Schleier des Wahnsinns - Carl Sargent - E-Book

Schleier des Wahnsinns E-Book

Carl Sargent

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Wie von einer Seuche werden die Bürger Vivanes durch heimtückische und mysteriöse Unfälle dahingerafft. Der Elf Cassian, berühmt als Krieger, Diplomat und Gelehrter, versucht die Ursache des Unheils aufzudecken - und verstrickt sich in ein Netz aus Intrigen und tödlichen Machenschaften. Um zu überleben, lässt er sich mit wahnsinnigen Magiern, lebenden Toten und mordlustigen Orks ein. Allein die Freundschaft zu dem Sklavenjungen Jerenn hält ihn aufrecht. Doch dann führt ihn Jerenn ins dunkle Herz von Vivane und Cassians Leben wird von Grund auf erschüttert.

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Carl Sargent &Marc Gascoigne

Schleier des Wahnsinns

Achter Roman desEarthdawn™-Zyklus

Originalausgabe

Feder & SchwertBand 8

Übersetzung: Christian JentzschIllustrationen: Jeff LaubensteinRedaktion & Lektorat: Catherine BeckE-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993—2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf fotomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623865

Inhaltsverzeichnis
PROLOG
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.

PROLOG

Vor der Wissenschaft, vor der überlieferten Geschichte, gab es ein Zeitalter der Magie und der Legende, ein Zeitalter des Heldentums und des Schreckens, das Zeitalter Earthdawns. In dieser Zeit der Mythen existierte Magie. Zauberkundige, Schwertmeister, Troubadoure und Waffenschmiede beugten mit ihren mystischen Kräften die Strukturen des Lebens.

Das Aufleben der Magie schwächte jedoch das Gewebe der Metaebenen. Grauenhafte Kreaturen aus der Astralebene fielen über die Welt her, verwüsteten Länder und Meere und dezimierten die Menschheit. Zuerst waren die Dämonen schwach und nicht sehr zahlreich, doch mit der Zeit wurden sie stärker, tödlicher und immer mehr. Sie waren eine Pest, eine Plage, die nicht eingedämmt werden konnte.

Die fähigen Magier des Theranischen Reichs sahen die Sinnlosigkeit eines Kampfes gegen die Plage aus der Astralebene ein und bereiteten ihr Volk und ihre Städte auf den Tag der Abschottung vor. Die Leute legten große unterirdische Kaers an, die durch Magie versiegelt und geschützt wurden und in denen sie Jahrhunderte warteten, während die Dämonen das Land über ihnen verwüsteten.

Jetzt, nach fünf Jahrhunderten in den Tiefen der Erde, sind die Menschen und die anderen Rassen Earthdawns wieder auf ihre geliebte Erde zurückgekehrt, da sich der größte Teil der Dämonen wieder in den Höllenschlund zurückgezogen hat, aus dem sie einst gekrochen sind. Aus ihren großen Städten haben die Theraner Armeen und Luftschiffe ausgesandt, die Verbindungen zu ihren zahllosen Festungen wiederhergestellt und neue Eroberungsfeldzüge begonnen. Die in Bezug auf Waffen, Magie und Weisheit großen und mächtigen Theraner wollen die Welt wieder in Besitz nehmen, die sie bei der Ankunft der Dämonen verloren haben.

In derart turbulenten Zeiten läuft selbst innerhalb der Festungen des Reiches kaum etwas reibungslos, und Finsternis und Korruption lauern sowohl innerhalb als auch außerhalb...

1.

Das Messer war grässlich scharf, aber doch nicht so scharf, dass er nicht gespürt hätte, wie ihm der letzte starre Fingerbreit der Klinge in den Magen drang. Langsam und irgendwie faszinierend bohrte sie sich in sein Fleisch, bis sie ganz in der Höhlung unter und zwischen seinen kurzen Rippen steckte. Blut verschmierte das Heft und lief als dünnes Rinnsal die Falten zwischen Daumen und Zeigefinger der kapuzentragenden Gestalt herunter, während sie den Griff um das Heft verlagerte. Das Heulen kam ohne Vorwarnung, als habe er keinen Anteil daran, drang aus unbewussten Tiefen seines verwundeten Körpers. Mit heftigem Ruck zog die Hand das Messer in gerader Linie herunter und durch seine Eingeweide. Ein leises Zischen der Anstrengung oder vielleicht auch Zufriedenheit entwich den maskierten Lippen des Kapuzenträgers.

Lampenöl ergoss sich über sein Bewusstsein und entzündete sich. Die sengenden Flammen wüteten hinter seinen Augenlidern. Das Messer wurde aus seinem Leib gezogen, sauber und mühelos, und für einen schwindelerregenden Augenblick spürte er den Verlust einer Präsenz in sich – seiner eigenen. Was blieb war eine unbehagliche Leere. Eine weitere Schmerzwelle spülte über ihn hinweg und löschte alle derartigen Eindrücke aus. Als er den Kopf senkte und nach unten zu schauen wagte, sah er, wie die blutverschmierten Hände ausholten, ihm das lange Messer mit einer halben Drehung in die Seite bohrten und es durch seinen Bauch zogen. Am Ende seiner verheerenden Reise durch seinen Leib wurde das Messer grob herausgerissen.

Er griff nach seinen Eingeweiden, als diese nass und glitschig aus seinem klaffenden Bauch fielen, doch seine Hände wurden immer noch von den Dolchen gehalten, mit denen man ihn gekreuzigt hatte. Er ruckte mit den Beinen und hörte Stoff reißen, aber er bekam die Beine nicht frei. Blut stieg ihm in die Kehle und überflutete seine Lungen. Die zweite kapuzentragende Gestalt näherte sich und schob einen groben grauen Ärmel hoch, um ein schlankes Handgelenk mit gekrümmten künstlichen Krallen zu entblößen. Sie pulsiertenals röchen sie sein Blut. Ohne Umstände stieß die Gestalt ihre Hand in die Ruinen seines Magens und wühlte sich dann durch seine Innereien aufwärts. Dort fanden die Krallen ihre Beute, umschlossen sie fest, um nicht abzurutschen, und rissen hart daran. Vom schrillen Kreischen unerträglicher Schmerzen in seinem Kopf überwältigt, bildete er sich ein zu spüren, wie sich die grausamen Nägel in sein Fleisch bohrten, als ihm das Herz aus der Brust gerissen wurde. Eine rote Flut überspülte sein Bewusstsein, und dann war es vorbei.

Selbst kurz vor dem Morgengrauen war es noch so heiß wie in einem Glutofen. In der ganzen Großen Stadt regte sich kein kühlendes Lüftchen, um den Einwohnern Erleichterung und Schlaf zu bringen. Das galt natürlich nicht für jene verwöhnten, wohlhabenden Familien — oder Zauberkundigen —, deren elementare Luftmagie die Häuser und Säulenhallen kühl hielten. Als Cassian aus seinem unruhigen Schlummer erwachte, klebte ihm das Haar an der Stirn, und auf seinen bronzefarbenen Armen und Schultern glänzte der Schweiß. In seiner Kaserne gab es keine derartige kühlende Magie. Von den Praetori Theras wurde erwartet, dass sie auf solchen Luxus verzichteten. Das dünne Laken hatte sich leicht um seine Beine gewickelt. Der Riss, durch den er einen Fuß gesteckt hatte, wies darauf hin, wie ruhelos sein Schlaf gewesen sein musste. Erinnerungen an einen ohnehin bereits fast vergessenen Traum verblassten zu rasch, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Der Elf war von einem unerwartet frühen Besucher geweckt worden. Zuerst dachte er, es sei Izman, der junge Creaner – sein Sklave –, der ihm eine Schüssel mit Wasser zum Waschen und Rasieren brachte, doch der Junge hätte angeklopft und dann gewartet, bis er von Cassian hereingebeten wurde. Mit derartigen Normalitäten hielt sich der hochmütige dunkelhaarige Mann nicht auf, der in einer Woge aus Rot und Gold ins Zimmer rauschte. Einen Augenblick lang empfand Cassian etwas, das an Bestürzung grenzte. Das grellgoldene Sonnenbanner auf der Brust des Mannes mit dem darunter baumelnden dreifarbigen Band verriet ihm, dass der Besucher ein Mitglied des Büros des Karinthini, des Richter-Generals, war. Und das Auftreten des Mannes verriet ihm, dass es sich in diesem Fall nicht um die übliche Vorladung eines Praetors durch einen unbedeutenden Funktionär handelte, der gelangweilt seine Papiere durchsehen und ihm dann triviale Anweisungen erteilen würde – diese Angelegenheit war wichtig. Die Tatsache, dass der Mann keine Angehörigen der Kaiserlichen Phalanx mitgebracht hatte, verriet Cassian außerdem, dass es sich bei der Angelegenheit nicht um einen schrecklichen Fehler handelte, den er irgendwie, irgendwo, irgendwann vielleicht begangen haben mochte. Das beginnende Gefühl der Bestürzung verschwand, um einer gewissen Besorgnis zu weichen. Zu dieser frühen Stunde?

