes Exemplar des SPIEGELS, das sich von selbst an der richtigen Stelle öffnet. Den Artikel muss er kein weiteres Mal lesen; er kennt ihn fast auswendig. Stattdessen betrachtet er das Photo. Es zeigt einen vierzigjährigen Mann mit blondem Haar, hellen Wimpern und Augen aus einem blaugläsernen Material. Der Mann lacht, wobei sein halb offener Mund eine leicht rechteckige Form annimmt. Dieses Lachen kennt Oskar besser als sein eigenes. Vorsichtig streicht er dem Porträt über Stirn und Wangen und drückt dann plötzlich den Daumen hinein, als wollte er eine Zigarette zum Verlöschen bringen. Das Stehen des Zugs macht ihn nervös. In der benachbarten Sitzgruppe verteilt eine geblümte Mutter belegte Brote aus Plastikdosen. Salamigeruch breitet sich aus.

»Schon vier!«, ruft der Vater, dessen Gesicht auf einer weichen Fettmanschette ruht, und klopft mit dem Handrücken auf seine Zeitung. »Hier! Vierter Todesfall. Bei der Operation verblutet. Chefarzt streitet weiter ab.«

»Vier kleine Negerlein«, singt eine helle Kinderstimme, »die fuhren übern Rhein.«

»Ruhig«, sagt die Mutter und erstickt den Gesang mit einem Apfelschnitz.

»Steckt Pharmaindustrie hinter Patientenversuchen?«, liest der Vater. Derb schiebt er die Lippen vor, wenn er aus seiner Bierflasche trinkt.

»Alles Verbrecher«, sagt die Mutter.

»Die sollte man doch.«

»Wenn man könnte.«

Oskar steckt den SPIEGEL zurück in seine Tasche und hofft, dass Sebastian bei der Begrüßung keinen Salamigeruch in seinen Kleidern bemerken wird. Mit langen Schritten verlässt er das Großraumabteil. Als der Zug plötzlich anruckt, wäre er fast gestürzt. Schickt die Dummen in den Krieg, denkt er, während er sich im Vorraum bei den Toiletten gegen die Wand lehnt. Verheizt sie in der Ödnis Afrikas, in asiatischen Dschungeln, egal. Noch fünfzig Jahre Frieden, und die Menschen in diesem Land sind auf das Niveau von Affen zurückgekehrt.

Draußen fliegen die ersten gepflegten Vorgärten der Freiburger Randbezirke vorbei.

3

Der Sommer in Freiburg ist wunderbar.«

Oskar steht am offenen Fenster hinter einem halb zugezogenen Vorhang, schaukelt Wein im Glas und atmet den Duft des Blauregens ein, den er eben noch, aus dem Taxi gestiegen, von der Straße aus bewundert hat. Obwohl er, die Hitze ignorierend, einen dunklen Pullover trägt, wirkt er frisch, als besäße er gar nicht die Fähigkeit zu schwitzen. Hinter ihm knackt das Parkett, er wendet den Kopf.

Sebastian durchquert das geräumige Esszimmer, betont lässig die Arme schlenkernd, und verkörpert dabei das genaue Gegenteil seines Freundes. Sein Haar ist so auffällig hell, wie Oskars dunkel ist. Während Oskars Haltung immer wirkt, als wohnte er einem festlichen Ereignis bei, hat Sebastian etwas Jungenhaftes. Seine Bewegungen sind von lustiger Schlaksigkeit, und obwohl er sich gut kleidet, heute in Leinenhose und weißes Hemd, sieht es doch immer aus, als wäre er aus Hemdsärmeln und Hosenbeinen ein wenig herausgewachsen. An ihm scheint das Altern im Irrtum und beschränkt sich im Übrigen darauf, seine Lachfalten zu immer größeren Fächern auszubauen.

Er kommt dicht heran, hebt eine Hand, von der er weiß, dass sie warm und trocken ist, und legt sie Oskar in den Nacken. Kurz schließt Sebastian die Augen, als ihn der Geruch des anderen wie eine Erinnerung überfällt. Die Ruhe, mit der sie die unmittelbare Nähe des anderen ertragen, verrät Übung.

»In vier Tagen bringe ich einen Menschen um«, sagt Sebastian. »Aber ich weiß noch nichts davon.«

Das jedenfalls hätte er sagen können, ohne zu lügen. Stattdessen behauptet er:

»Der Freiburger Sommer ist so schön wie die Menschen, die ihn genießen.«

Der Konversationston misslingt und verrät Sebastians Anspannung eher, als dass er sie verdeckt. Seine Hand rutscht ab und fällt ins Leere, als Oskar geschmeidig zur Seite tritt. Unten haben Bonnie und Clyde den Anfang der Straße erreicht. Sie wenden und treiben wie Schwemmgut am Haus vorbei.

