Schlamm im Champagnerglas - Gesine Englert - E-Book

Schlamm im Champagnerglas E-Book

Gesine Englert

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Beschreibung

Auf ihrem Flug von Frankfurt nach Málaga wird Carla von einem Fremden angesprochen. Sie erhält eine Partyeinladung in das schlossähnliche Anwesen des "Königs von Marbella", Antonio Paranese, Milliardär, Chef des vornehmen, geheimen, europäischen Wirtschaftsclubs "CLOM". Für sie beginnt ein Alptraum … Ein Terroranschlag in einer Kleinstadt, die Ermordung des Topbankers Lettermans erschüttern die deutsche Öffentlichkeit. Der Flugzeugabsturz des Frankfurter Anwalts Bubi Jacob gibt Rätsel auf. Kommissar Kellner, Spezialist für Wirtschaftskriminalität in Frankfurt, leitet die Ermittlungen. Schon bald gerät Carla ins Visier seiner Nachforschungen. Im Auftrag des Mossad observiert Raoul Engelmann Antonio Paranese, seine dubiosen Geschäfte und den feinen Club "CLOM". Wegen der Brisanz und Verwicklung höchster Kreise von Wirtschaft und Politik geraten die Ermittlungen Kellners ins Stocken, werden per Order "von ganz oben" unterdrückt. Auch Raoul kämpft mit entsprechenden Schwierigkeiten. Abgründe tun sich auf. Die Geheimdienste mischen kräftig mit auf den weltweiten Schauplätzen des Geschehens: Marbella, Frankfurt, Zürich, Südamerika u. a. … Eine zarte Liebesgeschichte entwickelt sich zwischen Raoul und Chiara, der Tochter des ermordeten Bankers. Am Ende des spannenden Thrillers zwischen Eurokrise, Wirtschaftskriminalität, Triumph des globalen, ungezügelten Kapitalismus bleibt die Vision von freiheitlicher Demokratie und globaler, sozialer Marktwirtschaft. Glaube, Liebe, Hoffnung, irgendwie haben sie immer überlebt …!

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„Where no counsel is, the people fall, but in the multitude of counselors there is safety.“

Proverbs X1/14

„Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.“

Russisches Sprichwort

„… oder ein Flugzeug ins Reich der Fantasie!“

Die Autorin

„In Deutschland gilt derjenige als viel gefährlicher, der auf den Schmutz hinweist, als der, der ihn macht.“

Carl von Ossietzky

Für Rachel, Daniel und alle anderen, die sich unermüdlich für Frieden und die Bekämpfung von Vorurteilen einsetzen.

Und für Dieter, der meine Träume und Spinnereien ertrug!

Alle Figuren und ihre Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen oder wirklichen Ereignissen sind rein zufällig. Sie sind keinesfalls beabsichtigt oder von der Autorin gewollt.

Die CIA und den MOSSAD betreffende Ereignisse und Schilderungen sind frei erfunden.

Die Autorin hat von ihrer dichterischen Freiheit Gebrauch gemacht. Im Roman geäußerte Meinungen und Ansichten spiegeln nicht die Meinung der Autorin wider.

3. November 2012Gesine Englert

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten. „Que mar tan bella!“ „Wie schön das Meer ist!“, rief Isabella, die Katholische, begeistert, als sie das Meer beim heutigen Ort Marbella sah. Der Legende nach gab dieser Ausruf der Stadt den Namen.

Marbella ist eine Gemeinde im Süden Spaniens an der Costa del Sol in der Provinz Málaga. Die „La Concha“ – die Muschel – ist ihr Hausberg. Mitte des 20. Jahrhunderts begann in der Region die Entwicklung des Tourismus. Alfonso von Hohenlohe kaufte große Landflächen und gründete das berühmte „Marbella Club Hotel“. Immer mehr Prominente ließen sich von da an in Villen in und um Marbella nieder. Die Boulevardpresse entdeckte das kleine Luxusdorf. Aristoteles Onassis, Guy de Rothschild, Arthur Rubinstein, Omar Sharif, Gunilla von Bismarck, König Fahd von Saudi-Arabien und viele andere genossen die Sonne und die feinen Clubs. Puerto Banús, der Jachthafen, wurde gebaut. Er entwickelte sich mit seinen Restaurants, Bars, Diskos und Geschäften zum Treffpunkt des Jetsets. Hier lagen und liegen noch heute die schönsten Jachten. Die strahlend weißen Gebäude am Ufer bildeten einen wunderschönen Kontrast zum tiefblauen Meer. Bald erlebte das kleine Städtchen Marbella einen ungeheuren Bau- und Investitionsboom. Umweltauflagen wurden missachtet. Der Bürgermeister, zahlreiche Mitglieder des Gemeinderates, bekannte Anwälte wurden wegen Korruption verhaftet. Die Gesamtsumme der geflossenen Gelder belief sich nach vorsichtigen Schätzungen auf 2,4 Milliarden Euro.

Bis heute hat sich Marbella von diesem finanziellen Desaster nicht wirklich erholt. Der internationale Glamour verblasste, nicht zuletzt wegen der neuen, strengeren Geldwäschegesetze. Noch immer ist die Stadt mit ihren hübschen, alten Gassen, den vielen Parks, den endlosen Stränden, dem Paseo Maritimo und ihrer verträumten, ländlichen, andalusischen Umgebung eine Reise wert. Deutlich zeigt dies die jährlich ansteigende Zahl von Touristen. Luxuriöse, schlossartige Villen findet man in der traumhaften Lage der Sierra Blanca, bekannt als „Beverly Hills“ der Costa del Sol. Die großzügigen Anwesen, die Exklusivität, Sicherheit und Privatsphäre bieten, sind trotz Krise bei der internationalen High Society heiß begehrt.