»Karinthini Andreax wird Euch in einer halben Stunde empfangen«, sagte der Mann kurzangebunden. »Sorgt für eine präsentable Erscheinung.« Ohne ein weiteres Wort und bevor Cassian eine Frage stellen konnte, wandte sich der Mann ab und ging. Eine halbe Stunde reichte für den Elf nicht aus, um sich für eine Audienz bei dem furchterregenden Richter-General angemessen zurechtzumachen, und das wusste er. Begleitet von platschenden Geräuschen, als er sich Wasser ins Gesicht spritzte, während er nach der hellgrünen Rasierseife tastete, um sich zu rasieren, rief er gereizt nach seinem Sklaven, auf dass er ihm seine Familiengewänder hole, und zwar schnell.

Fast tausend Meilen entfernt in der Stadt Vivane entfielen den zitternden Händen eines viel älteren Elfs einige Papiere. Alles stand darin, alles, all die Lügen und Betrügereien waren so ausführlich dokumentiert, dass dadurch selbst seine eigene Erinnerung an die Einzelheiten übertroffen wurde. Schließlich riss er sich so weit zusammen, dass er in der Lage war, das Schreiben noch einmal zu lesen. Ich bin ruiniert, flüsterten Herz und Seele seinem Verstand zu.

Die T‘skrang! Es muss einer der Carinci-T‘skrang sein, dachte er fieberhaft. Sie haben uns immer um unsere Stellung hier beneidet. Wir haben zu viele Handelsrechte in der theranischen Konklave erworben, sie waren schon immer eifersüchtig. Ist es jetzt so weit gekommen, dass ich von einem Mitglied meines eigenen Hauses verraten worden bin?

Nein. Sein Verstand lehnte die naheliegende, instinktive Schlussfolgerung ab. Das ist nicht ihre Art. Sie sind nicht verschlagen genug und haben auch keine so guten Spione. Das ist unter ihrer Würde. Sie würden eher versuchen, mich wieder auf den rechten Weg zu bringen, als mich auf diese Weise niederzumachen.

Die Konsequenzen des Schriftstücks waren ihm klar. Nichts deutete auf Erpressung hin. Es kündigte lediglich an, jede Einzelheit nach dem Kyprosfest, das in fünfzehn Tagen stattfinden würde, publik zu machen. Das würde ihn nicht nur persönlich ruinieren, sondern auch seine Besitztümer und seinen Titel kosten, die dann auch für sein Haus verloren waren. Einen wahnwitzigen Augenblick lang verdächtigte er sogar seine Frau, denn sein Ruin würde bedeuten, dass sein Sohn niemals erben würde. Dann stiegen ihm Tränen in die Augen, als ihm einige der schönsten Augenblicke fast eines Jahrhunderts des Zusammenseins mit Karlanta einfielen, als er an ihre Liebe und Ergebenheit dachte, an ihre immer freundliche Art und ihr gutes Herz. Seine Hände knüllten die letzte Seite vor Wut zu einem Ball zusammen, Wut auf sich selbst, weil er an ihr gezweifelt hatte.

Daralec saß ein paar Minuten lang reglos da und sann darüber nach, was jetzt getan werden musste. Es würde eine Brithan-Jagd geben und einen tragischen Unfall. Alles war ganz einfach: Er konnte vom Pferd fallen, und wenn der Brithan ihn nicht tötete, konnte er sich immer noch auf seiner Jagdwaffe aufspießen. Falls sie keine Brithans fanden, reichte auch ein Hirsch oder ein Wildschwein. Vielleicht würde sein unbekannter Peiniger dann von Reue ergriffen sein, wenngleich die kalte Leidenschaftslosigkeit des Schriftstücks das Gegenteil vermuten ließ. Aber zumindest würde das durch seinen Tod hervorgerufene Mitgefühl seinem Sohn helfen, wenn diese grässliche Geschichte je publik wurde. Und vielleicht würden einige sogar argwöhnen, dass sein Tod gar kein Unfall war, sondern ein Mord, dem jetzt diese öffentliche Diffamierung folgte, und das würde Entrüstung hervorrufen. Derjenige, welcher sich im Hintergrund hielt und ihn offenbar seit langer Zeit beobachtete, mochte von der Woge dieser Entrüstung sogar überrollt werden.

Er verbrannte den Brief. Er dachte an seinen Sohn, der schon so lange in Thebenta war, und in seinem Gesicht zeigten sich Linien des Kummers, da er sich danach sehnte, ihn noch einmal zu sehen, obwohl er wusste, dass das nicht möglich war. Aber der Junge würde ihn beerben, und nur das zählte jetzt noch.

Sein Blick irrte zum Fenster und zu den sechs gewaltigen Säulen von Himmelsspitze, die so weit entfernt waren, dass er sie an diesem dunstigen Morgen kaum sehen konnte. Ein langer Zug Sklaven wanderte über die Ebene von der entfernten Garnison zur Stadt. Die Ironie all dessen ließ ihn grimmig lächeln. Ich stehe kurz vor dem Ende, und ihr neues Leben in dieser Stadt steht kurz vor dem Anfang. Keiner von uns hat irgendeine Wahl.

Er erhob sich, rief nach seinem Diener und versuchte, gute Laune und spontane Lust auf eine Jagd vorzutäuschen, was weiter von seinen wahren Gefühlen entfernt war als alles, was er in seinem – wie es ihm nun erschien – ermüdend langen Leben der Betrügereien je vorgetäuscht, simuliert oder gelogen hatte. Er dachte wieder an seinen Sohn, lange und voller Trauer.

Er konnte nicht wissen, dass sich sein Sohn bereits wieder innerhalb der Mauern Vivanes befand und seinerseits nur noch drei Tage zu leben hatte.

»Es tut mir leid, dass Ihr zu so früher Stunde geweckt worden seid.« Die samtweiche Stimme gehörte zu einem frischen Gesicht, das von einer Nacht des ungestörten Schlafs zeugte. Andreax hatte bestimmt in gesegneter Kühle geschlafen, während der Rest Theras in der drückenden Hitze briet. »Ich habe es mit einem Fall von einiger Bedeutung zu tun und bin zu dem Schluss gekommen, dass Ihr der richtige Praetor seid, diese delikate Angelegenheit zu untersuchen. Eure Leistungen haben mich beeindruckt, Cassian ma‘Medari.« Der Name wurde mit einer weichen Betonung ausgesprochen, die sich von der Förmlichkeit der Begrüßung des Richter-Generals abhob.

Bei der Nennung seines Haus- und Familiennamens lief Cassian ein leichter Schauer über den Rücken, und er vermutete, dass das auch Andreax‘ Absicht war. Der ältere Elf war fast dreihundert Jahre alt und wusste mittlerweile ganz genau, welche Saite er anschlagen musste, um eine Gefühlsreaktion hervorzurufen. Die beiden Elfen stammten aus derselben Familie und aus demselben Haus, wenngleich man von beiden erwartete, sich über derartige Bindungen längst hinweggesetzt zu haben. Ihre unterschiedliche Ausbildung hatte darauf abgezielt, genau das zu gewährleisten. Jetzt spielte Andreax die Bedeutung dieser Dinge auf geschickte Weise herunter, um sie gleichzeitig unterschwellig hervorzuheben. Indem er den viel jüngeren Elf an seine Haus- und Familienbande erinnerte, betonte er ihre gemeinsame Rolle bei der Bewahrung der Stärke des Theranischen Reichs. Soviel war in einem bloßen Namen und der Art, wie er ausgesprochen wurde, enthalten.

»Ich fühle mich geehrt, Herr.« Cassian wartete ab.

»Die mir vorliegende Angelegenheit ist höchst bestürzend. In einer unserer Städte sind gewisse Angehörige hoher Häuser von gewissen unseligen Ereignissen heimgesucht worden, Cassian. Und zwar in einer für uns sehr wichtigen Stadt – Vivane.«

Cassian nickte bei gleichzeitigem leichten Hochziehen der Augenbrauen. Von allen theranischen Städten kam Vivane besondere Bedeutung zu, da sie sich am Rand der wilden Provinz Barsaive befand, wo Thera die Ländereien zurückzugewinnen trachtete, die es als sein rechtmäßiges Eigentum ansah. Die Stadt war während der Plage praktisch völlig zerstört worden, und die dort stationierte Achte Legion und die sie begleitenden Handwerker, Sklavenarbeiter und Zauberkundigen hatten erst einen Teil wiederaufgebaut. Die meisten Bewohner der Stadt hausten noch in Ruinen, hieß es, und die Bürger waren eine unangenehme Mischung aus theranischen Schreibern, Verwaltungsbeamten, Baumeistern, Händlern und Hausmitgliedern, die ihre Stellung ausbauen wollten, auf der einen Seite und einer großen Anzahl von Barsaivern auf der anderen, die von vertrauenswürdig über skrupellos bis hin zu aufrührerisch einzustufen waren. Cassian war noch nie dorthin abkommandiert worden, und die Aussicht war nicht sehr verlockend, aber er würde dorthin gehen, wohin man ihn schickte. Ein Praetor konnte sich sein Betätigungsfeld nicht aussuchen.