»Zur Sache«, sagt Oskar, den Enten mit den Augen folgend. »Ich habe deine Ergüsse im SPIEGEL gelesen.«

»Ich werte das als Gratulation.«

»Es ist eine Kriegserklärung, cher ami.«

»Herrgott, Oskar.« Sebastian schiebt eine Hand in die Hosentasche und fährt sich mit der anderen über das Gesicht. »Die Sonne scheint. Die Vögel singen. Es geht nicht um Leben und Tod. Sondern um physikalische Theorien.«

»Schon eine harmlose Theorie wie die von der runden Erde hat einen Haufen Leute das Leben gekostet.«

»Hätte Kopernikus einen Freund wie dich gehabt«, sagt Sebastian, »säßen wir heute noch auf einer Scheibe.«

Um Oskars Mundwinkel zuckt es. Er holt ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten hervor und wartet, bis Sebastian, der selbst nicht raucht, Streichhölzer gefunden hat und Feuer gibt.

»Und hätte Kopernikus an die Viele-Welten-Interpretation geglaubt«, sagt Oskar, wobei die Zigarette zwischen seinen Lippen hüpft, »wäre die Menschheit am Schwachsinn zugrunde gegangen.«

Sebastian seufzt. Es ist nicht leicht, mit einem Mann zu diskutieren, der an einem der größten geistigen Vorhaben des neuen Jahrhunderts beteiligt ist. Oskars Ziel ist es, die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen. Er will E=hν und Gαβ= 8 πTαβ zusammenbringen und damit aus zwei Sichtweisen des Universums eine machen. Eine Frage, eine Antwort. Eine einzige Formel, die alles beschreibt. Mit seiner Suche nach der Theory of Everything ist er durchaus nicht allein. Horden von Physikern arbeiten daran, im Wettstreit miteinander, wohl wissend, dass dem Sieger nicht nur der Nobelpreis zuteil werden wird. Ihm wird, in der Nachfolge von Einstein, Planck und Heisenberg, ein Scheibchen Unsterblichkeit gehören. Seinen Namen werden die Menschen auf ewig mit einer ganzen Epoche verbinden, nämlich mit jener der Quantengravitation. Oskars Chancen stehen nicht schlecht.

Vorsichtig gesagt, ist Sebastians Schwerpunkt ein wenig anders gelagert. An der Universität arbeitet er als Experimentalphysiker in der Nanotechnologie. Auch wenn er auf diesem Gebiet als brillant gilt, steht er damit (aus Oskars Sicht) zu einem Theoretiker wie ein Maurermeister zum Architekten. Sebastian beteiligt sich nicht am Kampf um die Unsterblichkeit. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit der Viele-Welten-Interpretation, an deren Namen (wie Oskar findet) bereits zu erkennen ist, dass es sich nicht um eine Theorie handelt, sondern um ein Steckenpferd. Sebastians Gebiet ist abgegrast. Die Großen haben es bereits vor fünfzig Jahren verlassen; nun wird es nur noch (nach Oskars Meinung) von Aufschneidern und Esoterikern beackert. Eine Sackgasse.

Im Grunde weiß Sebastian, dass Oskar recht hat. Manchmal fühlt er sich wie ein Kind, das, allen Einwänden der Eltern zum Trotz, störrisch versucht, aus einem Einmachglas und einem Stück Draht eine Glühbirne zu basteln. Vor seinen weniger begnadeten Kollegen, vor den Studenten und meistens auch vor sich selbst behauptet er dennoch, einem ganz neuen Zugang zu den Fragen nach Zeit und Raum auf der Spur zu sein. Einem Zugang, der die Viele-Welten-Interpretation hinter sich lassen wird. Genau genommen macht es keinen Unterschied, ob Sebastian noch daran glaubt oder nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Selbst wenn er sich vornähme, in Oskars Spiel einzusteigen – ein Rückstand von mehr als zehn Jahren wäre niemals aufzuholen. Der Endspurt im Kampf um die Theory of Everything hat begonnen, als es gelang, die Existenz von W- und Z-Bosonen im Experiment nachzuweisen. Da waren Oskar und Sebastian in ihren Zwanzigern, in jenem Alter also, in dem der Mensch die besten (Oskar: die einzigen) Ideen seines Lebens hat. Schon damals hat sich Oskar seiner Theorie von der diskreten Zeit zu Füßen geworfen wie ein besessener Liebhaber. Seitdem hat er Stunde um Stunde, Woche um Woche, über zehn Jahre lang um sie geworben, und ganz gleich, ob er eines Tages erhört werden wird oder nicht, Sebastian wird damit nichts zu tun haben. Er hat sich an einem sensiblen Punkt anderen Dingen zugewandt. Nicht nur einer anderen Theorie, sondern vor allem einem anderen Leben.