Unbeirrt schaute die „La Concha“ ins Tal. Rechts ein kleines weißes Wölkchen, zur Linken ein Wolkenschleier, ragte die Spitze des Berges in den strahlend blauen Himmel. Vorsichtig fuhr Carla die Carretera Serena hinauf. Dicke Straßenschwellen stellten die Achsen ihres alten Autos auf eine harte Probe. Nach und nach wichen die kleinen bürgerlichen Villen mit ihren gepflegten Vorgärten zurück. Endlose hohe weiße Mauern folgten, ab und zu unterbrochen von schweren schmiedeeisernen oder dicken Holztoren. Die dahinterliegenden Villen und Grundstücke konnte man nur erahnen. Carla bog rechts in die Carretera Gavina ab. Alles wirkte irgendwie leer und ausgestorben. An jedem dritten Haus stand: „Se vende“, „zu verkaufen“. Ab und zu sah man Autos und Männer der „Prosecur“, einer Überwachungsfirma, die sich um Verwaltung und Sicherheit der leerstehenden Häuser und Anwesen kümmerte. Und doch hatte hier in der Sierra Blanca alles angefangen. Vor zehn Jahren. Carla stand am Ziel, Carretera Gavina einhundertfünfunddreißig, am Ende der Straße, am höchsten Punkt der Sierra Blanca.

Die Nachbarin hielt Carla einen Zettel entgegen. „Er hat Sie in der ganzen Stadt gesucht, ein Freund von Ihnen. Er kennt Sie aus Ihrer Zeit in San Diego.“ Auf dem Blatt stand ein Name hingekritzelt: „Bobby Busker“. Beim besten Willen konnte Carla sich nicht erinnern. Sie legte den Zettel in die Küchenschale. Bald war die kurze Nachricht vergessen.

Im hellen, lichtdurchfluteten, obersten Stock der AF Bank saßen mit ernsten, angestrengten Mienen vier Männer. Den wunderbaren Blick über die Skyline von Frankfurt und den regen Betrieb entlang des Mains nahmen sie nicht wahr. „Wir haben einen Boten nach Genf und Zürich geschickt, die Amerikaner sind uns auf den Fersen. Habe einen meiner besten Leute beauftragt, die Sache zu übernehmen.“ „Dieses Mal muss es klappen, mein Auftraggeber ist wütend, er will prompte Erledigung“, bemerkte der offensichtlich jüngste der vier und stand auf. „Mein Flieger geht in einer Stunde, man sieht sich.“ Er verließ den Raum. Die kleine Gruppe löste sich auf.

Regelmäßig flog Carla nach Málaga, manchmal nur für ein verlängertes Wochenende. Sie liebte das kleine „Pueblo“, das fernab des lauten Tourismus, des umtriebigen Party- und Gala-Marbellas in den Bergen von Ronda lag. LH-Flug Nr. 1150 um 13.25 Uhr wurde aufgerufen. Ein netter Herr mittleren Alters verwickelte sie in ein Gespräch. Was für ein Zufall, in der Maschine lagen ihre Sitze 8A, 8B, nebeneinander. Als die Maschine über dem Strand und Golfplatz von Málaga zur Landung ansetzte, hatten sie ihre spanischen Adressen getauscht. Mit der üblichen Floskel: „Sie müssen mich unbedingt mal besuchen“, verabschiedete man sich. Von hinten drängelten die ungeduldigen, sonnenhungrigen Urlauber. Alle wollten das Flugzeug und das Menschengewimmel des Flughafens von Málaga möglichst schnell hinter sich lassen. Carla stopfte die Visitenkarte des gesprächigen Mitreisenden in ihre Jackentasche und verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Das Meer begrüßte die Ankommenden mit aufgeregten, weißen Schaumkronen. Der Taxifahrer redete auf die junge Frau ein. Die Sonne drängte mit ihren letzten, abendlichen Strahlen an der Küstenstraße entlang. Carla entspannte sich und genoss die Vorfreude auf ein paar Urlaubstage. Merkwürdig, was immer sie in den nächsten Tagen unternahm, ihre üblichen Einkäufe im Mercadona-Markt, lange Wanderungen auf dem Paseo Maritimo, Bankgeschäfte erledigen oder Freundinnen treffen – immer hatte sie einen stillen Begleiter, einen schwarzen Van mit dunklen Scheiben. Anfangs hielt Carla es für einen Zufall, ging ihrer Wege, ohne den Wagen zu beachten. Einmal aber, vor der Bank, als der Van dicht hinter ihr parkte, sah sie zwei Männer aussteigen. Sie winkte ihnen freundlich zu. Vielleicht klärte es sich auf, und sie beendeten das lächerliche Treiben, dachte sie. Die beiden Männer stiegen, ohne sich nochmals umzudrehen, in ihr Auto und fuhren eiligst davon. War alles Einbildung, Verfolgungswahn, zu viel Fantasie oder die Anfänge eines Sonnenstiches? Die Gedanken kreisten in Carlas Kopf. Bis zum Abend hatte sie sich bei einem gemütlichen Glas Rioja wieder beruhigt. Zwei Tage später besuchte sie ihre Freundin in Los Monteros, im Norden von Marbella. Als sie auf dem Parkplatz des Golfclubs ankam, stand der schwarze Van schon da. Wiedersehensfreude und großes Hallo, sowie der übliche Tratsch über das Neueste in Marbella, ließen sie den mysteriösen Zwischenfall vergessen. Hirngespinste, was sonst!

Zürich ist das wichtigste wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Zentrum der Schweiz. Die Stadt liegt im östlichen Schweizer Mittelland, an der Limmat, am Ausfluss des Zürichsees. Aus dem altrömischen Stützpunkt Turicum entstanden, wurde sie 1262 Freie Reichsstadt und 1351 Mitglied der Eidgenossenschaft. Die Stadt des Reformators Ulrich Zwingli erlebte im Industriezeitalter ihren Aufstieg zur Wirtschaftsmetropole. Mit ihrem großen Bahnhof und dem Flughafen bildet sie einen kontinentalen Verkehrsknotenpunkt. Eine gut erhaltene mittelalterliche Altstadt und ein vielseitiges Kulturangebot runden das Bild ab. Dank ihrer Geldinstitute und dem jahrelang streng gehüteten Bankgeheimnis entwickelte sich Zürich zum internationalen Finanzplatz. Vom neutralen Boden der Schweiz agieren bevorzugt Geheimdienste aller Nationalitäten. Besonders günstig erwies sich für die Dienste aus aller Welt die Tatsache, Geldgeschäfte konnte man in Zürich bisher mit äußerster Diskretion abwickeln. Trotz vergleichsweise geringer Einwohnerzahl wird Zürich zu den Weltstädten gezählt.