»Diese unseligen Ereignisse sind keineswegs unbedeutend. Zwei Fälle von augenscheinlichem Selbstmord, ein Fall von anscheinend unheilbarem Wahnsinn und ein äußerst unschöner Mord. Den auf der Hand liegenden Ursachen ist bis zu einem gewissen Grad nachgegangen worden, aber das Anstellen von Nachforschungen gehört, unter uns gesagt, nicht gerade zu den starken Seiten von Kypros und Crotias.«

Bei der Erwähnung der Namen der Militärbevollmächtigten von Vivane und Himmelsspitze wechselten die beiden Elfen ein kurzes Lächeln. Oberherr Kypros hatte Ambitionen und Generalin Crotias eine Reihe hervorragender Erfolge auf dem Schlachtfeld aufzuweisen sowie ein Temperament, das der breiten roten Narbe auf ihrem Rücken entsprach, doch weder der eine noch die andere war für ein Übermaß an Intelligenz bekannt.

»Diese Vorgänge tragen die Handschrift einer Hausfehde, Cassian. Und es ist unsere Aufgabe, solche Fehden zu untersuchen und zu beenden. Das ist nun einmal unser Los.« Der Richter-General erlaubte sich die Andeutung eines nachdenklichen, resignierten Seufzers. Er war ein Meister der unterschwelligen Geste. Das mochte keine für den Aufstieg zum Richter-General unerlässliche Fähigkeit sein, aber sie war nützlich, wenn alle vier Jahre die Zeit der Wiederwahl nahte. Andreax hatte drei Wahlen überstanden, ohne außergewöhnlichen Charme oder besondere Überzeugungskraft aufweisen zu können.

»Sei es, wie es sei, die Vivaner erwarten, dass wir einen Praetor schicken, der die Vorfälle untersucht. Andernfalls würden sie ruhelos. Ich bin froh, in solchen Zeiten auf Euch zählen zu können.«

»Wie Ihr wünscht, Herr.« Cassian wartete immer noch auf eine Begründung dafür, warum er zu so unmöglich früher Stunde herbeordert worden war. Er hatte schon einige auf Hausfehden zurückgehende Morde untersucht, doch keiner dieser Fälle hatte es je erfordert, ihn mitten in der Nacht für eine Einsatzbesprechung aus dem Bett zu schleifen. Noch hatte einer dieser Fälle je ein Treffen mit dem Richter-General persönlich erfordert. Das konnten nur die ranghöchsten seiner Kollegen erwarten, und Cassian betrachtete sich immer noch als ein Praetor mittleren Ranges. Da ihm mindestens noch zwei Jahrhunderte seiner natürlichen Lebenserwartung blieben, hatte er es, was seinen Ehrgeiz aufzusteigen anbelangte, auch nicht übermäßig eilig.

»Hinsichtlich der Informationen zu diesem Fall werdet Ihr mit diesem Bericht vorliebnehmen müssen, fürchte ich«, sagte Andreax, indem er eine der vielen Schubladen des Latraholzschreibtisches öffnete, der sich bis zu den ausgedehnten, mit Schriftrollen und Akten gefüllten Regalen an den Wänden seines riesigen Atriums zu erstrecken schien. »Ihr müsst Thera noch in dieser Stunde verlassen. Die Überlegenheit legt in einer Stunde von Wolkermähe ab, und Ihr werdet an Bord sein.«

»Das Luftschiff des Oberherrn ist hier? Ich dachte, es hätte Himmelsspitze nie verlassen«, warf Cassian ein.

»Es gehört nicht zu unseren Gepflogenheiten, die Öffentlichkeit ständig über seinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden zu halten«, erwiderte der Richter-General beißend. »Das Schiff nimmt lediglich Fracht auf, Waren, die in Vivane nicht so leicht zu bekommen sind. Kapitän Korrurg wird über eine Verspätung Eurerseits nicht besonders erfreut sein. Nicht einmal ich kann ihn dazu bewegen, den Zeitpunkt des Ablegens zu verschieben.«

Die Elfen lächelten ein zweitesmal. Sie kannten Korrurg beide, einen Troll mit einem Hang zur Pünktlichkeit und zur Einhaltung von Zeitplänen, der die Hälfte von Theras Reichsschreibern in Angst und Schrecken versetzt hätte. Er würde den Zeitpunkt der Abreise nicht einmal dann verschieben, wenn der Kaiser persönlich als zusätzlicher Passagier an Bord gehen wollte.

»Ich muss nach Hause und meine Sachen packen«, sagte Cassian, der auf ein Nicken seines Vorgesetzten wartete, bevor er sich von seinem mit Chaktaleder bezogenen Stuhl erhob. Er griff nach dem Bündel Papier, das von den Amtsbändern von Theras oberstem diplomatischem Dienst zusammengehalten wurde.

»Kümmert Euch nicht um Eure Sachen. Sie werden bereits für Euch an Bord gebracht. Ich an Eurer Stelle würde meine letzte Stunde hier in Thera damit verbringen, ein anständiges Frühstück zu mir zu nehmen. Es heißt, dass in Vivane gekochter Chaktavogel als Delikatesse angesehen wird.«

Cassian lachte, aber auf halbem Weg durch den scheinbar endlosen Flur, der von den Büros und Privatgemächern des Richter-Generals wegführte, hatte sich der Anflug von guter Laune bereits wieder verflüchtigt. Irgendetwas kam ihm trotz allem nicht richtig vor, obwohl ihm weder das, was Andreax gesagt hatte, noch die Art, wie er es gesagt hatte, einen Hinweis darauf gab, was das war. Nur sein Instinkt warnte ihn.

Cassian blinzelte im grellen Sonnenlicht, als er die marmornen Stufen des Konklaviums hinunterging. Er war kaum einen Steinwurf vom Kaiserpalast entfernt, dessen außergewöhnliche Kuppel in den Strahlen der frühen Morgensonne glitzerte. Wie oft er sie auch sah, bei ihrem Anblick lief ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken. Die gesamte Oberfläche war mit feinen Splittern aus Glimmererde und Marmor bedeckt, deren Farben und Formen einerseits völlig abstrakt zu sein schienen, das Auge des Betrachters andererseits jedoch an Vögel, Tänzerinnen, Luftschiffe, Bogenschützen, exotische Tiere und vieles andere erinnerten. Niemand sah auf dieser Kuppel zweimal dasselbe. Es hieß, die mit der Kuppel verwobene Magie sei über fünfhundert Jahre alt und das Werk des Kaisers Hastiriash persönlich gewesen. Tatsächlich hatte es eine Himmelsherde gegeben, wenn überhaupt eine der Geschichten über den lange toten Herrscher stimmte. Und vielleicht besaß Kanestrin – der gegenwärtige Bewohner des Palasts – in der Tat einige der Fähigkeiten seines Vorgängers. Zumindest kam es Cassian so vor, dass die Figuren jetzt greller funkelten und wilder tanzten als vor der Thronbesteigung des Obsidianers. Cassian hatte von den wenigen Magiern, die er kannte, erfahren, dass die Lebendigkeit der Kuppel die magische Seele des Kaisers reflektierte. Wenn das stimmte, hatte Kanestrins Seele in der Tat ein sehr kraftvolles Leben.

Er wandte sich nach links, und sein Blick fiel auf die imposanten Zinnen der Ewigen Bibliothek. Vielleicht konnte er seine Vorahnungen und Befürchtungen beschwichtigen, wenn er dort hineinging und die Papiere las, die Andreax ihm gegeben hatte. Die Andeutung des Versprechens einer Brise, um die drückende Hitze über Thera zu lindem, ließ seine blausilbernen Hausinsignien träge um ihn flattern. Cassian hielt inne und rieb sich nachdenklich das Kinn, dann schlug er sich die Papiere aus dem Kopf. Auf der vor ihm liegenden Reise würde er reichlich Zeit und Muße haben, die Dokumente zu studieren. Da die Zeit knapp war, mochte es tatsächlich eine bessere Idee sein, ein Frühstück einzunehmen.

Eine plötzliche Woge des Argwohns überfiel ihn, ein Gefühl der Angst und Anspannung, das ihm normalerweise fremd war. Ich bin eine Spielfigur in dieser Sache, dachte er. Andreax spielt irgendein Spiel, und ich werde von ihm hin und her geschoben. Er hat mir wenig erzählt, und ich habe immer noch keine Erklärung dafür, warum er mich persönlich empfangen hat. Da stimmt etwas nicht.

Als sein Magen knurrte, beendete er seine Überlegungen und richtete seine Gedanken wieder auf das Frühstück. Achselzuckend ging der Elf zwischen den gewaltigen Säulen der Bibliothek hindurch. Einige eifrige Schüler und Studenten waren bereits anwesend, um ihre Studien zu betreiben. Die Ehrgeizigen und die Verzweifelten, dachte er und grinste innerlich. Nun, das mag sein, aber ich bin weder das eine noch das andere.