Der Mann, der die zweifelhafte Ehre besaß, diesen Wendepunkt in Sebastians Leben herbeizuführen, hieß Rotkäppchen. Den Spitznamen verdankte er seinem vom Wein glühenden Schädel, der sich oben durch einen fadenscheinigen Haarkranz gearbeitet hatte. Dazu trug er immer ein abgeschabtes Cordjackett, dessen Schultern von einer Schicht weißer Schuppenflocken bedeckt waren. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, war Rotkäppchen bei den Studenten beliebt. Er nahm sie ernst und forderte ihre Intelligenz durch verzwickte Aufgaben heraus. Die Zuneigung beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. Rotkäppchen konnte vor allem jene Studenten nicht leiden, die seinen Ansprüchen standzuhalten vermochten.

Am wenigsten gefielen ihm die beiden jungen Männer, die jeden Morgen den Eingang zum Hörsaal blockierten. Ihre Arroganz war Legende; ihre Freundschaft ein Gerücht, von dem selbst auf den Professorenfluren zu hören war. Noch mehr als einander, hieß es, liebten sie die Physik, um die sie mit der Leidenschaft von Rivalen stritten. Rotkäppchen ertrug es nicht, ihren großmäuligen Diskursen zuzuhören. Viel zu aufrecht standen sie da, inmitten eines Kreises von Zuhörern, rezitierten Formeln wie die Verse eines Librettos und ordneten dabei das Universum mit Dirigentenhänden. Ab und zu wandte Oskar den Kopf, um an einer seiner ägyptischen Zigaretten zu ziehen, und er tat es mit einem Gehabe, das sein Publikum in nervöse Bewegung versetzte.

Längst wusste die ganze Fakultät, dass Oskar die Welt für ein Feingespinst aus Kausalitäten hielt, deren verborgenes Muster sich nur aus größtem Abstand oder nächster Nähe entziffern lasse. Erkenntnis, meinte er, sei eine Frage der richtigen Entfernung und stehe deshalb nur Gott und den Quantenphysikern offen, während gewöhnliche Menschen blind in mittlerer Distanz zu den Dingen verharrten.

Sebastian, der immer ein wenig lauter und langsamer argumentierte, schimpfte seinen Freund einen schnöden Deterministen. Er selbst behauptete, nicht an Kausalität zu glauben. Die Kausalität sei, genau wie Zeit und Raum, zuallererst ein erkenntnistheoretisches Problem. Um Oskar und alle Umstehenden zu ärgern, bezweifelte er die Gültigkeit der Empirie als Erkenntnisverfahren. Ein Mensch, der am Flussufer eintausend weiße Schwäne vorbeiziehen sehe, könne daraus nicht schlussfolgern, dass keine schwarzen existierten. Deshalb sei die Physik vor allem eine Dienerin der Philosophie.

Ungeduldig drängte Rotkäppchen sich an den Streitenden vorbei. Er konnte keine Vorlesung mehr abhalten, ohne ihr aufdringliches Flüstern zu vernehmen. Manchmal sah er übellaunig von seinen Unterlagen auf, weil er meinte, dass ihn ihr Tuscheln zum Wahnsinn treibe, und musste dann feststellen, dass Oskar und Sebastian gar nicht anwesend waren.