Im vornehmen Hotel „Au Lac“ am Zürichsee lief ein Mann ungeduldig in der Lobby auf und ab. Blass, dunkler Maßanzug, zwei Aktenkoffer, eine randlose Brille betonte die kalten, gefühllosen Augen, reihte er sich mühelos in die Berufsgruppe „Banker der oberen Etagen“ ein. „Herr Rütli, die Suite 215 ist wie immer gerichtet“, wandte sich ein Hotelangestellter an ihn. „Danke, Carlo“, war die kurze Antwort. In diesem Moment fuhr eine schwere, weiße Limousine in die Einfahrt des „Au Lac“. Der mit „Herr Rütli“ angesprochene Mann eilte mit angespannter Miene auf den Wagen zu, dessen Tür von einem eifrigen Portier sofort aufgerissen wurde. Zwei Männer südländischen Aussehens, ein älterer und ein junger, stiegen aus. „Hatten Sie eine gute Reise, Mr. Paranese?“ Ein devotes Lächeln, rasches Händeschütteln, Herr Rütli von der VZU Bank führte seine Gäste zum Lift. In der Suite 215 war alles für eine intime Besprechung vorbereitet. Champagner, Weine der besten Sorte standen in den Kühlern bereit. Kaviar und Hummerhäppchen erwarteten die Gäste. Die beiden Männer würdigten die Köstlichkeiten keines Blickes, setzten sich wortlos an den Tisch, ließen sich Wasser einschenken und warteten, bis der Ober den Raum verlassen hatte. Mit einem Klick verschloss Herr Rütli die schwere, gepolsterte, schalldichte Tür. Inzwischen hatte der ältere der beiden die Aktenkoffer geöffnet. Herr Rütli starrte auf den Inhalt: Sie waren prall gefüllt mit Dollarnoten. Er schwitzte leicht. „Auf das übliche Konto, dann Transfer ECE Bank, Dubai, von dort in die International Holding einfließen lassen“, wies ihn der Ältere in harschem Ton an. Beflissen zog Herr Rütli einen kleinen Ordner mit Papieren hervor. Schweigend unterzeichnete Mr. Paranese die Formulare. Mit einem kurzen: „Nice to meet you again“ verließen die beiden Männer die Suite. Mit flinken Fingern wurden die Dollarpäckchen gezählt und die beiden Köfferchen doppelt verriegelt. Mit einer kleinen, kaum sichtbaren Kette schloss Herr Rütli sie an sein Handgelenk an. Er durfte keine Zeit verlieren. Ein wenig traurig sah er auf die leckeren Häppchen und den Champagner. Heute Abend würde er sich ein Fläschchen Dom Pérignon des besten Jahrganges genehmigen. Über sein Mobiltelefon rief er in der Bank an. Fünf Minuten später brachte ein unauffälliger, dunkelblauer Audi Herrn Rütli und seine beiden Aktenkoffer zur VZU Bank am nahe gelegenen Paradeplatz.

Diesen Sommer lagen auffallend prächtige, schnittige Jachten im Hafen von Puerto Banús. Besonders stach die Al Efzar hervor. Sie ähnelte einem riesigen Speedboot, einem Rennwagen auf dem Meer. Am hinteren Ende befand sich ein freier Platz, Hubschrauber konnten dort problemlos landen. Besitzer war angeblich ein US-Amerikaner iranischer Abstammung, der die Jacht für unglaubliche Summen, man sprach von 20.000 Dollar am Tag, an seine Klientel vermietete. Einheimische und Touristen, bewaffnet mit Kameras und Ferngläsern, versuchten immer wieder, Stars, Sternchen, vielleicht sogar ein paar Promis auf dem Boot zu entdecken. Die Al Efzar lag still und majestätisch da, nichts rührte sich an Bord. Ab und zu sah man ein paar Männer, die das Deck wischten und schrubbten. Sie sorgten offensichtlich für die glanzvolle Fassade der prächtigen Jacht. Ein Schwarm Möwen umkreiste sie respektlos nahe. Zu sehen gab es für die suchenden Blicke der Menschen von der geschäftigen Uferstraße aus nichts. Oder doch …?

Ein aufmerksamer Beobachter konnte auf der Al Efzar nach Einbruch der Dunkelheit kleine, sich schnell bewegende Lichtpunkte entdecken. Ein Motorboot dockte kurz an und bewegte sich dann in rasender Fahrt wieder auf das freie Meer hinaus. Um Mitternacht hörte man den Lärm der Rotorenblätter eines kleinen, wendigen Hubschraubers. Nach kurzem Stopp auf der Jacht verschwand er ebenfalls in der nächtlichen Dunkelheit. In warmen Sommernächten schoben sich jeden Abend Hunderte von mehr oder weniger alkoholisierten Touristen die schmale Carretera von Puerto Banús entlang. Auf der Suche nach den besten Bars, Diskos, Restaurants und Geschäften hatten sie keinen Blick für die schlafenden Jachten und die sich leicht kräuselnden, fast geräuschlosen Wellen des sommerlichen Mittelmeers. Nach Sonnenuntergang interessierte sich keiner der erlebnishungrigen Menschen für den Strand und das Meer. Es war Partytime in Puerto Banús, der Vergnügungsmeile von Marbella. Selbst der Mond zog sich beleidigt hinter ein Wölkchen zurück. Sein wunderschöner Schein, widergespiegelt als glitzernder Streifen auf dem Meer, wurde von niemandem wahrgenommen. Das Naturschauspiel einer klaren Vollmondnacht über südlichem Meer ging in der Oberflächlichkeit einer künstlichen Glitzerwelt unter. Die nächtliche Geschäftigkeit auf der Al Efzar wurde von einem Mann mit nervösen Blicken auf die Uhr und aufgeregten Gesten dirigiert. Ein Ohr am Mobiltelefon, erteilte er leise, aber bestimmt Anweisungen.