Und die Reise mit dem Luftschiff wird bei diesem Wetter ein Segen sein. Vielleicht bekomme ich heute Nacht sogar etwas Schlaf.

2.

»Ist mir eine Freude, Euch an Bord zu haben, ganz gewiss.« Die Betonung des Trolls verwandelten die Worte in das genaue Gegenteil ihrer oberflächlichen Bedeutung. Wenngleich Cassian Korrurgs Abreise um keinen einzigen Augenblick verzögert hatte, schien es wohl so zu sein, dass bereits die geringste Änderung des zuvor festgelegten Reiseplans des Luftschiffs den routineliebenden Kapitän ärgerte. Der Troll funkelte ihn in einer Haltung an, als habe er eine Eisenstange verschluckt.

»Normalerweise haben wir im Hinblick auf Passagiereinrichtungen nicht viel anzubieten, aber Ihr bekommt eine der Einzelkabinen«, fuhr Korrurg ungnädig fort. Cassian rang sich ein Lächeln ab.

»Meine aufrichtige Entschuldigung für alle Ungelegenheiten, die ich Euch bereite. Ich kann nur sagen, dass ich heute im Morgengrauen aus dem Bett geworfen wurde und man mir befohlen hat, sofort nach Vivane zu reisen. Ich glaube, dass es bei uns beiden zu erheblichen Störungen des normalen Tagesablaufs gekommen ist, und ich entschuldige mich im Namen des Richteramts«, sagte der Elf glatt.

Korrurg schien ein klein wenig aufzutauen. »Hmmm. Nun, wir sind jedenfalls zum Ablegen bereit. Ich hoffe, Ihr neigt nicht zur Luftkrankheit«, brummte der Troll, der sich ganz offensichtlich mehr Sorgen darum machte, welchen Schaden ein kranker und unerwünschter Gast der luxuriösen Einrichtung des Luftschiffs zufügen mochte, als um die Gesundheit des Betroffenen.

»Ich hatte das Glück, auch früher schon auf Luftschiffen zu fahren, wenngleich selbstverständlich keines so großartig war wie die Überlegenheit«, sagte Cassian schmeichlerisch, »und ich neige nicht zu dieser Krankheit. Aber seid bedankt für Eure Fürsorge.« Trotz dieser Worte warf das von der Levitationsmagie, die ihn hierher zur Anlegestelle gebracht hatte, hervorgerufene leichte Schwindelgefühl die Frage auf, ob er nicht vielleicht doch Probleme bekommen würde.

Korrurg warf ihm einen Blick zu, wie man ihn sich normalerweise für einen ärgerlichen Plagegeist vorbehalten würde, den man ob seiner Gewandtheit nicht zertreten konnte. »Der Erste Maat Arcanth wird sich Eurer Wünsche annehmen, solltet ihr welche haben«, sagte er schließlich, bevor er zum gewaltigen Mittelturm des mächtigen Luftschiffs stapfte.

Während er einen Ork in Lederrüstung beobachtete, der vom Steuerbord-Bugturm kam, nahm Cassian die gewaltigen Dimensionen des großartigen Schiffes auf. Es handelte sich um eine fast quadratische Konstruktion mit einem zylinderförmigen Turm an jeder Ecke. Jeder Turm war mehr als fünfzig Ellen hoch und bestand aus Holz, Stein und Bronze. Jeder Turm enthielt eine Reihe von Schlitzen – Schießscharten für die Elitebogenschützen der Achten Legion. Eine einzige Salve von ihnen konnte Tod und Verwüstung in die Reihen der Trolle jedes Kristallpiratenschiffs tragen, das so dumm war, sich in ihre Reichweite zu wagen. Feinde an Land konnten von den Bogenschützen in wenigen Augenblicken zu Hunderten dahingemetzelt werden. Doch selbst diese Gebilde verblassten neben dem riesigen Großen Turm zur Bedeutungslosigkeit, der noch zwanzig Ellen höher war und in der Breite fünfzig Ellen durchmaß. Die Steinmauern des Turms hatten ein kolossales Gewicht, und die Magie, die in diesen Behemoth der Lüfte geflossen war, musste unglaublich anstrengend und für die Handwerker und Magier, die die Überlegenheit gebaut hatten, eine scheinbar nie enden wollende Plackerei gewesen sein. Zweihundert Ellen lang, lag das stolze Luftschiff reglos in der Luft und schwankte nicht im geringsten in der Brise, die in der Höhe der Anlegestelle für Kühlung sorgte. Fast vierhundert Soldaten waren ständig auf dem Schiff stationiert. Diese Zahl konnte auf kurzen Reisen um weitere zweihundert erhöht werden. Vivane, das über sechshundert Meilen entfernt war, würde kurz nach Mittag des morgigen Tages erreicht werden. Welche Entbehrungen sein Quartier auch mitbrachte – und Cassian glaubte, dass sich eine Einzelkabine eigentlich ganz und gar nicht nach Entbehrungen anhörte –, für einen so kurzen Zeitraum würde er sie mühelos auf sich nehmen können.

»Dort drüben«, sagte der Ork kurz angebunden, als er schließlich neben Cassian stand. »Eure Sachen befinden sich bereits in Eurer Kabine. Erster Gang, erste Tür rechts.« Er wandte sich ab, bevor Cassian ihm auch nur danken konnte.

Der Ruck des Luftschiffs, als es seine Reise begann, war für Cassian kaum wahrnehmbar, aber er spürte, wie der willkommene Luftzug, der ihn umspielte, stärker wurde, während er seine wenigen Habseligkeiten auspackte. Er nahm die Papiere, mit deren Durchsicht er nicht einmal begonnen hatte, und überlegte sich übellaunig, dass er es kaum riskieren konnte, sich an Deck zu setzen und sie sich womöglich vom Wind aus der Hand reißen und über Bord wehen zu lassen. Einer Eingebung folgend, legte er die Papiere sorgfältig neben das Kopfkissen seiner Koje, versperrte die Kabinentür mit dem kleinen Messingschlüssel, der im Schloss steckte, und ging an Deck. Mit beiden Händen löste er die mit Silberfäden durchzogenen Lederbändchen aus seinen Locken, stellte sich in den Wind und ließ sich von ihm die Haare um den Kopf wehen. Nach der drückenden Hitze Theras kam ihm der Wind wie Magie vor.

Dann ging er zur Holzreling auf der Steuerbordseite und schlang sich den Sicherheitsgurt um die Hüften, während er nach unten auf die Schönheit des blaugrünen Ozeans starrte und die Insel Thera sich langsam in der Feme verlor. Sie ist so klein, dachte er, und dennoch hat unser Volk ein Reich errichtet, das sich über Tausende von Meilen erstreckt. Ein Reich, das von den fruchtbaren Flüssen Eupharel, Indris und Vasgoth begrenzt wird. Theraner haben die Welt in Luftschiffen wie diesem umsegelt und aus jedem noch so abgelegenen Winkel der Erde Wunder und Sehenswürdigkeiten mitgebracht. Einen Augenblick lang sah er vor seinem geistigen Auge die Länder, über die er gelesen hatte: Wasserfälle, die eine halbe Meile tief waren, endlose Eiswüsten, Geysire, die Fontänen aus Schlamm, elementarer Erde und Dampf ausstießen. Und er sah sagenhafte Tiere, wie sie in den Winkeln und Nischen der Ewigen Bibliothek dargestellt waren – als Felle oder Skelette. An diesem Ort des Lernens gab es nicht nur Bücher. Irgendwo innerhalb ihrer endlosen Mauern fand sich ein Exemplar von allem, was die Welt zu bieten hatte.

Ein harter Schlag auf den Rücken, ausgeteilt auf jene grobschlächtige Weise, die von Orks als spielerisch bezeichnet wurde, riss ihn aus seinen Träumereien. Er drehte sich um und sah einen Orkmatrosen an einem Paar gekochter Schweinsfüße nagen. Der Ork fragte ihn, ob er ›Futter‹ wolle. Grinsend lehnte Cassian ab und beschloss, mit der Durchsicht der Schriftstücke zu beginnen.

Das in verschnörkelter Handschrift verfasste Dokument verriet ihm, dass die politische Situation in Vivane weniger kompliziert war, als er befürchtet hatte. Von den großen etablierten Häusern Theras waren nur fünf in die Angelegenheiten der Grenzstadt verwickelt. Gegenwärtig bedurfte noch ein so großer Teil der Stadt des Wiederaufbaus, dass nur die Abenteuerlustigen, Verwegenen und Begeisterungsfähigen in Erwägung gezogen hatten, sich dort niederzulassen. Natürlich sorgten die Bürger des Reichs dafür, dass sie sich in der Sicherheit der neugebauten Mauern des Theranerviertels befanden, aber ein gutes Drittel der übrigen Stadt war wenig mehr als ein unüberschaubares Labyrinth gefährlicher, von Flüchtlingen bevölkerter Ruinen. Dass die grimmige Generalin Crotias dem Hause Zanjan angehörte, wusste er bereits, aber von Provinzadmiralin Tularch hatte er bisher kaum etwas gehört, und so war er ziemlich überrascht, als er las, dass die Kommandantin der gewaltigen Luftschiffgeschwader, die in Himmelsspitze stationiert waren, eine Carinci war. Dieses Haus war nicht für seine militärische Tüchtigkeit bekannt, und Cassian fragte sich, ob Tularchs Ernennung nicht vielleicht einer dieser politischen Schachzüge war, bei denen jeder ein Stück vom militärischen Kuchen abbekam, um das Kräftegleichgewicht zwischen den Häusern zu erhalten. Doch das konnte in diesem Fall kaum sein. Die Stellung war zu wichtig. Sie musste ihrer wert sein.