Durchaus zugegen waren sie an dem Tag, als Rotkäppchen den Studenten eine Aufgabe zur Dunklen Energie präsentierte, deren Lösung nur über die Annahme einer nicht konstanten Einsteinschen Konstanten zu finden war. In der folgenden Woche standen sie nicht am Eingang des Hörsaals, sondern saßen bereits auf ihren gewohnten Plätzen und sahen Rotkäppchen entgegen, der schon auf sie zeigte, bevor er sein Pult erreicht hatte. Gemeinsam erhoben sie sich. Oskar schritt zum rechten Ende der Tafel; Sebastian trat nach einem winzigen Zögern an ihre linke Seite. Die langschößigen Jacken warfen sie über die Schultern und hielten sie mit einer Hand, während die andere das Kreidestück über den Schiefer jagte. Sie schrieben wie besessen; Oskar von hinten, Sebastian von vorn. Außer dem Quietschen der Kreide, welches das Anwachsen der Formel begleitete, war im Saal kein Laut zu hören. Auch als ihre Hände in der Mitte der untersten Zeile aufeinandertrafen, blieb es still. Einige Gesichter im Auditorium teilten sich ein Lächeln. Oskar vollendete das letzte Lambda und klopfte sich den Kreidestaub mit einer applaudierenden Bewegung von den Fingern. Unterdessen stand Rotkäppchen hinter ihnen und besah sich das Formelpanorama bei halb geöffnetem Mund, wie ein Wanderer, der eine verstörend schöne Landschaft bestaunt. Oskar drehte sich um und tippte ihm mit spitzem Finger auf die Schulter, als wollte er ihn wie eine Triangel zum Klingen bringen.

»Wissen Sie, was wir gerade bewiesen haben, Professor?«

Seine Stimme war voll und laut und Rotkäppchen zu tief in Gedanken, um Antwort zu geben.

»Die Physik gehört den Liebenden.«

Falls Rotkäppchen darauf etwas erwiderte, ging es im Lachen und Rumoren des Hörsaals unter. Ebenso wenig war zu hören, wie das Kreidestück zwischen Sebastians Fingern zerbrach. Während Oskar sich für das gelungene Kunststück feiern ließ, stand Sebastian noch immer mit nachdenklicher Miene vor der Tafel, zog schließlich seine Jacke an und verließ, unbemerkt von seinem Freund, den Saal. Was ihn erschüttert hatte, war die Selbstverständlichkeit, mit der Oskar an das rechte Ende der Tafel getreten war, ihm selbst das linke zuweisend.

Das Wissen darum, dass es Oskar keineswegs darauf angelegt hatte, ihn in den Schatten zu stellen, machte Sebastians Lage nicht leichter. Es fügte dem unsinnigen Gefühl der Demütigung noch den Stachel der eigenen Ungerechtigkeit hinzu. Während es Oskar nur um das Spektakel, um den Rausch der gemeinsamen Inszenierung ging, wollte Sebastian mehr als alles in der Welt ein guter Physiker werden. Für Oskar war Rechthaben kein Bestreben, sondern ein natürlicher Zustand. Er war schlicht davon ausgegangen, dass Sebastian, im Gegensatz zu ihm selbst, nicht in der Lage gewesen wäre, die Herleitung von hinten nach vorn zu schreiben. Das Schlimme war, dass diese Einschätzung zutraf. Sebastian fühlte einen Zwang, Oskar dafür zu strafen, dass die Sekunde, in der sich ihre Hände in der Mitte der Tafel berührt hatten, ein Moment des einseitigen Triumphes gewesen war. Nur für Oskar ein Fest ihrer Freundschaft und gemeinsamen Brillanz. Für Sebastian ein Beweis seiner Unterlegenheit.

Von da an fror er in Oskars Gegenwart. Er war nicht imstande, dem Freund zu erklären, warum die Gesetze ihrer Freundschaft mit einem Mal alle Gültigkeit verloren hatten. Seine Repliken bei Streitgesprächen wurden schärfer, seine Zeit für gemeinsame Forschung knapper. Oskar wehrte sich nicht. Sein stiller Blick unter halb geschlossenen Lidern verfolgte Sebastian bis in den Schlaf. Die Weigerung des Freunds, sich gegen die neue Aggressivität zu verteidigen, machte Sebastian nur noch härter. In Oskars Studentenzimmer schrie er gegen enge Wände und enge Weltbilder an, bis Oskar ihn eines Abends kühl und leise als einen stillosen Menschen bezeichnete. In dieser Nacht lief Sebastian allein durch die Straßen und erklärte den Laternen, an deren Masten er sich die Fäuste blau schlug, dass mit der Welt etwas nicht stimmen könne. Dass es weitere Universen geben müsse, in denen die Dinge anders liefen. In denen es unmöglich wäre, dass ein Mann wie er trotz besseren Wissens sein Glück verspielte. In denen er und Oskar einander niemals verlieren würden.