Doch nicht nur auf der Partymeile von Marbella in Puerto Banús wurde gefeiert. Die größten Feste und Galas fanden in den Luxushotels und in den schlossartigen Villen der Sierra Blanca sowie in La Zagaleta statt. In der Carretera Gavina stauten sich die Limousinen und flotten Sportwagen. Männer eines Sicherheitsdienstes prüften ernsthaft und sehr genau die Einladungen und Ausweise der eleganten Gäste. Wenn diese die Einfahrt mit der Hausnummer 135 passieren durften, erwartete sie eine von Palmen gesäumte Allee, die scheinbar endlos ins Grundstück hineinführte. Nach einer Kurve tauchte die prächtige Villa plötzlich auf. Unverkennbar die Ähnlichkeit mit dem Weißen Haus in Washington. In der großzügigen Zufahrt, gesäumt von römischen Säulen, warteten in langen Reihen die Luxuslimousinen. Butler in Trachten aus dem Frankreich der Könige halfen den Gästen beim Verlassen der Wagen und führten sie durch die riesige, mit Kristalllüstern erleuchtete Eingangshalle auf eine Terrasse mit ähnlichen Ausmaßen. Der Blick von dort in den Park war überwältigend, fast unwirklich. Ein Pool mit Wasserfällen, künstliche Seen, Bäche, alles angestrahlt in den verschiedensten Farben. Dazwischen waren weiße Zelte aufgebaut. Auf großzügigen Tanzflächen kümmerten sich mehrere Bands und DJs um die musikalische Unterhaltung der anspruchsvollen Gäste. Den Hintergrund bildeten die glitzernde Silhouette des abendlichen Marbellas und das Mittelmeer. Für Carla überschlugen sich die Eindrücke. Es war überwältigend! Schönheit und Pracht des Anblicks wirkten fast erdrückend! Noch immer versunken in die Betrachtung dieser Märchenkulisse, nahm sie nicht wahr, dass sie freundlich lächelnd von einem der Gäste beobachtet wurde. „Hallo, mein Name ist Raoul, darf ich Sie dem Gastgeber vorstellen?“ Eine Gruppe von Männern stand etwas abseits. In einem erkannte Carla ihren gesprächigen Sitznachbarn auf dem Flug von Frankfurt nach Málaga. Durch seine freundliche Vermittlung war die Einladung zu diesem Event zustande gekommen. Wochenlang hatte sich Carla darauf gefreut. Sie erkannte auf den ersten Blick viele prominente Gesichter. Nicht nur die Marbella-Society schien mit Bürgermeister Mil, der Prinzessin Bunella, dem deutschen Botschafter aus Málaga und vielen anderen geschlossen vertreten zu sein. Orientalische Prinzen, englischer Adel, amerikanische und russische Milliardäre, deutsche Banker, aus den „bunten Blättern“ bekannte Personen gaben sich hier ein Stelldichein. Eine der teuersten und besten Champagnermarken wurde von eifrigen Kellnern in Livree ausgeschenkt. Die verwöhnten Gäste genossen ihn in Strömen. Was in aller Welt hatte ihre Flugbekanntschaft, Sir Andrew William Ernest Forster, wie Carla seiner Visitenkarte entnommen hatte, bewogen, sie auf diese Party einzuladen?

Frankfurt am Main ist die größte Stadt des Landes Hessen und die fünftgrößte Deutschlands. Seit dem Mittelalter gehört sie zu den bedeutendsten urbanen Zentren. Freie Reichsstadt, Krönungsstadt der römisch-deutschen Kaiser, war sie Sitz des Deutschen Bundes und 1848/49 des ersten frei gewählten Parlaments. Heute ist Frankfurt Finanz- und Dienstleistungszentrum und zählt zu den Alpha World Cities, also zu den international wichtigsten Metropolen. Die Stadt ist Sitz der Europäischen Zentralbank, der Deutschen Bundesbank, der Frankfurter Wertpapierbörse und der Frankfurter Messe. Ihre zentrale Lage mit dem Frankfurter Hauptbahnhof, dem Flughafen, dem Frankfurter Kreuz, einem dichten Autobahnnetz macht sie zu einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Europas. Eine Besonderheit Frankfurts ist die Skyline. Die Wolkenkratzer gehören zu den höchsten auf dem europäischen Kontinent.

In Frankfurt regnete es in Strömen. Die Menschen gingen schnellen Schrittes mit verdrossenen Gesichtern über den Opernplatz. Rücksichtslos stießen sie sich mit den Regenschirmen, wenn der Platz in der Menge etwas enger wurde. „Vorwärts!“ „Weiter!“ „Aufwärts!“ hießen die Zauberworte in der Banken- und Börsenstadt. Die ehrbare Alte Oper, bei Regen erschienen ihre graubraunen Mauern fast schwarz, schaute verschämt auf die hastenden Menschen. Gestresst, missgelaunt, ohne ihre Umwelt eines Blickes zu würdigen, eilten sie in alle Richtungen. Die Inschrift „Dem Wahren, Schönen, Guten“ erschien wie eine Farce angesichts der vorbeihetzenden Passanten.

Vor dem Hochhausturm der AF Bank hielt unauffällig ein Taxi. Ein Mann in langem Regenmantel und mit Hut stieg aus. Schnellen Schrittes lief er durch die Drehtür des Gebäudes. Kurz aufgehalten durch die Sicherheitskontrolle, begleitete ihn ein Pförtner mit ehrerbietiger Miene zum Lift. Ohne Aufenthalt, mit einem Spezialschlüssel für die oberen beiden Stockwerke, wurde er in den vierunddreißigsten Stock gebracht. Eine rassige, schwarzhaarige Endzwanzigerin, bekleidet mit einem dunkelblauen Kostüm, das dezent ihre untadelige Figur betonte, begrüßte den Fremden. „Hi, Mr. Paranese, wie schön Sie wieder bei uns zu haben, Herr Lettermans wartet schon in seinem Büro.“ Die Tür öffnete sich. Mit breitem Grinsen stand der Bankenchef in der Tür. „Antonio, wunderbar, tritt näher, hast du die Unterlagen von Davos dabei?“ „Keine Anrufe, keine Störungen“, wies er seine Sekretärin kurz an. „Und Ihre Frau, die wollte doch noch …“ „Ich sagte, keine Störung, basta!“ Mit diesen Worten geleitete Herr Lettermans seinen Gast durch ein prachtvoll ausgestattetes, langgestrecktes Sitzungszimmer in sein noch luxuriöseres Büro. Besonders auffallend waren die überall an den Wänden hängenden Gemälde. Ein kunstverständiger Sammler, auch jedes Museum dieser Welt hätte seine Freude daran gehabt. Nur wenigen Auserwählten war es vorbehalten, Zutritt zu dieser Kunstausstellung der Superlative im vierunddreißigsten Stock der AF Bank zu bekommen. Im holzvertäfelten Büro des Bankenchefs drückte dieser auf einen Knopf, worauf sich eine Tür in der Vertäfelung öffnete. In dem gemütlichen kleinen Raum dahinter, ausgestattet mit modernster Technik, abhörsicheren Telefonen, riesigen Bildschirmen für Videokonferenzen, nahmen die beiden Platz. Die Männer beugten sich über Pläne, Papiere und Akten, die der Gast mitgebracht hatte. „Paris macht mit, in London gibt es noch Schwierigkeiten“, meinte Lettermans. „In Davos haben wir alles vorbereitet, alles wird termingerecht laufen, mach dir keine Sorgen, die Aktie der IWI wird ins Bodenlose fallen und dann greifen wir zu …! Henningstedt läuft auch!“, ergänzte Antonio mit zufriedener Miene. Bei Erwähnung des kleinen Städtchens wurde Herr Lettermans kreideblass. „Davon weiß ich nichts“, entgegnete er kurz angebunden. „Du kümmerst dich um die Transaktionen, der Rest wird von meinen Leuten erledigt“, beruhigte ihn Antonio. Die beiden Männer genehmigten sich einen fünfundzwanzig Jahre alten Chivas Regal und verabschiedeten sich freundschaftlich, Antonio mit einem siegesbewussten, falschen Lächeln, Lettermans mit etwas besorgtem Blick. Aber als seine attraktive Sekretärin den Gast hinausgeführt hatte und damit begann, ihm leicht seinen gestressten Nacken zu massieren, entspannte er sich und vergaß seine Beunruhigung. Er fühlte, wie ihn die Erregung mit einem wohligen Schauer erfasste. Leidenschaftlich und voller Gier fielen beide übereinander her.