Medari, Carinci, Zanjan, Narlanth, Thaloss. Vertraute Namen. Niemand würde einen schwelenden Groll gegen ihn hegen. Einmal, vor Jahren, hatten seine Urteile das Haus Carinci gegen Cassian aufgebracht, und zwar wegen seiner Zugehörigkeit zu ihren ärgsten Rivalen, aber dafür hatte er schon vor einiger Zeit gebüßt, als er nach Vasgothien versetzt worden war. Seine Brauen runzelten sich, als er sein eigenes Haus Medari auf der Liste sah. Mit Sicherheit wäre es besser gewesen, einen Praetor mit einer anderen Hauszugehörigkeit zu wählen, vielleicht einen aus dem Hause Aralaith? Dann hätte die Unparteilichkeit des Praetors außer Frage gestanden. Wiederum überkam ihn das nagende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht ist das alles nur niedergeschrieben worden, damit ich keine unbequemen Fragen stellen konnte, dachte er.

Er las weiter und erfuhr, dass sich der erste Mord vor weniger als zwei Monaten ereignet hatte. Man hatte den Zwergenbaumeister Dragold, der sowohl am Wiederaufbau der Stadt als auch an militärischen Projekten beteiligt war, mit aufgeschlitztem Leib in seinem Schlafzimmer gefunden. Unter den Dokumenten befand sich auch ein Augenzeugenbericht über den Fund der Leiche, und obwohl Cassian nicht leicht zu schockieren war, ging ihm die Schilderung der grausigen Einzelheiten ziemlich an die Nieren. Der Zwerg war an seinen eigenen Gedärmen an einem Deckenhaken aufgehängt worden. Glücklicherweise waren die Einzelheiten in den späteren Fällen weniger sensationell. Der Selbstmord zweier Geschwister kam ihm wie eine einfache häusliche Tragödie vor, und der Wahnsinn des Magiers Aralesh konnte gewiss auf das unüberlegte Wirken eines Zaubers zurückgeführt werden. In und um Vivane musste es zahllose Stellen geben, an denen der Astralraum verunreinigt war, was die Anwendung roher Magie gefährlich machte. Hätte der Magier nicht zu Kypros‘ Ratgebern gehört, würde sein Tod wahrscheinlich niemals Eingang in dieses Dokument gefunden haben. Gab es eine Verbindung zwischen diesen Vorfällen? Und wenn ja, welche?

Nun, wenn das bekannt wäre, hätte man mich nicht nach Vivane geschickt, um es herauszufinden, sagte sich Cassian. Doch es war schwer zu verstehen, warum jemand diese Ereignisse an einem Ort am Rande des Reiches so ungewöhnlich fand. Doch wenn Andreax befahl, musste Cassian gehorchen.

Er sah durch das Bullauge in seiner kleinen Kabine und betrachtete gelangweilt die Wolkenfetzen, die an den in der Nachmittagssonne glänzenden Bronzebeschlägen des Luftschiffs vorbeitrieben. Dann konnte er den Anblick des strahlenden Lichts nicht mehr ertragen und blinzelte. Der Geruch des Öls, mit dem man sogar das Holz der Inneneinrichtung des Luftschiffs behandelt hatte, war stark und machte ihn schläfrig. Er rieb sich die Augen und beschloss, das Risiko einzugehen, sich den Unmut der Matrosen zuzuziehen, indem er noch einmal an Deck ging.

3.

Dieser Morgen würde lebhaft werden, und Jerenn freute sich auf die Unterbrechung der üblichen langweiligen Routine. Seit Tagen gab es im Haus seines Herrn abgesehen von der nüchternen Schinderei im Haushalt nichts zu tun. Heute würde jedoch die Speerspitze mit ihrer Ladung aus Kom und Lebensmitteln von ihrer Reise flussaufwärts zurückkehren. Die Ladung musste für den Winter eingelagert werden, und Tarlanths gelangweilter Schreiber Berelas würde ihn mit der Inventarliste zu den Docks schicken, um sie auf Vollständigkeit zu überprüfen. Ein Sklave, der – so wie Jerenn – vertrauenswürdig war, der lesen und schreiben konnte und noch dazu mit scharfen Augen und einem wachen Verstand gesegnet war, wurde von jedem einigermaßen vernünftigen Theraner sehr geschätzt. Jerenn hatte das sehr schnell herausgefunden und darüber hinaus erfahren, dass vertrauenswürdig zu sein bedeutete, dass er nicht geschlagen wurde, genug zu essen und warme Kleidung bekam und ihm sogar ein eigenes Zimmer zugewiesen wurde. Dass dieses Zimmer ein fensterloses Loch neben dem kalten Keller war, hatte sich mehr zu seinem Vorteil ausgewirkt, als dies in der Absicht seines Herrn gelegen haben konnte, da der einfallsreiche Jugendliche nach kürzester Zeit die schmalen Gänge und Schlupflöcher entdeckt hatte, die hinter den Kellerwänden verborgen waren – und nicht zuletzt die Orte, zu denen sie führten.

Jerenn blieb kaum Zeit, den halben Inhalt seiner Schüssel mit Maisbrei hinunterzuschlingen, den der Koch dank Jerenns Charme und Überredungskünste mit etwas Milch und Honig angereichert hatte, bevor Berelas ihn fand. Jerenn bedachte ihn mit dem geübten Blick von jemandem, der gerade dabei ist, eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe mit Fassung zu übernehmen, während ihm der Schreiber die pedantisch genau abgefasste Liste der Waren überreichte, die erwartet wurden.

»Wenn etwas fehlt, irgendetwas, und sei es nur die geringste Kleinigkeit, musst du es auf einer Liste vermerken und den Kapitän auffordern, sie zu unterschreiben«, rasselte der Schreiber seine Anweisungen herunter. »Und wenn etwas da ist, was nicht erwartet wird, musst du das ebenfalls auf einer Liste vermerken und dafür sorgen, dass sie abgezeichnet wird. Wenn alles in Ordnung ist, braucht sich dein Herr Tarlanth nicht selbst zu den Docks zu begeben, und er ist heute sehr beschäftigt.«

Jerenn nickte, da er die unausgesprochene Bedeutung dieser letzten Feststellung verstand: Kläre alle Unregelmäßigkeiten, sonst ärgert sich dein Herr, weil er sie selbst klären muss, wo er doch Besseres zu tun hat. Die ihm übertragene Aufgabe barg das Risiko einer ordentlichen Tracht Prügel in sich, aber auch die Chance, dass sich die Münze eines dankbaren Adeligen in seine Taschen verirrte, wenn er seine Sache gut machte. Nach allem, was er mitbekam, wenn sich die Sklaven von Tarlanths Haus unterhielten, bekamen selbst hochangesehene Bedienstete des Haushalts nur ganz selten solch eine Belohnung. Wenn man schon die Sklaverei ertragen muss, dachte Jerenn, könnte man es wesentlich schlechter treffen als in diesem Haushalt. Und wenigstens brauchte er sich nicht alle paar Minuten Gedanken wegen der Ork-Brenner auf der Straße zu machen, wie bei seiner letzten jämmerlichen Flucht aus Barsaive. Er musste nicht versuchen, schlicht und einfach nur am Leben zu bleiben, und ihm war kein halbes Dutzend Leute auf den Fersen, die ihm an den Kragen wollten. Wie er sich immer wieder sagte, eines Tages würde er fliehen, aber einstweilen...

Er nahm die Liste und überflog sie kurz.

»Und sorg dafür, dass du bis Mittag wieder zurück bist«, schloß Berelas. »Meister Tarlanth hat noch eine Aufgabe für dich. Eine ziemlich ungewöhnliche, würde ich meinen.« Der Schreiber grinste auf jene zweideutige Weise, die Jerenn verriet, dass die Aufgabe möglicherweise interessant und angenehm war, doch wenn das stimmte, wollte Berelas nicht, dass er sich jetzt schon darauf freute.

Der Jugendliche sprang von dem wackligen Holzstuhl auf, wobei er fast den Rest des dünnen Maisbreis verschüttet hätte. Er stopfte sich sein dünnes Baumwollhemd in die ledernen Beinkleider und schaffte es gerade noch, dem massiven Küchentisch auszuweichen, der rücksichtsloserweise direkt vor der Hintertür stand, und einem schmerzhaften Schlag gegen die Hüfte zu entgehen, bevor er in den warmen, sonnigen Morgen hinauslief.