Als sie ihre Doktorarbeiten verteidigten, trafen sie sich schon lange nicht mehr am Ufer der Dreisam, sondern gelegentlich auf einen Scotch in den klobigen Sesseln einer Bar. Nirgendwo teilten sie mehr dieselbe Meinung, außer in der Frage, wer von ihnen der bessere Physiker sei. Das war Oskar, und nachdem diese einverständliche Überzeugung durch Oskars summa cum laude besiegelt war, tauschte Sebastian den Cutaway gegen Jeans und Hemd und heiratete.

Die Hochzeitsgesellschaft sprach hinter vorgehaltenen Händen über den Trauzeugen, der an den Wänden des Festsaals entlangschlich und mit seiner dunklen Gestalt persönlich für die Schatten in den Ecken verantwortlich schien. Seine Miene behauptete, sich niemals im Leben so köstlich amüsiert zu haben. Statt eines Schleiers, erzählte er den peinlich berührten Gästen, hätte Sebastian seiner Braut eine grüne Lampe aufsetzen sollen. Bei Notausgängen gehöre sich das so.

4

Ich wette eine Kiste Brunello«, sagt Oskar, »dass man dich ohnehin nur aus Anlass der Zeitmaschinenmorde um deinen Artikel gebeten hat.«

Sebastian schweigt. Dass es so gewesen ist, liegt auf der Hand. Es ergibt sich schon aus dem Inhaltsverzeichnis: Freiburger Professor erklärt die Theorien des Zeitmaschinenmörders. Sebastian hat sich sogar bemüht, einige Wendungen in seinen Beitrag einfließen zu lassen, die aus dem Geständnis des Täters stammen. Nach der Tötung von fünf Menschen hatte der junge Mann ausgesagt, es habe sich keineswegs um Mord, sondern um ein wissenschaftliches Experiment gehandelt. Er sei aus dem Jahr 2015 angereist, um die Viele-Welten-Interpretation zu beweisen. Diese betrachte die Zeit nicht als fortlaufende Linie, sondern als einen ungeheuren Stapel von Universen, der sich mit jedem Augenblick vergrößere, als eine Art Zeit-Schaum aus unendlich vielen Blasen, weshalb eine Reise in die Vergangenheit keine Rückkehr in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte darstelle, sondern einen Wechsel zwischen den Welten. Folglich sei es problemlos möglich, in die Vergangenheit einzugreifen, ohne dadurch die Gegenwart zu ändern. Er könne bezeugen, dass sich sämtliche seiner Opfer im Jahr 2015 wohlauf und bei bester Gesundheit befänden. In der Welt, der er angehöre, fehle es also an Ermordeten und dementsprechend auch an einem Verbrechen, und der Gerichtsbarkeit des Jahres 2007 fühle er sich, so leid ihm das tue, nicht unterworfen. Den Rat seines Anwalts, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, lehnte der junge Mann entrüstet ab.

»Und da schreibst du im SPIEGEL etwas zusammen«, sagt Oskar, »das über die Ideen dieses Wahnsinnigen noch hinausgeht.«

»Dass ein Wahnsinniger zwangsläufig unrecht hat, ist mir neu.«

»Was dich antreibt, ist nicht einmal Wahnsinn. Es ist der Wunsch«, Oskar weist über die Schulter in den Raum, »eine ganz bestimmte Realität zu relativieren.«

»Sei still«, zischt Sebastian. »Es reicht.«

Am anderen Ende des Esszimmers hat sich Maike vornübergebeugt und hält Liam an den Handgelenken. Sie sagt etwas zu ihm und zieht ihn immer wieder zu sich heran, während er das Gesicht zur einen und zur anderen Seite wendet. Das Haar hängt ihr in die Stirn, als sie aufschaut, um Sebastian anzulächeln.

»Ich weiß genau, worüber ihr sprecht«, ruft sie. »Es gibt ein Paralleluniversum, in dem Liam sich nicht weigert, den Tisch zu decken.«

»Genau«, sagt Sebastian freundlich.

»Und eins, in dem Oskar nicht so wütend guckt.«

»Das bleibt zu hoffen.«

»Und vielleicht auch eins, in dem ich nicht deine Frau bin und Liam nicht dein Sohn?«

Sie lacht, weil Sebastian verstört guckt. Die potentielle Halbwaise hat sich losgerissen, rennt um den Tisch und verschwindet, von Maike gejagt, auf den Flur.