Eine gemütliche Kleinstadt, am Rande der Eifel, beherrscht von den rauchenden Türmen einer riesigen Industrieanlage, das Städtchen Henningstedt lebte gut mit und von dem Chemiewerk IWI. Es gab kaum Arbeitslosigkeit, seit Jahrzehnten waren Generationen von Familien bei IWI beschäftigt. Die Stadtverwaltung verwendete die stetig fließenden Steuereinnahmen für eine gelungene, ausgezeichnete Infrastruktur. Moderne Schulbauten, ausreichende Kindergartenplätze, Sportanlagen einschließlich eines Schwimmbades mit Becken von olympischen Ausmaßen waren der Stolz der Einwohner. Im Stammwerk Henningstedt arbeiteten achtundzwanzigtausend Menschen. Nicht weit vom Haupttor des Chemiewerks entfernt, nahe eines kleinen Sees und Wäldchens, begannen die schmucken Reihenhaussiedlungen. Die Firma hatte mit Sonderfördermitteln und günstigen Krediten bewirkt, dass selbst junge Mitarbeiter und ihre Familien es sich leisten konnten, dort ein Häuschen zu bauen. Zufrieden lebten die Arbeiter und Angestellten von IWI in ihrer Siedlung im Grünen. Weiter oben auf einem Hügel, dem „Walter-Hügel“, wohnten der Vorstandsvorsitzende der IWI-Werke Thorsten Walter und seine Familie. Walter hatte es abgelehnt, in die Villa seines Vorgängers im Nobelviertel der benachbarten Stadt zu ziehen. Er lebte gerne nahe der Firma und bei seinen Leuten. Stets zeigte er sich aufgeschlossen für die Probleme seiner Mitarbeiter. Und wie alle Henningstedter war er Fußballfan. Besonders stolz war man auf das neue Stadion. Der FC Henningstedt war dank hervorragendem Sponsoring und des Einsatzes zweier IWI-Manager in die zweite Bundesliga aufgestiegen. Die junge, stark motivierte Mannschaft, der man beste Aufstiegschancen prophezeite, zog bei ihren Spielen nicht nur sämtliche Einwohner des Städtchens in ihren Bann, sondern zunehmend Zuschauer aus der gesamten Region. Die Lebensqualität war, dank IWI, hoch! Selbst Erzählungen und Gerüchte, damals, unter dem alten Chef, hätte man Giftgas an den Irak geliefert, konnten den unerschütterlichen Glauben und das Vertrauen der Henningstedter in ihre Firma nicht erschüttern. In letzter Zeit hatte IWI häufiger Geschäftsbesuch aus Italien. Über Italien, so war bekannt, gingen Lieferungen der Chemiefabrik nach Nordafrika. Nach diesen Besuchen zeigte sich ihr Chef, sonst meistens gut aufgelegt und fröhlich, missmutig, deprimiert, manchmal sogar richtig wütend. Die Belegschaft ging ihm an diesen Tagen aus dem Weg.

Ein Samstagmorgen in Henningstedt, blauer Himmel, ein wunderschöner Frühlingstag kündigte sich an. Bei IWI hatte gerade die Frühschicht begonnen. Eine gewaltige Explosion erschütterte das ruhige Städtchen. In der Nähe des Werks zerbarsten Fensterscheiben. Flammen schlugen aus einer Lagerhalle der IWI. Sirenen heulten. Die freiwillige Feuerwehr des kleinen Städtchens, Krankenwagen des nahe gelegenen Kreiskrankenhauses machten sich auf den Weg. Das erste Feuerwehrauto passierte gerade das Haupttor zum Werk, da erfolgten drei weitere Explosionen. Vier Lagerhallen, gefüllt mit chemischen Produkten aller Art, sowie das anschließende Gebäude mit dem Versuchslabor brannten lichterloh. Dicke, gelbe Rauchschwaden schossen meterhoch in den blauen Frühlingshimmel. Die Feuerwehrleute zogen Schutzmasken an. Ihre Löschversuche erschienen wie ein Tropfen auf dem heißen Stein angesichts des sich ausbreitenden Infernos. Das gerade erwachende Städtchen hatte die sich anbahnende Katastrophe noch gar nicht wahrgenommen. Schon öfters hatte es im Werk gebrannt, niemand dachte an eine ernsthafte Gefahr. Im Werk stießen die vordringenden Feuerwehrleute auf erste Leichen. Seltsam gekrümmt lagen sie da. Einige der Helfer brachen in ähnlicher Haltung tot zusammen. Der Chef der Feuerwehr pfiff seine Leute zurück und verständigte den Katastrophenschutz. Mit dieser Situation waren sie überfordert. Hilflos mussten die Männer mit ansehen, wie die Flammen immer weiter um sich griffen. Eine erneute Explosion ließ das große, achtstöckige Bürohaus in sich zusammenfallen. Wie mit einer unsichtbaren Lunte gezündet, folgte fünf Minuten später das zweite Bürohaus. Das riesige Areal der IWI war ein einziges brennendes Inferno. Erneut heulten die Sirenen. Per Lautsprecher wurden die Menschen aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben. Der Katastrophenschutz, Männer fast unkenntlich in Schutzanzügen und Gesichtsmasken, übernahm die Leitung der hochgefährlichen Situation. Der aufsteigende Rauch war gelb, schwer und giftig.