Etwa zu der Zeit, als Jerenn sich auf den Rückweg machte, dockte schließlich die Überlegenheit ein Stück weiter südöstlich in Himmelsspitze an. Einige Matrosen, die offenbar nicht unglücklich darüber waren, ihn zu verlieren, brachten ihn zu dem mit Kristallen besetzten Schacht, der nach unten auf den Erdboden führte. Die Praetori waren nicht wie die anderen Angehörigen des theranischen Militärs. Zwar stammten diese Emissäre Theras aus den Reihen des Militärs, aber sie teilten nicht die kameradschaftliche Einstellung der gewöhnlichen Männer in Uniform, die dies oft, wie unbewusst auch immer, als eine Art von Verrat und sogar als Bedrohung empfanden.

Während er leicht wie eine Feder den Schacht mit verzauberter elementarer Luft hinunterschwebte, runzelte Cassian beim Anblick barsaivischer Sklaven die Stirn, die gezwungen wurden, Strickleitern von einer Luftschiffplattform herabzuklettern, wo kurz vor dem Schiff des Oberherrn ein Sklavenhändler festgemacht hatte. Dumm und gefährlich, dachte er. Nach der Plage ist ein Sklave ein wertvollerer Besitz als je zuvor. Ist diesen Leuten das denn nicht klar?

Am Boden angelangt, wurde er mit unnötiger Überschwänglichkeit von einem nervösen Beamten begrüßt, der, dem Schweiß nach zu urteilen, welcher ihm das fettige schwarze Haar auf die Stirn kleisterte, schon viel länger in seiner prahlerischen Uniform schmorte, als gut für ihn war. Der Elf wurde zu einem pompösen Gefährt geleitet, das zu seiner Verärgerung tatsächlich vergoldet war. Das theranische Wappen teilte sich einen Ehrenplatz mit dem Abzeichen der Zanjan. Cassian war überrascht. Dieses sehr militärisch ausgerichtete Haus gab sich normalerweise nicht derartigen Protzereien hin.

Im Innern des Gefährts trug die Notwendigkeit, über ein Gebirge aus kunstvoll bestickten Seidenkissen klettern zu müssen, nicht zur Besserung seiner Laune bei. Das einzig Gute war, dass die Fahrt außerordentlich bequem war, nachdem der Kutscher die beiden prächtigen Cathay-Hengste, die das Gefährt zogen, dazu veranlasst hatte, sich in Bewegung zu setzen. Wie bei derartigen Kutschen üblich, wurden elementares Holz und elementare Luft benutzt, um den Reibungswiderstand der Räder auf praktisch null zu verringern. Dadurch war die Fahrt für die Passagiere sehr luxuriös, und die Pferde mussten praktisch kein Gewicht mehr ziehen, wenn die Kutsche einmal in Bewegung war. Die Strecke nach Vivane konnte so in kaum mehr als einer Stunde bewältigt werden.

Wiederum mit den Kissen ringend, stieß Cassians linke Hand plötzlich gegen etwas Kühles. Als er den Gegenstand aus seinem Versteck zog, fand er eine Tonschale mit gekühlten Pfirsichen und Orangen und ein Begleitschreiben, das von einer außerordentlich gewandten Hand verfasst worden war. Der Schreiber hatte sogar flüssige goldene Tinte benutzt, jenes alchimistische Meisterstück hohler Prahlerei. Cassian überflog rasch die höflichen Gemeinplätzen, um das zu finden, was wirklich zählte – die Unterschrift.

Ilfaralek, las er. Den Namen kannte er. Mit gerunzelter Stirn zog er sein Blatt mit Notizen hervor, die er sich gemacht hatte, und ging es auf der Suche nach ihm gründlich durch.

Jerenn verspätete sich, und das wusste er auch. Die T‘skrang auf der Speerspitze waren in außergewöhnlich ausgelassener Stimmung und ganz versessen darauf gewesen, Geschichten zu erzählen und sich ganz allgemein vor den Hafenarbeitern und Kaufleuten hervorzutun. In dieser Situation war es für einen Sklaven nicht leicht, einen hochmütigen Flussboot-Kapitän dazu zu bewegen, seine Bitten und Gesuche ernst zu nehmen, aber mittels Schmeichelei und höflicher Beharrlichkeit war Jerenn schließlich ans Ziel gelangt und in der Lage gewesen, das gesamte Inventar durchzusehen, indem er äußerste Verblüffung und fassungsloses Staunen darüber vorgetäuscht hatte, wie schön und prächtig alles war und wie verwegen und fähig die T‘skrang waren. Jerenn hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es eine nützliche Überlebenstechnik war, den T‘skrang zu schmeicheln. Natürlich durchschauten sie diese Taktik normalerweise, aber es gefiel ihnen trotzdem. Auf den schmutzigen Straßen Märkteburgs, wo seine Mutter ihn ausgesetzt hatte, musste ein Kind, das nicht mit großer Kraft gesegnet war, lernen, durch Schmeichelei anstatt durch Gewalt zu überleben. Das hatte ihn erfinderisch gemacht, und er hatte seinen Auftrag erledigt, aber es war fast eine Stunde nach Mittag, als er sich schließlich atemlos durch die Hintertür schleppte und sich auf einen Küchenstuhl fallen ließ. Er hatte kaum ein Glas kaltes Wasser mit Zitrone geleert, als auch schon Berelas vor ihm stand.

Jerenn fing augenblicklich an, vom Schiffsinventar zu plappern. »Und der Mais ist gut, aber zwei Säcke könnten vom Rostpilz befallen sein«, keuchte er, da er sich immer noch nicht von der Anstrengung erholt hatte. »Vielleicht sollte sich der Herr in den nächsten zwei oder drei Tagen darum kümmern, bevor er sich ausbreitet, dann können die Säcke wahrscheinlich gerettet werden. Dann ist in den ersten Fässern...«

Berelas lachte nicht unfreundlich. »Schon gut, Junge. Wir haben etwas Zeit. Wir erwarten einen Gast, und wie es der Zufall will, war Mittag der Zeitpunkt seines Eintreffens in Himmelsspitze mit der Überlegenheit.«

Bei der Erwähnung des Luftschiffs des Oberherrn richtete sich Jerenn kerzengerade auf. Das Schiff verließ nur ganz selten seine Anlegestelle, die Basaltzinne, wo es wie eine Wolke am Himmel hing, ein mächtiges Symbol der theranischen Vorherrschaft, eine dramatische Absichtserklärung des Reiches, in Kürze ganz Barsaive zu erobern, zu beherrschen und zu bewohnen. Eine Person, die mit diesem Schiff abgeholt wurde, musste ungewöhnlich bedeutend sein. Hochrangige Gäste aus entfernten Städten und Ländern waren eine Seltenheit, und Jerenn war extrem neugierig. Vielleicht besaß diese Person exotische Sklaven, womöglich sogar einen der gewaltigen Mastrylth, mit denen der erste Oberherr von Vivane dem Vernehmen nach die Stadtmauern zerschmettert hatte, eine Kampfbestie so gewaltig, dass sie größer als ein Haus war und fünfzehn Tonnen wog, jedenfalls hatte er das gehört. Vielleicht trug der Besucher feinste Kleidung aus Cathay und schleppte eine Fahne indriser Wohlgerüche und Kräuterdüfte hinter sich her.

»Ein Praetor«, sagte Berelas beinahe verschwörerisch. Jerenn hatte keine Ahnung, was dieser Ausdruck zu bedeuten hatte, und sah Berelas fragend an, der jedoch beschloss, ihn nicht oder jedenfalls noch nicht aufzuklären.

»Er kommt aus der Großen Stadt.« Mehr wollte der Schreiber nicht sagen. »Es ist die Pflicht dieses Hauses, ihm für die Dauer seines Aufenthalts eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Die Herrin hat die Rosenvilla für ihn ausgewählt. Du wirst dorthin gehen und ihm so lange dienen, wie du gebraucht wirst. Du brauchst dich nicht um seine Mahlzeiten zu kümmern – dafür ist Shanna zuständig, die ebenfalls mitkommt. Aber natürlich wirst du sie ihm bringen müssen.« Berelas grinste wiederum. »Und jetzt ab mit dir. Die Mädchen sind bereits in der Villa und lüften und säubern. Du wirst dich anständig benehmen, wenn er kommt. Und zieh dir saubere Kleidung an!«

Jerenn sah hinunter auf den Staub, die Maishülsen und die Fassteerflecke, die sogar auf dem Schwarz seiner Sklavenkleidung zu sehen waren. Er ging in den Keller, um sich Gesicht und Arme zu waschen, die Kleidung zu wechseln und sich geistig darauf vorzubereiten, diesem faszinierenden Fremden zu dienen, dessen Name ihm – noch – ebenso unbekannt war wie seine Absichten.