»Du bist süchtig nach anderen Welten«, sagt Oskar leise. »Nach der Vorstellung, zwei verschiedene Männer zugleich sein zu können. Mindestens.«

Sebastian zwingt sich, den Vorhang loszulassen, den er die ganze Zeit befingert hat und am liebsten mit einem Ruck von der Stange reißen würde. Knapp an seiner Schulter vorbei schnellen Oskars Finger die ausgerauchte Zigarette aus dem Fenster. Sogleich kommen Bonnie und Clyde an den Spitzen zweier Wellendreiecke übers Wasser gerannt, um enttäuscht mit den Schnäbeln nach der ertrinkenden Kippe zu stoßen.

»Erinnerst du dich an jene Welt«, fragt Oskar, »in der du folgenden Satz zu mir gesagt hast: Ich will der Boden sein, der unter deinen Füßen zittert, wenn dich die Rache der Götter trifft?« Beim Zitieren wird sein Mund von zwei Falten eingefasst, gebogen wie ironische Klammern.

Natürlich hat Sebastian diese Äußerung nicht vergessen. Sie fiel in der Nacht, nachdem Oskar und er mithilfe einer Flasche Whisky Rotkäppchens Aufgabe zur Dunklen Energie gelöst hatten. In der Kneipe standen die Stühle bereits auf den Tischen; an der Bar wartete ein Kellner seit fünf Zigarettenlängen darauf, dass sie endlich das Lokal verließen. Aber die beiden sahen und hörten nichts; sie hatten die Augen geschlossen und die Stirnen aneinandergelegt, während ihre Schatten an der Wand gemeinsam den Nobelpreis des Jahres 2020 entgegennahmen. Über die Sprache der Zahlen waren sie sich an diesem Abend näher denn je gekommen. Ihre Köpfe hatten so perfekt miteinander gearbeitet, als gehörten sie ein und demselben Wesen. Sebastian hob zwei Finger, legte sie an die Wange seines Freundes und sagte, was ihm soeben eingefallen war: Ich will der Boden sein, der unter deinen Füßen …

»Wenig später«, sagt Oskar, »hörte ich dann etwas ganz anderes von dir.«

Auch daran kann Sebastian sich erinnern. Du überschätzt deine Bedeutung, hatte er Oskar in seinem Studentenzimmer angeschrien. Du überschätzt sie im Allgemeinen, und ganz besonders in Bezug auf mich!

Es gehört zu Oskars Verständnis von gutem Stil, die Raffinesse einer Attacke zu würdigen, auch wenn sie gegen ihn geführt wird. Er bewunderte das präzise Aufeinanderfolgen von vertrauensbildenden Maßnahmen (Ich will der Boden sein …) und tödlichem Stoß (Du überschätzt …), und so lag er in seinem Sessel und tat nichts weiter, als den aufgebrachten Sebastian beifällig anzusehen.

»So viele Welten«, sagt Oskar jetzt. »Manchmal wünsche ich mir ein Mittel, um dich aus der Spur zu stoßen.«

»Du übertreibst.«

»Du warst mal ein guter Physiker, bevor du dich verrannt hast.«

»Ich habe mich nicht verrannt«, sagt Sebastian mit äußerster Beherrschung. »Ich habe nur die Kopenhagener Deutung nicht als letztverbindliche Wahrheit anerkannt. Auch die Kopenhagener Deutung ist nur eine Interpretation, Oskar. Keine Religion.«

»Keine Religion, stimmt. Sie bemüht sich um Wissenschaftlichkeit. Ganz im Gegensatz zu deinen Viele-Welten-Eskapaden.«

»Halten wir fest, dass ich die Viele-Welten-Interpretation im SPIEGEL nicht einmal vertreten, sondern nur erklärt habe. Weil man mich darum gebeten hat.«

»Wenn du den Blödsinn nicht einmal vertrittst, dann zeigt das nur, dass sich zur Dummheit auch noch Feigheit gesellt.«

»Es reicht langsam.«

»Man sollte dich schütteln, damit du aufwachst. Dir ins Gesicht schlagen, bis du dich der Wirklichkeit stellst.«

»Was«, fragt Sebastian anzüglich, »ist die Wirklichkeit?«

»Alles«, sagt Oskar und legt plötzlich einen Handrücken leicht gegen Sebastians Bauch, »was dem Experiment zugänglich ist.«

Ratlos hebt Sebastian einen Arm und lässt ihn wieder sinken. Seine Augen suchen Halt an Oskars Profil, dann an einer aufsteigenden Taube, die ihm gleich wieder aus dem Blickfeld stürzt. Standbein, Spielbein, die hängenden Schultern, der geneigte Kopf – alles an ihm verkündet Kapitulation. Davon bemerkt Oskar nichts. Er hat sich abgewendet, stützt beide Hände auf die Fensterbank und spricht ins Freie.