Zweitausendfünfhundert Kilometer entfernt saß ein Mann in seinem schlossähnlichen Anwesen in Marbella vor den neuesten Internetnachrichten, darunter die Schreckensmeldung der Katastrophe von Henningstedt. „Das klappt ja wunderbar, die sind erledigt!“, murmelte er erfreut. Die nachfolgenden Börsennachrichten zeigten die Aktie der IWI im freien Fall. Weltweit hatten bestimmte Leute diese Nachricht bereits erwartet und nahmen sie hocherfreut auf. Noch in derselben Stunde gingen fünfundsiebzig Prozent des Aktienpaketes der IWI zum Spottpreis von 2,40 Euro in ihre Depots über. Strohmänner, Anwälte, die ihre Holdings verwalteten, erledigten diese Aktionen global an den verschiedensten Orten, diskret und unauffällig. Die Namen der Käufer tauchten nirgends auf. Niemand würde sie jemals mit diesen Aktientransfers in Verbindung bringen. Still, unbemerkt von der Öffentlichkeit, übernahm auf diese Weise Havaria-Chemie die Aktienmehrheit der Traditionsfirma IWI. Alle Chemiefirmen mussten angesichts des schrecklichen Unglückes starke Einbußen am Markt hinnehmen. Die Aktie der Havaria hingegen verhielt sich bullisch und stieg auf 130 Euro. Hatte es Insidertipps gegeben? Man hüllte sich in Schweigen und ließ Zweifel gar nicht erst aufkommen. Aktienmanipulationen und Insiderinfos gehörten zum Business. Wen interessierten angesichts der schrecklichen Katastrophe die Zahlen des Dax. Der Firmensprecher der Havaria-Chemie kündigte im Fernsehen an, eine von der Firma eingerichtete Stiftung werde sich um die Opfer und ihre Familien kümmern. Außerdem sollten Wissenschaftler und Spezialfirmen die fachgerechte Entsorgung des giftigen Mülls und die Beseitigung der Giftwolke übernehmen. Die Bewohner von Henningstedt hatte man im Nachbarort in ein eilends aufgebautes Camp evakuiert. Der gelbe Schleier hing noch immer drohend über dem Städtchen. Spezialflugzeuge bemühten sich, den Giftschleier zu zerbröseln, die Wolke aufzulösen, damit ihre gefährliche Wirkung nach und nach geschwächt und keinen weiteren Schaden anrichten konnte. Eine amerikanische Firma hatte den Katastrophenschutz abgelöst und war mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Das Gelände wurde eingezäunt und strengstens bewacht. Die wesentlichen Kosten und Belastungen durch die immens teure Spezialfirma übernahm die Havaria-Stiftung. Inzwischen war die Zahl der Toten auf vierzehnhundertdreiundvierzig angewachsen. Zum Großteil Arbeiter der IWI, die an diesem Samstag Frühschicht hatten, außerdem Retter und Feuerwehrleute. Mehrere Hundert Verletzte lagen noch in den Krankenhäusern. Es war der größte Chemieunfall seit Bestehen der Bundesrepublik. Fassungslos saßen die Bewohner von Henningstedt in ihrem provisorischen Zuhause, dem Zeltcamp. Der Verlust eines Angehörigen, die Vernichtung ihrer Existenz, die Heimat, das Zuhause auf unbestimmte Zeit verloren, all dies ließ die Henningstedter entweder apathisch dasitzen oder hektisch, nervös, geschüttelt von Weinkrämpfen auf und ab gehen. Die betreuenden Seelsorger und Psychologen hatten alle Hände voll zu tun, leider mit wenig Erfolg. Am Abend wollten alle unbedingt auf einer eigens aufgestellten großen Leinwand die Übertragung einer Gala zugunsten der Opfer anschauen. Ein italienischer Geschäftsmann hatte eine Million Euro gespendet. Die gebeutelten Henningstedter verdrängten ihren Kummer. Viele weinten vor Rührung. Sie äußerten immer wieder dankbar: Die Hilfe der Konkurrenzfirma Havaria sowie des italienischen Geschäftsmanns zeige: „Die Welt ist doch nicht so schlecht!“ Fast sechs Millionen Euro Hilfsgelder wurden bis zum Ende der Galasendung gesammelt. Eine deutsche Großbank gab fünfhunderttausend Euro. Charity-Ladies verkauften eifrig Lose, immer darauf bedacht, sich im Blickfeld der Kameras der vielen Paparazzi oder des Fernsehens zu bewegen. Die Menschen im Notaufnahmecamp nahmen dies nicht wahr. Der spontane, großzügige Beistand beeindruckte und bewegte sie tief.

Im Bridgeclub von Marbella gegenüber dem Traditionshotel „Marbella Sea“ spielten wie fast jeden Mittwoch vier Männer ernst und ambitioniert Karten. Für den Gewinner stand ein beträchtliches Sümmchen aus. Der Verlierer musste tief in die Tasche greifen. Schon Omar Sharif hatte hier vor vielen Jahren ausgiebig gezockt. Die Zocker blieben unter sich. Es bestanden klare, heimliche Verabredungen und Richtlinien. Der große Teil der anderen Mitspieler hatte keine Ahnung, welche Summen hier im Spiel waren. Einer aus der Runde, blitzende, schwarze Augen, dunkle, lockige Haare, schick und modisch angezogen, hieß Raoul. Man hielt ihn für einen Madrileño, wie die Leute aus Madrid in Andalusien etwas abfällig genannt werden. Er sprach fließend, fast akzentfrei Spanisch. Geboren war er aber in Haifa. Seine Familie war in den sechziger Jahren aus Russland nach Israel eingewandert. Später hatte sein Großvater eine Stelle als Oberarzt an der Universitätsklinik von Frankfurt angenommen. So kam die Familie nach Deutschland. Der Vater besaß eine gutgehende Augenarztpraxis im Frankfurter Westend. Raoul genoss die beste Ausbildung und besuchte hervorragende Schulen. Er studierte in Harvard und schloss schließlich in Darmstadt sein Studium als Wirtschaftsingenieur ab. Danach ging er für Bairam Chemie drei Jahre nach Argentinien, so dass er neben Russisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch bald auch Spanisch fließend beherrschte. Wann immer möglich, verbrachte er Zeit in Marbella, um dort seiner Familie in ihrem andalusischen Feriendomizil und seinen vielen Freunden nahe zu sein.