Cassian hatte die Vorhänge zugezogen, um sich den vielen verblüfften Blicken zu entziehen, die der schmucken Kutsche zugeworfen wurden, während sie gemütlich über die Große Allee rollte, die breite Hauptstraße des Theranerviertels von Vivane, bevor sie schließlich durch die gewaltigen befestigten Tore der Südkaserne der Achten Legion fuhr. Die Kaserne war das erste Bauwerk, das nach der Einnahme der Stadt durch das Reich errichtet worden war, und sie dominierte ihre Umgebung immer noch.

Nachdem er aus der Kutsche ausgestiegen war, wurde er von einem distinguiert aussehenden Mann begrüßt, der offenbar auf ihn gewartet hatte. Cassian schätzte ihn auf Ende Fünfzig, obwohl sein graues Haar noch dicht und seine Haut noch nicht so faltig und runzlig war, wie man es bei einem Menschen dieses Alters erwarten mochte. Der Mann begrüßte den Elf mit einer Verbeugung, die viel tiefer ausfiel, als es das Protokoll verlangte, doch als er sich wieder aufrichtete, sah Cassian, dass sein Blick klar und aufmerksam war. Mensch und Elf wechselten in diesem Moment einen raschen Blick, wobei jeder die Intelligenz des anderen einzuschätzen und seine Reaktion entsprechend abzuwägen versuchte.

Ilfaralek, Akarenti von Vivane, lächelte herzlich. »Es ist mir ein Vergnügen, Euch in unserer Stadt willkommen zu heißen.«

»Das bezweifle ich«, sagte Cassian unverblümt. »Das Leben hier wäre zweifellos vergnüglicher, wenn es keine Notwendigkeit für meine Anwesenheit gäbe.«

»Das mag sein, aber vielleicht wäre es dann weniger interessant.« Immer noch lächelnd führte der Mann, dem die Aufrechterhaltung der Sicherheit in der Stadt oblag, seinen Gast in einen Aufenthaltsraum für Offiziere, der kühl und behaglich eingerichtet war. Cassian ließ sich ohne entsprechende Aufforderung in einem der großen, bequemen Ledersessel nieder.

»Der Richter-General hat mir persönlich versichert, dass Ihr ein Mann mit umfangreichem Wissen über diese Stadt seid, dessen Urteil sachkundig und gerecht ist«, sagte Cassian. Ilfaralek setzte zu einer höflichen Erwiderung an, als der Elf gleich wieder das Wort ergriff.

»Erzählt mir von Dragold«, sagte er rasch. »Natürlich habe ich meine Aufzeichnungen, aber ich muss so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Er scheint ein kühles, pragmatisches Wesen gehabt zu haben und allgemein recht beliebt gewesen zu sein.«

Ilfaralek geriet ein wenig aus der Fassung, da er nicht damit gerechnet hatte, dass Cassian so rasch mit seiner Befragung beginnen würde. Das Protokoll verlangte normalerweise, dass der Austausch von Höflichkeiten bei dem anfänglichen Wortwechsel einen breiteren Raum einnahm.

»Er war zu Recht beliebt«, sagte Ilfaralek, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen. »Er hat hart gearbeitet, und tatsächlich sitzt Ihr gerade in einem seiner Bauten. Normalerweise hat er dem Militär als Baumeister gedient, aber er hat auch am Anbau der Residenz des Oberherrn und an verschiedenen Privathäusern in der Stadt gearbeitet. Und selbstverständlich war er auch am Wiederaufbau der Stadtmauern beteiligt.«

»Wer hat nach seinem Tod seine Aufgaben übernommen?«

»Haughrald. Die beiden haben jahrelang zusammengearbeitet und gewisse Pläne gemeinsam entwickelt, sodass nicht viel von Dragolds Werk verlorengegangen ist.«

»Wie günstig«, murmelte Cassian.

Ilfaralek sah plötzlich so aus, als fühle er sich ein wenig unbehaglich. »Es könnte sein, dass Euch diesbezüglich aus gewissen Kreisen Andeutungen zu Ohren kommen.«

»Tatsächlich?«

»Verschiedene Personen in der Militärhierarchie waren dafür bekannt, dass sie Dragold den Vorzug vor Haughrald gaben. Das ist darauf zurückzuführen, dass Haughrald dem Hause Thaloss angehört, müsst Ihr wissen. Das Haus Thaloss und viele unserer Kommandeure stimmen oft nicht miteinander überein. Thaloss hat die Aufgabe, die Ausgaben so niedrig wie möglich zu halten, während die Kommandeure oft zusätzliche Gelder verlangen, um verschiedene Abenteuer zu finanzieren.«

»Derartige Personen müssten von hohem Rang sein«, bohrte Cassian weiter, dem Ilfaraleks zunehmendes Unbehagen angesichts der Richtung seiner Befragung nicht verborgen blieb. Nach einer Pause, die sich zu einem längeren Schweigen auszudehnen drohte, fügte er freundlicher hinzu: »Jede Information, die ich von Euch erhalte, wird streng vertraulich behandelt, und darüber hinaus werde ich nach Bestätigung von anderer Seite suchen. Ihr braucht also nicht zu befürchten, dass Eure Mitteilungen auf Euch zurückfallen. Andererseits vergisst man in Thera Hilfsbereitschaft nicht. Das wisst Ihr.«

»Generalin Crotias hat sich nichts aus Haughrald gemacht«, sagte der Spionageleiter zögernd. »Haughrald war zwar wie Dragold ein Zwerg, aber dennoch für seine guten Beziehungen zur Familie des Patracheus bekannt. Patracheus ist hier der Leiter der Schatzmeisterei und hat großen Einfluss, was die Verteilung der Mittel anbelangt. Generalin Crotias wettert schon lange gegen die ihrer Ansicht nach nicht ausreichende Finanzierung ihrer Lieblingsprojekte. Ihre Abneigung gegen Haughrald gründet sich auf seinen Umgang.«

Der für sie Anlass genug ist, den Zwerg schlecht zu machen, dachte Cassian. Doch der Fall sah nicht nach einer Rivalität zwischen ehrgeizigen Zwergen aus. Wenn er Beweise dafür fand, dass beide Zwerge gut verdient hatten, sprach vieles dafür, dass von dieser Seite nichts anderes als aufrichtiges Zwergenstreben hineinspielte. Zwerge brachten einander nur im Falle eines wahrhaft abscheulichen Verbrechens oder einer bedeutenden Fehde um.

»Das ist sehr hilfreich«, sagte der Elf mit einem Anflug von Endgültigkeit. Das leichte Entspannen der Mundwinkel Ilfaraleks besagte, dass er eine weitere rasch gestellte Frage erwartet hatte. Jetzt würde er für einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nachlassen.

»Ich nehme an, dass einige Nachforschungen angestellt wurden, bedenkt man die Umstände des Verbrechens«, bohrte Cassian weiter.

»Nun, bei einer derart grässlichen Tat ist das geradezu selbstverständlich«, sagte llfaralek. »Damit meine ich die Art, wie er ermordet wurde. Ein Vieh in einem Schlachthaus wäre nicht so behandelt worden. Leider haben die Bediensteten des Hauses die Leiche gefunden, und natürlich konnte man sie nicht davon abhalten zu klatschen. Nach kürzester Zeit kursierten in der ganzen Stadt unheimliche Gerüchte, und es bestand die Gefahr, dass die Bevölkerung aus Angst vor den Dämonen in Panik ausbrechen würde. Also machten wir bekannt, dass wir nach einem wahnsinnigen Troll suchten, der an einer Hirnkrankheit leide und vor seiner Flucht nach Vivane in Märkteburg einen ähnlichen Mord begangen habe.«

Cassian hob die Augenbrauen.

»Ja, wisst Ihr, Trolle sind so selten, dass sich alle ein wenig beruhigten. Sie brauchten sich keine Sorgen mehr zu machen, dass ihr Nachbar vielleicht ein von Dämonen besessener, wahnsinniger Mörder ist.«

»Ich bin nicht so sicher, dass die Trolle in der Stadt so erfreut über diese Bekanntmachung waren«, sagte Cassian spitz.

»Praktisch alle Trolle dienen in der Armee, normalerweise auf Luftschiffen, und die waren in der Kaserne in Sicherheit«, erwiderte Ilfaralek. »Sie waren nicht in Gefahr. Außerdem, würden sich gewöhnliche Städter mit einem Troll anlegen, der unter einer Hirnkrankheit leidet, die ihm übernatürliche Kräfte verleiht, oder würden sie es dem Militär überlassen, das Problem zu lösen? Und dann haben wir noch gesagt, dass er aus Märkteburg stammt. Das machte ihn zu einem Barsaiver – zu einem Barbar und vor allem zu einem Außenseiter, der sich außerhalb der Mauern des Theranerviertels inmitten seiner Landsleute im anderen Stadtteil aufhielt.«

Cassian lächelte. Er musste die Schlauheit bewundern, mit der diese Geschichte ersonnen worden war, und er fragte sich, ob Ilfaralek bei ihrer Erfindung seine Hand im Spiel gehabt hatte.