»Vielleicht hast du Orwells 1984 gelesen. In Ozeanien lernen die Menschen unter Folter, etwas gleichzeitig für wirklich und unwirklich zu halten. Sie werden mit Gewalt gezwungen, in der Wahrheit nur eine Möglichkeit von vielen zu sehen. Weißt du, wie Orwell das nennt?« Ohne hinzusehen, greift Oskar mit einer überraschenden Bewegung nach Sebastian. »Weißt du es?«

Sebastian betrachtet die Finger, die sein Handgelenk umschließen. Gleich werden er und Oskar sich zum ersten Mal an diesem Abend direkt in die Augen schauen. Für mehrere Sekunden wird keiner von ihnen den Blick abwenden. Oskars Züge werden sich entspannen. Dann wird er hastig nach einer weiteren Zigarette suchen und sie schweigend entzünden.

»Ich habe das Buch nicht gelesen«, sagt Sebastian.

Der Boden unter ihren Füßen beginnt zu zittern, als Liam stürmisch ins Zimmer gerannt kommt. Er wirft sich aus vollem Lauf gegen Oskar, umklammert seine Hüften und stellt je einen kleinen Sockenfuß auf die polierten Budapester. Schnell haben Oskars Finger das Handgelenk seines Freundes losgelassen.

»Willst du den ganzen Abend auf mich eindreschen«, fragt Sebastian, »bloß weil ich im SPIEGEL erschienen bin?«

»Mit Photo«, sagt Liam.

»Mais non.« Als Oskar über Liams Scheitel streicht, richten sich einzelne Haare auf, um der elektrostatischen Ladung seiner Hände zu folgen. »Ich werde es wie immer genießen, zu Besuch in deinem Leben zu sein.«

Sie wechseln noch einen flüchtigen Blick, während Liam an Oskars Pullover zerrt, um ihn in Bewegung zu setzen.

»Na los, Quantenfüßiger!«, ruft er und freut sich, als Oskar lacht. Als zweiköpfiges Wesen mit nur einem Beinpaar schwanken sie dem Tisch entgegen.

»Übrigens habe ich etwas für dich«, sagt Oskar über die Schulter zu Sebastian. »Einen offiziellen Fehdehandschuh.«

Er dreht mit Liam eine Extrarunde um den Tisch und lässt sich von Maike, die Kerzen auf Leuchter steckt, einen Stuhl zuweisen, obwohl er natürlich weiß, wo er sitzt.

»Fehdehandschuh«, murmelt Sebastian, der am Fenster stehen geblieben ist. »Und ich weiß auch schon, wer die Waffen wählen wird.«

Er schaut in die Kronen der Kastanien, in denen die Spatzen lärmen, und überlegt, ob das Gezwitscher, auf Band aufgenommen und rückwärts abgespielt, vielleicht menschliche Worte ergäbe. Eine endlose Rede. Einen Roman pro Vogel und Tag.

5

Mit langen Armen, in deren Sonnenbräune ein kurzärmeliges Sporthemd seine hellen Abdrücke hinterlassen hat, verteilt Maike Rucola-Salat aus einer Schüssel. Sie pustet eine Strähne aus der Stirn, um Oskar einen bittenden Blick zuzuwerfen.

»Und«, fragt sie, »was macht der Teilchenbeschleuniger?«

»Ach, Maik.«

Gleich beim ersten Treffen hat Oskar ihrem Namen das abschließende »e« verweigert; seitdem hält er an der Kurzform fest. Jedes Mal, wenn Maikes Augen den seinen begegnen, bringt wechselseitiger Spott ihre Gesichter zum Leuchten, so dass ein flüchtiger Beobachter auf die Idee kommen könnte, sie seien heimlich ineinander verliebt.

»Du weißt, dass ich zehn Jahre gebraucht habe, um mich an deine Existenz auf Bohrs Erde zu gewöhnen …«

»Was ist Bohr?«, fragt Liam dazwischen.

»Ein großer Physiker«, sagt Oskar. »Wer die Welt erklären kann, dem gehört sie.« Er legt einen Finger an die Nase, als müsste er eine Taste drücken, um zu seinem Thema zurückzufinden. Als es gelungen ist, zeigt er auf Maike. »Wenn du schon da bist, dachte ich irgendwann, kannst du wenigstens auf Sebastian aufpassen. Und was machst du? Erbärmlich schlechte Arbeit. Er blamiert sich in aller Öffentlichkeit.«

Maike zuckt mit der linken Schulter, wie sie es immer tut, wenn sie nicht weiterweiß.