Raoul hatte sich eine schicke Penthousewohnung an der „Goldenen Meile“ zugelegt. Als einstelliger Golfer, ausgezeichneter Bridgespieler, dazu gutaussehend, wohlhabend, mehrsprachig und gesellschaftlich sehr gewandt, riss sich die Marbella-Society darum, ihn als Partygast zu haben. Was Raoul beruflich machte, wusste eigentlich niemand so genau. Er nannte sich Projektmanager im Auftrag von Großfirmen, reiste extrem viel, besaß Wohnungen in Frankfurt, Marbella und New York. Im Olivia Valere, einem angesagten Club in Marbella, gab er Riesenpartys. Seine enge Freundschaft zu dem viel älteren, heimlichen „König von Marbella“, Mr. Paranese, einem Sizilianer, der bekanntermaßen mit den saudischen Fürsten beste Geschäfte machte, öffnete ihm sämtliche Türen. Wer fragte damals in Marbella, wie jemand sein Geld verdiente oder woher er es hatte? Allein die Fragestellung fand man plebejisch. Man reihte sich ein in die Gesellschaft, indem man Geld ausgab, viel Geld. Großzügiger Lebensstil war ausreichende Qualifikation. Einzig noch Jugend und Schönheit hatten darüber hinaus eine Chance, aufgenommen zu werden ins Reich der Schickeria. Zum Kummer aller Frauen blieben Raouls Kontakte zum weiblichen Geschlecht eher oberflächlicher Natur. „I love them all“, pflegte er spaßhaft zu sagen. Ein trauriger Schimmer huschte über sein Gesicht, aber in Marbella schaute keiner so genau hin. The party must go on! Nur mit einer Frau schien ihn eine innige Freundschaft zu verbinden, mit Mrs. Paranese, einer rassigen Neapolitanerin, die einst Schönheitskönigin von Italien war. Vierzig Jahre jünger als ihr Mann, in bitterster Armut aufgewachsen, hatte Antonio Paranese Aurelia, die schwarzhaarige, warmherzige Schönheit, vom Fleck weg geheiratet. Ihre Familie erlebte einen rasanten Aufstieg. Wohlstand und sorgloses Leben zogen ein ins neapolitanische Dasein. Aurelia kümmerte sich rührend um ihren Mann. Sie war dankbar und betete ihn an. Die schmachtenden Blicke anderer Männer nahm sie gar nicht wahr. Entsprechende Angebote wies sie mit Charme, aber entschieden zurück. Nur ein Mann schien näheren Zugang zu ihr gefunden zu haben, Raoul. Wenn sich beide unbeobachtet glaubten, lachten und scherzten sie miteinander und strahlten sich an. Mr. Paranese beobachtete die beiden lächelnd. Er vertraute Raoul offensichtlich in jeder Hinsicht.

Die Party hatte ihren Höhepunkt erreicht. Raoul hatte Carla mit dem Gastgeber bekannt gemacht. Mr. Paranese musterte sie kurz und eindringlich. Der Blick schien freundlich. Seine graubraunen Augen hatten jedoch etwas Raubvogelartiges, Gieriges, Grausames. Trotz der noch immer tropischen, nächtlichen Temperaturen von 25 Grad fing Carla plötzlich an zu frieren. Aus unerklärlichen Gründen flößte ihr die Person Paraneses Angst ein. Sie zitterte. Eiseskälte lief ihr den Rücken runter. Freudig verließ sie daher nach einem Wortwechsel, Dank für die Einladung sowie kurzem „Hallo“ mit Sir Forster die kleine Herrengruppe. Neue Gäste drängten glücklicherweise zur Gruppe des Gastgebers vor. Carla fühlte sich wie erlöst. Die beeindruckende Kulisse des schlossartigen Anwesens, des traumhaften Parks mit all diesen schönen Menschen hatte fürs Erste ihre Wirkung verloren. Üblicherweise gehen Partys in Marbella bis sechs oder auch sieben Uhr morgens. Carla wollte sich nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen. Mit niemandem hatte sie bisher eine vernünftige Unterhaltung führen können, über gesellschaftlichen „Smalltalk“ ging es nicht hinaus. Die laute, satte Schickeria langweilte, der Champagner zeigte Wirkung. Bleierne Müdigkeit überfiel sie. Auch war noch immer nicht ersichtlich, wieso ausgerechnet Carla eine Einladung zu diesem Event der Superlative erhalten hatte. Gerne hätte sie sich mit der Gastgeberin Aurelia unterhalten. Im Gegensatz zu ihrem Mann verströmte die junge Frau spontane Herzlichkeit. Sie unterhielt sich freundlich, interessiert, dem Menschen zugewandt. Ihr Englisch war etwas holprig und schlecht zu verstehen, Spanisch sprach sie dagegen fließend. Bei der Begrüßung hatte sie Carla kurz und erstaunt, fast ein wenig ängstlich gemustert. Während Carla etwas verloren herumstand und gegen ihre Müdigkeit ankämpfte, begann das Feuerwerk. Der nächtliche Sternenhimmel wurde von sprühenden, feurigen Formen und Lichtfiguren erleuchtet. Über eine halbe Stunde sprühte und zischte es am Himmel in allen Farben. Der Faszination dieses Schauspiels am nächtlichen Himmel von Marbella konnte sich keiner der verwöhnten Gäste dieses Festes entziehen. Überall hörte man bewundernde Ausrufe. Die Band begann wieder zu spielen. Das Feuerwerk war zu Ende. Die Partygäste verteilten sich auf verschiedenen Tanzflächen, am kalten Büfett oder auf den eleganten, weißen Sesseln, Liegen und Sofas. Ein Mann mit Fotoausrüstung erschien, um die Gäste zu fotografieren. Carla hätte gerne ein Erinnerungsfoto gehabt. Plötzlich konnte sie beobachten, wie zwei bullige Männer, offensichtlich Sicherheitsleute, mit dem Fotografen diskutierten. Dieser schien für das Anliegen der Bodyguards uneinsichtig. Seine Proteste zeigten keine Wirkung. Energisch, ohne großes Aufheben wurde der Mann gepackt und nach draußen geführt. Keiner der Gäste, außer Carla, hatte diese kleine, schnelle, brutale Aktion bemerkt. Warum durfte eine so einmalige, wunderschöne Veranstaltung nicht in Bildern festgehalten werden? Viele Fragen blieben an diesem Abend offen. Das ganze Fest erschien wie ein Film, faszinierend, unwirklich in der atemberaubenden Schönheit der Umgebung, in seinem übertriebenen Luxus bedrückend. Carla spürte, sie war nur Zuschauer, kein Teil davon.