»Dann haben wir uns an Aralesh gewandt, weil die Möglichkeit bestand, dass ein Dämon in den Mord verwickelt war«, fuhr der Mann fort.

Cassian zuckte nicht mit der Wimper. Seine Unterlagen hatten ihm verraten, dass der Magier, der jetzt vor sich hinplappernd und offenbar geistesgestört in einer Gefängniszelle saß, von den Behörden wegen des ersten Mordes zu Rate gezogen worden war. Und warum auch nicht? Er konnte nur hoffen, dass Ilfaralek ihm seine Überraschung nicht angemerkt hatte. Der Mann schien einen Sekundenbruchteil zu zögern, bevor er fortfuhr.

»Was die Dämonen betrifft, war Aralesh der kenntnisreichste Magier in Vivane«, sagte Ilfaralek. »Falls hier ein Dämon aktiv war, würde Aralesh ihn am ehesten entdeckt haben.«

»Und er muss die Angelegenheit einige Zeit untersucht haben, ohne zu einem Schluss zu kommen«, sagte Cassian leise. »Es verging über ein Monat, bevor ihm das Unglück zustieß.«

»Andererseits hat er uns sehr schnell wissen lassen, dass er keinen Dämon innerhalb der Stadt entdeckt hatte«, sagte Ilfaralek ein wenig überrascht.

»Ja, dessen bin ich mir bewusst«, log Cassian, dem die Unzuverlässigkeit der Vorabinformationen, die er erhalten hatte, zunehmendes Unbehagen bereitete. »Ich wollte nur andeuten, dass er seinen offiziellen Bericht vielleicht ein wenig vorschnell abgeliefert hat. Die Art seiner Heimsuchung könnte zumindest etwas Derartiges vermuten lassen.«

»Möglicherweise.« Der Oberste Sicherheitsbeauftragte rieb sich nachdenklich das Kinn.

Cassians Mut sank. In seiner Eigenschaft als Praetor gehörte es zu seinen Aufgaben, bei einer Befragung die Oberhand zu behalten, doch in diesem Fall bewirkte die Tatsache, dass er über gewisse Informationen einfach nicht verfügte, das Gegenteil. Er änderte rasch seine Vorgehensweise.

»Ich werde ihn mir ansehen müssen, wenngleich ich Euren Berichten entnehmen konnte, dass mir das kaum weiterhelfen wird.«

Ilfaralek schien fast glücklich zu sein, bei diesem ersten Wortscharmützel in ein ehrenhaftes Unentschieden einzuwilligen. »Ja, ja, gewiss, das lässt sich leicht arrangieren«, sagte er mit einer Geste, die besagte, dass es praktisch schon geschehen war. »Aber ich habe heute Abend eine weitaus angenehmere Verabredung für Euch, Praetor. Eine kleine auserlesene Gesellschaft bei einem zwanglosen Mahl. Geladen sind einige von Vivanes bedeutendsten Bürgern, darunter auch einige unserer besten Geschichtenerzähler. Das Haus Medari hat Euch selbstverständlich eine Villa zur Verfügung gestellt, und ich nehme doch an, dass es nicht zu vermessen von mir war, diese kleine Ablenkung arrangiert zu haben.«

Was für ein schlauer Hund, dachte Cassian. Er hofft, dass ich von der Reise müde bin, und hat sich deshalb offenbar eine spätabendliche Unterhaltung ausgedacht. Wie schlau von ihm, dafür zu sorgen, dass die Mächtigen, Bedeutenden und Neugierigen meine Bekanntschaft machen, wenn ich nicht auf der Höhe bin.

»Im Gegenteil, das war sehr aufmerksam von Euch«, sagte der Elf mit so viel Herzlichkeit, wie er aufbringen konnte. »Ich hoffe jedenfalls, dass ich mich mit Euch bei passender Gelegenheit auch über die anderen Todesfälle unterhalten kann, aber einstweilen ist es wohl besser, wenn ich mich zurückziehe und ein wenig Schlaf nachhole, bevor ich mich solch einer vornehmen Gesellschaft stelle.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Ilfaralek ein wenig gereizt. Offenbar hatte er gehofft, Cassian noch einige Zeit in ein Gespräch verwickeln zu können, was jetzt auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden musste. »Ich lasse sofort nach einer Kutsche schicken. Eure Villa befindet sich im Herzen der Stadt – oder vielmehr im Zentrum unseres wiederaufgebauten Teils! Sehr praktisch.«

»In der Tat.« Cassian lächelte, als er sich erhob und dem Verlangen widerstand, zu gähnen und sich ausgiebig zu strecken. Dies war nicht der Augenblick, auch nur die geringste Schwäche zu zeigen.

Die Kutsche brauchte kaum zwei Minuten, um vor den Toren der Villa anzugelangen. Cassian gefiel das Anwesen, kaum dass er einen Blick darauf geworfen hatte. Seine Bauweise war schlicht, im klassischen geometrischen Stil gehalten. Als Material waren hiesige Steine anstatt Marmor benutzt worden, auf den viele Theraner geradezu versessen waren. Große Bäume sorgten dafür, dass es im Schatten lag, und die Mauern waren mit einem dichten Gewirr aus Blumen, Ranken und anderer Vegetation bewachsen. Natürlich war es das Haus eines Medari. Gastfreundschaft gehörte zu den Pflichten des Hauses, das den Praetor bewirtete. Der Grund dafür, so hatte man Cassian gelehrt, bestand darin, dass dadurch alle Versuche, die Arbeit des Praetors auszuspionieren, minimiert wurden. Irgendwie vertrug sich das jedoch nicht mit der Vorstellung, dass ein Praetor objektiv sein und sich niemand bei ihm lieb Kind machen sollte, doch Cassian nahm an, dass es sich einfach um eine Tradition aus längst vergangenen Zeiten handelte. Die Bediensteten waren ein wenig ängstlich und schienen beinahe enttäuscht darüber zu sein, wie wenig Gepäck er bei sich hatte.

»Ich würde gerne ein Bad nehmen«, sagte Cassian zu einer Bediensteten. Sie errötete, und er fragte sich immer noch, ob sie vielleicht annahm, dass es sich dabei um eine verschlüsselte Aufforderung handelte, ihm dabei Gesellschaft zu leisten, als ein magerer Bursche, der noch dabei war, seiner schwarzen Kleidung den Anschein von Ordnung zu verleihen, durch die Eingangstür der Villa gelaufen kam.

»Alles ist vorbereitet, Herr«, gelang es dem Jungen auf theranisch zu sagen, nur mit einem leichten Einschlag des hiesigen Akzents. »Eine leichte Mahlzeit erwartet Euch, obwohl wir auch umgehend etwas Gehaltvolleres zubereiten können, sollte Euch danach gelüsten. Und ich habe vorsorglich ein Bad für Euch eingelassen, falls Ihr Euch nach der Reise ein wenig erschöpft fühlen würdet.«

»Tatsächlich?« sagte Cassian interessiert. »Nun, du scheinst ein recht aufgeweckter Bursche zu sein. Mir will scheinen, als habe Medari mir einen äußerst nützlichen Bediensteten zur Seite gestellt.«

Zu diesem Zeitpunkt klangen Cassians Worte nicht im geringsten prophetisch.

4.

Bei den Passionen, diesen Leuten fehlt das Urteilsvermögen, dachte Cassian nach einem Blick auf die Gäste, die sich zur abendlichen Festivität in der Villa versammelt hatten. Das sollte mir meine Arbeit erleichtern.

Nichtsdestoweniger empfand er einen Moment lang fast so etwas wie Trauer, als bedrücke ihn die Dummheit seiner Mitbürger. Zwar hatte er seinen Wein ausgiebig mit Wasser verdünnt und nur sehr wenig getrunken, aber eine ganze Reihe seiner Vivaner Gäste schien ob der Aussicht auf Ausschweifungen entzückt zu sein. Sie hatten getrunken und gegessen, und zwar mehr als reichlich, wobei bei einigen bloße Taktlosigkeit nackter Rücksichtslosigkeit wich. Er roch sogar den süßlichen Duft von Opara, der Droge aus Indris, und eine angelegentliche Untersuchung der kandierten Früchte in einer der kunstvoll gestalteten Tonschüsseln auf dem Esstisch enthüllte seinen Ursprung. Sorglose Leute, dass sie es riskierten, sich in Gegenwart eines Praetors von Drogen den Verstand benebeln zu lassen. Mehrere der Männer schienen sich außerdem daran zu ergötzen, den Frauen anderer Männer nachzustellen, wie Cassian herausfand, als er in der Hoffnung auf eine kurze Erholung von der Hitze und dem Lärm der Villa in den Blumen- und Kräutergarten gegangen war. Statt auf eine erfrischende Brise der kühlen Nachtluft stieß er auf eine Zurschaustellung wollüstiger Begierde, die sich an Fleisch befriedigte, das sich in einem bestürzend erbärmlichen Zustand befand. Es war ein Anblick, der sein elfisches Feingefühl mehr als beleidigte.