»Setz dich doch«, sagt sie zu Sebastian, der an den Tisch getreten ist, während Oskar sie mit einem Ausdruck betrachtet, als kenne er einen guten Witz über sie, den er nur aus Höflichkeit nicht erzählt.

Sebastian rückt einen Träger von Maikes Kleid zurecht und streicht das Haar an ihrem Hinterkopf glatt, bevor er seinen Stuhl heranzieht. Wenn Oskar da ist, berührt er sie häufiger als sonst. Er ärgert sich darüber und kann es trotzdem nicht lassen. In diesem Augenblick wünscht er sogar, sie möge die Salatschüssel abstellen und zum Fenster gehen, damit Oskar sehen kann, wie das Gegenlicht den Flaum auf ihren Wangen zum Leuchten bringt und die Silhouette ihres Körpers unter dem Kleid wie auf eine Leinwand projiziert. Oskar soll sehen, dass Maike etwas Seltenes ist, etwas, das man bewacht und um das man beneidet wird. Er findet solche Gedanken abstoßend, und noch abstoßender ist die Tatsache, dass Maike sich nicht an seinem veränderten Benehmen stört, sondern kokett die Augen aufschlägt und ihre Stimme um eine halbe Oktave in die Höhe schraubt.

»Fangt an.«

Oskar breitet die Serviette bei erhobenen Ellenbogen über den Schoß, ganz ähnlich, wie er früher die Jackenschöße zurückwarf, bevor er sich setzte.

»Im Übrigen«, sagt Sebastian betont, um einen Themawechsel anzuzeigen, »ist mein Streit mit Oskar von hoher Aktualität.«

»Wie schön für euch.« Maike knickt Salatblätter mit Messer und Gabel zu einem ordentlichen Päckchen. »Dann gibt’s vielleicht Leute, die wissen, worum es eigentlich geht.«

»Ich hielt das eher für alte Kamellen«, sagt Oskar.

»Gar nicht«, behauptet Sebastian. »Letztlich geht es um Wissenschaft und Moral. Ein Dauerbrenner. Denkt doch mal an den Medizinerskandal.«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Am Universitätsklinikum verbluten Herzpatienten während der Operation. Es gab eine Strafanzeige. Angeblich wurden unzulässige Mittel ausprobiert, die die Blutgerinnung hemmen.«

»Natürlich, euer Freiburger Mengele!« Nach jedem Bissen betupft sich Oskar die Lippen mit der Serviette. »Selbst der Pöbel im Zug spricht darüber.«

»Was ist ein Mengele?«, fragt Liam, der im Kampf gegen die Salatblätter noch keinen einzigen Gegner bezwungen hat.

»Das ist jetzt nicht so wichtig«, sagt Maike schnell.

»Immer, wenn’s nicht so wichtig ist, geht es um Sex oder um Nazis!«, kräht Liam.

»Sei nicht oberschlau!«, sagt Maike.

Sofort wirft Liam die Gabel beiseite.

»Die Nazis haben Drahtseile über die Straße gespannt, um den Amis im Cabrio den Kopf abzuschneiden. Das hab ich im Fernsehen gesehen!«

»Iss deinen Broccoli«, sagt Sebastian.

»Das ist Rucola«, sagt Maike.

»Ich glaube nicht, dass es sich um Patientenversuche handelt«, fährt Sebastian fort, bemüht, das Gespräch in Gang zu halten. »Die Pharmaindustrie wäre doch nicht so dreist, damit fortzufahren, bei dem ganzen Pressewirbel …«

»Müssen wir darüber reden?«, unterbricht Maike.

Erstaunt hebt Oskar den Kopf.

»Ça va, Maik?«

»Mama kennt den Mörder!«, ruft Liam.

»Gleich gehst du ins Bett!«

»Du redest Unsinn, Liam«, sagt Sebastian, der noch nichts gegessen, dafür sein zweites Glas Wein getrunken hat. »Mama kennt einen Oberarzt aus Schlüters Abteilung.« Und zu Oskar: »Schlüter ist der Chefarzt unter Verdacht. Er sieht seiner Suspendierung entgegen. Wegen Körperverletzung mit Todesfolge.«

Oskars Miene hellt sich auf.

»Maiks Radsportfreund! Der arbeitet im Krankenhaus. Wie heißt er noch gleich?«

»Ralph«, sagt Maike.

»Dabbeling.« Sebastian wirft Oskar einen warnenden Blick zu.