Raoul, den Carla überaus sympathisch fand, war auf dem Fest nicht mehr zu sehen. Schade, sie hätte sich gerne von ihm verabschiedet. Die Gastgeber waren beide stark beschäftigt. Ein großer Teil der Partygäste scharte sich um Aurelia und Antonio Paranese. So beschloss Carla, sich ohne Aufsehen und Verabschiedung zurückzuziehen. Unbemerkt, nur registriert von den Sicherheitsleuten und dem Butler, der das Auto brachte, verließ sie das rauschende Fest, die Carretera Gavina einhundertfünfunddreißig in der berühmten Sierra Blanca von Marbella. Auf der Heimfahrt schossen verschiedenste Gedanken durch ihren Kopf. Die Party würde für sie eine unvergessliche Erinnerung bleiben. Es sollte sich bewahrheiten. Aus Gründen, die sie sich damals nicht in schlimmsten Alpträumen vorstellen konnte …

Lettermans hatte seiner Frau seit Wochen versprochen, sie würden das Essen beim neuen Sternekoch im „Le Francais“ ausprobieren. Der Geschäftsführer begrüßte die beiden freundlich und ehrerbietig. Da er den Hochzeitstag wie immer vergessen hatte, ließ er bei Tiffany in der Goethestraße einen wunderschönen Ring anfertigen. Eingepackt in der typischen blauen Tiffanybox mit weißer Satinschleife, wurde dieser pünktlich und zur großen Freude seiner Frau ins Restaurant geliefert. Dem Fahrer hatten sie frei gegeben und genossen endlich mal wieder einen ungestörten Abend zu zweit. Das Menü war ausgezeichnet. Nach dem opulenten Essen ließ man durch den Portier den Wagen vorfahren. Etwa eine halbe Stunde später trafen die beiden in ihrer Villa „Am Wacholderberg“ in Kronberg ein. Wie immer stieg Frau Lettermans inder Einfahrt bereits aus, um die kleine, silberfarbene Pudeldame, die schon ungeduldig an der Haustür kratzte und bellte, auszuführen. Als sie von dem kurzen Spaziergang zurückkam, stellte sie verwundert fest, ihr Mann war noch immer nicht mit dem Wagen in die Garage gefahren. Er saß noch im Auto. Auf ihr Rufen und das nervöse, hohe Bellen des Pudels erfolgte keine Reaktion. Nun riss sich die kleine Pudeldame von der Leine, rannte zum Wagen und sprang laut jaulend immer wieder an der geschlossenen Autotür hoch. Frau Lettermans öffnete diese und sah ihren Mann zusammengesunken über dem Steuerrad. Ihre ersten Gedanken waren: Krankenwagen rufen, Dr. Schubert hatte doch recht, ihr Mann hätte die Herztabletten regelmäßig nehmen müssen, ein Herzinfarkt! Der Krankenwagen traf zehn Minuten später ein, der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Herr Lettermans war mit zwei gezielten Schüssen regelrecht hingerichtet worden. Die eilig eingerichtete SoKo konnte nur feststellen, die Tat war von absoluten Profis begangen worden. Von den Tätern fehlte jede Spur. Im abendlichen Kronberg mit den Villen in den großzügigen, weitläufigen Grundstücken hatte niemand etwas gesehen oder gehört.

Carlas Heimflug verlief ohne Zwischenfälle. Im Flugzeug las sie in der Zeitung, der oberste Bankenchef der AF Bank war in der Einfahrt seiner Villa kaltblütig erschossen worden. Die Polizei könne bis jetzt keine näheren Angaben machen. Offensichtlich tappte sie im Dunkeln. Carla versuchte sich zu erinnern, der Bankmanager und seine Frau waren doch auf der Party gewesen? Natürlich, Familie Lettermans war auf Einladung eines Industriellen mit dem Privatjet von Frankfurt gekommen. Bruchstückhaft fiel ihr die Unterhaltung wieder ein. Sehr freundlich, jedoch ziemlich gestresst und abgehetzt wirkend, berichtete Lettermans in der Gästerunde, morgen früh um 10 Uhr warte schon der nächste Termin auf ihn in Frankfurt. Nur der Flieger des Freundes habe ihm die Teilnahme an der Party möglich gemacht. Carla erinnerte sich an seine Frau als eine hübsche, blonde, etwas rundliche, aber sehr sympathische Person. Bei den Worten ihres Mannes hatte sie ihn besorgt und liebevoll angeschaut. Die Veste Otzberg tauchte auf. Nicht weit davon lag Carlas Haus. Reisen war schön, aber Heimkehren noch schöner! Beim Betreten ihres Heims beschlich sie ein eigenartiges Gefühl. Ihr fiel sofort auf, einige Bilder, Vasen, Bücher standen nicht an ihrem gewohnten Platz. Weder in ihrer Familie noch bei Freunden erwähnte sie die Merkwürdigkeiten. Alle würden die Geschichte lustig finden, ihre Pedanterie wurde öfters belächelt. Daher schwieg sie.

Die Zeitungen holte sie wie immer im Lädchen in der Darmstädter Straße. Die Besitzerin freute sich, Carla wiederzusehen. Sie erzählte, ein Amerikaner hätte sich im ganzen Ort intensiv nach ihr erkundigt. Er sei ein Freund aus San Diego, Bobby Busker. Auf Europareise, plane er, sie bald zu besuchen. Der Zettel, den die Nachbarin ihr vor einiger Zeit zugesteckt